Die Tiefe - Anthony Doerr - E-Book

Die Tiefe E-Book

Anthony Doerr

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Beschreibung

VOM AUTOR DES BESTSELLERS "ALLES LICHT, DAS WIR NICHT SEHEN"

Die sechs Stories dieses Bandes, angesiedelt auf drei verschiedenen Kontinenten, handeln von Erinnerung und Liebe. In jedem Augenblick, sagt Anthony Doerr, verschwinden überall auf der Welt unzählige Erinnerungen, dabei sind sie es, die unserem Leben Sinn und Zusammenhang verleihen. Gleichzeitig erforschen Kinder neues, unbekanntes Terrain, formen frische Erinnerungen, erfinden die Welt neu.

In „Die Memel“ zieht ein verwaistes Mädchen zu ihrem Großvater nach Litauen und entdeckt eine Welt, in der Mythen real werden. In „Dorf 113“ geht es um den Bau des Drei-Schluchten-Damms und um die Samenhüterin, die auch die Geschichte des Dorfes bewahrt, das bald überflutet werden wird. In „Nachwelt“, einer erschütternden, unvergesslichen Geschichte, wird eine Frau, als einzige Überlebende aus einem jüdischen Waisenhaus in Hamburg dem Holocaust entronnen, von Visionen ihrer Kindheitsfreundinnen heimgesucht, findet aber Trost in der zärtlichen Fürsorge ihres Enkelsohns. „Die Tiefe“, angesiedelt im Detroit der dreißiger Jahre, erzählt die melancholische Liebesgeschichte von Tom und Ruby, die Tom wegen seiner Herzschwäche in Lebensgefahr bringt. Doerr erzählt von fast mystischen Momenten, in denen die Zeit aufgehoben scheint und die Toten anwesend sind. Die Welt wird transparent, wenn dieser große Erzähler sie und ihre Bewohner beschreibt.

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Anthony Doerr

Die Tiefe

Stories

♦ ♦ ♦

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

C.H.Beck

Zum Buch

Die sechs Stories dieses Bandes, angesiedelt auf drei verschiedenen Kontinenten, handeln von Erinnerung und Liebe. In jedem Augenblick, sagt Anthony Doerr, verschwinden überall auf der Welt unzählige Erinnerungen, dabei sind sie es, die unserem Leben Sinn und Zusammenhang verleihen. Gleichzeitig erforschen Kinder neues, unbekanntes Terrain, formen frische Erinnerungen, erfinden die Welt neu.

In «Die Memel» zieht ein verwaistes Mädchen zu ihrem Großvater nach Litauen und entdeckt eine Welt, in der Mythen real werden. In «Dorf 113» geht es um den Bau des Drei-Schluchten-Damms und die Samenhüterin, die auch die Geschichte des Dorfes bewahrt, das bald überflutet werden wird. In «Nachwelt», einer erschütternden, unvergesslichen Geschichte, wird eine Frau, als einzige Überlebende aus einem jüdischen Waisenhaus in Hamburg dem Holocaust entronnen, von Visionen ihrer Kindheitsfreundinnen heimgesucht, findet aber Trost in der zärtlichen Fürsorge ihres Enkelsohns. «Die Tiefe», angesiedelt im Detroit der Dreißigerjahre, erzählt die melancholische Liebesgeschichte von Tom und Ruby, die Tom wegen seiner Herzschwäche in Lebensgefahr bringt.

Doerr liefert unvergleichliche Naturschilderungen und erzählt von fast mystischen Momenten, in denen die Zeit aufgehoben scheint und die Toten anwesend sind. Die Welt wird transparent, wenn dieser große Erzähler sie und ihre Bewohner beschreibt.

Über den Autor

Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Boise, Idaho. Neben Erzählungsbänden wie «Der Muschelsammler» (2007) veröffentlichte Doerr die Romane «Winklers Traum vom Wasser» (2. A. 2016) und «Alles Licht, das wir nicht sehen» (9. A. 2016), für den er den Pulitzer-Prize erhielt. 2016 erschien auf Deutsch seine Novelle «Memory Wall». Für seine Erzählungen hat Doerr bislang vier Mal den renommierten O.Henry Prize erhalten, neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er auch drei Mal den Pushcart Prize.

Über den Übersetzer

Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, arbeitete als Lektor in verschiedenen Verlagen. Heute ist er als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. John Boyne, Patricia Duncker, Nathan Englander, Hilary Mantel, Hisham Matar, Louis Sachar und Colin Thubron. Für C.H.Beck hat er bereits Anthony Doerrs Roman «Alles Licht, das wir nicht sehen» und «Memory Wall» übersetzt.

Inhalt:

Die Tiefe

Wachset und mehret euch

Die entmilitarisierte Zone

Dorf 113

Der Damm

Fragen

Oktober

Li Qing

Untersuchung

Die ganze Woche

Zahlen

Der Abschied

Der Abend, bevor Li Qing abfährt

Der Lehrer

November

Die Kinder

Flussabwärts

Die Stadt

Tage kommen

Distrikt 104

Rückkehr

Das Dorf

Frühling

Glühwürmchen

Gedächtnis

Juli

Schließlich

31. Juli

Jahre später

Die Memel

Nachwelt

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Dank

Für Shauna

Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei’s nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts.

Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer

Die Tiefe

♦ ♦ ♦

Tom wird 1914 in Detroit geboren, kaum einen halben Kilometer von International Salt entfernt. Sein Vater ist verschwunden, keiner weiß, wohin. Seine Mutter betreibt eine zugige Pension mit sechs Zimmern, hinter deren verschlossenen Türen die mageren Besitztümer von Wanderarbeitern aus dem Salzbergwerk schlummern: mausgraue Mäntel, ramponierte Arbeitsstiefel, Kupferstiche entkleideter Frauen mit bleich orangenfarbenen Brüsten. Alle halbe Jahre wird ein Bergarbeiter entlassen, muss zur Armee oder stirbt und ein neuer ersetzt ihn, sodass Tom schon sehr früh sieht, wie die Welt ihre jungen Männer verliert, von denen nur wenig zurückbleibt: leere Tabaksbeutel, Klappmesser mit abgebrochenen Klingen, salzverkrustete Hosen, stumm, ohne Gedächtnis.

Tom ist vier, als er das erste Mal ohnmächtig wird. Er biegt um eine Ecke, atmet schwer, und die Lichter gehen aus. Die Mutter trägt ihn nach drinnen, setzt ihn in einen Sessel und schickt jemanden los, um den Arzt zu holen.

Ein Atriumseptumdefekt. Ein Loch im Herz. Der Arzt sagt, Blut schwappt von der linken auf die rechte Seite. Das Herz muss dreimal so hart arbeiten. Toms Lebenserwartung liegt etwa bei sechzehn Jahren. Achtzehn, wenn er Glück hat. Das Beste wäre, wenn er sich möglichst nicht aufregt.

Die Mutter übt sich im Flüstern. Komm her, sieh mal, mein süßer kleiner Tommi-Schatz. Sie stellt Toms Kinderbett in eine Kammer oben im Haus. Kein helles Licht, kein Lärm. Morgens bekommt er ein Glas Buttermilch, dann gibt sie ihm einen Besen oder einen Bausch Putzwolle. Ganz langsam, murmelt sie. Er putzt den Kohleofen und fegt die Marmorstufen. Zwischendurch blickt er von der Arbeit auf und betrachtet das Gesicht ihres ältesten Gastes, Mr Weems, wie er die Treppe herunterkommt. Mr Weems ist fünfzig, hat sich gegen die Kälte eine Kapuze über den Kopf gezogen und wird gleich mit einem Aufzug dreihundert Meter in die Tiefe fahren. Tom stellt sich die Fahrt vor, düstere Lichter, die hin und wieder vorbeiziehen und verschwinden, Drahtseile, die zittern und schlagen, ein halbes Dutzend weiterer Männer neben ihm in den Korb gepfercht, jeder seine eigenen Gedanken denkend, Männergedanken, während sie in diese Stadt unter der Stadt sinken, wo Maultiere warten, Öllampen an den Wänden brennen und sich glitzernde Salzgewölbe in mächtigen Säulengängen bis hinter die letzten Lichter erstrecken.

Sechzehn, denkt Tom. Achtzehn, wenn ich Glück habe.

Die Schule hat drei Räume für den Nachwuchs von Hüttenarbeitern und Männern aus den Salz- und Kohlebergwerken, irische, polnische und armenische Kinder. Für Mutter erscheint der Schulhof als ein tausend Morgen großes brodelndes Pandämonium. Renne nicht und streite nicht, flüstert sie. Keine Spiele. Am ersten Tag holt sie ihn nach einer Stunde aus der Klasse. Schschsch, sagte sie und legt ihre Arme um seine.

Während der ersten Jahre geht Tom mal in die Schule, mal nicht. Manchmal behält sie ihn wochenlang zu Hause. Mit zehn hängt er in allem hinterher. Ich versuche es, stammelt er, doch die Buchstaben fliegen von den Seiten und prallen gegen die Fensterscheiben. Hohlkopf, sagen die anderen Jungen, und Tom denkt, sie haben Recht.

Tom fegt, schrubbt und scheuert die Stufen mit einem Bimsstein sauber, Zentimeter für Zentimeter. Transusiger geht’s kaum, sagte Mr Weems, aber er zwinkert Tom dabei zu.

Jeden Tag, von morgens bis abends, findet das Salz seinen Weg ins Haus. Es verkrustet die Waschbecken und setzt sich auf den Rändern der Fußleisten fest. Es rieselt auch aus den Pensionsgästen: aus Ohren, Stiefeln, Taschentüchern. Mit täglich neuer Heimtücke bilden sich glitzernde Furchen in den Bettlaken.

Fang am Rand an und arbeite dich bis zur Mitte vor. Wäsche am Donnerstag, die Toiletten am Freitag.

Er ist zwölf, als Ms Fredericks die Kinder bittet, etwas aufzuschreiben. Ruby Hornaday kommt als Sechste an die Reihe. Ruby hat Flammenhaare, an Weihnachten Geburtstag und einen Säufer zum Vater. Sie ist eines von zwei Mädchen, das es in die vierte Klasse geschafft hat.

Sie liest mit zitternder Stimme. Wenn du denkst, der See ist groß, solltest du das Meer sehen. Drei Viertel der Erde sind Meer, und das ist nur die Oberfläche. Jemand wirft einen Bleistift nach ihr. Die Runzeln auf Rubys Stirn werden tiefer. Landtiere leben auf der Erde oder in Bäumen, Ratten und Würmer und Möwen und so. Aber Meerestiere leben überall, sie leben in den Wellen und sie leben mittendrin und sie leben in zehn Kilometer tiefen Schluchten.

Sie lässt ein rotes Buch mit Textblöcken und vierfarbigen Abbildungen herumgehen, die dafür sorgen, dass Tom das Blut in den Ohren rauschen hört. Eine Flut winziger Fische mit noch winzigeren Zähnen. Eine rotblaue Korallenwelt. Fünf auf einen Felsen zementierte orangefarbene Seesterne.

Ruby sagt: In Detroit gab’s mal Palmen und Korallen und Muscheln. Detroit war mal fünf Kilometer tief im Meer.

Ms Fredericks fragt: Ruby, wo hast du das Buch her? Tom atmet kaum noch. Durchsichtige Blumen mit giftigen Fangarmen, Muschelfelder und rosa Kugeln mit tausend Nadeln auf dem Rücken. Er versucht zu fragen: Gibt’s die wirklich?, aber Quecksilberblasen steigen aus seinem Mund und treiben zur Decke hinauf. Als er umfällt, kippt der Tisch mit ihm um.

Der Arzt sagt, am besten geht Tom nicht mehr zur Schule, und seine Mutter stimmt ihm zu. Bleib drinnen, sagt der Arzt. Und wenn du dich aufregst, denke an etwas Blaues. Die Mutter lässt ihn nur zum Essen nach unten kommen, und wenn es etwas zu tun gibt. Im Übrigen soll er in seiner Kammer bleiben. Wir müssen vorsichtig sein, Tommi-Schatz, flüstert sie und legt ihm die Hand auf die Stirn.

Tom verbringt viele Stunden auf dem Boden neben seinem Bett und setzt immer wieder dasselbe Puzzle zusammen: ein Schweizer Dorf. Fünfhundert Teile, von denen neun fehlen. Manchmal liest Mr Weems Tom etwas aus einem Abenteuerroman vor. Tief unten im Bergwerk sprengen sie eine neue Ader in den Stein, und in den Pausen zwischen Mr Weems’ Worten kann Tom spüren, wie die Explosionen durch Hunderte Meter Fels die empfindliche Pumpe in seiner Brust erschüttern.

Er vermisst die Schule. Er vermisst den Himmel. Er vermisst alles. Wenn Mr Weems im Bergwerk und Toms Mutter unten im Haus ist, schleicht Tom oft ans Ende des Flurs, schiebt den Vorhang zur Seite und drückt die Stirn gegen das Glas. Kinder rennen über die verschneiten Straßen, hinter den Fenstern der Gießerei glühen Lichter, Zugwaggons rollen unter Rohren und Leitungen dahin. Die Arbeiter der ersten Schicht kommen in Sechsergruppen aus dem Maul des Aufzugs, holen Zigarettenpäckchen aus ihren Overalls, reißen Streichhölzer an und verschwinden wie salzbestäubte kleine Insekten in die Nacht, während die dunkleren Gestalten, die Männer der zweiten Schicht, in der Kälte von einem Fuß auf den anderen treten und darauf warten, dass sie in den Käfig steigen und in die Grube einfahren können.

In seinen Träumen sieht er schwankende Hornkorallen, umherschwirrende Zackenbarsch-Schwärme und Lichtstrahlen unter Wasser. Er sieht, wie Ruby Hornaday die Tür zu seiner Kammer aufstößt. Sie trägt einen kupfernen Taucherhelm, beugt sich über sein Bett und bringt ihr Helmglas dicht an sein Gesicht.

Erschrocken wacht er auf. Hitze sammelt sich in seiner Leiste, und er denkt: blau, blau, blau.

An einem nieseligen Samstag klingelt es an der Tür. Als Tom aufmacht, steht Ruby Hornaday auf der Treppe.

Hallo. Tom blinzelt ein Dutzend Mal. Regentropfen überziehen die Pfützen mit Tausenden sich überschneidenden Ringen. Ruby hält ein Glas in die Höhe: Sechs Kaulquappen winden sich durch ein paar Zentimeter Wasser.

Es sah so aus, als würdest du Wassertiere mögen.

Tom versucht zu antworten, aber der gesamte Himmel weht ihm durch die offene Tür in den Mund.

Du wirst doch nicht wieder ohnmächtig?

Mr Weems kommt in die Diele gestapft. Himmel, Junge, der Dame ist so nasskalt wie in einer Kirche. Du musst sie hereinbitten.

Ruby steht auf den Fliesen und tropft. Mr Weems grinst. Tom murmelt: Mein Herz.

Ruby hält ihm das Glas hin. Du kannst sie behalten. Es dauert nicht lange, und sie werden zu Fröschen. Tropfen leuchten auf ihren Wimpern. Das Hemd klebt an ihrem Schlüsselbein. Nun, das ist doch was, sagt Mr Weems. Er stupst Tom in den Rücken. Stimmt’s, Tom?

Tom öffnet den Mund und sagt: Vielleicht könnte ich …, als seine Mutter in ihren großen schwarzen Schuhen die Treppe herunterkommt. Ärger, zischt Mr Weems.

Die Mutter schüttet die Kaulquappen in den Graben. Ihr Gesicht sagt, dass sie sich zusammennimmt, aber ihre Augen sagen: Weg damit. Mr Weems beugt sich über die Dominosteine und flüstert: Deine Mutter ist hart wie ein Pflasterstein, aber wir knacken sie schon, wart’s nur ab, Tom.

Tom flüstert: Ruby Hornaday, in den Raum über seinem Bett. Ruby Hornaday. Ruby Hornaday. Eine merkwürdige, unkontrollierbare Freude füllt ihm bedrohlich die Brust.

Mr Weems spricht lange mit der Mutter in der Küche. Tom hört einzelne Bruchstücke: Der Junge braucht Auslauf. Der Junge sollte etwas frische Luft schnappen.

Mutters Stimme ist wie eine Peitsche. Er ist krank.

Er lebt! Was hat er sonst?

Die Mutter willigt ein, dass Tom Kohlen aus dem Depot und Konserven aus dem Laden holen kann. Und dienstags soll er zum Metzger in Dearborn gehen dürfen. Vorsicht, Tommi-Schatz, nicht zu schnell.

An jenem ersten Dienstag bewegt sich Tom mit einem Gefühl durch die Kolonie, das an Verzückung grenzt. Die langen Schotterwege hinunter, an Zechenhäusern, Bergen von blauem und weißem Salz und dunklen, kathedralenartigen Lagergebäuden und Fördermaschinen vorbei, die wie dämonische Gerippe in die Luft ragen. Überall um ihn herum hämmert und dröhnt die gewaltige Industrie Detroits. Der Junge stellt sich vor, ein Schatzsucher zu sein, der Held aus einer von Mr Weems’ Abenteuergeschichten, ein Ritter mit wichtigem Auftrag, ein Spion hinter feindlichen Linien. Er hat die Hände in den Taschen, hält den Kopf gesenkt und geht langsam, doch seine Seele eilt voraus, schwerelos, jubilierend blitzt sie durch die Düsternis.

Im Mai dieses Jahres, 1929, geht der vierzehnjährige Tom die Straße hinunter und denkt, der Frühling kommt, ob du darauf achtest oder nicht – unter dem Schnee regt er sich, hinter den Mauern, im Dunkeln, während du träumst. Da tritt Ruby Hornaday aus dem Gestrüpp. Sie trägt einen aufgerollten schrumpeligen Gummischlauch über der Schulter, eine Taucherbrille in der einen und eine Luftpumpe in der anderen Hand. Ich brauche deine Hilfe. Toms Puls schnellt in die Höhe.

Ich muss zum Metzger.

Wie du willst. Ruby wendet sich zum Gehen. Aber natürlich will er.

Sie führt ihn nach Westen, weg vom Bergwerk, zwischen Unmengen rostender Maschinen hindurch. Sie springen über einen Zaun, überqueren ein unbestelltes Feld und laufen noch etwa einen halben Kilometer zwischen Harzkiefern hindurch in ein Sumpfgebiet, wo Kuhreiher wie weiße Blumen zwischen Rohrkolben stehen.

In meinen Mund, sagt sie und fängt an, Steine aufzusammeln, und aus der Nase wieder heraus. Du pumpst, Tom. Verstanden? Etwa eine Armlänge tief im grünen Wasser kann Tom die dunklen Umrisse einiger durch die verwachsenen Tümpel gleitenden Fische ausmachen.

Ruby wirft ein Ende des Schlauchs ins Wasser, bindet das andere an die Pumpe und füllt ihre Taschen mit Steinen. Sie watet ins Wasser hinaus, dreht sich um, sagt: Du pumpst, und steckt sich den Schlauch in den Mund. Die Taucherbrille schiebt sich über ihre Augen, ihr Gesicht verschwindet im Wasser.

Das Sumpfwasser schließt sich über Rubys Rücken, der Schlauch entfernt sich vom Ufer. Tom fängt an zu pumpen. Der Himmel gleitet über ihn hinweg. Schlaufen des Gartenschlauchs treiben im Licht dahin und rucken hin und her. Gelegentlich steigen Blasen auf und fließen weiter hinaus.

Eine Minute, zwei Minuten. Tom pumpt. Sein Herz tut seinen schwächlichen Dienst. Er sollte nicht hier sein. Er sollte nicht hier sein, während sich dieses magere, faszinierende Mädchen im Sumpf ertränkt. Wenn es das ist, was sie tut. Einer von Mr Weems’ Vergleichen kommt ihm in den Sinn: Du zitterst wie eine Nadel in Richtung Pol.

Nach vier, fünf Minuten unter Wasser taucht Ruby wieder auf. Leuchtende Algen bedecken ihr Haar, und ihre nackten Füße sind schwere Matschstiefel. Sie schiebt sich zwischen den Rohrkolben hindurch. Speichelfäden hängen an ihrem Kinn. Ihre Lippen sind blau. Tom fühlt sich benommen. Der Himmel verflüssigt sich.

Unglaublich, keucht Ruby. Verdammt unglaublich. Sie hält die nasse, mit Steinen gefüllte Hose mit beiden Händen und sieht Tom durch die wellige Scheibe ihrer Taucherbrille an. Sein Blut rast durch seine lichtlosen Tunnel.

Er muss traben, um es zum Metzger und bis zwölf wieder nach Hause zu schaffen. Solange Tom sich erinnern kann, ist es das erste Mal, dass er sich zu rennen erlaubt. Seine Beine fühlen sich an wie aus Glas. Am Ende der Straße, noch etwa hundert Meter von zu Hause entfernt, bleibt er keuchend mit dem Korb Fleisch in den Armen stehen und spuckt etwas Blut in den Löwenzahn. Sein Hemd ist schweißnass. Libellen kommen herangeschossen und stehen vor ihm in der Luft. Schwalben schreiben Buchstaben in den Himmel. Die Straße scheint sich zu kräuseln, zu falten und wieder auszubreiten.

Nur noch hundert Meter. Er zwingt sein Herz zur Ruhe. Alles, denkt Tom, folgt einem Weg, der von denen gebahnt worden ist, die ihn zuvor gegangen sind. Reiher, Wolken, Kaulquappen. Alles, alles, alles.

Am nächsten Dienstag trifft Ruby ihn am Ende der Straße. Und auch am Dienstag darauf. Sie springen über den Zaun, überqueren das Feld. Sie bringt ihn an Orte, von denen er nicht einmal im Traum eine Ahnung hatte. Orte, an denen die Bauten des Salzbergwerks zu weißen Trugbildern am Horizont werden, wo Sonnenlicht in Ahornwäldchen dringt und die Erde mit Blätterschatten erbeben lässt. Sie linsen in eine Gießerei, wo Männer mit nacktem Oberkörper und Gesichtsmasken geschmolzenes Eisen aus einem Kübel in einen anderen gießen. Sie klettern auf einen Abraumhaufen, aus dem ein einzelnes Bäumchen wächst wie eine Hand aus der Unterwelt. Tom weiß, er riskiert alles, seine Freiheit, Mutters Vertrauen, sogar sein Leben, aber wie könnte er jetzt aufhören? Wie könnte er Nein sagen? Sich Ruby Hornaday zu verweigern, hieße, sich der Welt zu verweigern.

An manchen Dienstagen bringt Ruby ihr rotes Buch mit Korallen, Quallen und Unterwasser-Vulkanen mit. Sie sagt, wenn sie erwachsen ist, geht sie auf Partys, auf denen Hostessen die Gäste aufs Meer hinausrudern und alle spezielle Helme aufsetzen, um Spaziergänge auf dem Meeresgrund zu machen. Sie sagt, dass sie eine Taucherin werden wird und sich in einer Stahlkugel mit einem Fenster siebenhundert Meter in die Tiefe sinken lässt. Tief im Ozean, sagt sie, wird sie ein anderes Universum finden, einen Ort aus Lichtern: mit grün glühenden Fischschwärmen, lebenden, durchs Schwarz treibenden Galaxien.

Im Ozean, sagt Ruby, ist die Hälfte der Felsen lebendig, und die Hälfte der Pflanzen sind Tiere.

Sie halten sich bei den Händen, sie kauen Indian Gum. Ruby stopft Seetangwälder, Meereslandschaften und Delfine in seine Vorstellungswelt. Wenn ich erwachsen bin, sagt Ruby. Wenn ich erwachsen bin …

Viermal wandert Ruby unter der Oberfläche des Rouge-River-Sumpfes herum, während Tom am Ufer steht und pumpt. Viermal sieht er sie wieder auftauchen wie im Fieber. Amphibisch, lacht sie. Das bedeutet, du hast zwei Leben.

Danach rennt Tom zum Metzger und zurück nach Hause, sein Herz rast, und vor seinen Augen breiten sich Punkte aus, tintenfleckengleich. Manchmal nachmittags, wenn er sich von seinen Aufgaben erhebt, verschwimmt sein Blick in blauvioletten Streifen. Er sieht das leuchtende Weiß des Salztunnels, das Rot von Rubys Buch und das Orange ihres Haars, und er stellt sie sich erwachsen vor, im Bug eines Schiffs, und spürt, wie ein Kern zitronengelben Lichts heller und heller in ihm aufflammt. Es dringt zwischen seinen Rippen hervor, zwischen seinen Zähnen und aus den Pupillen seiner Augen. Er denkt: Es ist so viel! So viel!

Jetzt bist du fünfzehn. Und der Arzt sagt, sechzehn?

Achtzehn, wenn ich Glück habe.

Ruby dreht ihr Buch in den Händen. Wie fühlt es sich an? Zu wissen, dass du nicht all die Jahre bekommen wirst, die dir eigentlich zustehen?

Ich fühl mich eigentlich nicht zu kurz gekommen, wenn ich mit dir zusammen bin, will er sagen, aber hinter kurz versagt seine Stimme, und der Satz bricht ab.

Sie küssen sich nur dieses eine Mal. Es ist unbeholfen. Er schließt die Augen und beugt sich vor, aber etwas verschiebt sich, und Ruby ist nicht da, wo er sie erwartet hat. Ihre Zähne klacken gegeneinander. Als er die Augen öffnet, sieht sie nach links und lächelt ganz leicht. Sie riecht nach Matsch, und die tausend winzigen blonden Härchen auf ihrer Oberlippe fangen das Licht ein.

Als Tom und Ruby das vorletzte Mal zusammen sind, am letzten Dienstag im Oktober 1929, ist alles merkwürdig. Der Schlauch leckt, Ruby ist verstimmt, und zwischen die beiden hat sich ein Vorhang gesenkt.

Geh zurück, sagt Ruby. Es ist sicher schon zwölf. Du kommst zu spät. Sie klingt, als spräche sie durch einen Tunnel zu ihm. In ihrem Gesicht wandern Sommersprossen und blühen auf. Das Licht entweicht aus dem Sumpf.

Auf dem langen Weg zwischen den Harzkiefern hindurch fängt es an zu regnen. Tom schafft es zum Metzger und mit dem Korb und dem Kalbshackfleisch zurück nach Hause, aber als er die Tür zu Mutters Salon öffnet, wehen die Vorhänge in den Raum hinein. Die Stühle verlassen ihre Plätze und kommen auf ihn zugekrochen. Das Tageslicht dünnt zu einem Paar von Strahlen aus, die hin und her schwanken. Mr Weems geht durch sein Blickfeld, doch Tom hört keine Schritte, keine Stimmen: nur ein inneres Rauschen und das feuchte Metronom seines Atems. Mit einem Mal ist er ein Taucher, der durch ein dickes, vernebeltes Fenster in eine Welt unter ungeheurem Druck starrt. Er geht über den Meeresgrund. Mutters Lippen sagen: Habe ich nicht genug gegeben? Lieber Gott, habe ich es nicht versucht? Dann ist sie weg.