Die Tessinerin - Thomas Hürlimann - E-Book

Die Tessinerin E-Book

Thomas Hürlimann

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Beschreibung

Thomas Hürlimanns preisgekröntes Erzähldebüt Es sind Einsame und Fremde, die durch alle sechs Geschichten in Thomas Hürlimanns fein komponiertem Erzähldebüt geistern. Und hinter diesen Fremden steht das Fremdeste schlechthin, worüber der Ich-Erzähler dieser Geschichten eigentlich »schreiben wollte und nicht schreiben kann«: das Sterben des eigenen, krebskranken Bruders. Ein hochreflektiertes und bewegendes Buch, ein Meisterwerk der Gegenwartsliteratur.

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Seitenzahl: 160

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Thomas Hürlimann

Die Tessinerin

Geschichten

FISCHER E-Books

Inhalt

BegegnungSchweizerreise in einem FordDie PechbindungEin Selbstporträt12345678910Das Innere des Himmels12Die Haare der SchönheitDie Tessinerin

Begegnung

Der Berggänger steigt, seine Kraft und die Nahrung, die er im Rucksack trägt, die noch zu bewältigende Linie und einen eventuellen Wetterumschlag immer bedenkend, hinauf zum Gipfel. Das offene Geheimnis der Bergsteigerei ist das Ziel: Auf dem Gipfel bleibt einem nur die Umkehr übrig oder der Tod. Auch der Wanderer in der Ebene hat eine Richtung eingeschlagen, und seine Zeit ist in Wegstunden eingeteilt. Er kann seine Strecke überblicken. Fortkommen, Abweichen von der Richtung oder Zurückbleiben hinter der geplanten Zeit mißt er am Weg selbst, an der ausgeprägten Stelle einer Landschaft, an Gestirnen und am Schatten, den er wirft. Nur von Wahnkranken und Schwersinnigen wird berichtet, daß solche zeitlos und ziellos – ohne auf Körperkräfte achtzugeben – über Land rennen. In der flachen, durch die Höhe der Häuser niemals sichtbaren Ausdehnung der Großstadt jedoch hat sich schon mancher, der gut zu Fuß war in Berg und Tal, in der Herumspaziererei verloren.

Mag sein, daß er eine Straße lang einem schwarzbestrumpften Damenbein nachschnuppert; mag sein, daß er an einer beliebigen Ecke seitwärts in eine Gasse einbiegt – von der hat er vielleicht erwartet, daß sie ihn melancholisch stimmt, schon geht er los, steht in einer Wirtschaft, und sei’s, daß er stehenbleibt, sei’s, daß er ein Haus weiterzieht, oder sei’s drum, und man findet sich plötzlich auf einer Straße, die, bestanden mit Gaslaternen, zum Davonlaufen einlädt.

Unter den Glasglocken der Laternen glüht in der Abendhelle als ein armseliges Pünktlein ein Funke Nacht. Du gehst von Laterne zu Laterne tiefer in die Straße hinein, in den Abend. Du hast, dämmert es dir, fast so etwas wie eine Gipfelstürmerei in den Füßen – einen ganzen, pflasterharten Tag an Wanderschaft. Es hatte mich in die südöstlichen Quartiere verschlagen, und ich ging, als ob eine Richtung, am Ende gar ein Ziel, wie von selbst sich zustande bringen wollte, weiter und weiter. Den schräg in den hellen Himmel liegenden Wänden schritt ich schattenhalb entlang. Den Keller hatte ich betreten, ohne mich nach einem Namensschild umzusehen.

Junger Mann, sagte eine Stimme im Dunkel, setzt Euch an meinen Tisch. Ihr kommt mir gerade recht …

 

Die Hitze nahm in der Stille noch zu. Hier draußen, wo nur noch wenige Gruppen ihre Wohnungen hatten, war nichts anderes zu hören als die ferne Stadt und das in Abständen sich nähernde, metallene Knirschen der Bahnen in den Kurven. An den Rändern der Großstadt sind sie vom Untergrund an die Oberfläche verlegt, sie fahren auf eisernen Brücken über der Straßenmitte, und die Stationen sind in luftiger Höhe mit jenem Zeichen kenntlich gemacht, das in der Stadt für Untergrund steht; hier, in den südöstlichen Quartieren, behält es seine Bedeutung.

Von einer Beobachtungsstelle aus, wie sie auch in den steinernen Stadtlandschaften zu finden sind, sähe man jetzt dem Sonnenuntergang zu. Der findet heute 20 Grad über dem im Ungewissen sich krümmenden Horizont statt. Ab sackt die Sonne in den gasigen Dunst, sich verdunkelnd zu einer schmutzigen Münze. Stünde man noch auf der Straße – die Straßen sind von Menschen bereits leergefegt – und nicht in dem dunklen Raum, man müßte über der Stadtmitte schon einen Lichterschein erblicken; es sieht aus, als flackerten bei Einbruch der Nacht jene Brände auf, die man tagsüber unter Kontrolle hat.

In meinem Rücken tat sich die Tür zu. Erst jetzt fiel mir auf, wie poltrig ich eingetreten war. Der Schein an der Decke war die helle Spiegelung des Spülwassers, in das eine fette Person, vermutlich die Wirtin, bleichhäutige Armstümpfe hinabtunkte. Ich hatte Geld genug für ein paar Biere. Aber wem sollte unsereiner, der sich auf seine Spaziergängerei einiges einbildet, gerade recht kommen? Ich setzte mich zu einem Mann an den Tisch. Nachdem wir zwei Biere erhalten hatten, bestand er darauf, daß wir uns traulich zuprosteten. Dann stürzten wir das erste Glas in einem Zug hinab. Wie bei Trunkgesellen, die im Gleichschritt schon manche Wirtschaft gemacht haben, legten unsere Köpfe sich in die Nackenlage, unsere Münder waren zu einer küssenden Öffnung geformt, unsere Halszapfen gurrten im Takt, und wie rasch ist so ein Glas nach langem Streunen geleert! Das Glas auf den Tisch geklopft und, bitte sehr, wieder ausgeebnet! Aber wer sind Sie, Sie Herr Unbekannter?

Wohl einer von den Alpenländischen, die es in die Großstadt getrieben habe. Einer, dem es in der fernen Heimat an Bewegung fehle. So einer, rief er, sei ich. Er mußte heftig lachen, dann waren wir, wie es sich gehört, stumm.

 

An einem Tisch in der Nähe saß eine alte Frau. Die mümmelte nicht ins Leere, merkte ich später. Der Mann, der sich mir so vertrauensforsch aufgedrängt hatte, sagte, wohl, weil er meinem Blick gefolgt war, die sei auch schon länger da, die Alte. Die würde ihren Geburtstag feiern. Der schräge Typ, den sie bei sich habe, sei ihr Sohn. Und einmal sagte er laut: Alles Gute, Mutti!, und für uns, Frau Gastwirtin, noch ein Glas. Zum Wohl.

Zum Wohl. Es nachtete ein, aber die Hitze nahm nicht ab, sie nahm zu. Die Alte hatte ihre Perücke über einen Flaschenhals gestülpt, und neben der Flasche lag der Kopf des Sohnes. Das Maul, offen, schnaufte, als verende ein angelandeter Fisch auf dem Trockenen. Manchmal schleifte ein langer Arm, der zum Körper des Fisches gehören mußte, über den Tisch. Einmal lachte die Mutter glucksend: Dem Arm war es gelungen, die Flasche mit dem Mutterhaar an den Rand zu verschieben. Mein Gegenüber, sich vorbückend, flüsterte rasch: Der Werwolf! Den kennt jeder hier draußen. Exzellenter Schachspieler. Seine Mutti feiert heute Geburtstag. Die kennt als einzige seinen Namen nicht. Werwolf, wiederholte er kichernd, Werwolf, Werwolf …

Werwolfs Mutter hatte die Flasche ergriffen. Stellte die Flasche mit einem Schachspielergesicht, das vom Brett nicht aufsieht, in die Tischmitte. Nahm dem Werwolf das Schnapsglas vor der Nase weg, trank’s aus. Schnalzte mit der Zunge die Zahnprothese an den Gaumen: matt. Aber, sagte sie mit alter, lieber Stimme, aber das ist doch Muttis Geburtstag. Und laut, fast gerufen: Meiner hat als Junge gegen die Russen gekämpft. Der war schon immer lieb zu seiner Mutti. He, du –! Du! Der sagt nichts mehr.

Auf diese Mitteilung, wie ernsthaft sie immer sein mochte, gaben wir nicht acht. Das letzte Tageslicht war ein falbes Geviert in einem Fenster über der Tür. Vielleicht höckelten die Hiesigen ganz gern im Zwielicht – illuminiert wurde erst, wenn die Gruppen sich vollzählig eingefunden hatten. Im Dunkel eines hinteren Raumes erblickte ich dann noch etwas. Die tranken nichts, lagen stumm in den Stühlen. Vor sich, auf dem Tisch, hatten sie ihre Helme.

Eine lange Person war hier der Kellner. Hatte er zwei weitere Gläser an unseren Tisch gebracht, setzte er sich auf einen Stuhl in Büffetnähe. In einem schiefen, durchfluteten Schacht, den eine Straßenlaterne durchs Fenster hereingab, hockte er wie ein Taucher in der Tiefe und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Hie und da näherte sich mir mein Gegenüber mit einem freundschaftlichen Geflüster, und eine Zeitlang hob Werwolfs Mutter dessen Kopf an den Haaren in die Höhe. Aber wo blieben die Gruppen?

 

Die Wirtin hatte vom Kellner eine Schallplatte auflegen lassen, plötzlich wurde da und dort geredet, gelacht, und im hinteren Raumteil standen zwei Frauen in einer tanzenden Bewegung zwischen den Tischen. Mein Gegenüber pöpperlete mit dem Knöchel des Zeigefingers ans Glas, das Glas war schon wieder geleert. Die südöstlichen Quartiere! Hier leben jene, die zu den tätigen Gruppen keinen Anschluß mehr finden; die Häuserwände, die noch stehen, sehen aus, wie wenn sie bald einmal donnernd niedergingen, schräg und rissig liegt das alles in den feuchten Himmel hinauf – als hätte der tagsüber niemals sichtbare Krieg Form angenommen, veränderten die Häuser während der Nacht sich zu bewohnten Ruinen. Da war es beileibe nicht ungefährlich, als Einzelner mit dem ersten Besten ein Stücklein zu wagen. Einer, hatte er gesagt, dem es in der Heimat an Bewegung fehle. Wie war auf einmal diese Heimat fern. Fast war ich ein bißchen froh, daß mich in dem leeren Keller einer angesprochen hatte.

Leer! Hohl! lachte jemand laut, und ich erschrak nicht. Während man seine paar Gläser trinkt, kann es schon passieren, daß es an den Tischen lauter wird, daß die Wirtin ihren Kellner, kaum hat er das Büffet wieder erreicht, sofort und zischend loshetzt, daß die Tabletts auf der balancierenden Kellnerhand ständig schwerer werden, und wie prächtig flackert im hinteren Raum auf einmal das Farbengelichter der Automaten, von Personen bedient, denen die zuckenden und schießenden Kugeln so wichtig sind, daß ihnen die Zigarette winzig wie ein Babypenis aus den Lippen lampt. Es war Nacht geworden, die Birnen brannten, der Betrieb war in Gang gekommen.

 

Um Ihnen zu beweisen, sagte mein Gegenüber plötzlich, wie willkommen Sie mir sind, will ich Ihnen ein Geheimnis lüften. Gelüftete Geheimnisse geben oft das Gefühl des Zusammengehörens, und schon manche Trunkfreundschaft wurde dadurch vertieft. Die Runde, fügte er geschwind hinzu, den schon wieder vorbeifliegenden Kellner am Jackenzipfel erwischend, auf den da; und als der Kellner stehenblieb, deutete mein Gegenüber in meine Richtung – als köpfelte es mir einen Ball zu, den ich aufzufangen hätte. Ich nickte. Der Kellner schoß los.

Er stellte sich vor dem Schanktisch auf, eine pomadige Schniegelhaltung einnehmend, so halb angelehnt und halb wieder nicht. Er sah zu mir herüber, aber mit dem Mund – ich konnte es nicht übersehen – wandte er sich an die Wirtin, sprach schnell und gefährlich auf sie ein. Die holte Glas um Glas aus dem Wasser heraus. Da war im Lärm nichts zu hören; trotzdem kam es mir vor, als tauchten die Gläser mit einem schlüpfrigen Gluchzen aus dem Spültrog. Ihre Nässe glänzte im Licht. Gruppe um Gruppe trat ein. Man schien sich zu kennen.

Was für Geheimnisse er meine, rief ich ihm zu, und ob denn ein Geheimnis über eine Freundschaft entscheiden könne. Hat er wirklich von Freundschaft gesprochen, der Unbekannte?! Wie prompt greift man in der Großstadt zu den großen Worten – er, rief ich, wolle demzufolge sein städtisches Gebaren betonen, er wolle mich ins Abseits verweisen, aber ich, rief ich, halte schon mit, mein Herr, und dann lachten wir beide. Für eine Rückkehr in die Stadt war es bestimmt schon zu spät. Die Bahnen stellen ihren Betrieb nach Mitternacht ein.

Den wie geköpft auf der Tischplatte liegenden Werwolf wollte mein Gegenüber nicht gerade mit den Fingern bezeichnen, aber seine Pupillen setzte es deutlich in die Augenwinkel; so wies es meinen Blick in Werwolfs Richtung. Sollte der Werwolf das Geheimnis sein? Mein Gegenüber rief: Sieben Mal von den Russen vergewaltigt, und einmal ist das dort übriggeblieben: der Werwolf! Könnten Sie nur verstehen – seine Stimme zog an, seine Hand schnappte mich am Revers –, was das für unsereinen bedeutet. Aber, machte er mit einer schlappen Bewegung, lassen wir das. Trinken wir. Noch eins, und vielleicht schon das letzte. Wie zum Schutz hob ich mein Glas. Er hatte es ausgetrunken.

Pfui, sagte ich, wollte ich sagen – ich sagte nichts. Pfui, sagte er, und scharfrichterlich fitzte die Stimme ihr Pfui auf mich herab. Ein Pfui unserer gar zu hastigen Sauferei.

Glaubt er denn wirklich, ging es nun, da unser Tisch mit neuen Gläsern versehen war, weiter im Text: Glaubt er denn wirklich, daß der Werwolf das so großartig angekündigte Geheimnis war?! Hat er nicht bemerkt, daß die Werwolfgeschichte nur eine Ausflucht anbot, um deine Blicke nicht zum Nebentisch zu lenken, zu jenem in gesteifter Haltung sitzenden Herrn dort?! Jetzt rede ich davon, da schaut er auch noch hin. Du, dieser Herr ist kein beliebiger – da bist du an der falschen Adresse, du, das kann ich dir garantieren, du!

 

Der Herr wandte sich zu uns um. Mein Gegenüber hatte ihm das Du, das ja mir gelten sollte, so laut in den Rücken geschrien, ein ungehöriges, böses Du, daß er sich umdrehen mußte, und so blieb er jetzt sitzen, den linken Unterarm auf die Rücklehne des Stuhls gelegt, nahm mit der Rechten die Brille ab, klappte, indem er die Brille kurz schüttelte, die Bügel ein, legte die Brille auf den Tisch und sah mich an.

Der Herr hatte zwei Freundinnen dabei. Die beiden Münder der Freundinnen begannen sich schnell wieder zu bewegen – sie zu verstehen, unmöglich! Der Keller war bis auf den letzten Platz besetzt, laut wurde nach Bier gerufen, geredet, gelacht. Der Kellner schuftete. Zwischen die Tische ging er mit zwei gefüllten Tabletts in Waagehaltung, von allen Seiten griffen Hände nach neuen Gläsern, so daß sich die Tabletts auf den ausgestreckten Armen hoben und senkten. Jetzt, obwohl die Tabletts noch voll waren, schob sie der Kellner aufs Büffet. Die Münder der Freundinnen waren geschlossen. Leicht gekrümmt war der Rücken des steifen Herrn, und ich wußte: Da bückt sich keiner. Da spannt innere Kraft und Wut einen Bogen. Der Pfeil würde abgeschossen auf mich.

Schwankend indessen hielt Werwolfs Mutter sich am Tisch. Sie sagte: Er hat jetzt ein bißchen Schwierigkeiten, aber er hat seiner Mutti versprochen, daß er nicht mehr krank wird – da kam sie ins Stottern, sah weg von ihrem Sohn und blickte nun, wie die Freundinnen, wie mein Trinkkamerad, wie alle hier drinnen, zu mir. Als sie sich hinsetzte, tat das die Alte so sicher, daß von ihren Schnäpsen nichts zu merken war. Den Werwolf brauchte sie nicht anzustupsen. Von selbst hob er den Kopf von der Tischplatte auf, und grinsend glotzte er herüber. Der wußte, wie alle, was bevorstand.

Im hohen Keller war es still geworden. Nur hie und da klopfte ein rasch noch abgestelltes Glas auf einen Tisch. Zwei Mädchen in Lederkleidung standen nebeneinander, sie hielten sich, scheuen Kindern gleich, an der Hand und sahen zu mir. Im hinteren Raum hatten sie sich auf die Glasscheiben der Automaten gesetzt, sie standen auf Stühlen, sie erstiegen, sich gegenseitig helfend, die Tische. Dann hielten sie in der Bewegung inne. Sie starrten mich an.

 

Das war’s. Betrunken war ich. Da gab es einen Werwolf, und ich war ihr Affe – eingeschlossen im nächtlichen Zoo. Mach dein Kunststück – oder es bleibt nichts von dir übrig, nichts. Ich kannte ihn nämlich, diesen Herrn Doktor … Diesen sauberen, allzu korrekten Herrn Doktor kenne ich. Auch seine beiden Fräuleins mit den stark geschminkten Lippen kenne ich. Selbstverständlich kenne ich die zwei. Ich lächelte scheu.

Das Lächeln schien dem Doktor als Entschuldigung zu genügen. Ich hatte mich wieder. Der kurze Augenblick des Entsetzens, der mir so lang nur vorgekommen war, schien vorbei zu sein. Mein Gegenüber, sagte ich laut und abschließend, sei mir nicht näher bekannt. Ich, sagte ich, möchte mich bei Ihnen für mein Gegenüber entschuldigen. Oh, sagten die Frauen des Doktors spitz, was mir als Aufforderung zum Platzwechsel willkommen war. Die Wirtschaft nahm den Betrieb wieder auf.

Mit einem Fingerschnippen hatte Frau Paula, die Wirtin, den Kellner Franz in den Lärm geschickt; der platzte nach der Stille auf und war sehr laut. Der Doktor erhielt den Schnaps auf Paulas Kosten. Er winkelte den Ellbogen, und: Prost! sagten die Freundinnen mit einem frohen Lippenschürzen, das der Doktor, obwohl trinkend, nicht übersehen konnte.

Der Mensch, der sich so frech herangedrängt hatte, ließ, um das Maß voll zu machen, den Schädel auf meinen Tisch plumpsen. Seine Arme lagen ausgestreckt auf der Platte, und, als wollte er eine steile Wand erklimmen, hatte er die Fingernägel ins Holz geritzt. So zog er den Tisch tief in die Krümmung seines Körpers, einige Gläser kippten, eins purzelte vom Tisch, und der gute Herr Franz, der von allen Hiesigen geschätzte Kellner, räumte bald einmal ab. Nur gut, dachte ich, daß ich den mit seiner Trunkenheit gerade noch rechtzeitig alleingelassen habe. Was jene Gerüchte betrifft, der Doktor sei einer der kommenden Männer der Bewegung, so waren das nur Gerüchte, und wenn ich wollte, könnte ich ohne Hemmungen den Doktor oder seine Fräuleins danach fragen. Oh, wir unterhielten uns lange und gut. Über geschliffene Wendungen lachten wir herzlich.

 

Später hatte der Werwolf seine Ziehharmonika ausgepackt und spielte seiner Mutter zum Geburtstag. Alle sangen wir mit. Die Spieler an den Automaten spielten weiter, und ihre Zigaretten, um in unsern Gesang einzustimmen, hatten sie beiseite gelegt. Als die Fräuleins ein weiteres Mal die Lippen nachzogen, fiel mir ein, daß ich noch immer trank, und ich sagte dies und ging. Ich erinnere mich noch, wie der Doktor ein paar Worte hinter mir herrief, wie ich mich umdrehen wollte und nach der Tür ins Leere griff. Dann war ich auf einer langen Straße allein. In meinem Rücken hatten sie die Tür schon abgeschlossen. Es war nicht kühler geworden. Auch gegen den Morgen hin wurde es nicht kühler. Da drin – ich zeigte mit dem Finger auf die Tür zum Keller –, da drin sitzt einer am Tisch und ersteigt noch immer sein planes Gebirge. Ein Hergelaufener! Über dieses Wort mußte ich furchtbar lachen. Dann erbrach ich mich in den Rinnstein; es war mir lieber so.

 

Ob ich die Station noch erreichen würde? Ich war von der langen Nacht etwas geschwächt. Ich gehörte jetzt zu den Schwachen einer Gruppe; die haben in den Bahnen die Sitzplätze einzunehmen. Aber wie, einmal auf dem Sitz, wieder hochkommen? Fuchtelnd stießen einem Hände entgegen, drängten einen zurück, Türen schossen auf und wieder zu – und schon war man, was man keineswegs beabsichtigt hatte, auf der Fahrt in die Tiefe. In der Stadtmitte waren die Brände vielleicht noch immer nicht gelöscht, die Kämpfe noch immer im Gang. Es sollen Angriffe stattfinden auf Menschen.

Eine lange Straße trottete ich entlang. Kurz vor der angesagten Zeit des Sonnenaufgangs verließ ich sie, machte mich mühsam an den Aufstieg, kroch schwitzend und schwer und mit hängenden Armen höher. Ich wollte mich zur Beobachtung rechtzeitig einfinden.

Oben würde ich, wie die meisten der Gruppe, reglos stehen. Unsere Münder, leicht offen, atmen hastig. Von der Stadtmitte klingt ein Ton herüber, auf den Stahldächern steht ein flüssiges Glühen, und fast möchte man die Tiefe der schrägen Schatten messen und das Leuchten der Baumblätter zu dieser Stunde.

In den Laternen der südöstlichen Quartiere verglimmt in der Morgenhelle die Nacht.

Schweizerreise in einem Ford

Von der Abendsonne in lötiges Gold gegossen, fährt er die Bohlstraße zum ersten Mal herauf, blitzen die Chromleisten so raketisch, als schwebe der Ford über die Straße hinaus und himmelaufwärts davon, ein gleitendes, sirrendes Gefährt, das weiter und immer weiter fährt, den Brünig und das Bernische schafft, ins Welsche rast und durchs Wallis und nach Basel, bis es dann, an einem Abend im Herbst, passiert ist –

Auf dem Balkon des Mehrfamilienhauses Aegerisaumweg 2 stand unsere Mutter parat, sie band sich die Schürze los, winkte und rief, und wir Kinder, auf dem Trottoir vor Bertschis Garage zum Empfang aufgestellt, hüpften, uns an den Händen haltend: Wir haben einen Ford. Bertschis Marcel hielt sich abseits. Autobesitzerskinder seien sie, Bertschis, schon lang, hatte er gesagt; aber das hier, rief ich, ist ein Ford, ein nagelneuer, amerikanischer Ford!

Der Vater blieb am Steuer aufrecht sitzen, sinnend sah er geradeaus, den Motor ließ er laufen. Die Firma Ford, hatte der Autohändler Huber gesagt, sei erstens, zweitens und drittens eine Weltfirma, viertens fahre der Wagen praktisch von selbst, und fünftens biete er, der Ford-Huber, den besten Service im ganzen Kanton; zahlen könne man in Raten.