Die Swifts (Band 1) - Ein vorzügliches Verbrechen - Beth Lincoln - E-Book

Die Swifts (Band 1) - Ein vorzügliches Verbrechen E-Book

Beth Lincoln

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Beschreibung

Hier ist der Name Programm Schnüffler, Schadenfreude, Schaudervoll … Bei den Swifts haben alle Familienmitglieder Namen, die so außergewöhnlich sind wie sie selbst! Spannung und Familiengeheimnisse bei den Swifts Alle zehn Jahre kommen die Swifts auf ihrem alten, verwinkelten Anwesen zusammen. Dieses Mal läuft das große Familientreffen allerdings gewaltig aus dem Ruder. Tante Schadenfreude wird bewusstlos am Fuß der Treppe aufgefunden und Schelmerei und ihren Schwestern ist sofort klar: Das war ein Mordversuch! Die gesamte Verwandtschaft benimmt sich äußerst verdächtig, doch wer steckt wirklich dahinter? Schon bald reihen sich die Unglücksfälle aneinander wie Perlen auf einer Schnur – und so manches gut gehütete Familiengeheimnis kommt ans Licht … Der packende Auftakt einer humorvollen Familiengeschichte In diesem Krimi-Abenteuer für Kinder ab 10 Jahren wird ein rätselhafter Fall gelöst, wobei außergewöhnliche Figuren auf ein cooles Setting treffen. Der Name gibt den Charakter einer Figur vor, was zum Nachdenken über Fragen der Identität und persönlichen Entwicklung anregt. Die Schwarz-Weiß-Illustrationen von Kai Schüttler treffen den besonderen Ton der Geschichte und runden das Leseerlebnis ab. Ein detektivisches Abenteuer im Stil von Knives Out für Kinder! Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 418

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Inhalt

ERSTER TEIL

1. Erbschaft aus heiterem Himmel

2. Das Wörterbuch

3. Die Kartografie des Inneren

4. Forschungsvorhaben

5. Gravierte Erkenntnisse

6. Auftritt der Gäste

7. Knatsch im Schwarm

8. Streit suchen, Chaos finden

9. Schadenfreudes Abgang

ZWEITER TEIL

10. Vor-Fall oder Vor-Stoß

11. Verwandt, verzankt, verdächtigt

12. Scharade par excellence

13. Abgeschnitten

14. Freundlichkeiten auf niedrigstem Niveau

15. Vorrede aus der Vergangenheit

16. Interessantes zum Nachtisch

17. … auf daß hier niemand kopflos werde

18. Motive und Methoden

19. Auf ein Wort mit Pamplemousse

20. Eiskalt

21. Geradlinige Ermittlungsarbeit

22. Dispott

23. Alles auf eine Karte

24. IEEK

DRITTER TEIL

25. Die Probe

26. Katastrophen wie am Schnürchen

27. Ein abgekartetes Spiel

28. Entlarvt

29. Rhetorische Mittel

30. Unter Haus

31. Wer zuletzt lacht

32. Dénouement

33. Das gute Recht der Familie

34. Reich an Güte

35. Futur Imperfekt

Danksagung

Für meine Familie,

ERSTER TEIL

1. Erbschaft aus heiterem Himmel

An einem strahlenden, fein herausgeputzten Vormittag Anfang Mai steckte Familie Swift mitten in einer Beerdigung.

Das Haus sah tadellos aus. Der Rasen war sorgfältig vom Laub befreit, das Heckenlabyrinth frisch getrimmt und jede einzelne Statue hinter den Ohren gereinigt worden. Den ganzen Morgen hatten die Swifts vor dem Spiegel ihre Grabreden einstudiert und nun schritten sie in einem langsamen Trauerzug über den Friedhof, jede Miene ein Spiegelbild geübter Betroffenheit.

Laut Erztante Schadenfreude hatte eine Beerdigung auszusehen wie eine auf den Kopf gestellte Hochzeit. Die Familienmitglieder hatten sich redlich bemüht, Schadenfreudes Vorstellungen gerecht zu werden. Der Fußweg zum Grab der Erztante führte durch eine Brandung aus Blumen, in den Baumwipfeln hingen tiefschwarze Girlanden und Köchin hatte sogar einen Kuchen mit dem traurigen Anlass entsprechend dunklem Zuckerguss gebacken, der nun auf einem kleinen Tisch gleich links des Grabsteins stand. Rechts davon erklang ein schwermütiges Liedchen aus einem keuchenden Grammofon.

Schelmerei Swift trug das vordere Ende des Sargs. Sie war deutlich kleiner als die anderen Sargträger. Weiter hinten stakste ihre älteste Schwester Clementine und neben dieser ragte Onkel Mahlstrom empor. Schelmerei gab sich große Mühe, den Sarg so gerade wie möglich zu halten, und doch kippte er schon wieder bedenklich nach vorn. Phänomen, die dritte Schwester, lief einige Meter voraus, winkte den Trauerzug im Stil einer Fluglotsin über den Friedhof und warf Schelmerei dabei einen warnenden Blick zu. Diese versuchte, sich allein durch die Kraft ihrer Gedanken wachsen zu lassen – leider ohne Erfolg.

Der Trauerzug wand sich zwischen den Gräbern hindurch wie schwarze Zahnseide durch ein schiefes Gebiss. Im Vorbeigehen entzifferte Schelmerei die Namen ihrer längst verstorbenen Vorfahren auf den Grabsteinen:

FATAL SWIFT

1598–1652

Adjektiv

Ärger verursachend bis zum Verderben

und

ZINNOBER SWIFT

1733–1790

Substantiv

1. hellrotes bis blauschwarzes Mineral

2. leuchtendes Rot

3. wertloser Kram

4. Unfug

Als Schelmerei den Sarg auf einen anderen Punkt ihrer Schulter verlagerte, schwankte er bedrohlich. Clementine zischte sie mahnend an, also wackelte Schelmerei ihr zuliebe gleich noch einmal am Sarg. Auf dem edel schimmernden Holz hinterließ ihre Hand einen verschmierten Abdruck. Tante Schadenfreude, die der Meinung war, dass ein guter Sarg ruhig kostspieliger sein durfte als ein Haus, weil man schließlich länger tot sei als am Leben, hätte das nicht gefallen. Wobei ihr vermutlich so einiges nicht gefallen hätte. Etwa die abgewetzten Schuhe an Schelmereis Füßen, das Laub in ihren Haaren oder die Gedanken in ihrem Kopf.

Zu ihrer Rechten las sie nun:

FREVLERIN SWIFT

1860–1889

Substantiv

Missetäterin, Verbrecherin

Mit der hätte Schelmerei sich wahrscheinlich gut verstanden.

Als sie die Grabstelle erreichten, brach ein kleiner Tumult aus, weil die drei Swifts den Sarg jeweils unterschiedlich schnell abzusetzen begannen. Mahlstrom ging es langsam und würdevoll an, Clementine hingegen deutlich flotter, während Schelmerei noch darüber nachdachte, ob sie eine Frevlerin war, und deshalb nicht aufpasste.

»Schelmerei!«, zischte Clementine sie schon wieder an.

Aus dem Inneren des Sargs drang ein Jaulen.

Clementine schrie auf und ließ das Behältnis los. Mit einem dumpfen Bompf landete das Kopfende im Gras, der gesamte Sarg kippte gemächlich nach vorne – und rutschte ins Grab hinab, wobei der Deckel herunterflog. Schelmerei sprang im letzten Moment aus dem Weg, mitten in Köchins schwarz glasierten Kuchen hinein. Ihre beiden Hände versanken in der cremigen Vanillefüllung.

Abgesehen vom Keuchen des Grammofons kehrte Totenstille ein. Die Swifts spähten vorsichtig in die Grube.

Im offenen Sarg glitzerte warmes Sonnenlicht auf seidigem Schwarz. Selbstverständlich befand sich niemand in der Kiste – abgesehen von Kater John, der nun verschlafen blinzelte, sich genüsslich streckte und dann in Richtung Wald davontapste. Schelmerei schleckte sich Kuchen von den Fingern.

»Also wirklich«, ertönte eine Stimme hinter der Trauergesellschaft. »Das nenne ich mal einen rundum misslungenen Probelauf.«

Schuldbewusst drehte sich die Truppe zu Tante Schadenfreude um. Die hockte oben auf dem Zuwider-Denkmal, in der einen Hand ihren Gehstock, in der anderen ein Opernglas, mit dem sie ihre von der Verwandtschaft verwüstete Ruhestätte begutachtete.

»Am Tag der Tage wird es schon gut gehen, Tantchen!« Als Onkel Mahlstrom die Schultern lockerte, knarrten seine Gelenke wie die Balken eines alten Kahns. Er hob Schelmerei mit einer Hand hoch, duckte sich geschickt weg, als sie ihm Zuckerguss in den Bart schmieren wollte, und stellte sie grinsend wieder auf die Füße.

»Am Vormittag der Vormittage! Ich werde um elf Uhr bestattet«, präzisierte Tante Schadenfreude grummelnd und zog ihr schweres Eisenhalsband enger. »Bis zwölf habe ich unter der Erde zu sein und bis halb eins habt ihr ausgeheult zu haben, damit ihr um Viertel vor ins Haus zurückkehren könnt, wo ihr zu aufgewühlt sein werdet, das vorbereitete Mittagessen einzunehmen. Haben das alle verstanden? Wenn ich dich so ansehe, Mahlstrom, kommen mir leider gewisse Zweifel.«

Das Leben der Tante war vollständig durchorganisiert und an ihren Tod stellte sie die gleichen Erwartungen – und da es ihr nicht möglich sein würde, selbst Aufsicht über ihre Beerdigung zu führen, ließ sie ihre Familie einmal im Monat die gesamte Zeremonie durchspielen. Das ging schon so, seit Schelmerei denken konnte, und noch nie war es ihnen gelungen, alles richtig zu machen.

»Schelmerei, Clementine! Bitte versucht doch, den Sarg gerade zu halten. Man hatte den Eindruck, ihr würdet mich bergab tragen.«

»Aber wie denn, wenn Onkel Mahlstrom so viel größer ist?«, jammerte Clementine.

»In Anbetracht der durchschnittlichen Wachstumsrate Heranwachsender sollten wir bis zum Zeitpunkt der Beerdigung selbst ein ganzes Stück größer sein.« Phänomen kratzte einen Spritzer Zuckerguss von ihrem Laborkittel. »Das müsste für die richtige Balance sorgen.«

Die Tante schnaubte. »Billiger Optimismus! Ich könnte tot umfallen, bevor ihr auch nur einen weiteren Zentimeter gewachsen seid! Clementine, die Dekoration ist nicht unangemessen. Nur ein paar Schleifen mehr, in Ordnung? Und du, Schelmerei …«

Schelmerei ließ kurz das Kuchenschlecken bleiben.

»Ich tippe darauf, dass du John da reingetan hast.«

Schelmerei zuckte die Achseln. »Katzen mögen Kisten.«

»Ich weiß. Aber könntest du mein Grab bitte erst entweihen, nachdem ich bestattet wurde?«

Diese Bemerkung fand Schelmerei sehr unfair, hatte sich ihre Leistung aus ihrer Sicht doch stark gebessert. Im vergangenen Monat war ihr noch das Missgeschick unterlaufen, den Sarg so in der Haustür zu verkanten, dass die Familie tagelang wie unter einer Limbostange darunter hindurchtanzen musste.

Ihr säuerlicher Gesichtsausdruck spiegelte sich in dem ihrer Tante. »Na, ich schätze, für deinen Namen kannst du nichts.« Sie seufzte. »Lasst uns erst einmal zu Mittag essen. Aber bis morgen muss hier wieder Ordnung herrschen!«

Die Manöverkritik war beendet, die Truppe trat den Rückzug ins Haus an. Schelmerei strich mit den Fingerspitzen über die Grabsteine am Wegesrand und las die Namen: Rubrik. Katharsis. Unterfangen. Solchergestalt.

Für deinen Namen kannst du nichts.

Schelmerei schüttelte ihren Frust über den blöden Lieblingsspruch ihrer Tante ab. Am heutigen Tag würde sie sich von niemandem ärgern lassen.

Denn der heutige Tag war der vor dem morgigen und an jenem würde sie sich den Familienschatz sichern.

»Pass doch auf, wo du hinläufst!«, blaffte Clementine, als Schelmerei im Bocksprung über einen Grabstein setzte und knapp vor ihrer Schwester landete. »Selbst schuld, wenn man ständig auf dir rumtrampelt.«

»Nee, du bist schuld. Du hast so riesige Füße, damit musst du ja auf allem und jedem herumtrampeln.«

»Ich habe keine Riesenfüße. Du bist bloß sehr klein. Wie ein Ohrenkneifer, die kann man auch kaum im Auge behalten.«

Schelmerei schnalzte mit der Zunge und stürzte sich auf ihre Schwester, die Hände zu Beißzangen geformt.

Clementine zuckte zurück. »Gott, bist du seltsam.« Auf ihren viel längeren Beinen stakste sie davon.

»Dir ist schon klar, dass du sie nicht provozieren solltest?«

Phänomen rückte ihre Brille zurecht und fixierte Schelmerei mit wissendem Blick. Als Wissenschaftlerin konnte Phänomen nur wissend blicken. »Oder hast du vergessen, was aus deinem Katapult geworden ist?«

»Das werde ich nie vergessen.« Schelmerei hatte Clementine ja zu erklären versucht, dass sie überhaupt nicht auf sie zielen wollte, doch dafür hatten sich weder Schadenfreude noch Clementine selbst interessiert. Nun ruhte der Belagerator 5000 als Häuflein Asche in Köchins Holzofen und Schelmerei hatte bittere Rache geschworen.

Wenn sie den Schatz gefunden hätte, würde sie Clementine nichts davon abgeben, das stand schon mal fest.

Als sich die Truppe dem Haus näherte, fiel Schelmerei zweierlei auf: Erstens parkte ein Auto in der Einfahrt, ein geducktes, windschnittiges, flaschengrünes Gefährt. Die Motorhaube, die dem Maul eines Barrakudas ähnelte, zeigte wie eine vorgehaltene Waffe in Richtung Haustür. Zweitens eilte Köchin ihnen in höchstem Tempo entgegen. Mit einer Spur aus verschmiertem Öl auf der Wange, vermutlich vom Werkeln an ihrem Motorrad, rannte sie den Schotterweg hinunter und kam schließlich steinchenspritzend zum Stillstand.

»Sie ist da«, ächzte Köchin außer Atem.

Schelmerei jauchzte auf und raste zum Haus, während ihre Familie in einer Staubwolke zurückblieb.

Im Rennen ging Schelmerei gedanklich die Ausrüstung durch, die schon lange auf dem Dach bereitlag: Seil, Taschenlampe, Dietrich-Set, Gartenschaufel, Brieföffner, Fernglas, Papier und Bleistifte. Außerdem eine Schachtel Kekse und eine Flasche Wasser für den Fall, dass sie irgendwo im Haus in eine Falle geriet und nicht mehr hinauskam. Ihre Verwandten waren vermutlich besser vorbereitet. Ob Phänomen sich wohl inzwischen dazu bequemt hatte, ihr den bestellten Metalldetektor zu bauen?

In der düsteren Eingangshalle waren zunächst nur zwei Hände in weißen Handschuhen auszumachen. Schelmereis Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, um die dazugehörige Frau zu erkennen: Sie war beinahe so blass wie ihre Handschuhe und ihre Haut sah aus wie die eines Apfels, der genau einen Tag zu lang in der Obstschale gelegen hatte – irgendwie matt und schlabberig. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Jedenfalls trug sie ein Tweed-Kostüm und hatte dichtes, lockiges, ungeschickt hochgestecktes Haar von zweifelhafter Farbe. Als sie sich Schelmerei zuwandte, funkelten die kleinen runden Gläser ihrer Brille.

»Matriarchin!«, rief sie feierlich. »Es ist wieder so weit! Einmal mehr … ah.«

Irritiert betrachtete sie Schelmerei. Der war gerade wieder eingefallen, was sich gehörte, weshalb sie mit ausgestreckter Hand auf die Besucherin zuging. Die Frau warf einen Blick auf Schelmereis mit Kuchenmatsch und Erde dekorierten Hände und verschränkte ihre eigenen hinter dem Rücken, als hätte man ihr eine tote Ratte überreichen wollen.

In den folgenden Sekunden unangenehmen Schweigens trudelte der Rest der Familie ein. Vorneweg segelte Onkel Mahlstrom durch die Tür, schwer beladen mit Gepäckstücken, die nur dem Gast gehören konnten: zwei ramponierte Kisten, die vermutlich einmal vornehme Koffer gewesen waren, eine Hutschachtel und ein Haufen sonderbarer, ziemlich langer Röhren aus Leder. Sofort tobten zig Theorien durch Schelmereis Kopf, was sich darin verbergen könnte: Fernrohre? Gestohlene Kunstwerke? Vor Kurzem hatte sie vom Didgeridoo gelesen, einem ziemlich langen Musikinstrument aus Holz, das in Australien recht beliebt war. Ob die Frau vielleicht aus Australien kam?

Diese Theorie konnte sie gleich wieder verwerfen, als die Frau erneut etwas sagte. Sie sprach, wie man an einer englischen Universität spricht, allerdings recht gedämpft, also genau genommen wie in einer englischen Universitätsbibliothek.

»Da bist du ja, Matriarchin«, meinte sie hörbar erleichtert und nickte Tante Schadenfreude zu. »Und sieh an, Mahlstrom auch. Es ist wieder so weit! Einmal mehr versammeln wir –«

»Erbschaft«, fiel Tante Schadenfreude ihr ins Wort. »Du wolltest doch erst morgen kommen.«

Erbschaft nickte eifrig. »Ich weiß, ich weiß. Doch wie ich in meinem Brief ausgeführt habe, haben wir ein Thema von größter Wichtigkeit zu bespre–«

»Ich habe …« Schadenfreudes Stimme war anzuhören, dass sie derartige Ausflüchte als persönliche Beleidigung auffasste. »… keinen Brief erhalten.«

»Oh.« Für einen Moment verstummte Erbschaft. »Aber … ich habe ihn doch vor einer Woche abgeschickt, zusammen mit den übrigen Einladungen.«

Die Familienmitglieder stöhnten auf. Jeder wusste, dass Tante Schadenfreude keinem Uniformträger über den Weg traute, gleich ob es sich um Polizistinnen, Soldaten, Angehörige einer Blaskapelle, Verkaufspersonal, Feuerwehrleute, Schulkinder oder Chefköche handelte. Auch bei Postangestellten machte sie keine Ausnahme. Nur einem einzigen war es gestattet, sich dem Haus der Swifts zu nähern, nämlich ihrem guten alten Briefträger Suleiman, und der lag seit zwei Wochen mit der Grippe im Bett.

»Na, jetzt bist du nun mal da«, stellte Tante Schadenfreude widerwillig fest. »Daran kann man wohl nichts ändern. Mädchen? Das ist eure Tante Erbschaft. Erbschaft, das sind die Mädchen: Clementine, Phänomen und Schelmerei. Von der Ältesten zur Jüngsten und der Liebsten zur Lästigsten.«

»Es ist mir eine, äh, Freude«, sagte Erbschaft.

Schelmerei erkannte die Lüge sofort. Lügen sind verschlagene Kreaturen mit eigenem Willen – selbst wenn man sich noch so sehr bemüht, sie gut zu verstecken, sie kommen trotzdem irgendwo im Gesichtsausdruck oder in den Bewegungen der Hände zum Vorschein oder werden im Vom-einen-Fuß-auf-den-anderen-Treten sichtbar. Schelmerei hatte seit jeher einen exzellenten Blick für Unwahrheiten und nun ertappte sie eine knapp unterhalb des linken Auges ihrer Tante. Sie hatte wochenlang auf Erbschafts Ankunft hingefiebert, doch jetzt keimte in ihr Abneigung auf – vielleicht lag es an Erbschafts wässrigen Augen oder an ihren weißen Handschuhen oder daran, dass sie Schelmerei ansah wie ein vergammeltes Fundstück aus der hintersten Ecke eines Küchenschranks.

»Und du sollst wichtig sein?«, fragte Schelmerei zweifelnd. Sie hörte, wie Mahlstrom ein Kichern hinunterschluckte.

Tante Erbschaft richtete sich kerzengerade auf. »Das kann man wohl sagen! Ich bin die Archivarin. Es ist meine Aufgabe, nein, meine Berufung …« Mit ihren weißen Händen fasste sie sich ergriffen an die Brust und ihre Augen wurden glasig vor Erregung. »Meine Pflicht, ja, mein Vorrecht, das Leben der Swifts für die Nachwelt festzuhalten. Ich bin die Hüterin unserer Geschichte, die Chronistin unseres Erbes, die Bewahrerin unserer Traditionen –«

Tante Schadenfreude räusperte sich. »Apropos Traditionen. Wenn du dann fortfahren könntest? Aber bitte fass dich kurz.« Anscheinend fürchtete sie schon den nächsten Vortrag.

»Ja, bitte«, sagte Phänomen. »In meinem Labor läuft ein Experiment, bei dem die Zeit ein entscheidender Faktor ist.«

»Und ich muss mir überlegen, was ich morgen anziehen soll«, meinte Clementine.

»Und ich will endlich zu Mittag essen«, fügte Tante Schadenfreude hinzu.

Erbschaft wirkte empört. »Aber Schadenfreude, die beiden jüngeren Mädchen haben diesen Augenblick doch noch nie erlebt! Und die Tradition steht über allem!«

»Wartet auf die Tradition ein Pilzomelette in der Küche? Nein.«

Da spitzte Tante Erbschaft missbilligend die Lippen, so als hätte sie Schadenfreude nur zu gern die Meinung gegeigt, letztlich aber klugerweise davon abgesehen, weil sie noch ein bisschen länger leben wollte.

»Es ist wieder so weit«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Einmal mehr versammeln wir uns! Nach einem ausführlichen Studium der Bücher und meiner fachkundigen Deutung der Sterne – und nach ausgiebigen Erkundigungen, wer wann Zeit hat – berufe ich, die Archivarin Erbschaft Swift, hiermit die große Zusammenkunft der Swifts ein. Wir kehren also ins Zuhause unseres Hauses zurück, um die Bande zwischen uns zu stärken, um den Familienfrieden zu erhalten und um nach unserem verlorenen Vermögen zu suchen. Wie wir es bereits vor Jahrzehnten getan haben und noch in Jahrzehnten tun werden, solange unser Name auf Erden erklingen mag. Matriarchin Schadenfreude, sind wir hier willkommen?«

»Hmm?«, machte Schadenfreude. »Ach so … denke schon.«

»Damit ist es vollbracht!« Schwungvoll breitete Erbschaft ihre Arme aus. »Das Familientreffen ist offiziell eröffnet!«

2. Das Wörterbuch

In der Frühzeit der Familie Swift, in den alten Wams-und-Strumpfhosen-Tagen, wurde der Familiennachwuchs stets Mary oder John getauft. Dies hatte jedoch ein schreckliches Durcheinander zur Folge, etwa wenn beim Abendessen ein John die Kartoffeln reichen sollte und zehn Hände zugleich vorschnellten. Deshalb kam Mary Swift XXXV. auf die Idee, ihre Kinder mithilfe des Familienwörterbuchs zu benennen. Ihr Einfall setzte sich durch – und mit den Swifts ging es steil bergauf. Eine Mary oder ein John werden leicht übersehen, eine Trug oder ein Frösteln aber bleiben im Gedächtnis.

An den Tag ihrer Geburt erinnerte Schelmerei sich nicht, doch sie konnte sich die Szene in allen Details ausmalen: ein weiß möbliertes Zimmer, Ärztin und Hebamme, das müde Lächeln ihrer Mutter, als Schelmereis Vater zum x-ten Mal das Kopfkissen zurechtzupft. Auch von sich selbst hatte sie ein Bild vor Augen, eingepackt wie ein Erdnüsschen und mit einer Vielzahl störrischer Haare auf dem Kopf, die ihr schon damals zu Berge standen. Außerdem stellte sie sich das Wörterbuch vor – kein Kunststück, sie hatte es jetzt gerade direkt vor Augen –, ein uraltes, in Leder gebundenes Monstrum von einem Wälzer, das aus allen Fadenheftungen platzte, prall gefüllt mit Seiten aus Kalbsleder und Pergament und Papier mit Einträgen in gestochen scharfer Computerschrift, krummen Schreibmaschinenlettern oder handgekrakelten Buchstaben, bei denen das lang gezogene S mehr nach einem F aussah.

Das Wörterbuch war also irgendwann hereingebracht, auf das Bett gelegt (vor ihrem geistigen Auge sah Schelmerei die gerümpften Nasen des Krankenhauspersonals) und von Schelmereis Mutter an einer zufälligen Stelle aufgeschlagen worden, natürlich mit geschlossenen Augen. Im Anschluss hatte die Mutter ihren Zeigefinger über die Seite wandern und an irgendeinem Punkt anhalten lassen, auf einem bestimmten Wort samt Definition, dem Namen ihres Neugeborenen.

Schelmerei konnte sich all das bildlich vorstellen, weil die ersten Minuten im Leben eines jeden Familienmitglieds so und nicht anders abliefen. Soweit sie wusste, gab es nur eine einzige Ausnahme: Großonkel Hygge. Der war fünf Wochen vor dem Geburtstermin während eines Familienurlaubs in Dänemark zur Welt gekommen und so mussten sich seine Eltern mit dem behelfen, was gerade zur Hand war.

Tante Erbschaft hatte kaum zu Ende gesprochen, als Clementine schon die Treppe hinaufschoss, Tante Schadenfreude und Köchin sich in eine Diskussion über die Menüfolge stürzten und Mahlstrom an seinem Taschenmesser den Füllfederhalter ausklappte, um sich diesen mal genauer anzuschauen. Da sowieso niemand mehr auf sie achtete, näherte Tante Erbschaft sich der imposanten Glasvitrine mit dem Wörterbuch. Es war so aufgeschlagen, dass man die Titelseite lesen konnte.

Das Wort »illuminiert« hat zwei Bedeutungen, einerseits »von hellem Licht beleuchtet«, andererseits »farbenfroh und kunstvoll verziert«. Die Titelseite war beides und auf der illuminierten illuminierten Seite prangte ein in verschnörkelten Buchstaben gedruckter Schriftzug:

WÖRTERBUCH DES HAUSES SWIFT

Tante Erbschaft näherte sich so weit, bis ihre Nase fast gegen das Glas stieß. Sie löste einen kleinen Schlüssel von ihrer Halskette. Behutsam, voller Ehrfurcht, schloss sie die Vitrine auf und streckte die zitternden Finger einer weiß behandschuhten Hand nach dem vergilbten Papier aus.

Da raschelte es im oberen Stockwerk, als würde irgendwer hektisch in einem riesigen Buch blättern, dann ertönte ein immer lauter und schriller werdendes Kreischen und plötzlich ratterte Clementine die Stufen hinunter. Auf der ganzen Länge der großen Treppe, der Fliehenden dicht auf den Fersen, flatterten Motten.

Schelmerei lächelte.

Ein paar Tage nach der Zerstörung des Belagerator 5000 hatte sie bei Suleiman die Post abgeholt. Für sie selbst war ein kleines, quadratisches Paket dabei gewesen. Die Oberseite war durchlöchert gewesen und innen drin waren Dutzende Raupen herumgewuselt, genau wie bestellt – die Werbeanzeige auf der Rückseite der Tierzeitschrift hatte nicht zu viel versprochen. Schelmerei war tief in Clementines höhlenartigen Schrank gekrochen, hatte das Paket geöffnet und den Larven die Kleider ihrer Schwester zum Fraß vorgeworfen. Sie hatten sich durch Seide, Schafs- und Baumwolle gefuttert, waren dick und rund und müde geworden und hatten sich in ihrem dunklen, warmen, trockenen Versteck in Kokons eingesponnen.

Jetzt waren sie offenbar geschlüpft.

Schelmerei wünschte, sie hätte miterlebt, wie Clementine den Schrank geöffnet hatte und von den starren Blicken der Motten begrüßt worden war. Ihre samtigen Leiber waren so groß wie Schelmereis Hand und auf ihren Flügeln befanden sich zwei riesenhafte gelbe Augen – zur Täuschung leicht zu beeindruckender Fressfeinde. In einem wild blinzelnden Wirbelwind fegten sie nun am Kronleuchter vorüber und ließen einen Staubregen niedergehen. Ihre Flügel strichen über Schelmereis Gesicht, was sie gar nicht unangenehm fand – es war, als würde sie von einem kuschelweichen Tornado geherzt. Tante Erbschaft, die sich schreiend durch die Haare fuhr, teilte diese Empfindung offenbar nicht. Angelockt von der Illumination (erste Bedeutung) des Wörterbuchs, schwirrte schon bald eine Motte in die Glasvitrine hinein und bei diesem Anblick brüllte Erbschaft auf, als würde sich jemand mit entzündetem Streichholz der Mona Lisa nähern.

In aller Ruhe, ungerührt von dem Chaos und Geschrei, knipste Phänomen das Licht aus. Schon wussten die Motten nicht mehr, wohin – einige flogen tiefer ins Haus hinein, die meisten flohen jedoch durch die offene Tür in Richtung Mittagssonne und erschreckten die ortsansässigen Vögel.

Schelmerei lachte aus vollem Hals.

Clementine wirbelte herum und fixierte sie mit blitzenden, feuchten, von Zorn erfüllten Augen.

»Schau dir das an!«, kreischte sie und reckte einen Fetzen blauer Seide in die Höhe. Möglich, dass er einmal ein Kleid gewesen war; auf jeden Fall hatten die Motten so viele Löcher hineingefressen, dass er nun einen einwandfreien Tintenfisch-Badeanzug abgegeben hätte.

Schelmerei musste noch lauter lachen.

»Du hast meine Kleider ruiniert!«, rief Clementine. »Die Hälfte davon war selbst genäht!«

»Gut so. Hast es nicht anders verdient!«

»Schelmerei.« Köchins Lederjacke quietschte leise, als sie die Arme verschränkte. Schelmerei sah in Köchins strenges Gesicht und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie spähte hinüber zu Mahlstrom, ihrem treuesten Verbündeten, aber das machte es nur schlimmer. Er wirkte betrübt.

»Was denn?«, rief sie. »Clementine hat doch angefangen!«

»Du kleines Monster! Wie fändest du es denn, wenn ich etwas Selbstgemachtes von dir kaputt mache?«

Schelmereis Magen weitete sich wohltuend. »Hast du doch! Das war die Rache für den Belagerator 5000! Den –«

»Dein blödes Katapult?! Daran hast du einen Nachmittag gebastelt! Ich hab an manchen Kleidern wochenlang gesessen!«

»Es war nicht blöd! Es war –«

Krack.

Dieses Geräusch – das Krachen von Tante Schadenfreudes Gehstock auf dem Treppengeländer – ließ beide Mädchen verstummen. Schadenfreudes stecknadelscharfer Blick nagelte Schelmerei fest, als wäre sie eine der Motten aus dem Schrank, der eine Zukunft im Schaukasten drohte.

»Erbschaft?«, fragte Schadenfreude zunächst. »Alles in Ordnung?«

Tante Erbschaft wischte sich immer noch imaginäre Insekten aus den Haaren. Ihre einst blütenweißen Handschuhe waren staubgrau. »Ja … Ja, ich glaube schon.«

»Schelmerei«, knurrte Schadenfreude nun. »Entschuldige dich bei deiner Tante.«

»Entschuldigung«, sagte Schelmerei sofort. »Mit dir habe ich kein Problem. Also, bisher.«

Schadenfreude nickte. »Gut. Und jetzt bei deiner Schwester.«

»Nein.«

Schadenfreude blickte Schelmerei finster an. Schelmerei blickte finster zurück, straffte ihre Schultern und sammelte Kraft für einen ordentlichen Schrei- und Füßestampfanfall.

Doch Schadenfreude zuckte bloß die Achseln. »Dann eben nicht.«

Clementines Mund klappte auf. »Wie bitte? Sie kommt einfach so davon?«

»Nicht doch. Sie wird selbstverständlich bestraft«, erwiderte Tante Schadenfreude mit einem warnenden Blick auf Schelmerei, die einen sehr zurückhaltenden Freudentanz aufführte. »Aber ob es viel bringen wird? Ich bezweifle es. Sie ist, wie sie ist. Für ihren Namen kann sie nichts.«

»Das kann doch keine Ausrede sein!«

»Aber die Ursache«, sagte Tante Erbschaft und klatschte in die Hände, um sie so gut wie möglich vom Staub zu befreien. »Die Macht des Wörterbuchs ist nicht zu unterschätzen. Sie hieße nicht Schelmerei, wenn es nicht der passende Name für sie wäre.«

Schelmerei runzelte die Stirn. Sie ging jeden Tag am Familienwörterbuch vorbei. Es war bloß ein Buch und nichts weiter. Okay, es war deutlich zu groß für die Badewanne, aber Buch war Buch.

»Was soll das denn heißen?«, fragte Schelmerei argwöhnisch.

»Mich nannte es Erbschaft, weil es wusste, dass ich mich der Familienchronik annehmen würde. Deinen Onkel nannte es Mahlstrom, weil es in ihm den künftigen Seemann erkannte. Und dich nannte es Schelmerei, denn du bist eine geborene Unruhestifterin.«

Phänomen grunzte ungläubig. »Soll das heißen, das Wörterbuch ist magisch?«

»Nein«, schluchzte Clementine. »Es soll heißen, ich muss es einfach mit ihr aushalten!« Sie stürmte die Treppe hinauf, das nasse Gesicht in ihrem Seidenfetzen vergraben.

Schelmerei weigerte sich, ein schlechtes Gewissen zu haben. Früher oder später würde Clementine sich schon wieder beruhigen. Es waren doch nur ein paar Kleider gewesen. So lang hatte sie bestimmt auch wieder nicht fürs Nähen gebraucht.

Tante Erbschaft seufzte. »Die arme Clementine. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie einen profanen Namen hat.« Damit war gemeint, dass der Name Clementine genau wie Friede, Roman, August und Marina in der normalen Gesellschaft, also außerhalb der Familie Swift, nicht weiter aufgefallen wäre. Dass er tatsächlich nicht »süße Zitrusfrucht« bedeutete, sondern »die Sanftmütige«, änderte daran auch nichts. »Verwandte wie sie führen stets ein ganz und gar langweiliges und durchschnittliches Leben. Denkt nur an Erztante Heiderose – eine reizende Dame, aber dass sie ausgerechnet Optikerin wurde! Das war uns allen ein Dorn im Auge. Ach, da fällt mir ein …« Erbschafts kleine, runde Brillengläser blitzten Tante Schadenfreude an. »Wir hatten doch etwas zu bespre–«

Aus einem anderen Teil des Hauses drang ein dumpfes Bumm herüber.

»Wie gesagt.« Phänomen atmete durch. »Bei meinem Experiment war die Zeit ein entscheidender Faktor.« Und sie stapfte davon, um den durch die Explosion entstandenen Schaden zu begutachten.

3. Die Kartografie des Inneren

Hätte das Haus der Swifts je zum Verkauf gestanden, wäre das Objekt vermutlich so oder so ähnlich angepriesen worden:

ZU VERKAUFEN

Charmantes, eigenwilliges Herrenhaus aus dem 17.Jahrhundert. Kern des Gebäudes 1602 errichtet, später mit Erweiterungen versehen. Ein Bauwerk mit viel Persönlichkeit und ausgeprägtem Charakter! Herrliche Lage in abgeschiedenem Landstrich, deutlich außer Hörweite der nächsten Siedlung. Die perfekte Wahl für alle, die dem Trubel der Welt entfliehen wollen! Etwas liebevolle Zuwendung vonnöten.

Übersetzt hieß das: An eine riesige, dreistöckige Schuhschachtel von einem Haus waren im Lauf der Jahre mehrere Anbauten geklebt worden wie alte Kaugummis. Dem ursprünglichen Gebäude wuchsen in den ersten hundert Jahren ein Ost- und ein Westflügel. Die Viktorianer pappten im 19.Jahrhundert einen Wintergarten hintendran. Und aus Gründen, die niemand mehr nachvollziehen konnte, baute Erzonkel Schwülstig ein Türmchen ans eine Ende des Dachs. Im Ergebnis hatte der kastenförmige Klotz mit dem deplatzierten Stummelturm starke Ähnlichkeit mit dem Kopf eines Nashorns.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da waren die Swifts wohlhabend und das Haus, so seltsam es auch aussah, immer frisch gestrichen gewesen, seine Regenrinnen stets vom Laub befreit. Doch wie seine Bewohner hatte auch das Haus einen Abstieg erlebt, war verfallen und leicht verlottert. Schimmel, Staub und Verschleiß hatten die Herrschaft erlangt. In vergessenen Winkeln regierten Nagetiere, Vögel und Fledermäuse geheime Königreiche. Wirklich hässlich war das Haus dennoch nicht, sondern durchaus hübsch anzusehen, wenn man den Kopf schief legte und die Augen fest zusammenkniff.

Schelmerei liebte ihr Zuhause und trotzdem versuchte sie daraus auszubrechen, seit sie sich länger als eine Minute auf den Beinen halten konnte. Und nichts anderes wurde von ihr erwartet, schließlich hieß sie, wie sie hieß. Tante Schadenfreude gab sich zwar alle Mühe, ihre Großnichte davon abzuhalten, zu nachtschlafender Zeit draußen über das Gelände zu streifen, doch Schelmerei hatte Glück: Ihre Vorfahren hatten nicht nur am Äußeren des Gebäudes herumgepfuscht, nein, Generation um Generation hatte sich auch durch sein Inneres gegraben wie Wühlmäuse durch eine Matratze. Sie hatten Geheimgänge gebohrt, wehrlosen Porträts die Augen ausgestochen, um unauffällige Gucklöcher zu schaffen, in mehrere Einbauschränke eine zweite Rückwand eingezogen und sogar die eine oder andere Falltür springen lassen. Schelmerei hatte insgesamt drei Schleichwege ins Freie gefunden, von denen ihre Tante bislang nur zwei entdeckt und abgeriegelt hatte.

Da diese Ergänzungen nur selten auf den Bauplänen des Hauses verzeichnet waren, lebten seine Bewohner in einem permanenten Zustand leichter Panik. So wurde etwa gemunkelt, dass ein gutes Viertel der Bücher in der Bibliothek nicht zur Lektüre diente, sondern versteckte, mitunter gar tödliche Fallen auslösen sollte. Erzcousin Stehpult hatte dies auf besonders bittere Weise erfahren – er war von einem Band mit Erzählungen von Edgar Allan Poe in eine tiefe Grube befördert worden.

Dem Nachwuchs der Swifts wurde früh beigebracht, seinen Lesestoff mit Bedacht auszuwählen.

An diesem Nachmittag schnallte Schelmerei sich ihre Schienbeinschützer um, denn sie war zwangsrekrutiert worden, Köchin bei ihrem Kreuzzug gegen Schmutz und Dreck zur Seite zu stehen. Zur Vorbereitung des Familientreffens hatte Köchin sich nämlich vorgenommen, bewaffnet mit einem Dutzend Staubwedeln und eingehüllt in eine Wolke aus Politurgestank kreuz und quer durchs Haus zu marschieren. Als Fußsoldatinnen wider Willen dienten ihr außerdem Phänomen und Clementine – während Köchin einhändig Sofas und Tische anhob (die nötige Kraft hatte sie, ihr Bizeps war so dick wie drei zusammengeschnürte Schweinshaxen), wuselten die Mädchen darunter hindurch und bliesen mit Besen und Kehrblech zur Jagd auf Staubmäuse. Auch Onkel Mahlstrom packte mit an, er hob Schelmerei empor, wenn es in den höchsten Winkeln eine Spinne zu retten gab.

Gegen diese Aufgabe hätte Schelmerei überhaupt nichts einzuwenden gehabt, wäre da nicht auch noch Tante Erbschaft gewesen. Als Gast war sie natürlich von den Reinigungsarbeiten befreit, aber musste sie sich deswegen gleich überall breitmachen? Hinter jeder Ecke schien ihre farblose Haarpracht wie ein Heiligenschein über irgendwelchem Schnickschnack zu schweben, während sie sich über dessen ach so interessante Geschichte ausließ. Als hätte irgendjemand ein neues Möbelstück angeschafft, das einem nun überall im Weg herumstand.

»Oh, wie wundervoll!«, rief Erbschaft gerade und nahm irgendein Ding vom Kaminsims. »Hier, die eingravierten Initialen: O. S.! Und dazu eine schwarze Lilie – das Erkennungszeichen von Omen Swift! Omen wanderte im 16.Jahrhundert nach Spanien aus und sagte die Stürme vorher, welche der Spanischen Armada den Untergang bringen sollten – nur leider sprach sie kein Spanisch, weshalb der alte König Philipp nicht auf sie hörte. Das ist ein wichtiges Zeugnis unserer Familiengeschichte!«

»Es ist ein Lufterfrischer«, flüsterte Köchin in Onkel Mahlstroms Ohr. Der machte ein Geräusch, das man bei einer kleineren Person für ein Kichern gehalten hätte. Erbschaft schaute sich misstrauisch um und nahm schließlich Schelmerei ins Visier, die auf der Schulter ihres Onkels thronte und eine Unschuldsmiene aufgesetzt hatte.

»Hmm, ja«, sagte Erbschaft. »Eine kluge Idee, sie auf Trab zu halten.« Sie lächelte Köchin verschwörerisch zu.

Köchin zog die Stirn kraus. »Was soll das heißen?«

»Na, es muss doch anstrengend sein, eine Schelmerei im Haus zu haben«, erläuterte Erbschaft und klopfte Köchin gütig auf die Schulter. »Eine Swift mit einem solchen Namen – die muss man im Auge behalten. Wer weiß, was aus der mal wird!«

Wirklich böse war Erbschafts Lächeln nicht und trotzdem versetzte es Schelmerei einen kleinen Stich. Clementine, die in der Nähe eine Anrichte polierte, schnaubte verärgert. Köchin wiegte ihren Staubwedel in der Hand, als wollte sie überprüfen, ob er als Waffe taugte. Und Onkel Mahlstrom schob sich zwischen Köchin und Erbschaft wie ein im Meer treibender Eisberg zwischen zwei Schlachtschiffe.

»Ich hätte da eine Idee«, knurrte er. »Warum erzähle ich nicht nebenbei die Geschichte vom Familienschatz? Wenn ich irgendwo falschliege, wirst du’s mir schon sagen, Erbschaft.«

Die Mädchen horchten auf. Von all ihren Verwandten konnte Onkel Mahlstrom mit Abstand am besten erzählen. Jede von ihnen hatte sich das eine oder andere Mal krank gestellt, nur damit er sich an ihr Bett setzte und etwas vorlas. Er machte immer alle Stimmen nach.

Tante Erbschaft nickte würdevoll und bedeutete Mahlstrom mit einem Wink, dass er anfangen könne.

»Es ist eine alte Geschichte«, brummte er, »fast so alt wie unsere Sippe und schon so häufig erzählt, dass sie abgenutzt und abgewetzt ist wie unser Wörterbuch. Vor langer Zeit – die Namen der Swifts waren noch frisch, das Haus ebenso –, da starb Eibe Swift, das Oberhaupt der Familie. Er hinterließ ein kleines Vermögen, das er gerecht aufteilte: Je ein Drittel ging an seine Söhne Wohlan und Zuwider und an Behende, seine einzige Tochter.«

»Die aufgrund einer flammenden Hamlet-Leidenschaft nach Dänemark auswanderte«, unterbrach Erbschaft ihn. »Tatsächlich hatte sie ein faszinie–«

»Schscht«, machte Köchin.

»Ganz richtig, Behende machte sich auf in die Ferne – und überließ das Haus ihren Brüdern. Wohlan, der Erstgeborene, zog in den Westflügel …« Mahlstrom schwenkte seine Hand und damit auch Schelmerei, die sich glucksend an seinen Arm klammerte wie an eine Segelstange, gen Westen. »… Zuwider, der Jüngere, in den Ostflügel. Die beiden, tja, die beiden waren wie Tag und Nacht. Wohlan war ein anständiger Mann, jedenfalls so anständig, wie ein reicher Mensch sein kann. Er war Philanthrop – was das bedeutet, wollt ihr wissen? Dass er eine Menge Geld an Waisenhäuser und so weiter spendete. Zuwider hingegen …« Mahlstrom schüttelte den Kopf und grummelte, als hätte er seinen Vorfahren persönlich gekannt. »Seine Liebe zum Gold war so groß – hätte er einen Käufer für die Knochen seines Vaters gefunden, er hätte sie eigenhändig ausgebuddelt und verkauft. Mit seinem Anteil am Erbe verfolgte er ehrgeizige Pläne. Er steckte jeden Penny davon in immer neue Projekte. Bergbau, Handel, Manufakturen … und bekam trotzdem nie den Hals voll. Wohlans Geldverschwendung, denn genau deren machte sich sein Bruder in Zuwiders Augen schuldig, regte ihn fürchterlich auf. ›Gib mir deinen Anteil‹, bedrängte er ihn, ›und bald sind wir zwei reich wie Könige.‹ Die beiden zankten und zankten, es nahm kein Ende. Bis Wohlan eines Tages im Garten aufgefunden wurde, mit einem Beil im Nacken, tot.«

Onkel Mahlstrom legte eine Kunstpause ein.

»Zuwider wurde nie verhaftet. Es kam nie zum Prozess. Doch er hat seinen Bruder Wohlan ermordet. So sicher, wie der Himmel blau und das Wasser nass ist, und so wahr ich hier stehe.«

Bei diesen Worten wurde Schelmerei jedes Mal eisig kalt. An manchen Wänden hingen bis heute Porträts von Zuwider. Auch ein großes Gemälde in der Eingangshalle, auf dem Eibe und seine drei Kinder im Schatten der gigantischen Eiche zu sehen waren, die einst über den Rasen vor dem Haus geherrscht hatte … Schelmerei hatte stundenlang das Gesicht des jungen Zuwider studiert und versucht, in seinen Zügen den Mörder zu identifizieren.

»Wohlan hatte seiner Frau und Tochter etwas Geld hinterlassen, doch ohne männlichen Erben (was zu jener Zeit wohl eine Rolle spielte) ging alles andere an Zuwider über – auch Wohlans Anteil an dem Haus. So wuchs und wuchs Zuwiders Reichtum. Er war Handelsmann, wurde dann Adliger, später gar Baron. Seine Nichte verheiratete er an den erstbesten Freier und schickte sie mit ihm ins Ausland. Im Garten errichtete er ein Denkmal für sich selbst, gerüchteweise genau dort, wo er Wohlan ermordet hatte.

Doch mit Zuwiders Besitz wuchs auch seine Angst. Er lebte in Furcht vor seinen Verwandten. Am allermeisten fürchtete er, einer von ihnen könnte es sich in den Kopf setzen, ihn auszurauben, so wie er seinen Bruder ausgeraubt hatte. Zuwider räumte seine Bankkonten leer und von dem Geld beschaffte er Gold, Silber, Juwelen – egal was, Hauptsache, es war etwas wert. So häufte er einen wahren Drachenschatz an und wie ein Drache hockte er sich obendrauf und blieb, wo er war. Nie wieder verließ er das Grundstück der Swifts. Er kapselte sich von der Welt ab, empfing keine Gäste mehr, verständigte sich nur noch per Brief. Als er endlich verstarb, traute sich erst eine Woche später eine tapfere Seele, seine Leiche zu bergen.«

»Da muss sie schon richtig matschig gewesen sein«, warf Schelmerei mit wohligem Ekel ein. »Seine Augen waren bestimmt total eingesunken und sein Körper hatte sich aufgebläht und die Ratten –«

»Ist ja gut.« Tante Erbschaft schluckte. »Wir sollten das Dahinscheiden unseres Vorfahren nicht noch bejubeln.«

»Die arme Behende versank in Trauer, als sie vom Tod ihrer Brüder erfuhr. Sie kehrte nach England zurück, in ihr Elternhaus, das nun ihres war. Durch Zuwiders Egoismus hatte sich die Familie gespalten und in alle Winde zerstreut. Doch in ihrer Klugheit fasste Behende einen Plan, sie wieder zu vereinen: Sie lud alle, wirklich alle Swifts ein, nach Hause zurückzukehren und auf die Jagd nach dem verlorenen Vermögen zu gehen. So kam es zum ersten Familientreffen und so wurde Behende zur ersten Matriarchin.«

»Und der Schatz?«, fragte Schelmerei ungeduldig.

»Bei ihrem ersten Treffen suchte die Familie jeden Winkel ab, bei all den folgenden ebenfalls«, sagte Mahlstrom und hielt inne, um dem finalen Tusch Wirkung zu verleihen. »Doch nie fand man auch nur den kleinsten Hinweis auf den Verbleib von Zuwiders Schatz.«

Es folgte eine Pause und Mahlstrom blieb stumm, bis die Stille beinahe unerträglich wurde. Dann klatschte er so laut in die Hände, dass Erbschaft zusammenzuckte. »Das war’s! Das war die ganze Geschichte und die ist hiermit zu Ende.«

»Gut erzählt!«, rief Erbschaft strahlend – und konnte sich trotzdem eine kleine Ergänzung nicht verkneifen. »Obgleich natürlich nichts über Behendes eigene Worte geht, sprich über ihr Drama Die traurige Tragödie von Wohlan und Zuwider. Unser Cousin Mimisch wird es am Samstag zur Aufführung bringen. Wiederum obgleich selbst Behendes Stück nicht halb so spannend ist wie die alten Haushaltsbücher und Steuerunterlagen der Familie …«

Während Erbschaft zu einem Vortrag über die buchhalterischen Gepflogenheiten vergangener Jahrhunderte anhob, rutschte Schelmerei von Onkel Mahlstroms Schulter hinunter. Er tat so, als würde er ihr Verschwinden nicht bemerken, derweil sie sich in einen Geheimgang hinter einer alten Ritterrüstung verdrückte. Schelmerei hatte nämlich eigene Pläne, die es weiterzuverfolgen galt.

Seit einem Jahr schon arbeitete sie an ihrer Karte. Es war ein tollkühnes Unterfangen: Alle verborgenen Winkel, gut getarnten Gänge und Unterschlupfe im Haus wollte sie erforschen und aufzeichnen. Ein Ding der Unmöglichkeit, hätte praktisch jeder gesagt, aber Schelmerei war nicht praktisch jeder. Menschen wie sie, die eine solch fein austarierte Mischung aus Neugier und Sturheit an den Tag legten, entdeckten entweder versunkene Städte oder landeten irgendwann hinter Gittern. Ja, die neuen Fluchtwege, die sie bei ihren Streifzügen nebenbei aufgetan hatte, kamen Schelmerei ganz gelegen. In Wirklichkeit suchte sie jedoch nach dem verlorenen Vermögen der Swifts, nach Zuwiders Schatz, in welcher Ecke des Anwesens der alte Großonkel ihn auch vergraben haben mochte.

Mit diesem Schatz hatte Schelmerei einiges vor. Was genau sie mit dem Geld zu tun beabsichtigte, schwankte und wechselte je nach ihrer Stimmung, doch es war immer eine große Portion Abenteuer dabei. Und sollte ihr doch noch irgendein dahergelaufenes Familienmitglied die Beute wegschnappen, würde sie ohne Zweifel vor Neid in Flammen aufgehen und verkohlt umfallen.

Kater John schlenderte vorbei, im Maul eine taubengroße – und tote – Motte. Gedankenverloren kraulte Schelmerei ihn hinter den Ohren. Den größten Teil der Geheimräume und -gänge hatte sie schon in ihren Plan eingezeichnet, nun konzentrierte sie sich auf verdächtige Gemälde. Wenn in einem Krimi nach einem Wandtresor oder einer alten Schatzkarte geforscht wurde, wurde man schließlich am Ende so gut wie immer hinter dem seltsamsten und hässlichsten Gemälde weit und breit fündig. Und da Krimis im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern der Bibliothek definitiv keine Falle auslösten (dafür galten sie als zu lehrreich), waren etliche Swifts sehr begeisterte Krimileser, die sich bei der Wahl ihrer eigenen Geheimverstecke ebenjene Idee daraus abschauten. Dies hatte zur Folge, dass Schelmerei nun in einem Haus voller geschmackloser Kunstwerke wohnte.

Auf der Rückseite der Karte hatte sie sich notiert, was sie auf ihrer mühseligen Erkundungstour durch die Stockwerke schon alles entdeckt hatte:

VERDÄCHTIGE GEMÄLDE IM ZWEITEN STOCK

KORALLENROTES ZIMMER:

Entengrütze (Wasserfarben): Wandtresor, aufgebrochen, leer

Clown, sein schweres Los beklagend (Ölfarben auf Leinwand): nichts

Sardinendosenfabrik bei Sonnenuntergang (Ölfarben auf Holz): loser Ziegelstein, dahinter altes Tagebuch (langweilig)

Affe auf Schaukelpferd (Bleistiftzeichnung): Guckloch in benachbartes Badezimmer

BADEZIMMER:

Meeresweiten bei Nieselwetter (Pastellfarben): nichts

Seejungfrau verspeist einen Hotdog (Wasserfarben): Guckloch in benachbartes Zimmer

FLUR, ZWEITER STOCK:

Stillleben einer Schüssel mit Pistazien (Pastellfarben): roter Knopf, NICHT DRÜCKEN!

Die Herzogin mit dem mürrischen Blick (Ölfarben auf Leinwand): Wandtresor, nicht verriegelt, enthält vergammeltes Sandwich

Eine Studie in Tintenschwarz (Tinte auf Papier): Botschaft in roter Farbe (hoffentlich?!), nicht zu entziffern

Nonne, in der Nase popelnd (Ölfarben auf Leinwand): Wäscheschacht

Bisher also nichts Ungewöhnliches.

Schelmerei lehnte sich gegen die Wand, angelte eine bräunliche Apfelhälfte aus den Tiefen ihrer Hosentasche und grübelte über ihre nächsten Schritte. Aus dem Stockwerk unter ihr war zu hören, wie Clementine beim Staubwischen ein französisches Lied trällerte. Aus dem Erdgeschoss, wie Köchin Phänomen mit lauter Stimme eine Einkaufsliste für eine Supermarkttour in letzter Minute diktierte. Wenn sie sich beeilte, konnte Schelmerei mit dem Grüngelben Zimmer anfangen, bevor irgendjemand ihre Abwesenheit bemerkte.

Sie warf das Kerngehäuse in den Wäscheschacht hinter Nonne, in der Nase popelnd und wischte ihre klebrigen Finger rasch an der Tapete der benachbarten Mauernische ab.

Da stutzte sie.

Unter den Fingern spürte sie keine Tapete, sondern die kühle, leicht hubbelige Glätte von Ölfarbe auf Leinwand. Sie sah genauer hin.

Wie ihr langsam aufging, stand sie überhaupt nicht vor einer Mauernische. Sie stand vor einem bodenlangen und deckenhohen Gemälde, das einem leeren Stück Flur zum Verwechseln ähnlich sah. Dort, wo das Bild in die eigentliche Wand eingepasst worden war, verlief ein schmaler Spalt. Hätte sie nicht wie wild mit den Händen daran herumgewischt, hätte Schelmerei ihn nie im Leben bemerkt.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie grub ihre Finger in die schmale Lücke am Rand des Gemäldes. Kurz wünschte sie sogar, sie hätte so lange Nägel wie Clementine – doch die Wand war so nett, an zwei schlanken Scharnieren geschmeidig nach außen zu schwingen. Dahinter befand sich eine Tür.

Noch bevor sie vor der aufklappenden Wand zurückgewichen war, hatte Schelmerei in Gedanken die Goldmünzen gezählt. Deshalb war es ein schwerer Schlag, nun erkennen zu müssen, dass die Tür weder mit einer Klinke noch mit einem gewöhnlichen Schloss ausgestattet war. Da war bloß ein winziges rundes Loch auf Augenhöhe, so klein, dass ein Zahnstocher gerade so hineingepasst hätte.

Als anständige Entdeckerin hatte Schelmerei natürlich immer ein Schweizer Taschenmesser dabei und als ehrgeizige Entfesselungskünstlerin stets eine Handvoll Büroklammern, bestens geeignet zum Knacken von kleinen Schlössern. Doch selbst nachdem sie minutenlang gebohrt und gestochert hatte, wollte sich der geheime Zugang nicht öffnen. Wer auch immer sich diese Tür mit Miniaturschloss ausgedacht hatte, er oder sie hatte dafür gesorgt, dass Kinder nicht daran vorbeikamen – eine beachtliche Leistung.

Dahinter gelangte Schelmerei also nicht, herausfinden könnte sie aber vielleicht sehr wohl etwas. Als Erstes hämmerte sie kräftig gegen die Tür. Dann legte sie sich flach auf den Teppich, drückte ihre Nase in den Spalt zwischen Tür und Boden und atmete mit einem kräftigen Schnaufen ein. Als Letztes nahm sie den Taschenspiegel aus ihrem Rucksack und kippte ihn vor der Unterkante der Tür hin und her, bis der Winkel genauuuuu richtig war.

Aus alldem konnte sie mehrere Schlüsse ziehen: Dem hohlen Klopfgeräusch nach verbarg sich hinter der Tür ein gar nicht so kleiner Raum. Dieser war voll kühler, trockener, nach alten Büchern duftender Luft. Im Spiegel war bloß Dunkelheit zu sehen gewesen, folglich war das Zimmer wahrscheinlich fensterlos.

Krimis. Der ungefährlichste Lesestoff der Bibliothek.

Schelmerei hockte sich auf den Boden und grübelte wieder über ihre nächsten Schritte. Im Angesicht eines dringenden Problems fällt es nie leicht, sich einzugestehen, dass es keinen großen Unterschied macht, ob man etwas oder aber überhaupt nichts tut. Für Schelmerei, die von Natur aus stark zum etwas Tun neigte, wäre es eine besonders schlimme Niederlage gewesen, einfach Leine zu ziehen und die verriegelte Tür eine verriegelte Tür sein zu lassen. Darum beschloss sie, das Ganze weniger als Leineziehen zu betrachten denn als taktischen Rückzug.

Sie zückte einen Stift und erweiterte ihre Liste der verdächtigen Gemälde.

Wandgroßes Gemälde, getarnt (Ölfarben auf Leinwand): Geheimraum?????

Dann zeichnete sie ein großes rotes Fragezeichen in den Flur im zweiten Stock. Genau dorthin, wo der Karte zufolge bloß ein ödes Stück Wand sein sollte.

4. Forschungsvorhaben

Ums Essen wurde an diesem Abend nicht viel Tamtam gemacht. Tante Schadenfreude speiste in ihrem Zimmer und Mahlstrom ging früh zu Bett, nachdem er mit den ausgestopften Hirschen im Salon ins Gehege geraten und von einem abstürzenden Geweih leicht verwundet worden war. Zwischen den Narben, welche die dunkle Haut seiner Arme und Hände sprenkelten, den Andenken an etliche Malheure in seinen Jahren auf See, waren mehrere brandneue Verletzungen zu erkennen. Schelmerei, die exakt null Narben vorzuweisen hatte, war extrem neidisch.

Nach und nach fanden sich die übrigen Familienmitglieder, erschöpft von der Putzaktion, am Küchentisch ein. Dumm nur, dass Erbschaft kein bisschen erschöpft war – sie kaute pausenlos irgendein Stück Swift-Geschichte durch und verlor tausend Worte über einer einzigen Brotscheibe. Begeistert wie eine Gefängnisinsassin auf dem Weg zur Guillotine nahm Schelmerei neben ihr Platz. Köchin zwinkerte ihr über den Kopf der Tante hinweg zu und tat so, als wollte sie diese mit der Schöpfkelle k.o. schlagen.

»Schelmerei! Hände!«, kreischte Erbschaft. »Erst die Hände waschen. Und setz dich gerade hin! Was macht ihr so lange Gesichter, Mädchen? Ihr seht ja aus wie mein erstes Pferd.«

Köchin stellte einen Teller an Schelmereis Platz und steckte ihr einen Extrabrocken Knoblauchbrot zu.

»Rasputin hieß er. Ein großer, dicker Rotschimmel und immer höllisch schlecht gelaunt. Clementine, du siehst ihm so ähnlich, ich hätte dir fast ein Stück Würfelzucker angeboten.«

Schelmerei kannte Köchin schon seit ihrer Geburt und lange hatte sie sie für eine Cousine x-ten Grades gehalten. Welch ein Schock es gewesen war, erfahren zu müssen, dass »Köchin« überhaupt nicht ihr richtiger Name war – ja, dass sie gar keine Swift war, sondern eine sogenannte Winifred! Zunächst hatte Schelmerei dies als schweren Verrat empfunden. Sie hatte jede Mahlzeit verweigert, die von der Verräterin zubereitet worden war. Doch nachdem sie eine Woche lang von ihrem Keksvorrat und von unreifen Früchten aus dem Obstgarten gelebt hatte, nahm sie doch lieber ein paar gedankliche Umbauarbeiten vor und kam zu dem Schluss, dass Köchin bei genauerer Betrachtung überhaupt keine Verräterin war. Sie war vielmehr eine strahlende Heldin. Köchin – oder eben Winifred – war keine geborene Swift, hatte sich aber tapfer in ihre Mitte gewagt und einen vernünftigen Swift-Namen angenommen, um aus freien Stücken ein Teil der Familie zu werden.

Wenn sie ausnahmsweise von ihrem Leben vor ihrem ersten Tag bei den Swifts erzählte, verriet Köchin kaum mehr, als dass sie von zu Hause weggelaufen sei. Sie hatte rote Wangen und ein kantiges Kinn und redete, als hätte sie eine Murmel im Mund, die sie unter keinen Umständen verschlucken durfte. Wie sie Schelmerei einmal berichtet hatte, war sie als Kind sogenannten »Elektroschock-Lektionen« unterzogen worden, daher ihre atemberaubend vornehme Sprechweise. Schelmerei fand es nicht richtig, einen Menschen unter Strom zu setzen, bloß damit er sich einen schickeren Akzent aneignete. Kein Wunder, dachte sie sich, dass Köchin ausgerissen war.

Obwohl sie streng genommen nicht dazugehörte, gehörte Köchin eben doch zur Familie und niemand von den Anwesenden hätte daran gezweifelt. Niemand, mit einer Ausnahme, denn für Tante Erbschaft schien es nicht begreiflich zu sein, dass Köchin keine Hausangestellte war.

»Köchin?«, sagte sie. »Morgen hätte ich gerne zwei Eier zum Frühstück, aber bitte schön dünnflüssig.«

»Ach ja?«, erwiderte Köchin milde. »Dann zeigen wir dir lieber mal, wie man den Herd bedient. Er ist ein bisschen launisch.«

Kurz darauf kam Erbschaft ein Gedanke: »Köchin? Das Familientreffen macht doch bestimmt eine Menge Arbeit. Sicher, dass du das schaffst?«

»Danke der Nachfrage, das ist sehr freundlich. Aber wir sind für alles gerüstet.« Köchin deutete auf die Schüsseln, Töpfe und Auflaufformen, welche dicht an dicht auf der Arbeitsplatte standen, die erste Verteidigungslinie gegen den Heißhunger der Familie. »In harten Zeiten zeigt sich, was in einem steckt. So sehe ich das!«

Und schließlich, als die Mädchen die Teller aufräumten, rieb Erbschaft mit dem Finger über einen Fleck an ihrem Trinkglas und fragte: »Ist das nicht irgendwie eigenartig? Ein so großes Haus – und nur eine einzige Bedienstete?«

Köchin wollte gerade ein Einweckglas öffnen. Es zersplitterte zwischen ihren Fingern.

»Eine Bedienstete?« Sie blickte sich mit gespielter Verwunderung um. »Haben wir jemanden eingestellt?«

In Schelmerei regte sich der Verdacht, dass es bei jedem Familientreffen zu solchen Gesprächen kam. Außerdem regte sich in ihr das Verlangen, sich Köchins Schöpfkelle auszuborgen.

Als die drei Schwestern lustlos ihren Nachtisch weglöffelten, schien Tante Erbschaft sich endlich zu einer Ansage durchringen zu können.

»Mädchen.« Sie verschränkte ihre Hände auf der Tischplatte. »Ich habe leider den Eindruck, dass ihr dem Familientreffen nicht so freudig entgegenseht, wie ihr solltet.«

Die drei schauten sie ausdruckslos an.

Erbschaft nahm einen neuen Anlauf. »Ich könnte mir vorstellen, dass … es eurer Tante nicht gelungen ist, euch dessen große Bedeutung für unsere Familie bewusst zu machen.«

Schelmerei wollte ihr schon sagen, dass ihr die Bedeutung absolut bewusst sei – immerhin ging es um einen Riesenhaufen Gold. Aber Clementine kam ihr zuvor.

»Doch, natürlich freuen wir uns auf unsere Verwandten«, begann sie taktvoll. Mit ihren vierzehn Jahren konnte sie sich als Einzige der drei Schwestern an das vorherige Familientreffen erinnern. Sie hatte den anderen berichtet, es sei gewesen, wie von einhundert nicht richtig gestimmten Musikinstrumenten in die Enge getrieben zu werden. »Es sind bloß so viele. Es wäre angenehmer, wenn sie uns nacheinander in Schichten besuchen kämen.«

»Oder sich zumindest in einer ordentlichen Schlange vor der Tür anstellen würden«, fügte Phänomen hinzu.

In Erbschafts wässrigen Augen flackerte wieder einmal der Abglanz des hellen Wahnsinns auf.

»Ja, unsere Familie mag ein wenig … chaotisch sein, aber Onkel Mahlstrom hat es euch doch erklärt. Dass wir alle hier in diesem Haus zusammenkommen, ist Tradition. Und Tradition, liebe Mädchen, muss am Leben erhalten, ihre Flamme muss von Generation zu Generation weitergetragen werden! Diese Aufgabe haben wir zu erfüllen. Voller Stolz auf unsere Familiengeschichte, unseren Vorfahren zu Ehren.«

»Warum?«, fragte Schelmerei. »Ein paar von denen waren nicht besonders ehrenhaft.«

»Zugegeben, es war das eine oder andere schwarze Schaf dabei. Aber wie du sicherlich weißt, sind wir Swifts keine gewöhnlichen Menschen. Für uns gelten nicht die üblichen Regeln.«

Köchin schnaubte. »Du meine Güte«, murmelte sie. »Da hätte ich ja genauso gut im Palast bleiben können.«

»Unserer Familie wurde ein großer Segen zuteil«, fuhr Erbschaft fort. »Gewöhnliche Menschen verbringen oft ihr ganzes Leben mit der Suche nach sich selbst. Wir Swifts kennen uns, sobald wir unseren Namen erhalten, kennen unsere Rolle von der Wiege bis zum Sterbebett. Wir brauchen nichts zu werden. Ob gut oder schlecht, wir sind es einfach. Das Wörterbuch weist uns den Weg.« Sie sah Schelmerei aufmerksam an. »Findest du es nicht auch tröstlich, ganz genau zu wissen, wer du bist?«

Schelmereis Magen drehte sich um – aber warum eigentlich? Darauf hätte sie keine Antwort geben können. Tante Schadenfreudes Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Für deinen Namen kannst du nichts.

Köchin schlug Erbschaft höflich vor, sich Helm und Kettenhemd auszuborgen und derart gerüstet der Bibliothek einen Besuch abzustatten, bevor diese übers Wochenende abgeriegelt wurde. Erbschaft erhob sich wortlos, so als hätte sie keine Ahnung, wie verstört sie ihre Verwandten zurückließ.

»Was für ein Riesenstuss.« Köchin betrachtete die drei Mädchen, die bedröppelt die Tischdecke studierten, und kramte in einem Küchenschrank. »Hier. Ich bin vorhin rüber zur Post, weil Suleiman ja immer noch außer Gefecht ist. Und ratet mal, was …« Sie lächelte.