Die Taverne zur angebrannten Pfanne - Nando Stöcklin - E-Book

Die Taverne zur angebrannten Pfanne E-Book

Nando Stöcklin

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Beschreibung

Diese inspirierende Erzählung handelt von Menschen, die nach neuen Wegen suchen - sei es in der Bildung, im Beruf oder im persönlichen Glück. Da ist Emma, die ihre Entscheidung für eine Ausbildung zur Lehrerin hinterfragt. Niels, der in seinem Verwaltungsjob die Begeisterung vermisst. Und Regula, die sich gegen die starren Strukturen ihrer Hochschule auflehnt. Ihre Schicksale sind in einem magischen Geflecht miteinander verwoben, das sich um eine geheimnisvolle Wirtin rankt. Wie in 'Spiel dein Leben' begegnen die drei unterschiedlichen Persönlichkeiten dem kauzigen Spieler - einer rätselhaften Figur, die sie auf unerwartete Weise an die Schwelle der Veränderung führt. Sie stossen auf Widerstand, aber auch auf eine besondere Art von Magie: die Magie des Spiels. Dieses Buch nimmt uns mit auf eine Reise, die Selbstkenntnis und Mut erfordert - und uns vielleicht genau an den Ort bringt, an dem wir immer sein wollten.

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Seitenzahl: 273

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Norin, Lunis, Anjun und Ajana.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL EINS: JANUAR 2023

KAPITEL ZWEI: FRÜHLING 2022

KAPITEL DREI: HERBST 2022

KAPITEL VIER: JANUAR 2023

KAPITEL FÜNF: HERBST 2022

KAPITEL SECHS: JANUAR 2023

KAPITEL SIEBEN: HERBST 2022

KAPITEL ACHT: JANUAR 2023

KAPITEL NEUN: HERBST 2022

KAPITEL ZEHN: JANUAR 2023

KAPITEL ELF: HERBST 2022

KAPITEL ZWÖLF: JANUAR 2023

KAPITEL DREIZEHN: WINTER 2022/23

KAPITEL VIERZEHN: APRIL 2023

KAPITEL EINS

JANUAR 2023

Sein Herz pochte wie nach einem Achthundert-Meter-Lauf. Es war Angst, die er fühlte. Lähmende Angst.

Aber es musste sein. Er musste die Angst überwinden, musste springen.

Eine innere Stimme zwang ihn dazu. Ich will doch bloß meine Ruhe, dachte er verzweifelt. Der letzte Sprung schien erst gestern gewesen zu sein.

Das alles ist nur zu deinem Besten, antwortete er sich selbst. Du wirst dankbar sein, gesprungen zu sein, wie du auch früher stets dankbar warst.

Seufzend prüfte er die Mail nochmals, für die er eigens bei einem sicheren Mailprovider eine neue E-Mail-Adresse mit dem Benutzernamen ›egonvonkevin‹ eingerichtet hatte. Der Absender stimmte. Die Vorstellung, er könnte die Mail versehentlich von seinem üblichen Mailkonto aus abschicken, ließ seinen Puls an die Decke gehen. Er musste kurz nach Luft schnappen.

Auch die Empfänger-Adresse war korrekt: die Adresse einer Schulleiterin, die er nicht kannte.

Der Betreff: ›Darf ich zu dir in die SChule kommen?‹

Absichtlich mit großem C.

Dann die Mail. Als er etwa die Hälfte des Textes gelesen hatte, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Die Sätze waren an ihm vorbeigeflossen, ohne seinen Verstand zu erreichen.

Also nochmals von vorne.

›Halo

Ich möchte dich etwas Fragen: Darf ich zu dir zur Schule kommen?

Vielleicht muss ich dass erklären. Mein Name isst Egon. Ich bin das innere Kind von Kevin. Kevin ist mitlerweille groß und gewachst.

Aber ich bin halt ganz klein geblieben. Und mir gehts nicht so gut. Weil ich konnte als Kind nur ganz wenig Spielen. Und ich habe meinen besten Freund verloren, den Kevin.

Kevin und ich, wir waren dike Freunde. Wir haben oft gespielt. Doch dann mussten wir zur Schule gehen und wir hatten fast keine Zeit mehr zu Spielen. Dabei kann ich doch nur beim Spielen wachsen.

Nun habe ich gehört das sich die Zeiten geändert haben. Das Kinder nicht mehr imer Dinge tun müssen die sie gar nicht interessieren und die nicht zu ihnen pasen. Sie dürften viel mehr Spielen habe ich gehört. Weil das dovh für ihre Zukunft viel besser sei. Interistische Motivation oder so heißt das. Das sei besser weil in der Arbeitswelt die ganzen Jobs, wo die gewachsten Menschen ständig dasselbe tun müssten, jetzt von Computern oder von Roboterichen übernommen werden und die Menschen konplexe Probleme lösen müssten. So ein Problem wie das von mir. Oder noch viel konplexer. Ich habe auch gehört das viele Menschen in Unternehmen jetzt selber entscheiden dürfen. Darum müssen sie jetzt selber denken. Und kreativ sein. Und das lernen sie ja am besten beim Spielen.

Und ich hab gehört das sie beim arbeiten nicht mehr immer von anderen gesagt bekommen was sie tun müssen. Deshalb müssten sie in der SChule ja eben auch nicht mehr lernen ständig zu tun was andere ihnen sagen. Und du musst sie nicht mehr zu Roboterichen ausbilden weil es ja jetzt genügend Roboteriche gibt. So dass die Menschen Menschen bleiben dürfen. Deshalb dürfen sie wieder viel mehr Spielen und Dinge tun die sie tun wolen.

Das gefällt mir. Dieses Intristische. Deshalb schicke ich dir diese Meil. Weil ich möchte wieder Spielen. Darf ich zu dir Spielen kommen?

Ich muss aber noch Kevin fragen. Der kann nicht mehr Spielen. Er vermisst mich musst du wisen. Er hat den Kontakt mit mir abgebrochen das vinde ich total traurig.

Also bitte sage mir wann ich zu dir spielen kommen kann. Und kannst du auch Kevin fragen? Vielleicht kommt er dann auch, wenn du ihn ganz lieb fragst. Dann könten wir wieder zusamen was lustiges Spielen und ich könnte auch wachsen.

Liebe Grüße vom Egon‹

Absichtlich Fehler einzubauen, hatte Spaß bereitet. Die Mail zu verfassen, auch. Es hatte sich angefühlt, als ob die Sätze nicht von ihm kämen. Als ob er nur das Instrument dafür wäre, sie aufs Papier – oder besser: in den Computer – zu bringen. Eine Idee hatte ihn gebeten, dieses Instrument zu sein – und er hatte akzeptiert.

Mitgegangen, mitgehangen, schoss es ihm durch den Kopf. Angestiftet von einer Idee. Ob das gut kommt? Ich bin einfach zu gutmütig. Ja, er hätte die Idee besser vorüberziehen lassen sollen. Vielleicht hätte jemand anderes sich ihrer angenommen.

Jetzt war es zu spät. Er fühlte sich an sein Versprechen gebunden.

Langsam führte er seinen Zeigefinger in Richtung der Enter-Taste. Drei, zwei, eins, den Atem anhalten – die Mail war weg.

Er startete eine neue Mail und fügte den Mailtext aus der Zwischenablage ein. Dann die nächste Mailadresse aus seiner Liste kopieren und in die Empfängerzeile einfügen. Den Betreff rein – und weg.

Acht Mails, neun, zehn. Die Liste der Schulleitungen war abgearbeitet. Nun waren die Erziehungsdirektionen von zehn verschiedenen Kantonen an der Reihe.

Achthundert-Meter-Lauf war einmal. Sein Herz hämmerte inzwischen, als ob er einen Marathon gelaufen wäre. Im Tempo eines Achthundert-Meter-Laufs.

Weitere fünf Mails machten sich auf den Weg zu ihren Empfangsadressen.

Er brauchte eine kurze Verschnaufpause, deshalb trat er ans Fenster und starrte in die Ferne. Wenn er wenigstens wüsste, was er hier tat!

Sein Kopf war leer. Sein Körper bestand nur noch aus einem rasenden Herz.

Aber es half nichts. Die restlichen fünfzehn Mails mussten ebenfalls weg.

Zurück an der Tastatur, schaute er überrascht auf den Bildschirm.

Das Mailprogramm hatte ihn abgemeldet.

Also wieder die Zugangsdaten heraussuchen und eintippen.

Doch er kam nicht mehr rein.

Stattdessen eine Meldung: Sein Konto sei gesperrt worden wegen Spamming!

Das konnte doch nicht sein!

Die ganze Aktion im Eimer! Alles umsonst.

Vielleicht war es ein Irrtum? Er versuchte noch einmal, sich einzuloggen.

Wieder dieselbe Meldung. Ah, Moment, da stand, dass das Konto vorübergehend gesperrt sei und er es in einigen Stunden nochmals versuchen solle.

Er bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen.

Was tun? Eine neue Mail-Adresse registrieren? Aber welche?

Er entschloss sich zu warten, bis sein Mailkonto freigegeben wurde. In der Zwischenzeit konnte er sich um jene Erziehungsdirektionen kümmern, die ausschließlich per Webformular erreichbar waren. Neben Namen und MailAdresse musste er teilweise weitere Angaben machen.

Telefon: habe ich keins.

Adresse: keine Ahnung.

Nach drei Stunden war sein Mailkonto wieder zugänglich. Das Postfach war leer. Das bestätigte seine Vermutung, dass sich die meisten Empfänger mit einer Antwort Zeit lassen würden. Vermutlich würden sie zuerst intern diskutieren, was zu tun sei. Wer hinter der Mail stecken könnte. Was diese Person bezweckte. Vielleicht eine öffentlichkeitswirksame Aktion? Oder eine Art Studie? Vielleicht von Psychologen? Das innere Kind gehörte ja in deren Zuständigkeit.

In solchen Fällen musste eine Antwort wohl überlegt sein. Besonders bei den Erziehungsdirektionen dürften Sitzungen anstehen.

Oder aber die Mails wurden einfach ignoriert.

Er beendete die Liste der Erziehungsdirektionen.

Die letzten zehn Mails fielen ihm leichter. Zehn freie Schulen. Die dürften sein Anliegen besser verstehen.

Welches Anliegen denn überhaupt?

Er wusste es selbst nicht.

Die Idee hatte sich nur bis zu diesem Punkt gezeigt. Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.

KAPITEL ZWEI

FRÜHLING 2022

Obwohl sie versuchte, ruhig und souverän zu wirken, fühlte Regula Spirig sich in ihre Kindheit zurückversetzt, direkt vor dem ersten Besuch des Nikolaus im elterlichen Haus. Einerseits freute sie sich auf die bevorstehenden Minuten, denn sie würde endlich diesen seltsamen Kauz persönlich kennenlernen, den sie bislang nur aus einem Buch kannte. Andererseits war sie besorgt und fürchtete, dass dies der größte Fehler ihres Lebens war.

Dem Termin war eine Auseinandersetzung mit Uwe Reichelt vorausgegangen, dem Rektor der Pädagogischen Hochschule Basel. Als Stefan Herzog als Rektor zurückgetreten war, hatte sich Uwe, der damals Leiter des Instituts für Forschung gewesen war, sofort in Position gebracht. Hätte er gewusst, was auf ihn zukommen würde, hätte er sich vielleicht davor gehütet. Doch er hatte das drohende Unheil nicht erahnen können.

Regula lächelte innerlich, als sie an diese Zeit zurückdachte. Sie empfand Schadenfreude, weil Uwe jetzt mit dem Unheil leben musste. Wirklich gemocht hatte sie ihn nie. Zum Glück hatte sie als Dozentin für Psychologie am Institut für Ausbildung damals selten mit ihm zu tun gehabt.

Das Buch »Spiel dein Leben – über die Leichtigkeit des Lebens« hatte alles ins Rollen gebracht und innerhalb der PH Basel ein kräftiges Erdbeben ausgelöst. Es erzählte die wahre Geschichte von Stefan Herzog, der seiner Karriere entsagte, sein Amt als Rektor der PH Basel niederlegte und erfolgreich seiner Leidenschaft als Bühnenkünstler folgte, wobei er immer wieder das Bildungssystem kritisierte.

Zuletzt hatte Regula sich gut mit Stefan Herzog verstanden und über seinen Wandel gestaunt. Das Buch hatte ihr dann die Antwort darüber geliefert, welchen Prozess Stefan damals durchgemacht hatte. Er war dem Spieler begegnet, der ihn nach und nach von althergebrachten Glaubenssätzen befreit hatte.

Und nun würde der Spieler, wie sich jener seltsame Kauz nannte, in Kürze diesen Raum betreten. Es war nicht leicht gewesen, ihn überhaupt zu finden. Letztlich hatte sie ihn über Stefan kontaktiert.

Regula war stolz darauf, dass es ihr gelungen war, Uwe von ihrer Absicht zu überzeugen. Das Buch hatte ihm den Spiegel vorgehalten und ihn als das beschrieben, was er war: ein eitler, karrierehungriger Egozentriker.

Den im Buch geäußerten Gedanken zum Lernen und zum Bildungswesen hatte Uwe heftig widersprochen. Gemeinsam mit vielen Dozierenden, die sich von dem Buch angegriffen fühlten, hatte er Front gegen den Spieler gemacht und sich gewundert, dass sich Stefan Herzog trotz seiner umfangreichen Erfahrung im Bildungswesen von diesem ›laienhaften Wirrkopf, der nichts von Pädagogik verstand‹, hatte einlullen lassen.

Was ihn selbst betraf, so versuchte Uwe in seiner neuen Position als Rektor, das im Buch gezeichnete Bild von ihm zu revidieren. Er gab sich jovial, bot zumindest Kadermitgliedern das Du an – bei Dozierenden und anderen Mitarbeitenden konnte er sich dann doch nicht dazu überwinden – und behauptete bei jeder Gelegenheit, er sei geradezu genötigt worden, sich als Rektor zu bewerben.

Warum ihn jemand dazu hätte drängen sollen, war Regula jedoch ein Rätsel. Allen war damals bewusst gewesen, dass in seinem Forschungsinstitut vieles aus Schein bestanden hatte. Sogar der Begriff Potemkinsches Dorf hatte die Runde gemacht. Lange hätte Uwe diese falsche Fassade wohl nicht mehr aufrechterhalten können. Die freiwerdende Position des Rektors hatte für ihn das rettende Sprungbrett dargestellt.

Auch in Regula hatte das Buch etwas ausgelöst. Aus Sicht der Positiven Psychologie, ihrer Kernkompetenz, hatte sie schon länger eine kritische Haltung zum Schulsystem eingenommen. Die im Buch vertretene Sichtweise, dass Spielen die natürliche Form des Lernens und gleichzeitig die Form sei, die für ein gesundes Heranwachsen der Kinder notwendig war, hatte ihre kritische Haltung vertieft.

In der Folge hatte sie sich eine Auszeit genommen, um darüber nachzudenken, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Obwohl sie ein Teil des Bildungssystems gewesen war, hatte sie nicht mehr dahinterstehen können. Doch im Gegensatz zu Stefan Herzog hatte sie sich noch nicht bereit für den Absprung gefühlt. Zuerst hatte sie versuchen wollen, einen Beitrag zu leisten, um das Bildungssystem zumindest in eineandere Richtung zu führen. Im heillosen Chaos, das das Buch an der PH Basel ausgelöst hatte, war dann auch die Stelle der Institutsleitung Ausbildung freigeworden, und so hatte sie sich entschieden, in die Verantwortung zu gehen und sich zu bewerben.

»Ausgerechnet diesen Wirrkopf, der sich der Spieler nennt, willst du zu uns holen?«, hatte Uwe sie angebellt, als sie bezüglich ihrer Idee an ihn herangetreten war. »Und ihm eine Dozentenstelle anbieten? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Welche Qualifikationen hat der Mensch denn? Hat er überhaupt studiert?«

Mit solchen Argumenten hatte Regula gerechnet und sich entsprechend gewappnet. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt, der auf Uwes Eitelkeit setzte.

»Stell dir vor, Zeitungen würden darüber berichten. Sie würden unsere Offenheit und unseren Großmut loben, ausgerechnet jenen Mann einzustellen, der uns so in die Bredouille geritten hat. Das würde unserem Ansehen äußerst guttun, und momentan können wir das weiß Gott brauchen.«

Uwe hatte sich noch eine Weile gewunden, doch letztlich hatte er zugestimmt. »Aber ich bin beim Vorstellungsgespräch dabei!«

Widerwillig hatte Regula akzeptiert, sich aber das Recht ausbedingt, das Vorstellungsgespräch zu leiten.

Pong, pong pong, pong pong pong, erklang an der Tür ein rhythmisches Klopfen und riss Regula aus ihren Erinnerungen. Uwe, der neben ihr am Tisch saß, runzelte die Stirn, während sie »Herein!« rief.

Die Tür schwang auf und ein kleines, älteres Männchen trat ein. Unzählige Falten zogen sich sowohl über sein Gesicht als auch über den kahlen Kopf. Um seinen Mund spielte jedoch ein fröhliches Lächeln.

»Ha, ich habe euch gefunden!«, rief das drollige Kerlchen aus. »Zumindest seht ihr genau so aus wie die Fotos von Uwe und Regula auf eurer Website. Das war ja ein richtig nettes Versteckspiel in diesem Labyrinth aus unzähligen Räumen. Und wisst ihr was? Das ist lediglich der fünfzehnte Raum, in den ich den Kopf stecke.«

Stolz warf er sich in die Brust.

Regula musste unweigerlich grinsen und erntete dafür einen bösen Blick von Uwe. Sie ahnte, dass er wütend war. Hatte der Spieler es doch tatsächlich gewagt, den Rektor der PH Basel ungefragt zu duzen!

Sie trat dem Spieler entgegen und reichte ihm die Hand.

»Richtig geraten! Ich bin Regula Spirig und das ist Uwe Reichelt, Rektor der PH Basel. Herzlich willkommen.«

Uwe schien sich gezwungen zu fühlen, ebenfalls aufzustehen. Seine unverständlichen, gestotterten Worte sollten vermutlich eine Begrüßung darstellen. Er konnte sich wohl nicht entscheiden, ob er seine Grundsätze aufgeben und den Spieler duzen sollte oder nicht, dachte Regula. Wahrscheinlich fühlte er sich diesem Wirrkopf meilenweit überlegen und diese Distanz erforderte aus seiner Sicht ein ›Sie‹.

»Setz dich doch zu uns«, lud Regula den Spieler ein und deutete auf einen freien Stuhl. Der Spieler bedankte sich mit einem freundlichen Nicken und nahm Platz, während Uwe und Regula an den Tisch zurückkehrten.

»Wir freuen uns sehr, dass du unserer Einladung zu diesem Gespräch gefolgt bist«, begann Regula, als sich alle gesetzt hatten. »Wie ich dir bereits geschrieben habe, würden wir gerne mit dir besprechen, ob du für uns arbeiten kannst.«

»Jawollja, das habe ich gelesen.«

Da war es, dieses ›Jawollja‹, das ihr aus dem Buch so vertraut war. Aus dem Mund dieses lustigen Kauzes klang das Wort passend.

»Was soll ich denn tun?«, fragte er. »Ich könnte zum Beispiel euer graues Gebäude mit Farbe beleben, was meint ihr?«

»An so etwas Ähnliches haben wir ebenfalls gedacht«, antwortete Regula und freute sich, dass sie sofort mit einer schlagfertigen Antwort einhaken konnte. Ihr gefiel die lockere Art des Spielers. »Du könntest tatsächlich etwas Farbe hineinbringen, aber vielleicht eher in die Lehre.«

»In die Lehre? Ich kann nicht lehren. Ich kann nur spielen – also lernen.«

»Wie würdest du denn das bezeichnen, was du mit Stefan Herzog gemacht hast?«

»Ah, Stefan!«, strahlte der Spieler. »Hm, den habe ich zuweilen etwas gestupst, damit er in die Gänge kommt.«

»Gut, wie wär’s, wenn du unsere Studierenden etwas stupst?«

»Oha, dann soll ich hier der offizielle Stupser werden?«

»Wir nennen das Dozent«, lachte Regula.

»Dozent. Gut, gut. Stupser wäre mir lieber, aber ich will nicht kleinlich sein. Wo und wie genau soll ich eure Studierenden also stupsen?

»Wir würden Ihnen gerne eine Vorlesung anbieten«, machte sich Uwe Reichelt bemerkbar.

Regula seufzte innerlich. Das förmliche ›Ihnen‹ wirkte angesichts der lockeren Unterhaltung völlig unangebracht.

»Eine Vorlesung? Das klingt ausvorzüglich!«, freute sich der Spieler. »Darf ich da Geschichten vorlesen? Ich mag Geschichten!«

»Eine Vorlesung ist eine Form der Lehrveranstaltung«, erklärte Uwe mit wichtigtuerischer Miene. »Früher wurde oft ein Skript vorgelesen, aber heute arbeiten die meisten Dozierenden mit digitalen Folien.«

Regula versuchte, die Gesprächsführung wieder zu übernehmen. »Lass es uns so ausdrücken: Du hast jede Woche fünfundvierzig Minuten Zeit, in denen du zu einem bestimmten Thema sprechen kannst.«

»Fünfundvierzig Minuten sprechen? Dann bin ich ja heiser. Dürfen die Studierenden denn nicht auch sprechen?«

»Doch, doch, natürlich, du kannst die Stunden so gestalten, wie es dir beliebt.«

»Stunden? Hast du nicht gesagt, es seien fünfundvierzig Minuten?«

»Ja, fünfundvierzig Minuten. Wir nennen das eine Stunde.

»Das gefällt mir. Dann hat mein Tag zweiunddreißig Stunden. Ausvorzüglich! Warum bin ich nicht schon früher zu euch gekommen?«

Regula lachte, während Uwes Gesicht immer verbissener wurde.

»Und ich kann mir aussuchen, zu welchem Thema ich stupsen soll?«

»Ja.«

»Außer zum spielerischen Lernen«, mischte sich Uwe ein.

Regula funkelte ihn wütend an. So war das nicht vereinbart gewesen.

Die Falten des Spielers hüpften vergnügt. »Zum spielerischen Lernen würde ich sowieso nicht stupsen. Da könnte ich genauso gut zu einem weißen Schimmel stupsen. Ihr wollt mehr Farbe, richtig? Wie wäre es, wenn ich zum Beispiel zum Thema ›Was ist Glück?‹ stupsen würde? Das ist ein sehr farbenprächtiges Thema.«

»Welche Qualifikationen haben Sie zu dem Thema?«, drängte sich Uwe wieder in den Vordergrund.

»Qualifikationen? Muss ich mich zuerst qualifizieren, wie bei einem Turnier? Hach, das wird ein Spaß!«, rief der Alte. Die zahlreichen Falten auf seiner Stirne hüpften fröhlich, wie Regula fasziniert feststellte. Zwar kannte sie ihn erst seit einigen Minuten, aber sie hatte den lustigen Kauz bereits fest in ihr Herz geschlossen.

Uwe schien jedoch anders zu empfinden. Er fuhr in seinem feindseligen Ton fort: »In gewisser Weise, ja. Haben Sie eine entsprechende Ausbildung? Haben Sie beispielsweise Positive Psychologie studiert wie Regula Spirig?«

»Auweia, nein, das habe ich nicht. Ich bin nur beim Spielen zufälligerweise über das Glück gestolpert.«

»Das ist großartig«, sagte Regula, bevor Uwe etwas sagen konnte. »Praktische Erfahrung ist immer von Vorteil. Ich freue mich sehr, dass wir uns einig sind.«

»Gut, gut, wann darf ich denn mit dem Stupsen beginnen?«

»Das Herbstsemester beginnt am 19. September und dauert bis zum 23. Dezember.«

»Sie erhalten die Vorlesung zunächst für ein Semester«, knurrte Uwe.

Regula meinte: »Wir möchten dir gerne ein zweites Angebot machen.«

Uwe warf ihr einen verdutzten Blick zu, während der Spieler fragte: »Darf ich doch die grauen Wände anmalen?«

»Nein. Wir bieten dir eine zweite Stupsveranstaltung an, diesmal in Form eines Kolloquiums.«

»Uiuiui, das klingt fast wie ein Aquarium.«

»Vorlesungen finden in einem Hörsaal statt, in dem je nach Größe hundert, zweihundert oder mehr Studierende Platz haben. Kolloquien hingegen finden in kleineren Räumen statt, vielleicht so mit zwanzig Studierenden. Ich vermute, ein Kolloquium könnte dir gut gefallen, da kannst du intensiv mit Studierenden diskutieren.«

»Und soll ich da auch zum Glück stupsen? Werden es dieselben Studierenden sein?«

»Es könnten dieselben sein, oder auch andere. Die Studierenden können selbst entscheiden, ob sie zu dir ins Kolloquium kommen möchten.«

»Gut, gut, das gefällt mir. Dann stupse ich im Kolloquium lieber zu einem anderen Thema. Wie wäre es mit ›Die Magie des Spiels?‹ Oder noch besser: ›Wie entsteht die Magie des Spiels?‹«

»Das klingt großartig«, sagte Regula hastig. »Dann müssen wir nur noch die Formalitäten erledigen. Wir benötigen deinen Namen, deine Postanschrift und deine Kontodaten.«

Der Spieler griff in seine Hosentasche, kramte ein zerknittertes gefaltetes Stück Papier hervor und reichte es Regula.

Regula hätte gerne noch etwas mit dem Spieler geplaudert, aber Uwe war bereits aufgestanden und reichte dem Spieler zum Abschied die Hand. Der Spieler ergriff sie, verabschiedete sich auch von Regula und schritt zur Tür. Bevor er sie öffnete, klopfte er wieder im selben Rhythmus wie zuvor daran. Pong, pong pong, pong pong pong. Er wandte seinen Kopf um und meinte verschmitzt: »Man muss die Leute im Korridor vorwarnen, sonst schubsen sie mich kleines Männchen noch um.«

Dann huschte er hinaus.

»Während Regula dem Spieler fasziniert nachblickte, hörte sie, wie Uwe neben ihr seinem Ärger Luft machte.

»Was sollte das mit dem Kolloquium?«, fauchte er. »Das war nicht abgesprochen!«

Regula zuckte mit den Schultern. »Seit wann stimme ich mit dir ab, wen ich in meinem Institut einstelle? Ich habedich lediglich informiert, weil es sich bei dem Spieler um eine besondere Situation handelt. Aber ob ich ihm eine oder zwei Lehrveranstaltungen anbiete, ist meine Zuständigkeit.«

Wütend ergriff Uwe den Zettel des Spielers und faltete ihn auseinander. »Der Spieler. Postfach, 4051 Basel«, las er vor. »Und dann eine Bankkontonummer, lautend auf den Namen Stefan Herzog. Ausgerechnet!«

Wütend knallte er den Zettel vor Regula auf den Tisch.

»Du hast noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Jetzt musst du sehen, wie du das bei unserer Verwaltung durchkriegst!«

KAPITEL DREI

HERBST 2022

Die angehende Lehrerin Emma Thüring stand zwei, drei Meter hinter dem Tisch und drosch kräftig auf den Tischtennisball ein. Silvan, ihr Gegner, ein schlaksiger, hochgewachsener Jugendlicher von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren, hielt dagegen. Mit hoher Geschwindigkeit flog der Ball über das Netz, zurück auf Emmas Seite.

Tick und Tock und Tick und Tock. Emma liebte das Geräusch. Das etwas höhere Tick, wenn der Tischtennisschläger auf den Ball traf und das etwas dumpfere Tock, sobald der Ball den Tisch berührte.

Und sie liebte diesen offenen Schlagabtausch. Das war genau ihr Spiel.

Den ersten Satz hatte sie knapp mit 11:9 gewonnen. Den zweiten in der Verlängerung mit 10:12 verloren. Nun lag sie 7:9 hinten.

Abgesehen vom Tick-Tock ihres Balles war es muksmäuschenstill in der Halle. Einer der beiden anderen Matches war bereits vorüber. Bei dem anderen war der dritte Satz zu Ende. Emmas Freundin Steffi und ihr Gegner machten eine Pause und schauten gebannt Emmas Spiel zu. Ebenso ihre Vereinskollegen auf den beiden Trainingstischen. Einer davon war Martin, ihr Vater.

Der Ballwechsel dauerte schon eine Ewigkeit, doch irgendwann blieb Emmas Ball in den Maschen des Netzes hängen.

Der Punktestand war 7:10, bei ihrem Aufschlag. Wer als Erster mit mindestens zwei Punkten Vorsprung elf Punkte erreichte, gewann den Satz. Wer zuerst drei siegreiche Sätze vorweisen konnte, hatte auch das Match gewonnen.

Im Meisterschaftsmodus umfasste jede Mannschaft drei Spieler, die jeweils gegen die drei gegnerischen Spieler antraten. Das ergab neun Matches. Jeweils zwei der drei Teammitglieder trugen zusätzlich ein Doppel gegen zwei gegnerische Spieler aus. Somit gab es zehn Matches, die an einem Spielabend ausgetragen wurden.

Emmas Gegner ging auch beim nächsten Ball gleich in den Angriff über und so entwickelte sich erneut ein offener Schlagabtausch.

Dann geschah es. Emma traf den Ball mit der Kante ihres Schlägers und von dort flog er in weitem Bogen zu Boden. Stand 7:11. Der Satz war vorbei.

»Macht nichts«, rief ihr Steffi zu, als sie zur Bank schritt, um das Ergebnis auf dem Spielblatt zu notieren. »Das waren großartige Ballwechsel. Silvan ist ein echt guter Angriffsspieler.«

»Wie ging dein dritter Satz aus?«, fragte Emma ihre Freundin.

»Ich konnte ihn gewinnen.«

Emma blickte zu ihrem anderen Mannschaftskollegen. »Und du hast dein Match gewonnen, Ritsch?«

Ritsch nickte. Er war bestimmt fünfzig Jahre älter als sein jugendlicher Gegner, aber mit seiner Erfahrung und seinem Anti-Top-beschichteten Schläger brachte er viele junge Spieler zur Verzweiflung. Diese Beschichtung konnte allfällige Rotationen des Balls neutralisieren und führte dadurch zu unerwarteten Flugbahnen, die gerade unerfahrene Spieler oft verwirrten.

»Das heißt, wir könnten noch ein Unentschieden holen, wenn wir beide gewinnen«, rechnete Emma aus.

Steffi nickte.

»Ich probiere es mal mit Schupfen. Dann kann er nicht angreifen.«

Mit dieser Technik konnte Emma den Ball durch schnelle Abwärtsbewegungen knapp über dem Netz auf die gegnerische Seite spielen. Die Rückwärts-Rotation, die er dabei erhielt, würde den Ball zusätzlich nach unten ziehen und ein schnelles Angriffsspiel doppelt erschweren.

Steffi nickte. »Beim Schupfen musst du bloß mehr Geduld haben als er, dann gewinnst du. Los, du packst das!«

Emma trat zurück an die Platte. Ihr junger Gegner wartete schon mit dem Ball in der Hand.

Sein Anspiel ging weit. Optimal für Emma, um in den Angriff zu gehen. Doch sie widerstand der Versuchung und schupfte den Ball nur um Handbreite über das Netz. Silvan versuchte einen angriffigen Konterball, doch der Ball blieb im Netz hängen. Emmas Ball war zu flach gewesen.

Beim zweiten Ball antwortete Emma wieder mit Schupfen. Diesmal riskierte ihr Gegenüber keinen Angriffsball mehr, sondern schupfte zurück.

Emma war hochkonzentriert. Die Ballwechsel dauerten lange. Richtig lange. Geduldig schupfte Emma einen Ball nach dem anderen übers Netz.

Es wurde ein kurzer Satz. Emma gewann 11:4. Entnervt warf Silvan den Schläger in seine Sporttasche.

Nach einer kurzen Pause kehrte Emma an die Platte zurück. Diesmal schien ihr Gegner entschlossen, ihr Spiel kompromisslos mitzuspielen.

Es entwickelte sich ein reines Geduldsspiel. Emma mochte das nicht. Viel lieber wäre sie zum Angriff übergegangen. Doch eisern hielt sie den Ball flach. Vielleicht konnten sie als Mannschaft zumindest ein Unentschieden erreichen, also fünf der zehn Matches gewinnen. Das wäre Gold wert, um in der Tabelle vom Abstiegsplatz wegzukommen.

Ganz langsam kroch der Spielstand voran, ohne dass jemand entscheidend davonziehen konnte. Am Tisch nebenan war längst Ruhe eingekehrt, die Halle leerte sich immer mehr. Emmas trainierende Vereinskollegen hatten ihre Tische bereits in den Geräteraum gerollt und waren unter die Dusche gegangen. Auch die beiden gegnerischen Spieler, die ihre Matches abgeschlossen hatten, waren in Richtung Garderobe verschwunden.

Emmas Vater hatte sich auf die Bank hinter ihr gesetzt, neben ihm Steffi und Ritsch. Sie freuten sich ausgelassen, als Emma kurz vor halb elf Uhr und tief in der Verlängerung endlich den geforderten Zwei-Punkte-Vorsprung schaffte. Ein unschöner Netzroller hatte das nervenzehrende Spiel beendet, wodurch Emma das Match mit einem Punktestand von 17:15 knapp für sich entschied. Sie entschuldigte sich bei Silvan.

Steffi gratulierte ihr überschwänglich. »Wow, großartig! Wir haben es geschafft und ein Unentschieden geholt. Und das ohne Peter.«

Auch Ritsch reichte ihr die Hand. »Gratuliere! Ich sehe schon, Peter muss sich Mühe geben, wenn er wieder spielen will.«

Emma lachte. »Schön wär’s. Ich habe bloß einen von den drei Matches gewonnen. Da braucht Peter keine Angst zu haben.«

Peter war der stärkste Spieler ihrer Mannschaft. Heute war er verhindert gewesen, weshalb Emma zum Einsatz gekommen war.

Der junge Silvan unterzeichnete missmutig das Matchblatt und eilte in die Garderobe.

»Kommt ihr noch auf ein Glas ins Jägerstübli?«, wandte sich Ritsch an Emma, Steffi und Martin, als die Tische und Bänke verräumt waren.

»Ich nicht«, meinte Emma. »Ich bin zu müde. Dieses Geschupfe macht mich immer völlig fertig. Außerdem müssen wir morgen früh an die PH.«

»Früh? Als ich noch studierte, ließ ich mich nie vor zehn Uhr an der Uni blicken«, grinste Ritsch.

»Heutzutage gibt’s Anwesenheitskontrollen. Außerdem kann es morgen richtig spannend werden. Ein neuer Dozent spricht über das Glück.«

***

Emma hetzte die Treppe hinauf zum Vorlesungssaal. Oben angelangt, blickte sie zur Uhr an der Wand. Es war 10.16 Uhr. Für einen Augenblick achtete sie nicht auf ihren Weg und prallte beinahe mit einem Mann mittleren Alters zusammen. Er trug eine Fliege, fiel ihr auf. Sie entschuldigte sich hastig.

»Es ist ja nichts geschehen«, meinte er lächelnd. »Zu spät unterwegs für eine Lehrveranstaltung?«

»Ja«.

Sie stürmte weiter den Korridor entlang und riss die Türe zum Auditorium auf.

Sämtliche Köpfe wandten sich ihr zu.

Verdutzt blickte sie zum Rednerpult.

Niemand war dort.

Wo war der Dozent?

In einer der hinteren Reihen sah sie Steffi winken. Sie eilte zu ihr, kämpfte sich durch die Reihe und setzte sich auf den Platz neben Steffi, den diese für sie freigehalten hatte.

»Ich habe in Ettingen das Tram verpasst.«

»Habe mich schon gewundert, weil ich dich nicht sah, als ich in Therwil zustieg.«

»Wo ist denn der Dozent?«

»Keine Ahnung. Wir dachten alle, er sei es, als du vorhin die Türe geöffnet hast.«

»Dann war die Anwesenheitskontrolle noch nicht?«

»Nein.«

Überall tuschelten ihre Kommilitonen.

»Wer ist glücklich?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihnen.

Alle Köpfe drehten sich nach hinten.

Dort saß ein glatzköpfiger älterer Herr in der hintersten Reihe. Dass auch Ältere unter den Studierenden saßen, war nicht ungewöhnlich.

Niemand antwortete.

»Es muss doch Glückliche geben in diesem Raum«, meinte der Herr zwinkernd. »Wer von euch ist glücklich?«

Zögerlich bewegten sich einige Hände nach oben.

»Ist das der Dozent? Wieso sitzt er denn dort hinten?«, hörte Emma ihre Freundin Steffi flüstern. Sie zuckte die Schultern.

»Gut, gut, dann seid ihr die Fachleute für Glück«, sagte der alte Mann. »Mögt ihr nach unten aufs Podium gehen?«

Betretenes Schweigen.

»Da unten ist niemand, der beißt«, grinste der Kahlköpfige. »Ich habe mich extra in die hinterste Reihe verzogen.«

Langsam kam Bewegung in den Saal. Einige Studierende schritten die Treppe hinunter zum Podium. Emma erblickte Lars und Maike sowie Svenja, die mit ihr das Studium begonnen hatten und die sie mittlerweile recht gut kannte.

»Du bist doch nach deinem gestrigen Sieg bestimmt auch glücklich«, flüsterte Steffi.

»Es geht.« Vor vier Jahren war Emmas Mutter gestorben. Zwar war sie über den größten Schmerz hinweg, aber glücklich? Nein. »Und du?«

»Ja, eigentlich fühle ich mich ganz gut.«

»Na, dann los.«

»Ich weiß nicht so recht.«

Unten auf dem Podium standen neben Lars, Maike und Svenja eine Studentin und ein Student, die Emma nicht kannte.

Hinter ihr erklang wieder die Stimme des Kahlköpfigen. »Nur fünf Glückliche? Das ist ja traurig. Oder gibt’s welche, die schummeln? Ich meine, es ist kein Verbrechen, glücklich zu sein. Oder gibt’s ein neues Gesetz, das ich noch nicht kenne?«

»Sind Sie glücklich?«, fragte Steffi keck.

»Wenn ich geduzt würde, wäre ich es vermutlich«, zwinkerte der lustige Kauz.

»Na dann: Bist du glücklich?«

»Jawollja, das bin ich meistens.«

»Dann schummelst du selbst ja auch?«

Der Spieler grinste von einem Ohr zum anderen. »Ausvorzüglich, ausvorzüglich. Du hast mich ertappt.«

Er stand auf und schritt nach unten. Steffi und einige andere schlossen sich ihm an. Der Typ schien wirklich harmlos zu sein.

Gespannt blickte Emma nach unten. Etwa zehn Personen hatten sich dort aufgestellt.

Was nun?

»Weshalb seid ihr glücklich?«, fragte der Alte. »Pardon! Ich meine, weshalb sind wir glücklich?«

Nach einer Weile äußerte sich Maike. »Weil ich Schmetterlinge im Bauch habe.«

»Oho, Schmetterlinge im Bauch«, rief der seltsame Kauz.

Leichten Fußes bewegte er sich über das Podium, wechselte plötzlich die Richtung, düste zurück, machte sich mal groß, dann wieder klein, die Arme ausgebreitet. Es sah aus, als schwebte er. Dann blieb er stehen.

»Diese Leichtigkeit, wenn ein Schmetterling herumflattert. Schön, dass du diese Leichtigkeit spürst.«

Lars meldete sich. »Auch ich habe Schmetterlinge im Bauch«, meinte er und nahm Maike in den Arm.

»Ausvorzüglich, ganz ausvorzüglich. Das wäre jetzt traurig gewesen, wenn du da oben sitzen geblieben wärst.«

Lachen.

»Ich bin vor neun, nein, zehn Monaten Mutter geworden«, meldete sich eine Studentin, die Emma auf etwa dreißig schätzte. »Und genieße jeden Augenblick mit meinem Sonnenschein.«

»Bei mir läuft es gerade einfach gut«, erzählte Steffi. »Ich bin in einer tollen Beziehung und genieße das Leben. Gestern habe ich richtig gut Tischtennis gespielt und zwei der drei Matches gewonnen.«

»Ah, eine Spielerin«, strahlte der Kahlköpfige.

Nach und nach äußerten sich alle.

Verliebt.

Voller toller Eindrücke aus einem Austauschsemester in Schweden zurückgekehrt.

Verliebt.

Und nochmals verliebt.

Gestern zum ersten Mal bei Fortnite gesiegt.

Einfach glücklich, ohne Erklärung.

»Und Sie?«, fragte Steffi den Alten. »Ich meine: und du?«

»Ich? Du stellst Fragen!«

»Die selben wie du«, gab Steffi zurück.

»Stimmt, stimmt. Ich bin glücklich, weil ich das Leben spiele.«

»Was meinst du damit?«

Der Kauz wiegte den Kopf hin und her, als müsste er angestrengt überlegen. »Das bedeutet, dass ich im Einklang mit meiner Veranlagung lebe. Und mit meinem inneren Kompass. Oder andersrum: Ich lebe mein Leben.«

»Tun das nicht alle?«, fragte Kai, der Fortnite-Spieler, den Emma nur flüchtig kannte.

»Vermutlich nicht. Sonst wären jetzt die meisten hier auf dem Podium und die Plätze im Publikum wären so gut wie leer.«

»Soll das heißen, dass ich nicht mein Leben lebe?«, fragte ein Student in den vorderen Reihen. Er klang gekränkt.

Der Alte zuckte mit den Schultern. »Diese Frage kannst nur du beantworten. Aber ich spendiere dir eine Frage, die dich vielleicht bei der Antwort unterstützt: Weshalb bist du hier?«

»Ich brauche ECTS-Punkte.«

Der Besuch von Lehrveranstaltungen wurde mit ECTS--Punkten belohnt, die an anderen Hochschulen anrechenbar waren. Für einen Hochschulabschluss benötigten Studierende eine bestimmte Anzahl Punkte.

»Belohnung«, nickte der Alte. »Du bist hier wegen einer Belohnung?«

»Wer ist das nicht? Wir brauchen die Punkte nun mal.«

»Angenommen, du bräuchtest keine Punkte und du könntest frei entscheiden, was du tun würdest. Was würdest du jetzt tun?«

»Keine Ahnung. Vielleicht irgendwo in der Karibik am Strand liegen.«

»Dann wäre das dein Leben«

»Das ist doch Blödsinn«, ereiferte sich der Student. »Wenn ich in der Karibik am Strand rumhänge, kriege ich mein Lehrerdiplom nie.«

»Wozu willst du das Diplom?«

»Um zu unterrichten, natürlich.«

»Aus welchem Grund möchtest du unterrichten?«

»Weil ich gerne junge Menschen begleiten möchte.«

»Das gefällt mir, das gefällt mir. Dann lebst du ja doch dein Leben. Du musst dich durch dieses fremdbestimmende System der Lehrpersonenausbildung kämpfen. Aber weißt du was? Du brauchst nicht hier zu sitzen. Alle braucht ihr nicht hier zu sitzen. Ich unterzeichne für euch.«

Die Studierenden schauten einander fragend an.

»Sie – ich meine du – unterzeichnest, dass wir hier sind?«, fragte eine Studentin.

Der Alte grinste schelmisch. »Genau. Als Dozent kann ich ohnehin nicht kontrollieren, ob ihr hier seid. Physisch natürlich schon. Aber ist euer Kopf auch da? Eure Gedanken? Eure Herzen? Vielleicht legt ihr euch gerade eine neue Taktik für die nächste Partie Pforzneit zurecht – oder wie heißt das Spiel?«