Winklers Traum vom Wasser - Anthony Doerr - E-Book

Winklers Traum vom Wasser E-Book

Anthony Doerr

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Beschreibung

David Winkler wächst in Anchorage, Alaska, auf, ein stiller Junge mit einer Vorliebe für Schnee und die Schönheit der Eiskristalle. Manchmal kann er Ereignisse sehen, bevor sie eintreten werden - ein Mann mit einer Hutschachtel wird von einem Bus angefahren werden, er wird sich in eine Frau in einem Supermarkt verlieben. Als David davon träumt, daß seine neugeborene Tochter in einer Flut ums Leben kommt, während er versucht sie zu retten, flieht er panisch aus Cleveland, wo die Familie inzwischen lebt. Kann er so den Lauf der Dinge ändern?
Mittellos, allein und ohne Gewißheit, ob seine Tochter überlebt hat - der Ohio ist tatsächlich in Cleveland über die Ufer getreten -, wohnt Winkler auf einer karibischen Insel bei einem Ehepaar mit einer Tochter, die sich um ihn kümmern. Schließlich ist es die Tochter, die ihn in die Welt zurückholt, um nach den Menschen zu suchen, die er verlassen hat. 25 Jahre nach seiner Flucht kehrt Winkler zurück nach Amerika.
Anthony Doerr ist nicht nur ein Autor mit einer meisterhaften Beobachtungsgabe für Menschen und ihre Empfindungen und mit einem ungewöhnlichen Mitgefühl für die menschliche Verletzlichkeit. Seine Beschreibungen der Natur, der Landschaft, des Wassers, der Gerüche und Farben sind von einer großen Magie und überwältigenden Schönheit. Nach dem preisgekrönten Erzählungsband "The Shell Collector" beweist Anthony Doerr mit seinem ersten Roman, daß er ein herausragendes literarisches Talent besitzt.

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Anthony Doerr

Winklers Traumvom Wasser

≈    Roman

Aus dem Englischenvon Judith Schwaab

C.H.Beck

Zum Buch

«Ich liebe dieses wunderbare Buch – seine Andersartigkeit, seine Besessenheit, seine wunderschönen Sätze.»

Monica Ali

David Winkler wächst in Anchorage, Alaska, auf, ein stiller Junge mit einer Vorliebe für Schnee und die Schönheit der Eiskristalle. Manchmal kann er Ereignisse sehen, bevor sie eintreten werden – ein Mann mit einer Hutschachtel wird von einem Bus angefahren werden, er wird sich in eine Frau in einem Supermarkt verlieben. Als David davon träumt, daß seine neugeborene Tochter in einer Flut ums Leben kommt, während er versucht sie zu retten, flieht er panisch aus Cleveland, wo die Familie inzwischen lebt. Kann er so den Lauf der Dinge ändern?

Mittellos, allein und ohne Gewißheit, ob seine Tochter überlebt hat – der Ohio ist tatsächlich in Cleveland über die Ufer getreten –, wohnt Winkler auf einer karibischen Insel bei einem Ehepaar mit einer Tochter, die sich um ihn kümmern. Schließlich ist es die Tochter, die ihn in die Welt zurückholt, um nach den Menschen zu suchen, die er verlassen hat. 25 Jahre nach seiner Flucht kehrt Winkler zurück nach Amerika.

Anthony Doerr ist nicht nur ein Autor mit einer meisterhaften Beobachtungsgabe für Menschen und ihre Empfindungen und mit einem ungewöhnlichen Mitgefühl für die menschliche Verletzlichkeit. Seine Beschreibungen der Natur, der Landschaft, des Wassers, der Gerüche und Farben sind von einer großen Magie und überwältigenden Schönheit. Nach dem preisgekrönten Erzählungsband «Der Muschelsammler» beweist Anthony Doerr mit seinem ersten Roman, daß er ein herausragendes literarisches Talent besitzt.

Über den Autor

Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, veröffentlichte 2002 den Erzählungsband «Der Muschelsammler». Er erhielt den Black Warrior Review Literary Prize, den Discover Prize, die Princeton’s Hodder Fellowship, zweimal den O. Henry Prize, den Young Lions Award und den Rom-Preis der American Academy of Arts and Letters. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Boise, Idaho.

Über die Übersetzerin

Judith Schwaab, geboren 1960 in Grünstadt. Studium der Italienischen Philologie in München und Pisa. Von 1990 bis 2002 Lektorin für Belletristik bei Droemer/Kindler und Blessing, u.a. von Salman Rushdie, Arundhati Roy, Noah Gordon und Robert Schneider. Arbeitet heute als freie Übersetzerin und Lektorin in München.

 

 

 

 

≈ Für meine Mutter    und meinen Vater ≈

 

 

 

 

«Da es immer so ist, sooft es zu schneien beginnt, daß jene ersten Schneeteilchen die Form von sechseckigen Sternchen an sich haben, muß da ein bestimmter Grund vorliegen. Denn wenn es durch Zufall geschähe, warum fallen dann nicht in gleicher Weise Fünfecke oder Siebenecke? … Wer hat das kleine Mittelstück, bevor es zu fallen begann, in sechs gefrorene Hörner ausgebildet?» ≈ Johannes Kepler, Über den hexagonalen Schnee, 1611

 

 

 

 

Erstes Buch≈

1≈

Er bahnte sich einen Weg durch das Gewühl und blieb bei einem hohen Fenster stehen, um einem Mann zuzuschauen, der draußen mit zwei orangefarbenen Stöcken einen Jet in Halteposition dirigierte. Der Himmel über der Rollbahn war makellos, jenes unerbittliche tropische Blau, an das er sich nie so recht gewöhnt hatte. Am Horizont hatten sich Wolken aufgetürmt: cumulus congestus, Zeichen für irgendeine Störung, die dort draußen, über dem Meer, unterwegs war.

Der schmale Rahmen eines Metalldetektors wartete auf seine Touristenschlange. In der Abflughalle: zollfreier Rum, Paradiesvögel in Zellophanhüllen, Halsketten aus Muscheln. Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seiner Hemdtasche.

Das menschliche Gehirn, schrieb er, besteht zu fünfundsiebzig Prozent aus Wasser. Unsere Zellen sind kaum mehr als kleine Beutelchen, in denen wir Wasser mit uns herumtragen. Wenn wir sterben, fließt es aus uns heraus in den Boden, die Luft und in die Bäuche der Tiere, um dann wieder in etwas enthalten zu sein. Die Eigenschaften flüssigen Wassers sind folgende: Es hält seine Temperatur länger als Luft; es ist haftend und elastisch; es ist ständig in Bewegung. All das sind die Grundlagen der Hydrologie; es sind Dinge, die man wissen sollte, wenn man wissen will, wer man ist.

Er ging durch das Gate. Auf der Einstiegstreppe, fast im Flugzeug, stieg ein Gefühl der Beklemmung in ihm hoch. Er hielt sich am Geländer fest, den Seesack im Arm. Eine Schar Vögel – vielleicht Sperlingstauben – landete auf einem Streifen gemähten Grases am hinteren Ende der Rollbahn, einer nach dem anderen. Die Passagiere hinter ihm wurden unruhig. Eine Flugbegleiterin hob ungeduldig die Hände, nahm ihn am Arm und brachte ihn ins Flugzeuginnere.

Als der Jet beschleunigte und in den Steigflug ging, war es wie der Beginn eines intensiven und gefahrvollen Traums. Er drückte die Stirn gegen das Fenster. Langsam breitete sich unter dem Flugzeugflügel der Ozean aus; der Horizont kippte und verschwand aus dem Blickfeld. Als das Flugzeug in die Kurve ging, tauchte plötzlich die Insel wieder auf, üppig grün, vom Riff umsäumt. Einen Moment lang konnte er im Krater des Soufrière ein perlgrünes Stück Wasser sehen. Dann flogen sie in eine Wolkenbank, und die Insel war verschwunden.

Die Frau auf dem Sitz neben ihm hatte einen Roman aus der Tasche gezogen und begann zu lesen. Das Flugzeug stieg in die Troposphäre empor. Eisblumen wuchsen zwischen den Scheiben wie kleine Farnwedel. Hinter ihnen war der Himmel blendend weiß und kalt. Er blinzelte und putzte sich mit einem Ärmel die Brille. Langsam flogen sie der Sonne entgegen.

2≈

Er hieß David Winkler, und er war neunundfünfzig Jahre alt. Nach fünfundzwanzig Jahren fuhr er zum ersten Mal wieder nach Hause – wenn man es noch «zu Hause» nennen konnte. Er war Vater gewesen, Ehemann und Hydrologe. Er war sich nicht sicher, ob auch nur eins von diesen Dingen noch seine Gültigkeit besaß.

Sein Flug führte von Kingstown, St. Vincent, nach Cleveland, Ohio, mit Zwischenstopp in Miami. Aus den Lautsprechern an der Decke berichtete der Erste Offizier über Geschwindigkeit und Flughöhe. Bei Puerto Rico sei mit Turbulenzen zu rechnen. Der Kapitän werde das Anschnallzeichen eingeschaltet lassen.

Winkler blickte sich in der Kabine um. Die Passagiere – die meisten von ihnen Amerikaner – lasen, schliefen, unterhielten sich leise miteinander. Ein blonder Mann hielt der Frau neben Winkler die Hand.

Auf einer neuen, unbeschriebenen Seite notierte er: Wir sind allein. Allein kommen wir auf diese Welt, und allein verlassen wir sie wieder.

Er schloß die Augen, lehnte den Kopf gegen das Fenster und glitt ein paar Minuten später in eine Art Schlaf. Schwitzend wachte er wieder auf. Die Frau neben ihm rüttelte ihn an der Schulter. «Sie müssen schlecht geträumt haben», sagte sie. «Ihre Beine haben gezittert. Und Ihre Hände. Sie drückten sie gegen das Fenster.»

«Es ist alles in Ordnung.» Draußen vor dem Fenster wogten hohe Türme von Kumuluswolken an ihnen vorbei. Er wischte sich das Gesicht mit seinem Ärmel ab.

Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf ihm, dann wandte sie sich wieder ihrem Roman zu. Er saß eine Weile da und betrachtete die Wolken. Schließlich sagte er mit resignierter Stimme: «Das Fach über Ihnen ist nicht richtig zu. Wenn es Turbulenzen gibt, wird es aufgehen, und die Tasche darin wird herausfallen.»

Sie blickte auf. «Was?»

«Das Handgepäck. Im Fach.» Er wies mit dem Kinn nach oben. «Irgendwie ist die Klappe nicht richtig zu.»

Sie beugte sich über den blonden Mann neben ihr in den Gang hinaus. «Wirklich? Wie können Sie das von dort aus erkennen?» Sie stieß den blonden Mann leicht an, sagte etwas, und der Mann blickte hoch und sagte, das Fach sei bombenfest verschlossen.

«Sind Sie sicher?»

«Ziemlich.»

Die Frau wandte sich Winkler zu. «Ist schon in Ordnung. Danke schön.» Sie schaute wieder in ihr Buch. Drei oder vier Minuten später ging ein heftiger Ruck durch das Flugzeug; eine ewige Sekunde lang sackte die Kabine nach unten ab. Über ihnen rumpelte das Handgepäck; mit einem Klicken sprang die Klappe auf, und eine Tasche fiel in den Gang. Aus dem Inneren des Gepäckstücks war ein gedämpftes Klirren zu hören, wie von zerbrechendem Glas.

Der blonde Mann hob die Tasche auf, schaute hinein und fluchte. Das Flugzeug fing sich wieder. Die Tasche war aus Stroh und mit einem Segelboot bedruckt. Kopfschüttelnd begann der Mann, die Scherben von etwas herauszuziehen, das aussah wie ein Set Martinigläser. Eine Flugbegleiterin ging zwischen den Sitzreihen in die Hocke und sammelte die Glasstücke in eine Spucktüte.

Eine Hand über dem Mund, starrte die Frau auf dem Mittelplatz Winkler an.

Er blickte reglos aus dem Fenster. Die Reifschicht zwischen den Scheiben wurde größer, wuchs an winzigen Stellen zusammen. Ein paar Quadratzentimeter zarter Federn, ein zweidimensionales Wunderland aus Eis.

3≈

Er nannte sie Träume. Keine Prophezeiungen oder Visionen im engeren Sinn, auch keine Vorahnungen oder Vorausdeutungen. Wenn er sie als Träume sah, kam er dem am nächsten, was sie eigentlich waren: Wahrnehmungen – sogar echte Erlebnisse –, die ihn überkamen, wenn er schlief, und wieder verblaßten, wenn er aufwachte, nur um dann zurückzukehren, Minuten oder Stunden oder Tage später.

Es hatte Jahre gedauert, bis er gelernt hatte, den Moment zu erkennen,wenn er sich ankündigte – etwas am Geruch eines Raumes (ein Geruch wie Schindeln aus Zedernholz oder Rauch oder heiße Milch mit Reis) oder im Rumpeln eines Dieselbusses, der unter einer Wohnung vorbeifuhr, und er wußte, daß er dieses Ereignis schon einmal erlebt hatte und daß das, was gleich passieren würde – sein Vater, der sich an einer Büchse Ölsardinen in den Finger schnitt, eine Möwe, die auf dem Fensterbrett landete –, etwas war, das bereits geschehen war, in der Vergangenheit, in einem Traum.

Natürlich hatte er Träume wie jeder andere auch, kleine Nervenfeuerwerke, die vom Stammhirn aufsteigen, all die unwahrscheinlichen Geschichten, die ein Unterbewußtsein fabriziert, um Ordnung in seine Erinnerungen zu bringen. Nur ab und zu, selten, geschah etwas (Regen, der den Rinnstein überflutete; der Klempner, der ihm die Hälfte seines Truthahnsandwichs schenkte; eine Münze, die auf unerklärliche Weise aus seiner Tasche verschwand), das anders war – schärfer, wirklicher, wie eine Warnung.

Es war schon sein ganzes Leben lang so gewesen. Er träumte verrückte, unmögliche Sachen: Eiszapfen, die aus der Zimmerdecke wuchsen; wie er die Tür aufmachte, und das ganze Bad war voll schmelzendem Eis. Und er träumte auch ganz alltägliche Dinge: eine Frau, die eine Zeitschrift fallen ließ; eine Katze, die einen toten Spatz vor der Hintertür ablegte; eine Tasche, die aus einem Handgepäckfach herausfiel, so daß ihr Inhalt auf dem Flugzeuggang zerbrach. Wie Träume lauerten sie ihm auf in den wirren, ausgefransten Rändern des Schlafes, und wenn sie vorüber waren, gingen sie fast immer verloren, lösten sich in Einzelteile auf, die er später nicht mehr zusammensetzen konnte.

Ein paar Male in seinem Leben hatte er jedoch auch größere Visionen gehabt. Dann waren sie hyperreal, fein umrissen – zum Beispiel aufzuwachen und sich auf einem gerade zugefrorenen See wiederzufinden, um sich herum das laute Knacken des Eises, das sich wie ein Echo ausbreitete –, Träume, die auch nach dem Aufwachen lange blieben und sich in den Tagen danach immer wieder bei ihm in Erinnerung brachten, als könnte das, was bevorstand, es nicht abwarten, zu Vergangenheit zu werden, oder als ob die Gegenwart sich auf die Zukunft stürzte, begierig auf das, was geschehen würde. Genau hier war es auch, wo das Wort nicht paßte: Es waren Träume, die tiefer waren als Träume, die weit über das Erinnern hinausgingen. Es war – Wissen.

Er rutschte in seinem Sitz zur Seite und beobachtete die Wolkenfronten, die unter dem Flügel entlangzogen. Erinnerungen huschten ihm entgegen, so real wie die Stoffasern in dem Sitz vor ihm. Er sah den blauen Schimmer eines Lichtbogens, der hinter einem Fenster flackerte, er sah Regen, der wie eine dicke Wasserwand über die Windschutzscheibe seines alten Chrysler strömte. Er war sieben, seine Mutter kaufte ihm seine erste Brille, und plötzlich, das erste Mal in seinem Leben, waren die Dinge um ihn herum gestochen scharf. Er lief durch die Wohnung und schaute sich alles an: die Struktur des Eises im Gefrierfach, ein paar einzelne Wassertropfen am Wohnzimmerfenster. Wie wunderbar war es gewesen, zum ersten Mal die Regenbogenfarben des Öls zu sehen, das auf Pfützen schwamm; die hohen, spiralförmigen Schwärme von Mücken, die über dem Ship Creek tanzten; die gezackten Muschelkanten der Wolken.

4≈

Er saß in einem Flugzeug und war neunundfünfzig Jahre alt, doch in den Windungen seiner Erinnerung konnte er zur selben Zeit ein Vierteljahrhundert jünger sein. Er lag in seinem Bett in Ohio und war dabei einzuschlafen. Im Haus war es still, es wurde dunkel. Neben ihm schlief seine Frau auf der Steppdecke, die Beine ausgestreckt. Wie immer glühte ihr Körper vor Hitze. Auf der anderen Seite des Flurs schlief ihre kleine Tochter. Es war Mitternacht im März, Regen klopfte an die Fenster, und er mußte am nächsten Morgen um fünf aufstehen. Er lauschte dem Pochen und Prasseln der Tropfen auf den Fensterscheiben. Die Augen fielen ihm zu.

In seinem Traum wirbelte Wasser einen Meter hoch durch die Straße. Von seinem Fenster im ersten Stock aus – er stand davor, die Handflächen ans Glas gepreßt – sah die Nachbarschaft aus wie eine Flottille von gestrandeten Archen: Wasser schwappte über die Fensterbänke im ersten Stock, Zäune wurden verschluckt, junge Bäume standen bis zum Hals im Wasser.

Irgendwo schrie seine Tochter. Das Bett hinter ihm war ordentlich gemacht – wo war seine Frau? Schachteln mit Frühstücksflocken und einige Teller standen auf der Anrichte; ein Paar Gummistiefel wartete oben auf der Treppe. Er rannte von Zimmer zu Zimmer und rief nach seiner Tochter. Sie war weder in ihrem Bettchen noch im Bad oder irgendwo oben im ersten Stock. Er zog die Gummistiefel an und stieg die Treppe hinab. Wasser stand im Wohnzimmer, still und kalt. Es hatte die Farbe dünnen Milchkaffees. Als er auf dem Teppich im Flur stand, reichte es ihm fast bis zur Taille. Das Wimmern seiner Tochter hallte wie ein leises, seltsames Echo durch das überflutete Haus, als wäre sie überall, in jedem Winkel. «Grace?»

Draußen murmelte das Wasser und drückte gegen die Wände. Er watete weiter. Blasse, glitzernde Sterne aus gespiegeltem Licht zogen ihre runden Bahnen über die Zimmerdecke. Drei Zeitschriften dümpelten träge hinter ihm auf dem Wasser; eine aufgequollene Rolle Küchenpapier stupste an sein Knie und trieb weiter.

Als er die Tür zur Speisekammer öffnete, schwappte eine Welle durch die Küche und gegen die Stühle. Ein paar Glühbirnen schaukelten wie kleine schwimmende Totenschädel auf den Kühlschrank zu. Er blieb stehen. Jetzt konnte er das Baby nicht mehr hören. «Grace?»

Von draußen war das Knattern eines vorbeifahrenden Motorboots zu hören. Jeder Atemzug hing einen Moment lang vor seinem Mund wie eine Wolke. Das Licht wurde schwächer. Die Haare auf seinem Arm richteten sich auf. Er hob den Telefonhörer ab – die Schnur trieb im Wasser darunter –, aber die Leitung war tot. Etwas Säuerliches, Dünnes stieg langsam in ihm hoch.

Er stemmte die Kellertür auf und sah, daß der Treppenschacht völlig überflutet war. Er verlor sich in der blasigen braunen Brühe, ein verschwommenes Rechteck. Weiter hinten trieb das Blatt eines Kalenders im Wasser, der seiner Frau gehörte; es war das Foto eines rot-weiß gestreiften Leuchtturms, das in dem Schaum herumwirbelte und langsam dunkler wurde.

Plötzlich geriet er in Panik. Er suchte unter dem Tisch in der Diele, hinter dem Lehnstuhl (der langsam zu treiben begann); er schaute an den unmöglichsten Stellen: in der Schublade mit dem Silberbesteck, in einer verschlossenen Tupperschüssel. Die Arme unter Wasser, watete er hin und her, versuchte unter der Oberfläche etwas zu ertasten, zog seine Finger über den Boden. Die einzigen Geräusche waren das Gurgeln, das sein Körper beim Gehen im Wasser machte, und das Plätschern der kleinen Wellen, die bei jedem seiner Schritte gegen die Wände schwappten.

Bei seinem dritten Gang durch das Wohnzimmer fand er sie endlich. Sie lag in ihrem Korbbettchen, ganz oben auf der höchsten Stufe eines Pflanzenständers seiner Frau, direkt vor dem beschlagenen Fenster. Ihre Augen waren weit aufgerissen, eine Decke lag über ihren Schultern. Auf dem Kopf hatte sie ihr gelbes Wollmützchen. Ihre Decke war trocken. «Grace», sagte er und hob sie heraus, «wer hat denn dich da oben hingestellt?»

Eine Welle von Gefühlen huschte über ihr Gesicht, sie preßte die Lippen zusammen, die Stirn legte sich in Falten. Fast ebensoschnell entspannte sich ihr kleines Gesicht wieder. «Ist ja gut», sagte er. «Wir kriegen dich schon hier raus.» Er drückte sie an seine Brust, watete durch die Diele und zog kräftig an der Eingangstür.

Ächzend schwappte Wasser vom Hof herein. Die Straße war zu einer Art trägem Fluß geworden. Der Zuckerahorn im Garten der Familie Sachs lag zur Hälfte unter Wasser, quer über der Straße. Plastiktüten, die sich in den Ästen verfangen hatten, zitterten, wenn das Wasser hindurchfloß, und gaben ein unheimliches Sirren von sich, wie ein Schwarm Insekten. Nirgendwo brannte Licht. Zwei Katzen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, balancierten im Vorgarten auf einem flachen Ast der Eiche und miauten das Wasser an. Dutzende von Habseligkeiten schwammen in den Fluten: ein Gartenstuhl, zwei Mülleimer aus Plastik, eine Kühlbox aus Styropor – mit Schlamm überzogen, schaukelten sie langsam die Straße hinunter, eine träge Parade von Gegenständen.

Er watete die Stufen der Eingangstreppe hinab. Schon bald stand ihm das Wasser fast bis zum Gürtel. Mit beiden Armen preßte er Grace hoch oben gegen seine Schulter und kämpfte gegen die Strömung. Ihr Atem war schwach an seinem Ohr. Sein eigener Atem stand in kurzlebigen kleinen Dampfwolken vor seinem Mund.

Seine Kleider waren ganz durchnäßt, und er hatte zu zittern begonnen. Er spürte die Wucht des Wassers, das energisch gegen seine Schenkel drückte – es floß langsam, war aber dickflüssig geworden von all den Erdklumpen und Zweigen und ganzen Brocken von Rasen. Immer wieder versuchte es, ihm die Füße wegzuziehen und ihn und Grace mit sich zu reißen. Weiter oben an der Straße, hinter dem Haus der Stevensons, blinkte zwischen den Bäumen ein kleines blaues Licht. Er schaute zum Eingang seines eigenen Hauses zurück, der dunkel war und schon weit hinter ihnen lag.

«Halt dich fest, Grace», sagte er. Sie weinte nicht. An der Lage der Telegrafenmasten, die im Dämmerlicht am Straßenrand standen, konnte er erkennen, wo der Bürgersteig war, und bewegte sich darauf zu.

Mit einem Arm hangelte er sich an Laternenpfählen und Baumstämmen die Straße entlang, zog sich mühselig vorwärts wie auf den Sprossen einer riesigen Leiter. Er würde es bis zu dem blauen Licht schaffen und sie beide retten. Er würde in seinem Bett aufwachen, trocken und in Sicherheit.

Die Fluten rauschten und gurgelten, ein Geräusch wie das Pochen des Blutes in seinen Ohren. Er konnte das Wasser auch schmecken: Lehm und noch etwas anderes, wie Rost. Immer wieder hatte er Angst auszurutschen und mußte innehalten und sich an einen Briefkasten klammern, Wasser spuckend, das Baby im Arm. Seine Brille war beschlagen. Seine Beine und Arme waren taub. Das Wasser schmatzte in seinen Stiefeln.

Das Licht hinter dem Anwesen der Stevensons bewegte sich, blinkte, verschwand kurz und kam an anderer Stelle wieder in Sicht. Ein Boot. Hier war das Wasser nicht so tief. «Hilfe!» rief er. «Helfen Sie uns!» Grace war still: ein kleines Bündel in seinen Armen. In der Ferne, wie von einem anderen Ufer, heulten Sirenen.

Ein paar Schritte weiter stolperte er. Das Wasser schlug über seinen Schultern zusammen. Der Fluß zerrte an ihm, so wie der Wind an einem Segel zerrt, und sein ganzes Leben lang, selbst in seinen Träumen, würde er dieses Gefühl in Erinnerung behalten: das Gefühl, vom Wasser überwältigt zu werden. Eine Sekunde später trieb er im Wasser, wurde weggerissen. Er hielt Grace, so hoch er konnte, packte ihre kleinen Schenkel fest mit beiden Händen. Seine Daumen drückten sich in ihren Rücken. Die oberen Hälften der Häuser glitten vorbei. Einen Moment lang glaubte er, er würde die ganze Straße hinuntertreiben, an ihrem Haus vorbei, bis zur Sackgasse und in den Fluß hinein. Dann schlug sein Kopf gegen einen Telegrafenmast, er wirbelte herum, und die Strömung erfaßte ihn und zog beide unter Wasser.

Das Licht hatte jenes endgültige Blau angenommen, das kurz vor der Dunkelheit kommt. Er versuchte Grace auf seiner Brust festzuhalten, ihre kleinen Hüften in seinen Händen; sein eigener Kopf blieb im Wasser.

Mit den Schultern schlug er gegen überschwemmte Äste, gegen ein Dutzend unsichtbarer Hindernisse. Die Strömung riß ihm einen seiner Gummistiefel weg. Ein paar hundert Meter weiter gerieten sie in einen Strudel voller Schaum und Zweige, und er schlang die Beine um den Pfosten eines Briefkastens – es war der letzte in der Straße. Hier strömte die Flut über unbebautes Gelände am Ende der Sackgasse und floß mit den angeschwollenen Fluten des Chagrin River zusammen. Der Fluß war nicht mehr zu erkennen. Endlich gelang es ihm, wieder auf die Füße zu kommen, Grace lag noch immer in seinen Armen. Ein Krampf durchzuckte sein Zwerchfell, und er begann zu husten.

Wie durch ein Wunder kam der hüpfende, wandernde Lichtpunkt, den er am Haus der Stevensons gesehen hatte, auf ihn zu. «Hilfe!» keuchte er. «Hier herüber!»

Der Briefkasten gab langsam unter seinem Gewicht nach. Allmählich kam das Licht näher. Es war ein Ruderboot. Ein Mann lehnte sich über den Bug und schwenkte eine Taschenlampe. Er konnte Stimmen hören. Der Briefkasten quietschte. «Bitte», versuchte Winkler zu sagen, «bitte.»

Das Boot näherte sich. Die Lampe schien ihm ins Gesicht. Hände packten ihn am Gürtel und hievten ihn über das Dollbord. «Ist sie tot?» fragte jemand. «Atmet sie noch?»

Winkler schnappte nach Luft. Er hatte seine Brille verloren, konnte aber erkennen, daß Grace’ Mund offenstand. Ein dunkles Loch. Ihr Haar war naß, das gelbe Mützchen verschwunden. Ihr Gesicht hatte seine frische Farbe verloren und sah wie gelbliches Wachs aus. Er hatte das Gefühl, seine Arme nicht mehr ausstrecken zu können; irgendwie fühlten sie sich überhaupt nicht an wie seine Arme. «Sir», sagte jemand. «Lassen Sie sie los, Sir.»

Er spürte einen Schrei seine Kehle hochsteigen, wie eine kochendheiße Welle. Jemand schrie ihn an, er solle loslassen, loslassen, loslassen.

Das hier war ein Traum. Es war nicht wirklich geschehen.

5≈

Die Erinnerung galoppiert, dann hält sie inne und legt den Rückwärtsgang ein; für das Erinnern ist Chronologie willkürlich. Winkler saß immer noch an Bord eines Flugzeuges, das in Richtung Norden flog, aber zugleich wanderte er in Gedanken weiter zurück in die Vergangenheit, schlüpfte immer tiefer in die Ritzen der Erinnerung – zu den Jahren, bevor er eine Tochter hatte, noch bevor er von der Frau geträumt hatte, die er einmal heiraten würde.

1975. Er war zweiunddreißig Jahre alt und lebte in Anchorage, Alaska. Er besaß eine Wohnung über einer Autowerkstatt in Midtown, einen Chrysler Newport Baujahr 1970, ein paar Freunde, aber keine Familie mehr. Wenn es etwas an ihm gab, das sofort auffiel, war es seine Brille: Gläser, so dick wie Flaschenböden, in einem Plastikgestell. Dahinter wirkten seine Augen winzig klein und leicht verzerrt, als blicke er nicht durch ein paar Millimeter gebogenes Glas, sondern durch Eis: zwei gefrorene Teiche, in denen direkt unter der Wasseroberfläche seine Augäpfel schwammen.

Es war wieder März, ein früher Aufbruch. Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, aber in der Luft lag eine Wärme, die ostwärts wehte und den schier unglaublichen Duft nach frischen Blättern mit sich brachte, als ob es im Westen bereits Frühling wäre – auf den Vulkanen der Aleuten oder vielleicht sogar drüben, jenseits der Meerenge, in Sibirien. Die ersten festen Knospen zeigten sich an den wenigen Bäumen, die hier wuchsen, Bären tapsten nach dem Winterschlaf blinzelnd aus ihren Höhlen, überall gab es Feste mit nächtlichen Liedern über junge Liebe und die Tagundnachtgleiche und über die ersten Samen, die ausgesät wurden, und der russische Frühling blies über das Beringmeer und die Berge und hielt taumelnd Einzug in Anchorage.

Winkler zog einen seiner beiden braunen Cordanzüge an und ging zu dem kleinen Backsteingebäude des National Weather Service, wo er als Assistent eines Meteorologen arbeitete. Den Morgen verbrachte er an seinem kleinen furnierten Schreibtisch mit dem Abgleichen von Schneedeckenvorhersagen. Alle paar Minuten löste sich ein Schneebrett vom Dach und fiel mit einem leisen Rumpeln auf die Hecke vor seinem Fenster.

Um die Mittagszeit schlenderte er zum Snow Goose Market, ließ sich ein Sandwich mit Salami und Senf geben und wartete in der Schlange vor der Kasse, um zu bezahlen.

Fünf Meter von ihm entfernt blieb eine Frau mit Schildpattbrille, die ein Kostüm aus lohfarbenem Polyester trug, vor einem Drehständer mit Zeitschriften stehen. Zwei Schachteln mit Getreideflocken und ein Tetrapack Milch standen aufrecht in ihrem Einkaufskorb. Das Licht, das in einem schrägen Winkel durch die Schaufenster fiel, umspielte ihre Taille und schimmerte auf den Schienbeinen unter ihrem Rocksaum. Er konnte die winzigen Staubpartikel sehen, die zwischen ihren Fußknöcheln in der Luft schwebten, und da war etwas zutiefst Vertrautes in dem fließenden Muster, das sie dabei bildeten.

Eine Registrierkasse schepperte. An der Decke setzte sich mit leisem Seufzen ein Ventilator in Bewegung. Plötzlich wußte er genau, was passieren würde: Er hatte es erst vor vier oder fünf Nächten geträumt. Die Frau würde eine Zeitschrift fallen lassen; er würde hinübergehen, sie aufheben und sie ihr zurückgeben.

Die Kassiererin reichte ein paar Jugendlichen ihr Wechselgeld und schaute Winkler erwartungsvoll an. Aber er konnte den Blick nicht von der Frau lassen, die die Zeitschriften durchschaute. Sie schubste den Ständer eine Viertelumdrehung weiter, ihr Daumen und Zeigefinger blieben zögernd bei einem Heft hängen (es war die Ausgabe von Good Housekeeping vom März 1975 mit Valerie Harper auf dem Cover, strahlend und tief gebräunt in einem grünen, ärmellosen T-Shirt) und griffen schließlich nach der Zeitschrift, die ihr aus der Hand rutschte und zu Boden fiel.

Seine Füße liefen auf sie zu, als bewegten sie sich von selbst. Er bückte sich; sie beugte sich hinab. Fast hätten sich ihre Scheitel berührt. Er hob die Zeitschrift auf, wischte den Staub vom Deckblatt und hielt sie der Frau hin.

Sie richteten sich gleichzeitig auf. Er bemerkte, daß seine Hand zitterte. Er schaute ihr nicht direkt in die Augen, sondern fixierte seinen Blick auf einen Punkt gleich neben ihrem Hals. «Die haben Sie fallen lassen», sagte er, aber sie nahm die Zeitschrift nicht entgegen. An der Kasse hatte eine Hausfrau seinen Platz in der Schlange eingenommen. Ein Kassenhelfer ließ mit einer knappen Handbewegung eine Papiertüte aufspringen und legte einen Karton Eier hinein.

«Miss?»

Sie holte tief Luft. Hinter ihren Lippen waren zwei Reihen gepflegter Zähne zu sehen, die leicht schief gewachsen waren. Sie machte die Augen zu und hielt sie einen Moment lang geschlossen, bevor sie sie wieder öffnete, als hätte sie kurz gegen eine Ohnmacht angekämpft.

«Möchten Sie die?»

«Wie?»

«Ihre Zeitschrift.»

«Ich muß jetzt gehen», sagte sie abrupt. Sie stellte ihren Einkaufskorb ab, machte sich, ihren Mantel vorne zuhaltend, auf den Weg zum Ausgang und eilte durch die Tür auf den Parkplatz hinaus. Ein paar Sekunden lang konnte er noch ihre untere Hälfte sehen, die Beine, die wie zwei Scherenhälften die Straße entlanghasteten; dann wurde ihr Anblick durch ein Plakat verdeckt, das an das Fenster geklebt war, und sie war weg.

Er stand lange da, das Magazin in der Hand, dann hob er ihren Einkaufskorb hoch, legte sein Sandwich hinein und bezahlte für alles – für die Milch, die Getreideflocken, für Good Housekeeping.

Später, nach Mitternacht, lag er in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Einzelne Details von ihr (die drei Sommersprossen auf ihrer linken Wange, die Kuhle zwischen den runden Knochen ihres Schlüsselbeins, eine Haarsträhne, die sie sich hinters Ohr geschoben hatte) zogen an seinem inneren Auge vorüber. Auf dem Boden neben ihm lag aufgeschlagen die Zeitschrift: Werbung für Hundekuchen, ein Rezept für eine Blaubeertarte.

Er stand auf, riß eine der beiden Frühstücksflockenschachteln auf – in beiden waren Apple Jacks –, setzte sich ans Küchenfenster und aß von den kleinen, blassen Kringeln, eine Handvoll nach der anderen. Draußen zitterten die Straßenlaternen im Wind.

Ein Monat verging. Anstatt in seiner Erinnerung zu verblassen, wurde das Bild der Frau in ihm immer klarer und beständiger: die beiden Reihen kleiner Zähne, der Staub, der zwischen ihren Fesseln schwebte. Bei der Arbeit sah er ihr Gesicht auf der Unterseite seiner Lider und in einem numerischen Grundwassermodell, das von der Shemya Air Force Base kam. Fast jeden Mittag fand er sich wieder im Snow Goose Market ein, blickte suchend über die Schlangen an der Kasse oder lauerte hoffnungsvoll bei den Regalen mit den Frühstücksflocken.

Nach einer Woche hatte er die erste Schachtel Apple Jacks aufgegessen. Für die zweite Schachtel ließ er sich mehr Zeit, indem er sich nur eine Handvoll pro Tag gönnte, als wäre diese Schachtel die letzte seines Lebens, und in dem Moment, wo er bis zum Boden blicken und nur noch zuckrige Krümel sehen konnte, hätte er nicht nur die Erinnerung an die Frau verbraucht, sondern auch jegliche Hoffnung verwirkt, sie wiederzusehen.

Er nahm die Ausgabe von Good Housekeeping mit zur Arbeit und blätterte darin herum: dreiundzwanzig Rezepte mit Kartoffeln; Bons für Pillsbury-Nußbrot; eine Reportage über Fünflinge. Waren hier Hinweise auf sie versteckt? Als gerade niemand hinschaute, legte er Valerie Harpers Coverfoto unter das Swift-Mikroskop eines Kollegen und untersuchte ihr Schlüsselbein in der Vergrößerung – sie war aus einem Gemenge von Punkten in Gelb und Pink zusammengesetzt, die bläulich umrandet waren, und ihre Brüste bestanden aus großen, reglosen Ringen.

Winkler, der in den zweiunddreißig Jahren seines Lebens nur selten aus der Gegend um Anchorage herausgekommen war, der sich an manchen klaren Tagen immer noch dabei ertappte, wie er sehnsüchtig auf die Alaska Range blickte, auf ihre schneeweißen Massive und die weißen Flächen dahinter, darauf, wie sie über dem Horizont zu schweben schienen, als wären sie gar keine richtigen Berge, sondern nur deren geisterhafte Schatten, fühlte sich jetzt von den Traumküchen aus der Werbung angezogen: von Kupfertöpfen und Schrankpapier, von gefalteten Servietten. Hatte sie auch eine solche Küche? Und benutzte auch sie Brillo-Supreme-Stahlwolle, wenn alles wieder richtig sauber werden sollte?

Im Juni traf er sie wieder, im selben Supermarkt. Diesmal trug sie einen karierten Rock und hohe Stiefel. Sie marschierte energisch durch die Gänge des Ladens und sah anders aus, entschlossener. Eine Säule aus Angst wirbelte in seiner Brust auf. Sie kaufte eine kleine Flasche Traubensaft und einen Apfel und zählte den Betrag exakt aus einem Geldbeutel mit Messingverschluß ab. Innerhalb von zwei Minuten war sie wieder draußen.

Er folgte ihr.

Sie ging schnell, mit langen Schritten, den Blick direkt vor sich auf den Bürgersteig gerichtet. Winkler mußte fast laufen, um mithalten zu können. Der Tag war warm und feucht, und ihr Haar, das sie im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengefaßt hatte, schien hinter ihrem Kopf zu schweben wie eine Boje, die durch die Feuchtigkeit an der Oberfläche gehalten wird. An der D Street wartete sie darauf, die Straße überqueren zu können, und Winkler trat hinter sie, plötzlich zu nah – hätte er sich nur fünfzehn Zentimeter vorgebeugt, hätte ihr Haar sein Gesicht berührt. Er blickte auf ihre Waden hinunter, die in den Stiefelschäften verschwanden, und holte tief Luft. Wie roch sie? Nach frischgemähtem Gras? Nach dem Ärmel eines Wollpullovers? Die Öffnung der kleinen Papiertüte, die den Apfel und den Saft enthielt, lag zerknittert in ihrer Faust.

Die Ampel schaltete um. Sie trat vom Bordstein herunter. Er folgte ihr sechs Blocks die Fifth Avenue hoch, wo sie nach rechts abbog und eine Zweigstelle der First Federal Savings and Loan betrat. Er blieb draußen stehen und versuchte, seinen Puls zu beruhigen. Kreischend segelte ein Möwenpaar über ihn hinweg. Durch die Schablonenschrift am Schaufenster und an zwei Schreibtischen vorbei (dahinter saßen Bankangestellte, die mit Bleistift etwas in ihre großen Schreibtischkalender schrieben) sah er, wie sie eine hüfthohe Schwingtür öffnete und hinter den Kassenschalter schlüpfte. Kunden warteten. Sie stellte ihre Papiertüte ab, schob ein kleines Schild zur Seite und winkte den ersten von ihnen zu sich heran.

Er schlief kaum noch. Der Vollmond, der hoch über der Stadt hing, zog die Flut den Knik Arm hoch und ließ sie dann wieder hinausfließen. Er las Watson, er las Pauling, doch die vertrauten Wörter zerfielen vor seinen Augen. Er stand mit einem gelben Schreibblock am Fenster und schrieb: In mir summen Billionen von Zellen, Proteine lauern meinen DNA-Strängen auf, winden sie auseinander und wieder zusammen, bauen sie auf und wieder neu auf …

Er strich es aus. Er schrieb: Suchen wir uns aus, wen wir lieben?

Hätte doch nur schon sein erster Traum ihn über das hinausgetragen, was er bereits wußte, vorbei an der Zeitschrift, die zu Boden fiel … Er schloß die Augen, um ein Bild von ihr heraufzubeschwören, und versuchte es in seiner Erinnerung zu behalten, während er in den Schlaf hinüberglitt.

Um neun Uhr morgens stand er wieder auf dem Bürgersteig vor der Bank und sah ihr durch das Fenster zu. In seinem Rucksack hatte er die Überreste der zweiten Schachtel Apple Jacks und die Ausgabe von Good Housekeeping. Sie stand an ihrem Platz am Kassenschalter und schaute nach unten. Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab und ging hinein.

Es gab keine Schlange, aber vor ihr stand ein Schild mit der Aufschrift: BITTE WENDEN SIE SICH AN DEN NÄCHSTEN SCHALTER. Mit den schmalen, rosigen Händen, die ihm schon so vertraut waren, zählte sie Zehn-Dollar-Noten. SANDY SHEELER stand auf dem Namensschild auf dem Marmortresen vor ihr zu lesen.

«Entschuldigen Sie bitte.»

Sie hielt einen Finger hoch und fuhr mit dem Zählen fort, ohne aufzublicken.

«Kommen Sie doch zu mir, ich kann Ihnen helfen», bot ein anderer Kassierer an.

«Ist schon okay», sagte Sandy. Sie war am Ende ihres Notenbündels angelangt und schaute auf. «Hallo.»

Die Gläser ihrer Brille fingen eine Sekunde lang einen Lichtreflex von der Decke auf und überfluteten seine Brille mit Helligkeit. Panik stieg in seiner Kehle auf. Sie war eine Fremde, völlig unbekannt; war es nicht anmaßend von ihm, Vermutungen über ihre Unzufriedenheit anzustellen oder sie zum Objekt seiner Träume zu machen?

Er stammelte: «Wir haben uns doch im Supermarkt getroffen. Vor ein paar Monaten, erinnern Sie sich? Eigentlich haben wir uns nicht kennengelernt, aber …»

Ihr Blick verschwamm. Er griff in seinen Rucksack und zog die Schachtel mit den Apple Jacks und die Zeitschrift heraus. Eine Kassiererin rechts von Sandy warf über die Trennwand einen Blick herüber.

«Ich dachte mir», sagte er, «vielleicht hätten Sie die gerne? Sie sind so schnell weg gewesen.»

«Oh», sagte sie. Sie berührte weder die Frühstücksflocken noch die Zeitschrift, ließ sie aber keinen Moment aus den Augen.

Sicher war er sich nicht, aber er hatte das Gefühl, daß sie sich für den Bruchteil einer Sekunde vorbeugte. Er hob die Schachtel hoch und schüttelte sie. «Ich habe ein paar davon gegessen», sagte er.

Sie schenkte ihm ein verwirrtes Lächeln. «Behalten Sie sie.»

Ihre Augen wanderten von der Zeitschrift zu ihm und wieder zur Zeitschrift zurück. Sie waren an einem kritischen Punkt angelangt, das wußte er: Er spürte, wie ihm langsam der Boden unter den Füßen wegrutschte. «Hätten Sie Lust, mal ins Kino zu gehen? Oder etwas Ähnliches?»

Ihre Augen blickten an Winkler vorbei und über seine Schulter, in die Bank hinaus. Sie schüttelte den Kopf. Ein kleines Gewicht sackte in Winklers Bauch nach unten. Er trat bereits den Rückzug an. «Oh. Verstehe. Na gut. Tut mir leid.»

Sie nahm die Schachtel mit den Apple Jacks, schüttelte sie und stellte sie in ein Fach unter dem Tresen. Sie flüsterte: «Mein Mann», und jetzt schaute sie Winkler zum ersten Mal an, schaute ihm richtig ins Gesicht, und Winkler spürte, wie ihr Blick durch seinen Hinterkopf hindurchging.

Er hörte sich selbst sagen: «Sie tragen gar keinen Ring.»

«Nein.» Sie berührte ihren Ringfinger. Ihre Nägel waren kurz geschnitten. «Er ist gerade in Reparatur.»

Er spürte, daß seine Zeit vorüber war und ihm die ganze Szenerie langsam entglitt, wie sie flüssig wurde und in einem Abflußrohr verschwand. «Natürlich», murmelte er. «Ich arbeite beim Wetterdienst. Ich heiße David. Sie können mich dort erreichen. Falls Sie es sich anders überlegen.» Und dann wandte er sich ab, den leeren Rucksack zerknüllt in seiner Faust, und die leuchtende Glasfassade der Bank ragte vor ihm auf.

Zwei Monate: Regen an den Fenstern, auf dem Tisch in seiner Wohnung ein Stapel ungeöffneter meteorologischer Texte, die ihm zum ersten Mal in seinem Leben völlig unbedeutend vorkamen. Er kochte sich Nudeln, trug einen seiner beiden völlig gleichen braunen Cordanzüge, schaute dreimal am Tag auf das Barometer und trug seine Meßergebnisse halbherzig auf Millimeterpapier ein, das er heimlich von der Arbeit mit nach Hause genommen hatte.

Am deutlichsten erinnerte er sich an ihre Fußfesseln und an die Staubpartikel, die zwischen ihnen in der Luft schwebten, von einem Streifen Sonnenlicht beschienen. An die drei Sommersprossen ihrer Wange, die ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. Er war sich so sicher gewesen; er hatte von ihr geträumt. Aber wer wußte, woher diese Sicherheit und dieser Glaube kamen? Irgendwo am anderen Ende der Stadt stand sie an einem Spülbecken oder betrat ihren begehbaren Schrank, und sein Name ruhte irgendwo in den gefalteten Neuronen ihres Gehirns, fand sein Echo in einem einzigen Dendriten unter Milliarden: David, David.

Die Tage gingen vorüber, einer nach dem anderen: warm, kalt, regnerisch, sonnig. Die ganze Zeit über hatte er das Gefühl, ihm sei etwas Lebenswichtiges abhanden gekommen – seine Brieftasche, seine Schlüssel, eine wichtige Erinnerung, die er nicht mehr heraufbeschwören konnte. Der Horizont sah so aus wie immer, die gleichen Lastwagen quälten sich ächzend durch die Straßen, und zweimal am Tag blieben bei Ebbe nur dicke Schichten aus Schlick zurück. In den endlosen grauen Nummern des Wetterdienst-Fernschreibers sah er jeden Tag dasselbe Wort: Sehnsucht.

War da in ihrem Gesicht, verschlossen hinter ihrem Kassiererinnenlächeln, kein Ausdruck des Begehrens gewesen – ein Sehnen, das nur eine einzige Sekunde sichtbar gewesen war, als sie ihm ihren Blick entgegenhob? Hatte es im Supermarkt nicht den Anschein gehabt, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen?

Good Housekeeping lag aufgeschlagen auf der Arbeitsfläche in seiner Küche und lockte mit kuriosen Fragen: Kennen Sie das Geheimnis ewiger Jugend? Wie kann man mit Baumwoll-Mehrteilern schick aussehen und Geld sparen? Wie viele natürliche Blondschattierungen können Sie mit Naturally Blonde Hair Treatment erzielen?

Er ging durch die Straßen. Er beobachtete den Himmel.

6≈

Im September rief sie an. Eine Sekretärin stellte sie durch. «Er muß zu einem Hockeyspiel», sagte sie, fast im Flüsterton. «Um Viertel nach vier ist eine Frühvorstellung.»

Winkler schluckte. «Okay, ja. Viertel nach vier.»

Um halb fünf tauchte sie in der Lobby des Kinos auf, eilte an ihm vorbei zum Süßigkeitenstand und kaufte sich eine Schachtel Schokoladenrosinen. Dann betrat sie, ohne ihn anzuschauen, den Zuschauerraum und nahm in der matten Dunkelheit Platz. Licht und Schatten von der Leinwand flimmerten auf ihrem Gesicht. Er setzte sich neben sie. Sie aß ihre Rosinen, eine nach der anderen, fast ohne Luft zu holen; er fand, daß sie nach Minze roch, wie Kaugummi. Immer wieder schaute er sie während des Films verstohlen von der Seite an: ihre Wange, ihren Ellbogen, die kleinen Härchen, die im Schein des flackernden Lichtes von ihrem Schopf abstanden.

Danach blieb sie stumm sitzen und schaute zu, wie der Nachspann über die Leinwand lief, als wäre der Film noch gar nicht zu Ende und die Geschichte ginge noch weiter. Ihre Lider blinzelten rasch. Im Kino wurde das Licht eingeschaltet. Sie sagte: «Sie sind also Meteorologe.»

«So was Ähnliches. Ich bin Hydrologe.»

«Und was erforschen Sie? Das Meer?»

«Vor allem Grundwasser. Und die Atmosphäre. Mein Hauptinteresse liegt im Schnee, in der Bildung und der physikalischen Form von Schneekristallen. Aber um das zu erforschen, kriegt man nicht genug Geld. Ich tippe Aktennotizen, prüfe Wettervorhersagen. Im Grunde bin ich eine Art Sekretär.»

«Ich mag Schnee», sagte Sandy. Die Kinobesucher drängten sich in den Korridoren zum Ausgang, und sie war kurz abgelenkt. Er überlegte verzweifelt, was er sagen sollte.

«Sie arbeiten also an der Kasse?»

Sie schaute ihn nicht an. «An jenem Tag im Supermarkt … irgendwie wußte ich, daß Sie da sein würden. Als ich die Zeitschrift fallen ließ, wußte ich, daß Sie zu mir rüberkommen würden. Es war so, als hätte ich es schon mal getan, als hätte ich das alles schon einmal erlebt.» In diesem Moment schaute sie ihn schnell an, nur einen Augenblick lang, dann nahm sie ihren Mantel, strich die Vorderseite ihres Rockes glatt und blickte über die Schulter zurück, wo ein Platzanweiser bereits damit begonnen hatte, den Gang aufzuwischen. «Wahrscheinlich halten Sie das für verrückt.»

«Nein», sagte er.

Ihre Lippen zitterten. «Ich rufe Sie nächsten Mittwoch an.» Dann ging sie an der Sitzreihe entlang hinaus, den Mantel eng um ihre Schultern geschlungen.

Warum rief sie ihn an? Warum kam sie immer wieder in das Kino, einen Mittwoch nach dem anderen? Weil sie der Enge ihres Lebens entfliehen wollte? Doch schon damals hatte Winkler den Verdacht, es sei deshalb, weil sie an jenem Mittag im Snow Goose Market etwas empfunden hatte – weil sie in jenem Moment spürte, wie die Zeit Falten schlug, sich in Schichten übereinanderlegte und eine neue Gestalt annahm, wie der gähnende Abgrund der Zukunft sich am Jetzt der Gegenwart ausrichtete.

Sie schauten sich Der weiße Hai an und Benji – Auf heißer Fährte, und davor und danach unterhielten sie sich. Jede Woche kaufte sich Sandy eine Schachtel Schokoladenrosinen und aß sie konzentriert, während das indigoblaue Licht von der Leinwand auf den Gläsern ihrer Brille flimmerte.

«Sandy», flüsterte er manchmal mitten in einem Film, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. «Wie geht es Ihnen?»

«Ist das der Onkel?» flüsterte sie dann zurück, den Blick fest auf die Leinwand gerichtet. «Ich dachte, der wäre tot.»

«Wie geht es Ihnen?»

Sie zuckte die Achseln, kaute eine Rosine. Ihre Finger waren schmal und rosig: wunderschön.

Hinterher stand sie dann auf, holte tief Luft und schlang ihren Mantel fester um sich. «Den Teil hasse ich», sagte sie einmal und spähte in Richtung Ausgang. «Wenn nach einem Film die Lichter angehen. Es ist, als würde man aufwachen.» Sie lächelte. «Nach dem Motto: Jetzt mußt du wieder ins Leben zurück.»

Meistens blieb er noch ein paar Minuten sitzen, nachdem sie gegangen war, spürte die Leere des großen Kinos um sich herum, hörte das Zischeln des Films, der im Vorführraum zurückgespult wurde, und das dumpfe Klappern einer Kehrschaufel, während ein Platzanweiser die Gänge fegte. Die kleinen Glühbirnen über ihm, die an der Decke das Sternbild des Großen Wagens bildeten, brannten und brannten.

Sie war zwei Jahre vor ihm in Anchorage geboren. Sie trug Lippenstift, der nach Seife roch. Ihr wurde leicht kalt. Ihre Socken waren immer zu dünn für die jeweilige Witterung. Während des Erdbebens von 1964 war ein Cadillac in die Frontscheibe der Bank geschlittert, und sie war, das gab sie zu, fasziniert gewesen: von dem plötzlichen Geruch nach Benzin, von dem riesigen, Autos verschlingenden Graben, der sich im Asphalt der Fourth Avenue aufgetan hatte. «Ich mußte eine ganze Woche lang nicht zur Arbeit», flüsterte sie.

Ihr Ehemann (der in seinem Hockeyteam Torhüter war) arbeitete als Zweigstellenleiter bei ihrer Bank. Nach ihrem Abschlußjahr auf der West High School hatten sie geheiratet. Er hatte eine Vorliebe für Knoblauchsalz, von dem sie sagte, es «zerstöre seinen Atem», so daß sie ihn kaum anschauen mochte, nachdem er davon gegessen hatte, und es nicht ertragen konnte, im selben Zimmer zu sein wie er.

In den vergangenen neun Jahren hatten sie in einem sandfarbenen Ranchhaus mit braunen Schindeln und einem gelben Garagentor gewohnt. Ein paar schiefe Kürbisse thronten auf der Veranda wie die Häupter von Geköpften. Winkler wußte das, weil er die Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen und sich angewöhnt hatte, am Abend an dem Haus vorbeizufahren.

Der Ehemann mochte kein Kino, trocknete gerne das Geschirr ab, und mehr als alles auf der Welt liebte er es, Minigolf zu spielen. Selbst sein Name, fand Winkler, klang freudlos: Herman. Herman Sheeler. Ihre Telefonnummer lautete 542-7433, obwohl Winkler sie nie angerufen hatte. Die letzten vier Ziffern entsprachen auf der Tastatur zufällig den ersten vier Buchstaben ihres Nachnamens, etwas, das Herman, laut Sandy, bei einer freitäglichen Besprechung in der Bank als das Erstaunlichste dargestellt hatte, was ihm in den letzten zehn Jahren passiert war.

«Man stelle sich das vor, in den letzten zehn Jahren», sagte Sandy und starrte auf den Abspann auf der Leinwand.

Winkler – mit seiner dicken Brille und dem einsamen Leben, das er bisher geführt hatte – hatte noch nie so empfunden; er war nie verliebt gewesen, hatte nie mit einer verheirateten Frau geflirtet oder auch nur an sie gedacht. Aber er konnte es nicht mehr lassen. Es war keine bewußte Entscheidung; er dachte nicht: Wir gehören zueinander, oder: Es war vorherbestimmt, daß sich unsere Pfade kreuzten, oder auch: Ich denke jede Minute ganz bewußt mehrmals an sie, an ihren Hals, ihre Arme, ihre Fußfesseln. An den Duft ihres Haares. An ihre Brust unter dem dünnen Gewebe eines Pullovers. Seine Füße trugen ihn einfach jeden Tag von selbst zur Bank oder am Abend an ihrem Haus vorbei. Er aß Apple Jacks. Er warf seine Dose mit Knoblauchsalz weg.

Durch das Schaufenster der Bank betrachtete er die Angestellten hinter ihren Schreibtischen: einen Mann mit einem Muttermal am Hals, einen anderen in einem Pullover mit V-Ausschnitt, der graumeliertes Haar hatte und einen Schlüssel in seiner Gürtelschlaufe trug. Könnte er das sein? Der V-Ausschnitt? War der nicht doppelt so alt wie sie? Der Mann mit dem Muttermal schaute zu Winkler auf und kaute auf seinem Füllfederhalter; Winkler duckte sich hinter eine Säule.

Im Dezember, nachdem sie sich zum zweiten Mal Die drei Tage des Condor angeschaut hatten, bat sie ihn, sie zu sich in die Wohnung mitzunehmen. Über Herman sagte sie nur: «Er geht nach dem Spiel noch weg.» Sie wirkte nervös, schob ihre Nagelhäutchen unter die Kanten ihrer Zähne, aber nervös war sie immer, und Winkler vermutete, daß dies einfach dazugehörte: Anchorage war keine große Stadt, und sie konnten jederzeit gesehen werden. Jemand konnte sie erwischen.

Auf den Straßen war es dunkel und bitterkalt, und sie gingen rasch durch das Streifenmuster aus Laternenlicht und Schatten. Kaum jemand war unterwegs. Die Auspuffrohre der Autos rauchten wie wild. Winkler wußte nicht, ob er ihre Hand nehmen sollte oder nicht. An diesem Abend hatte er das Gefühl, Anchorage mit grausamer, verblüffender Klarheit zu sehen: den Schneematsch, der in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen festgefroren war, die Eisschicht auf den Telefondrähten, zwei Männer, die in einem Imbißrestaurant hinter beschlagenen Scheiben saßen, tief über ihre Speisekarten gebeugt.

Sein Apartment betrachtete sie mit Interesse: die selbstgebauten Regale aus Brettern und Backsteinen, den alten, bollernden Heizkörper, die vollgestopfte Küche, in der es nach Gas roch.

Sie nahm einen Meßzylinder in die Hand und hielt ihn ans Licht. «Oberflächenspannung», erklärte er und zeigte auf die Wölbung über dem Wasser, das sich im Zylinder befand. «Die Moleküle an den Rändern klettern innen am Glas hoch.» Sie stellte das Glas wieder hin und hob ein maschinegeschriebenes Blatt hoch, das auf einem Regalbrett lag: Ich sammelte an verschiedenen Wetterstationen Daten in räumlicher Auflösung über die Menge des Wassers, das zur Niederschlagsbildung zur Verfügung stand, und das Dampfdruckdefizit …

«Was ist das denn? Hast du das geschrieben?»

«Es ist ein Teil meiner Doktorarbeit. Die niemand gelesen hat.»

«Die über Schneeflocken?»

«Ja. Über Eiskristalle.» Er machte einen Vorstoß: «Nimm zum Beispiel einen Schneekristall. Du weißt schon, diesen Stern mit den sechs Spitzen? Der so starr und festgefroren aussieht? Nun, in Wirklichkeit, auf einem extrem kleinen Niveau, kleiner als ein paar Nanometer, vibriert der Kristall wie verrückt, und all die Moleküle, aus denen er sich zusammensetzt, summen unsichtbar vor sich hin und verzehren sich letztlich von selbst.»

Sandy faßte an ihr Ohr und wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger.

«Mein Gedanke war, daß es die winzigen Instabilitäten in diesen Vibrationen sind, die den Schneeflocken ihre individuelle Form geben», fuhr er fort. «Von außen betrachtet, sieht der Kristall stabil aus, aber innen ist es wie eine Art ständiges kleines Erdbeben.» Er legte das Blatt auf das Regal zurück. «Ich langweile dich.»

«Nein», sagte sie.

Sie setzten sich auf das Sofa, und ihre Hüften berührten sich, während sie aus Tassen, die nicht zueinander paßten, Instantkakao tranken. Als sie sich ihm hingab, tat sie es ernst, aber ohne großes Aufheben davon zu machen, indem sie sich einfach auszog und zu ihm in sein schmales Bett kroch. Er stellte kein Radio an, zog nicht die Vorhänge zu. Sie legten beide ihre Brillen nebeneinander auf den Boden, weil er kein Nachttischchen hatte. Sie zog ihnen die Decken über den Kopf.

Es war Liebe. Er brachte es fertig, eine Viertelstunde lang die Farbschattierungen und Runzeln in ihrer Handfläche zu betrachten und sich dabei vorzustellen, er könne das Blut sehen, das durch ihre Kapillaren floß. «Was schaust du da?» fragte sie dann, versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, und lächelte. «So interessant bin ich doch nicht.»

Aber sie war es doch. Er sah ihr dabei zu, wie sie in einer Tüte mit Schokoladenrosinen kramte, sich eine aussuchte, diese dann aber aus unerfindlichen Gründen wieder verwarf; wie sie ihren Parka zuknöpfte; wie sie mit einer Hand unter ihren Kragen schlüpfte, um sich an der Schulter zu kratzen. Eines Tages trug er ein Stück Schnee von der Treppe ab, auf dem sie ihren Fußabdruck hinterlassen hatte, um ihn in der Tiefkühltruhe aufzubewahren.

Verliebt zu sein bedeutete, zwanzigmal an einem einzigen Morgen wie betäubt zu sein: von dem Kristallgeflecht des Reifs auf seiner Windschutzscheibe; von einer Feder, die sich aus seinem Kissen löste; von einem weichen rosa Lichtschimmer über den Hügeln. Er schlief nur drei oder vier Stunden am Tag. An manchen Tagen fühlte er sich, als könnte er die Oberfläche der Erde aufklappen – mitsamt den Bäumen, die fröstelnd auf den Hügeln standen, und der aufgewühlten Oberfläche der Meerenge – und endlich schauen, was sich darunter befand, welche Strukturen, welches fundamentale Muster.

Die Dienstage zitterten und bebten, und selbst der Sekundenzeiger schob sich unendlich langsam über das Ziffernblatt. Die Mittwoche waren die Achse, um die sich der Rest der Woche drehte. Die Donnerstage kochten vor Leere. Am Wochenende hatte das, was sie in seiner Wohnung von sich zurückließ, fast heilige Bedeutung für ihn erlangt: ein Haar, gekräuselt am Rande des Waschbeckens; die Krümel von vier Kräckern, in einem Teller verstreut. Ihr Speichel – ihre Proteine und Enzyme und Bakterien –, der wahrscheinlich immer noch überall auf den Krümeln war; ihre Hautzellen auf den Kissen, auf dem Boden, wo sie sich in den Ecken sammelten wie Wollmäuse. Was war das doch gleich, das er von Watson, von Einstein, von Pasteur gelernt hatte? Die Dinge, die wir sehen, sind nur Masken der Dinge, die wir nicht sehen.

Mit bebender Hand strich er sich das Haar glatt; betrat mit zittrigen Knien, wie ein Dieb, die Eingangshalle der Bank; zog ein im Laden gekauftes Tausendschönchen aus seinem Rucksack und stellte es vor sie auf den Tresen.

Sie liebten sich bei offenem Fenster und ließen die kalte Luft über ihre Körper streichen. «Was glaubst du, was Filmstars an Weihnachten machen?» fragte sie einmal, das Laken bis zum Kinn hochgezogen. «Ich könnte wetten, daß sie Kalbfleisch essen. Oder dreißig Kilo schwere Truthähne. Bestimmt mieten sie sich Köche aus dem Restaurant, damit die das Essen für sie zubereiten.» Draußen vor dem Fenster zog ein Jet mit blinkenden Hecklichtern über den Himmel, und ihre Augen folgten ihm.

Manchmal fühlte sie sich an wie ein warmer Fluß, manchmal wie eine Klinge aus heißem Metall. Manchmal nahm sie eine seiner Arbeiten vom Regal, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und begann zu blättern. «Eindimensionale Schneedecken-Algorithmen», las sie feierlich, als handelte es sich um einen Zauberspruch, der nur leise gesprochen seine Wirkung tut. «Cd entspricht dem Gradtag-Faktor.»

«Laß mir eine Socke da», flüsterte er dann. «Laß deinen BH da. Irgend etwas, damit ich die Woche durchhalte.» Sie schaute zur Decke hoch, hing ihren Gedanken nach, und schon bald würde es Zeit sein zu gehen: Sie würde sich ihre Kleider überziehen, ihr Haar hinter dem Kopf zusammenfassen und ihre Stiefel schnüren.

Wenn sie weg war, beugte er sich über die Matratze und versuchte, am Bettzeug ihren Duft zu erschnuppern. Unerbittlich, unablässig projizierte sein Gehirn ihr Bild auf seine Augenlider: die Anordnung der Sommersprossen auf ihrer Stirn; die feine Geschicklichkeit ihrer Finger; den Schwung ihrer Schultern. Die Art, wie die Unterwäsche sich an ihren Körper schmiegte, wie sie ihre Hüften umschmeichelte und zwischen ihre Beine glitt.

Jeden Samstagmorgen arbeitete sie am Drive-in-Kassenschalter der Bank. Ich liebe Dich, Sandy, schrieb er manchmal auf eine Einzahlungsquittung und warf sie in den Rohrpostschlitz außen an der Bank. Jetzt nicht, antwortete sie dann und schickte die Kapsel postwendend zurück.

Doch, schrieb er in Großbuchstaben zurück. Jetzt in diesem Moment LIEBE ICH DICH.

Er sah, wie sie seinen Zettel zerknüllte, einen neuen schrieb, die Kapsel versiegelte, sie in die Röhre schob. Er nahm die Kapsel mit in sein Auto, setzte sich und schraubte sie auf. Sie hatte geschrieben: Wie sehr?

Wie sehr, wie sehr, wie sehr? Ein Wassertropfen enthält 1020 Moleküle, zuckend und lebhaft, die sich mit ihrem Nachbarn verbinden, dann von ihm trennen, sich wieder verbinden und auf diese Weise ihre Partner Millionen von Malen in der Sekunde tauschen. All das Wasser in unserem Körper ist nur damit beschäftigt, mehr von seinesgleichen zu finden, sich daran zu hängen, an der Hand zu haften, die es umschließt; Wolken zu finden oder Ozeane; oder als zischender Dampfstoß aus der Tülle eines Teekessels zu entweichen.

«Ich wäre gern Polizeibeamtin», flüsterte sie manchmal. «Ich möchte den ganzen Tag eine von diesen Limousinen fahren und dafür sorgen, daß die Spielplätze sicher sind. Oder Ärztin! Ich könnte in Kalifornien Medizin studieren und Kinderärztin werden. Es wäre gar nicht nötig, daß ich irgendwelche spektakulären Rettungsversuche mache oder so etwas, nur kleine Sachen, vielleicht Bluttests auf Krankheiten oder Viren oder so etwas, aber das würde ich richtig gut machen, und ich wäre die Ärztin, der alle Eltern vertrauen. ‹Ich möchte, daß das Blut meiner kleinen Alice von Dr. Sandy untersucht wird›, würden sie dann sagen.» Sie kicherte und wickelte sich eine Strähne ihres Haares um den Finger. Im Kino mußte sich Winkler auf seine Hände setzen, um sie davon abzuhalten, Sandy zu berühren. «Oder nein, noch lieber wäre ich Buschpilotin. Ich könnte bei Herman eins von diesen Sparkonten eröffnen und endlich genug Geld zusammenkratzen, um ein gebrauchtes Flugzeug zu kaufen, einen guten Zweisitzer. Ich würde Flugstunden nehmen. Ich würde mir den Motor anschauen und jedes Teil davon kennen, die ganzen Ventile und Schalter und wie sie alle heißen, und ich würde sagen können: ‹Das Flugzeug ist viel geflogen worden, aber es ist bestimmt in Ordnung.›»

Ihre Augenlider gerieten ins Flattern, wurden wieder ruhig. Irgendwo am anderen Ende der Stadt stand ihr Mann gebückt im Tor und starrte auf den Puck, der über die blaue Linie flitzte.

«Nein, jetzt hab ich’s», sagte sie. «Bildhauerin. Das ist es. Ich könnte mit Metall arbeiten. Ich könnte diese großen, seltsam aussehenden Eisendinger machen, die sie vor irgendwelche Bürogebäude stellen und rosten lassen. Die, auf denen die Vögel herumhocken, und jeder steht davor und sagt: ‹Kannst du dir vorstellen, was das sein soll?›»

«Das könntest du machen», sagte er.

«Genau.»

Mittlerweile geschah es jeden Abend – es war Januar und wurde schon um vier Uhr dunkel –, daß er seinen dicken Parka anzog, die Kapuze fest zuschnürte und an ihrem Haus vorbeifuhr. Er lenkte den Wagen bis zum Ende des Blocks und ließ ihn dann langsam zurückrollen, bis links von ihm die Hecken in Sicht kamen. Davor standen Autos auf der Straße geparkt, mit offenen Motorhauben, damit man die Verlängerungskabel für den Entfroster einstöpseln konnte. Er drosselte das Tempo des Newport und kam vor ihrer Auffahrt endgültig zum Stehen.

Jeden Abend um halb zehn begannen die Lichter auszugehen; zuerst in dem Fenster ganz rechts, dann in dem Zimmer daneben, und dann, genau um zehn Uhr, die Lampe hinter dem Fenster mit den Vorhängen ganz links. Er stellte sich vor, wie sie durch die dunklen Zimmer ging, und folgte ihr mit den Augen, den Korridor entlang, am Badezimmer vorbei und schließlich in den Raum, der offenbar ihr Schlafzimmer war, wo sie mit ihm ins Bett kroch. Am Ende brannte nur noch ein bläulichweißes Licht hoch oben im Hinterhof, während all die draußen geparkten Autos von den umliegenden Häusern Energie anzapften, die Entfroster sich an- und ausschalteten und die Luft über den Häuserzeilen so kalt wurde, daß sie zu glitzern und sich zu verziehen schien – als wäre sie eine Flüssigkeit, die langsam fest wurde –, und er hatte das Gefühl, daß jemand einfach von oben herabgreifen und die ganze Szene in Trümmer legen könnte.

Nur mit großer Mühe brachte er es dann fertig, den Fuß aufs Gaspedal zu stellen und weiterzufahren. Er fuhr wieder den Hügel hoch bis zum Ende des Blocks, drehte die Heizung auf und rollte in der gefrorenen Dunkelheit allein durch die Stadt.

«Nicht, daß er schrecklich ist oder so», flüsterte Sandy einmal, mitten in der Vorstellung von Logan’s Run – Flucht ins 23. Jahrhundert. «Ich meine, er ist nett. Er ist ein guter Mensch. Er liebt mich. Ich kann so ziemlich machen, was ich will. Es ist bloß so, daß ich mir manchmal die Küchenschränke angucke oder seine Anzüge im Schrank und mich frage: Und das soll es gewesen sein?»

Winkler blinzelte. So viel hatte sie während eines Films noch nie gesagt.

«Ich habe einfach das Gefühl, daß ich von innen nach außen gekehrt worden bin. Als hätte ich riesige Fesseln an meinen Armen. Schau mal» – sie packte ihren Unterarm und hob ihn hoch –, «mein Arm ist so schwer, daß ich ihn kaum heben kann. Aber zu anderen Zeiten wird er so leicht, daß ich das Gefühl habe, ich könnte an die Decke hochschweben und einfach dort hängenbleiben wie ein Luftballon.»

Sie waren eingehüllt in die Dunkelheit des Kinos. Auf der Leinwand führte ein Roboter tiefgefrorene Menschen vor. Die Lämpchen an der Decke, die Sterne darstellen sollten, leuchteten in ihren kleinen Mulden.

Sandy flüsterte: «Manchmal freue ich mich mit den jüngeren Mädchen bei uns in der Bank, wenn sie nach langer Suche endlich jemanden fürs Herz finden, und wenn sie dann diesen Mann gefunden haben und anfangen, während der Pause über Hochzeit zu reden und dann über Babys, und ich sehe sie da draußen stehen und rauchen und in den Straßenverkehr hinausschauen, dann weiß ich, so hundert Prozent glücklich sind sie nicht. Einfach nicht richtig glücklich. Vielleicht siebzig Prozent glücklich. Aber sie ziehen es durch. Sie geben nicht auf. Ich habe vielleicht einfach zu viele Gefühle. Ich weiß nicht. Gibt es das, daß man zu viele Gefühle hat, David?»

«Ja.»

«Ich sollte dir das alles gar nicht erzählen.

Ich sollte dir gar nichts erzählen.»

In dem Film gab es jetzt eine Verfolgungsjagd, und die bunten, flackernden Farben einer brennenden Stadt huschten über Sandys Brillengläser. Sie schloß die Augen.

«Es ist nämlich so», flüsterte sie. «Herman hat keine Spermien. Vor ein paar Jahren haben wir ihn testen lassen. Er hat keine. Oder praktisch keine; keine guten. Als sie damals anriefen, haben sie die Ergebnisse mir mitgeteilt. Ich habe es ihm nie gesagt. Sie hätten gemeint, alles sei in Ordnung, habe ich zu ihm gesagt. Ich habe den Brief zerrissen, die Schnipsel mit in die Arbeit genommen und dann ganz unten im Abfalleimer in der Damentoilette versteckt.»

Auf der Leinwand fuhr Logan schlingernd durch eine belebte Straße. Anzüge im Schrank, dachte Winkler. War es doch der Typ mit dem Muttermal?

In seiner Erinnerung konnte er Monate innerhalb von Sekunden durchqueren. Er stellte sich Herman vor, wie eine Krabbe gekrümmt auf dem Eis, wie er das Hockeytor bewachte, mit dem Handschuh gegen seine großen Knieschoner schlug, während seine Teamkameraden auf der Eisbahn herumsausten. Er stellte sich vor, wie sich Sandy über ihn beugte und ihre Haarspitzen über sein Gesicht strichen. Er stand vor ihrem Haus in der Marilyn Street, und über der Stadt stiegen die schmalen Streifen der Polarlichter – rot und lila und grün – wie Seelen in das Firmament.

Ein weicher Hagelschauer – dicke, plumpe Graupelkörner – fiel aus den Wolken. Er öffnete all seine Fenster, stellte den Heizkörper ab und ließ den Graupel herein. Er wehte in schiefen Böen durch die Fensterrahmen, die winzigen Körner rollten und sprangen über den Teppich.

Es war fast Mitte März, als sie neben ihm in der Dunkelheit lag, nur eine Kerze brannte auf der Fensterbank. Draußen vor dem Fenster kippte ein Müllmann den gefrorenen Inhalt eines Abfalleimers in die Presse seines Müllwagens, und Winkler und Sandy lauschten dem Geklapper des Mülls, dem Zischen der Presse und dem leiser werdenden Rumpeln des Lastwagens, als er die Straße hinunterfuhr. Es war etwa fünf Uhr abends, und überall in der Stadt beendeten Menschen ihren Arbeitstag, Kuriere lieferten ihre letzten Sendungen ab, Buchhalter bezahlten noch eine Rechnung, und Banker verschlossen ihre Tresorräume. Zahnräder fanden ihre Nut.

«Möchtest du eigentlich manchmal einfach gehen?» flüsterte sie. «Gehen, gehen, gehen?»