Die Tornadojäger - Ross Montgomery - E-Book

Die Tornadojäger E-Book

Ross Montgomery

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Beschreibung

Tornado-Alarm im Städtchen Barrow, dem Heimatort von Owen und seinen vier Freunden, den unerschrockenen Tornadojägern! Barrow ist anders als andere Orte. Immerzu droht die Gefahr eines Tornados, und die Erwachsenen sind in heller Aufregung. Der 11-jährige Owen muss ständig einen Helm tragen, weil seine Eltern solche Angst um ihn haben. Er darf nicht auf Bäume klettern und soll immer pünktlich zu Hause sein. Owen macht da nicht mehr mit. Zusammen mit vier Freunden will er dem Beispiel seiner Großeltern folgen, die berühmte Tornadojäger waren. Sie wollen dem Sturm ins Auge sehen, allen erwachsenen Ängsten und Kontrollzwängen zum Trotz. Denn ein Leben ohne Abenteuer ist doch kein Leben, oder?

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Über das Buch

Tornado-Alarm im Städtchen Barrow, dem Heimatort von Owen und seinen vier Freunden, den unerschrockenen Tornadojägern! Barrow ist anders als andere Orte. Immerzu droht die Gefahr eines Tornados, und die Erwachsenen sind in heller Aufregung. Der 11-jährige Owen muss ständig einen Helm tragen, weil seine Eltern solche Angst um ihn haben. Er darf nicht auf Bäume klettern und soll immer pünktlich zu Hause sein. Owen macht da nicht mehr mit. Zusammen mit vier Freunden will er dem Beispiel seiner Großeltern folgen, die berühmte Tornadojäger waren. Sie wollen dem Sturm ins Auge sehen, allen erwachsenen Ängsten und Kontrollzwängen zum Trotz. Denn ein Leben ohne Abenteuer ist doch kein Leben, oder?

Ross Montgomery

Die Tornado-Jäger

Aus dem Englischen von André Mumot

Mit Illustrationen von Daniela Kohl

Carl Hanser Verlag

Für Helen – für alles, natürlich.

Dieser Notizblock wird allen Insassen des JUGENDBEZIRKSGEFÄNGNISSES zur freien Verfügung gestellt. Nur ein Blatt pro Woche. Keine Kritzeleien.

Lieber Aufseher,

dass Sie diesen Brief lesen, bedeutet, dass ich es endlich geschafft habe zu fliehen.

Es bedeutet außerdem, dass Sie das Geheimversteck hinter der lockeren Fliese über dem Waschbecken gefunden haben. Und das bedeutet, dass Sie die Mausefallen gefunden haben, die ich vor meiner Flucht dort aufgestellt habe. Das tut mir le Nein, eigentlich tut’s mir nicht leid.

Als ich ins Jugendbezirksgefängnis kam, hieß es, ich müsse bloß die Wahrheit sagen, nur alles erzählen, was passiert ist: wann es angefangen hat, wer was getan hat, warum wir es getan haben, warum es so ausgegangen ist. »Schreib es auf«, hieß es. »Mach ein Gedicht draus. Oder eine Geschichte, wenn’s sein muss. Aber so oder so – du musst es uns erzählen.«

Also hab ich das gemacht. Ich hab mich hingesetzt und eine Geschichte geschrieben – über alles, was passiert ist, von Anfang bis Ende, so gut ich konnte. Und auf die einzige Weise, wie ich die Geschichte erzählen konnte. Hier ist sie nun – von Anfang bis Ende.

Was mich zu der Frage bringt, die Sie garantiert unbedingt loswerden wollen: Wenn ich geflohen bin, wohin bin ich denn geflohen?

Tja, um das rauszufinden, werden Sie wohl meine Geschichte lesen müssen, was?

Liebe Grü Mit freundlichen Grüßen

Insasse 409

1 Wie es begann

Mein Name ist Owen Underwood.

Ich bin seit heute 11 Jahre alt.

Und das ist der schlimmste Geburtstag meines Lebens.

Das war der letzte Satz, den ich in mein Tagebuch schrieb, bevor die Sache losging.

Um ganz ehrlich zu sein, war es der einzige Satz, den ich in mein Tagebuch schrieb. Die anderen Seiten ließ ich frei, und so blieben sie auch, bis die Polizei Wochen später mein Zimmer durchsuchte und mit roter Tinte das Wort BEWEISSTÜCK vorne auf mein Tagebuch stempelte. Ich wäre auch gar nicht dazu gekommen, noch mehr hineinzuschreiben, weil an diesem Abend so viel passierte.

Ich lag unter meinem Bett, eingezäunt von Maschendraht und mehreren Dutzend Sandsäcken. Diese Vorkehrungen waren aus verschiedenen Gründen getroffen worden: weil der Tornado das Dach vom Haus reißen oder einen Felsbrocken durch die Wand katapultieren konnte. Oder weil es möglich war, dass ein heißhungriger Bär durch die Fensterläden brechen und versuchen würde, ins Zimmer zu klettern. Deshalb hatten meine Eltern mir auch eine Dose Bärenabwehrspray in die Hand gedrückt. Noch hatte ich es nicht benutzt, und darüber war ich eigentlich ganz froh, denn auf der Dose stand, dass man blind werden könnte, wenn man es in die Augen bekam.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich eine Dose Bärenabwehrspray bei mir hatte oder warum mein Bett mit Maschendrahtzaun und Sandsäcken gesichert war. Vermutlich leben Sie nicht in einem Dorf wie Barrow. Seien Sie froh! Als mir meine Eltern ein paar Wochen zuvor erzählt hatten, dass wir wegen der Tornadowarnung nach Barrow umziehen würden, war ich ziemlich verwirrt. In Skirting hatte sich nie jemand groß Gedanken gemacht wegen der Stürme. Schließlich hatte es seit über zehn Jahren im Tälerbezirk keinen Tornado mehr gegeben. Unser Umzug bedeutete, dass ich meine Schule und all meine Freunde verlassen musste, und das kurz vor den Sommerferien. Mum und Dad meinten, sie hätten keine Wahl – Barrow sei der einzige sichere Ort im ganzen Bezirk. Und das verwirrte mich sogar noch mehr.

Wovor sollte man denn Angst haben hier im Tälerbezirk?

Und dann erzählten sie mir von den drohenden Bärenangriffen.

»OWEN!«

Das Rufen ertönte hinter meiner Zimmertür. Ich zuckte zusammen und knallte mit dem Kopf gegen die Unterseite meines Bettes. Zum Glück trug ich den Sturzhelm.

(Das hätte ich wahrscheinlich schon früher erwähnen sollen.)

Ich leide unter einer besonders schlimmen Form von Zuckungen. Immer wenn etwas passiert, das ich nicht erwartet habe – ein lautes Geräusch zum Beispiel oder eine plötzliche Bewegung –, verliere ich kurz die Kontrolle über meinen Körper. Das hab ich schon mein ganzes Leben, und deshalb muss ich ständig diesen Helm tragen. Zum Glück sind die meisten Leute sehr verständnisvoll. Zumindest waren sie das, bevor wir nach Barrow umgezogen sind.

Ich robbte unter meinem Bett hervor und schüttelte mich, bis die Zuckungen vorbei waren.

»J-ja, Dad?«

»Dein Essen ist fertig«, rief Dad hinter der Tür.

Ich ließ den Blick durch mein Zimmer schweifen. Es gab nicht viel zu sehen. Kein Spielzeug, keine Bücher, keine Poster – nichts. Es war nur noch das Bett übrig, eine einzelne nackte Glühbirne, die von der Decke hing, und die geschlossenen Holzläden vor den Fenstern. Selbst der Knauf an meiner Zimmertür war mit Schaumstoff aufgepolstert. Ich ging hinüber und drehte daran, aber er bewegte sich nicht. Was allerdings auch keine Überraschung war, schließlich hatten meine Eltern mich ja gerade erst eingeschlossen.

(Vermutlich hätte ich das ebenfalls schon erwähnen sollen.)

»Alles in Ordnung da drin, Schatz?«, fragte eine andere Stimme hinter der Tür. »Hast du einen schönen Geburtstag?«

»Ja, Mum«, log ich. »Er ist ganz toll.«

»Tja, wir haben was besonders Feines für dich!«, sagte Dad begeistert. »Trägst du deinen Helm?«

Ich klopfte laut mit der Faust dagegen. »Ja, Dad.«

»Guter Junge«, sagte Mum. »Dann sei vorsichtig. Es ist sehr heiß.«

Ich machte mehrere Schritte zurück.

»Und los geht’s!«, sagte Dad.

Langsam tauchte eine Hawaii-Pizza unter dem Türschlitz auf. Der Schinken darauf war zu einer großen Elf arrangiert worden. Rasch wurden noch ein Paar gelbe Gummihandschuhe hinterhergeschoben.

»Zieh die Handschuhe an, bevor du die Pizza isst«, sagte Dad streng. »Damit du dich nicht verbrennst. Ein Messer oder eine Gabel können wir dir ja leider nicht geben, sonst schneidest du dir noch versehentlich einen Finger ab und stirbst.«

»Vergiss seinen Kuchen nicht!«, fügte Mum hinzu.

»Ach ja«, sagte Dad. »Den hätte ich beinahe vergessen.«

Ein flacher, großer Schokokeks wurde unter der Tür durchgeschoben, bis er meinen Fuß berührte.

»Herzlichen Glückwunsch zum elften Geburtstag, Owen!«, riefen meine Eltern im Chor.

Ich seufzte. Eine weitere Lüge war fällig.

»Wow. Danke, Mum, danke, Dad«, sagte ich. »Ist das schön.«

»Tja, es ist schließlich auch ein ganz besonderer Tag«, sagte Dad. »Brauchst du sonst noch was, Owen?«

Ich schluckte. Zeit, die Wahrheit zu sagen – endlich.

»Ähm … ja, da wäre was«, sagte ich. »Dad, Mum – darf ich euch um einen Gefallen bitten?«

»Natürlich!«, sagte Dad.

»Du kannst uns um jeden Gefallen bitten«, sagte Mum.

»Gut«, sagte ich. »Na ja, ich hab mich gefragt, ob ihr vielleicht, na ja, wisst ihr, ob ihr mich vielleicht … kurz aus dem Zimmer rauslassen könntet?«

Auf der anderen Seite der Tür herrschte eisiges Schweigen.

»Du weißt, dass wir das nicht können, Owen«, sagte Dad. »Das ist viel zu gefährlich. Vor Barrow braut sich gerade ein gewaltiger Tornado zusammen.«

»Außerdem, vergiss nicht die ganzen Bären da draußen, Schatz«, fügte Mom hinzu. »Nur weil ein Tornado aufzieht, hören die noch lange nicht auf, durchs Tal zu streifen und Jagd nach etwas Essbarem zu machen. Es könnten in diesem Augenblick schon welche vor deinem Fenster lauern.«

Ich warf den Läden hinter mir einen Blick zu. Sie klapperten bedrohlich.

Ich schluckte. »Ja … ja, das stimmt wohl«, sagte ich.

»Schön, dass du es einsiehst.« Mum seufzte erleichtert. »Gibt es sonst noch etwas, das wir unserem Geburtstagskind bringen können?«

Ich richtete meinen Blick auf die Pizza und den Schokokeks. »Vielleicht was zu trinken?«

»Natürlich!«, sagte Dad.

Ein mit Wasser gefüllter Teller kam unter der Tür zum Vorschein.

»Vielen Dank«, sagte ich niedergeschlagen.

»Beeil dich mit dem Essen, Schatz!«, sagte Mum. »Denk an den Zapfenstreich – um sechs Uhr wird das Licht ausgemacht.«

Kaum hatte sie es gesagt, rutschte mir das Herz in die Hose.

Bald sechs Uhr! Aber das bedeutete ja …

»Noch zehn Minuten!«, sagte Mum. »Und dann ab ins Bett. Nacht, Spätzchen!«

Ich hörte verzweifelt, wie sich ihre Schritte auf dem Flur entfernten. Das war wirklich der schlimmste Geburtstag meines Lebens. Nicht nur war ich in meinem Zimmer eingesperrt, ohne Freunde oder Geschenke, mir blieben auch nur noch zehn Minuten, bis es sechs Uhr war.

Der Plan würde ohne mich durchgeführt werden.

Entsetzt starrte ich das Geburtstagsessen auf dem Fußboden an. Zwei erbärmliche Teller und ein Schokokeks. Ich hatte nicht mal genügend Hände, um alles gleichzeitig zu meinem Bett zu tragen. Ich hätte mir den Schokokeks natürlich zwischen die Zähne klemmen können – aber ich kannte ja Mum und Dad. Sie würden es mir natürlich verbieten, schließlich könnte ich plötzlich zusammenzucken und daran ersticken …

Ein rebellisches Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus.

Na los, Owen, mach es einfach. Sie kriegen es ja doch nicht mit.

Ich presste mein Ohr gegen die Tür, um sicherzustellen, dass sich Mum und Dad nicht in der Nähe befanden. Dann steckte ich mir den Keks vorsichtig zwischen die Zähne, hob die beiden Teller auf und schwankte so auf mein Bett zu.

»Das perfekte Verbrechen«, murmelte ich.

Klopf klopf.

Ich erschrak.

Sie wissen ja inzwischen, was das bedeutet. Zuerst zog sich mein ganzer Körper zusammen. Meine Zähne knallten aufeinander, und ich biss den Keks in der Mitte durch. Mit der einen Hand schüttete ich mir das Wasser aus dem einen Teller direkt ins Gesicht, und mit der anderen schleuderte ich die Pizza ans andere Ende des Zimmers, wo sie mit einem saftigen Platsch an der Wand hängen blieb.

»Wer ist da?«, fragte ich und wirbelte herum.

Keine Antwort. In meinem Zimmer war natürlich niemand. Es gab auch nicht besonders viele Stellen, wo sich jemand hätte verstecken können. Ich blickte auf die krümeligen Überreste meines Geburtstagsschokokekses herab.

»Na toll«, murmelte ich. »Also, das ist doch wirklich …«

Klopf klopf.

Wieder zuckte ich zusammen, allerdings weniger extrem. Diesmal wusste ich genau, wo das Geräusch herkam. Mein Blick huschte zu den hölzernen Fensterläden hinüber.

Irgendetwas war draußen vor dem Fenster.

»H-hallo?«, stieß ich ängstlich aus.

Keine Reaktion. Ich stand wie angewurzelt da, nur das Wasser tropfte mir aus den Haaren. Ich hörte bloß, wie unten im Erdgeschoss die Sturmwarnungen aus dem Radio drangen, wie der Wind ums Haus heulte und wie mein Herz immer schneller klopfte. Hinter mir rutschte langsam die Pizza von der Wand – nur die Elf blieb, perfekt geformt aus gekochtem Schinken, an der Tapete hängen.

Ich schluckte. »Mum? Dad …?«

Und dann ertönte es ganz plötzlich erneut, diesmal jedoch lauter, fester, sodass die Läden bei jedem Schlag in ihren Angeln erzitterten.

KLOPF. KLOPF.

Es bestand kein Zweifel. Es war ein Bärenangriff. Innerhalb von Sekunden war ich hinter die Sandsäcke gesprungen, die mein Bett umgaben, und streckte den Fensterläden mit zitternder Hand das Bärenabwehrspray entgegen.

»K-kommt nicht näher!«, rief ich. »Dieses Spray ist hoch entzündlich und sollte niemals in geschlossenen Räumen verwendet werden …«

Ich wurde von einem lauten Stöhnen unterbrochen, das draußen vor dem Fenster ertönte.

»Owen, du Napfsülze«, sagte eine Stimme. »Das ist das geheime Klopfzeichen. Weißt du nicht mehr?«

Ich erkannte die Stimme sofort. Beinahe wäre ich wieder zusammengezuckt.

»Du?«, fragte ich.

»Darum geht’s doch beim geheimen Klopfzeichen«, fuhr die Stimme gereizt fort. »Ich klopfe zwei Mal, damit du weißt, dass ich es bin, und dann lässt du mich rein. Herrgott! Ich hab’s dir ja bloß tausend Mal erklärt.« Es war ein lautes Seufzen zu hören. »Also – jetzt lass mich halt rein.«

Ich druckste herum. »Ich … ich kann nicht. Die Läden sind von außen abgeschlossen. Meine Eltern waren der Meinung …«

»Ach, vergiss es«, murmelte die Stimme wütend. »Ich mach’s einfach selbst.«

Ein Plastiklineal schob sich durch die Läden und wurde dann ruckelnd nach oben gezogen, bis es den Riegel anhob, der die beiden Teile zusammenhielt. Sie flogen auf, und sofort fegte ein gewaltiger Windstoß ins Zimmer, der jede Menge Laub hereinwehte.

Auf meinem Fensterbrett stand – mit einem Lineal in der einen und einem Samuraischwert in der anderen Hand – Callum Brenner. Zumindest war ich mir ziemlich sicher, dass er es war. Es war schwer zu sagen, weil er eine Skimütze trug, die nur die Augen frei ließ.

»Was für eine Napfsülze«, murmelte er und warf mir das Lineal an den Kopf.

Ich lächelte. Es war eindeutig Callum Brenner. Er sprang vom Fensterbrett.

»Also, worauf wartest du noch?«, schnauzte er mich an. »Es ist schon fast sechs! Wir sollten längst beim Treffen sein!«

Ich starrte ihn groß an. »Du meinst …«

Callum verdrehte die Augen. »Ja, du Volldepp, das Treffen! Heute ist der alles entscheidende Abend – schon vergessen? Der Abend, an dem es losgeht! Alles, was wir geplant haben! Du. Ich.« Er legte eine dramatische Pause ein. »Die Tornadojäger.«

So fing es an, in gewisser Hinsicht. So kam es, dass ich aus meinem Zimmer floh und das Dorf verließ und einen gewaltigen Tornado durch die Täler jagte. Aber das erklärt noch nicht alles. Es erklärt noch nicht, warum wir uns überhaupt dazu entschlossen hatten, unser Leben zu riskieren, das Gesetz zu brechen, das Unvorstellbare zu wagen. Und meistens ist das Warum ja viel wichtiger als das Wie. Das weiß ich jetzt.

Also springe ich jetzt zurück zu dem Tag, an dem es wirklich begann – eine Woche zuvor, an meinem ersten Tag in Barrow.

Dem Tag, an dem ich Callum Brenner kennenlernte.

2 Der Tag, an dem ich Callum Brenner kennenlernte

»Halt still, Owen!«

»Komm her, damit ich dir die Schnürsenkel zubinden kann.«

»Hör auf, so rumzuzappeln!«

»Wenn deine Schnürsenkel nicht zugebunden sind, fällst du womöglich, oder sie bleiben irgendwo stecken, und im Nu hast du deine Beine gebrochen.«

Ich stand auf dem leeren Spielplatz der Barrow-Grundschule, und meine Eltern hatten sich links und rechts von mir aufgebaut, redeten auf mich ein und zerrten an meinen Armen wie zwei Hunde an einem Seil. Mir war ganz schlecht vor Aufregung, und nicht nur, weil das mein erster Tag an dieser Schule war. Wir waren erst gestern nach Barrow gezogen – ich kannte also überhaupt noch niemanden. Ich hatte keine Ahnung, wie meine neue Lehrerin sein würde oder ob ich neue Freunde finden würde. Und was die Sache noch schlimmer machte: Keiner hier wusste, was es mit meinem Sturzhelm auf sich hatte. Ich würde der gesamten Klasse mein Leiden erklären müssen. Ich entfernte mich einen Schritt von meinen Eltern und lächelte verlegen.

»Ähm … ich glaube, ich sollte jetzt reingehen, Mum und Dad«, sagte ich. »Ich will an meinem ersten Tag nicht zu spät kommen. Ich bin mir sicher, ich sehe jetzt gut genug aus.«

Genau genommen sah ich alles andere als gut aus, ich sah aus wie ein Vollidiot, aber das war nicht meine Schuld. Meine neue Schuluniform war von oben bis unten knallgelb, einschließlich der kurzen Hose. Mum befeuchtete ihren Daumen mit Spucke, beugte sich herunter und rieb mir über die Wange.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht, Krümelchen?«, fragte sie. »Du möchtest nicht, dass wir mit reinkommen und deinen neuen Klassenkameraden von deinem Leiden erzählen?«

»Nein!«, platzte ich heraus. »Ich meine … nein, danke, Mum.«

Sie seufzte. »Aber denk dran: Im gesamten Tälerbezirk herrscht Sturmwarnung 5. Eine SW5 hatten wir seit zehn Jahren nicht mehr! Vergiss nicht: SW5 bedeutet …«

»Ein Tornado könnte jederzeit ohne Vorwarnung auftreten«, erwiderte ich mechanisch. »Mir passiert nichts, Mum, versprochen.«

»Das will ich aber auch hoffen, Owen«, sagte Dad streng. »Mit einer SW5 ist nicht zu spaßen. Du warst noch zu jung beim letzten Mal, du kannst dich nicht daran erinnern. Soweit wir wissen, könnte der Tornado morgen hier eintreffen! Zumindest hier in Barrow verstehen die Menschen, wie ernst die Lage ist. Siehst du, wie viele Sturmfallen sie aufgestellt haben?«

Er streckte die Hand aus und deutete zu den Hügeln, die das gesamte Dorf umgaben. Entlang der Spitzen verlief eine ungebrochene Reihe roter Lichter, die das Tal wie ein Netz umgaben. Es sah wirklich beeindruckend aus. In Skirting hatten wir nur eine einzige Sturmfalle zum Schutz des gesamten Dorfes gehabt – ganz oben auf dem Kirchturm. Barrow schien über Hunderte zu verfügen.

»Den Bewohnern von Barrow ist Sicherheit wichtiger als alles andere«, erklärte Dad. »Deshalb gibt es ja auch die Ausgangssperre für Kinder – ab vier Uhr nachmittags müssen sie zu Hause sein. So kann keiner noch spät in der Gegend herumstreunen. Und von Bären gefressen werden.«

»Das stimmt!«, sagte Mum. »Also kein Herumgetrödele und Geplaudere mit deinen neuen Freunden nach der Schule – du kommst gleich nach Hause.« Plötzlich wurde ihr Gesicht hart wie Stein. »Und, um Himmels willen, Owen, du kletterst nicht auf Bäume!«

Dad packte mich unsanft an der Schulter.

»Wir meinen es ernst, Owen!«, rief er. »Denk daran, was letztes Mal passiert ist! Versprich es uns, Owen!«

»Versprich es uns!«, jammerte Mum und griff nach meinen Armen.

In der Schule schrillte die Glocke, also riss ich mich endgültig los.

»Ich werde auf keine Bäume klettern!«, rief ich über meine Schulter. »Versprochen!«

Meine Eltern sind schon immer so gewesen – überängstlich. Manchmal glaube ich, wenn sie mich in einen großen Plastikballon einschließen könnten, würden sie das tun. Tatsächlich haben sie das auch mal gemacht. Das war die schlimmste Schwimmstunde meines Lebens.

Als ich die Schule betrat, zog sich meine Brust vor lauter Nervosität immer weiter zusammen. Ich kam offensichtlich zu spät, die Flure waren nämlich alle schon leer. Als ich endlich das richtige Klassenzimmer fand, lag mir schon ein schwerer Stein im Magen. Ich betrachtete den Anschlag an der Tür:

DIE BARROW-STURMGESETZE: IMMER BEACHTEN!

Die Ausgangssperre beginnt jeden Tag um 16:00 Uhr!

Licht aus um 18:00 Uhr!

Wenn Ihr draußen unterwegs seid, bleibt immer bei Eurem Heimwegpartner!

Tragt immer Eure gut sichtbare gelbe Uniform, damit Erwachsene Euch sehen können!

VERLASST NIEMALS UND UNTER KEINEN UMSTÄNDEN BARROW

!

Denkt daran: Für diejenigen, die sich nicht an die Sturmgesetze halten, ist immer eine Zelle im

JUGENDBEZIRKSGEFÄNGNIS

frei!

Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu beruhigen. Dann klopfte ich an die Tür.

»Herein!«, flötete eine Stimme im Inneren.

Ich öffnete die Tür und spähte hinein. Dreißig Kinder saßen dicht an dicht in den Reihen, trugen dieselben gelben Uniformen und starrten mich an. Sie hatten alle Textmappen in der Hand. Offenbar hatte ich sie unterbrochen. Eine Lehrerin war nirgendwo zu sehen.

»Entschuldigt«, sagte ich zu den schweigenden Kindern und trat ein. »Ist das die Klasse von Miss Pewlish …«

»RAAAAAAAARGH!«

Urplötzlich sprang ein riesiger Bär hinter der Tür hervor und stürzte sich auf mich. Seine Augen traten ihm weit aus dem Schädel, während er mit seinen rasiermesserscharfen Klauen nach mir hieb. Schreiend warf ich mich auf einen Stapel Bücher, der sofort zusammenstürzte und mich halb begrub. Entsetzt schaute ich auf, erwartete, den blutdürstigen Bären vor mir zu sehen. Stattdessen stand dort eine Frau von Mitte dreißig. Sie trug riesige Handschuhe, die wie echte Bärenklauen aussahen, und hatte sich einen künstlichen Bärenkopf unter den Arm geklemmt. Sie schaute mich missbilligend an.

»Unterirdisch«, sagte sie. »Ich habe es nicht ein Mal, ich habe es tausend Mal gesagt: Niemals einen Raum betreten, ohne die Gefahrenzonen zu prüfen. Bären lieben nichts mehr, als sich hinter einer Tür zu verstecken und darauf zu warten, dass ein achtloses Kind hereinspaziert kommt.« Sie wandte sich der Klasse zu. »Wer kann mir noch weitere Gefahrenzonen nennen?«

Die Hände der Kinder schossen in die Höhe.

»Kleiderschränke!«, sagte ein Junge.

»Hinter Sofas!«, rief ein Mädchen.

»In Kühlschränken und unter dicken Teppichen!«

Die Frau nickte. »Nicht schlecht. Und was dich betrifft«, sagte sie und zeigte mit ihrer falschen Bärenklaue auf mich, »du solltest es wirklich besser wissen. Kommst in einen Raum und schaust nicht hinter die Tür! Wo glaubst du eigentlich, wo wir hier sind – in Skirting? Steh augenblicklich auf!«

Mühsam kämpfte ich mich unter den Büchern hervor. »Tut mir leid, ich …«

»Und was ist das?« Sie griff mit beiden Klauen nach meinem Helm. »Du fährst mit dem Rad zur Schule? Obwohl gerade eine Sturmwarnung Stärke 5 für den ganzen Tälerbezirk herausgegeben wurde? Unfassbar!«

»Nein, das ist nicht der …«, versuchte ich einzuwenden.

»Offensichtlich«, fiel sie mir schmetternd ins Wort, »hat dieses Kind nicht die geringste Ahnung, weder von Sicherheit noch von unseren Sturmgesetzen! Möchtest du im Jugendbezirksgefängnis landen, junger Mann? Wie viele Monate gehst du nun schon in diese Klasse, ähm … wie heißt du noch gleich?«

»Ich … ähm …«, wimmerte ich. »Ich bin Owen Underwood. Wir sind gerade erst hergezogen. Das ist mein erster Tag.«

Die Frau blinzelte. Dann räusperte sie sich.

»Ah«, murmelte sie verlegen. »Ja. Owen Underwood. Natürlich.«

Eilig streifte sie die riesigen Klauen ab und ließ sie auf das Lehrerpult fallen.

»Willkommen, Owen«, sagte sie jetzt so fröhlich, als wäre überhaupt nichts passiert. »Ich bin Miss Pewlish, deine neue Klassenlehrerin und Schulsicherheitskommissarin. Du hast Glück, dass du in diesen letzten Wochen vor den Ferien zu uns stößt – wir werden nämlich anlässlich des Barrow-Gründungstags ein Theaterstück aufführen!«

Miss Pewlish drückte mir ein Manuskript in die Hand, drehte mich um und schob mich vor die anderen Schüler, die mich nach wie vor stumm anstarrten.

»Sei nicht schüchtern!«, rief sie. »Stell dich vor!«

»Ähm … hallo«, sagte ich. »Mein Name ist Owen Underwood. Meine Eltern und ich sind gestern hierhergezogen, nachdem die SW5 für den Tälerbezirk herausgegeben wurde. Sie fanden, dass unser alter Wohnort nicht mehr sicher genug für uns war.« Ich schluckte. »Wir kommen eigentlich aus, ähm … Skirting.«

Ich wusste sofort, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Ein dumpfes Raunen ging durch die Reihen, und die Kinder warfen einander vielsagende Blicke zu.

»Skirting«, sagte Miss Pewlish, ohne die Verachtung in ihrer Stimme verbergen zu können. »Na, kein Wunder, dass du die Sturmgesetze nicht kennst! Wie schön, mal einen Schüler zu haben, der aus einer Gegend kommt, die so, ähm … anders ist.«

Sie warf mir einen Seitenblick zu. Offenbar versuchte sie, sich eine höfliche Art zu überlegen, ihre Frage zu stellen, gab das dann allerdings wieder auf.

»Und warum trägst du einen Sturzhelm, Owen?«

Einige der Schüler kicherten. Ich seufzte. Na schön, dann brachte ich es eben hinter mich. Ich wandte mich wieder den dreißig starrenden Gesichtern zu.

»Danke der Nachfrage, Miss Pewlish«, sagte ich. »Ich leide unter einer Krankheit, die man Verzögertes Schockreflex-Syndrom nennt. Wenn ich überrascht werde, habe ich für ein, zwei Sekunden keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Die meisten Menschen haben als Baby einen solchen Schockreflex, verlieren ihn aber zwischen dem sechsten und zwölften Monat. Nur sehr selten findet man ihn bei jemandem in meinem Alter. Zwar muss ich zu meinem Schutz einen Sturzhelm tragen, ich bin aber trotz meines Gesundheitszustandes dazu in der Lage, ein vollkommen normales Leben zu führen. Und keine Sorge, es ist nicht ansteckend. Haha.«

Niemand lachte.

»Wie interessant«, sagte Miss Pewlish und klang kein bisschen interessiert. »Nun, Owen, dann wollen wir dir gleich mal einen Heimwegpartner suchen, damit du nicht länger rumschwatzen musst und wir alle aufhören können, dich anzuschauen.«

Ich blinzelte ratlos. »Ähm … Heimwegpartner?«

Miss Pewlish verdrehte die Augen. »Ja, Heimwegpartner! Ich bin mir sicher, dass man so etwas in einer so sorg- und zügellosen Stadt wie Skirting nicht benötigt!«

Sie wühlte in ihrer Schreibtischschublade herum und zog schließlich einen einzelnen Bogen Papier hervor.

»In Barrow legen die Schüler ihren Hin- und Rückweg zur Schule immer mit einem Partner zurück. Somit ist das Risiko geringer, dass sie sich noch nach der Ausgangssperre draußen herumtreiben und von Bären zerfleischt werden. Nächstes Jahr wirst du natürlich schon zu alt dafür sein – aber für die letzten drei Wochen des Schuljahrs brauchst du einen. Vorsicht ist besser als Nachsicht!«

Sie studierte die Namensliste.

»Wir werden dich mit deinem nächsten Nachbarn zusammentun«, murmelte sie. »Kannst du mir sagen, in welcher Straße ihr wohnt?«

»Ähm … Magnolia Crescent, glaub ich«, sagte ich nervös.

Die Schüler schnappten hörbar nach Luft. Einige, die direkt vor mir saßen, schlugen sich sogar die Hände vor den Mund und prusteten los.

»Ausgerechnet Callum!«

»Ich fass es nicht!«

»Das geht keine Woche gut!«

Miss Pewlish fand den Namen auf der Liste. Sofort verschwand jede Weichheit aus ihren Zügen. Sie spannte den Kiefer an.

»Callum … Brenner«, sagte sie. Jedes Wort war eine Anklage.

Sofort teilten sich vor mir die Tische und öffneten eine Gasse zum hinteren Ende des Klassenraums. Dort saß, ganz allein, ein einzelner Junge. Er war etwas zu groß für seinen Stuhl, was er dadurch ausglich, dass er sich gegen die Wand zurücklehnte und auf einem Bein kippelte. Sein Tisch war von zerbrochenen Bleistiften bedeckt. Die Tische um ihn herum waren mit Papierknöllchen vollgemüllt. Angewidert musterte er mich von Kopf bis Fuß.

»Ist das euer Ernst?«, sagte er. »Ich gehe doch nicht nach Hause … mit so was!«

Miss Pewlishs linkes Augenlid zuckte unkontrolliert, wie eine Fliege im Spinnennetz.

»Pech!«, rief sie. »Du tust, was man dir sagt, Callum Brenner! Du bist lange genug mit den Cartwright-Zwillingen nach Hause gegangen – ich glaube, sie haben sich jetzt auch einmal eine Pause verdient.«

Sie deutete auf einen Jungen und ein Mädchen in der ersten Reihe, die sich Tränen der Dankbarkeit aus den Augen wischten und mit zur Decke gerichteten Köpfen das Wort »Danke« flüsterten.

Callum trat gegen seinen Tisch. »Aber, Victoria …«

»Hör auf, mich so zu nennen!«, platzte es aus Miss Pewlish heraus, sodass ihre Wangen erbebten. »Noch einen Mucks von dir, Callum Brenner, und ich lasse dich das ganze Jahr noch einmal wiederholen!«

Die Klasse kicherte. Callum warf seinen Mitschülern einen hasserfüllten Blick zu, verstummte und umklammerte einen Stift in seiner Faust. Miss Pewlish schob mich voran.

»Na, geh schon, Owen«, murmelte sie. »Geh und, ähm … setz dich neben ihn.«

Langsam bewegte ich mich an den anderen Tischen vorbei auf Callum zu. Die anderen Kinder konnten ihre Schadenfreude kaum verbergen, als wäre ich von meiner Mum dabei erwischt worden, wie ich Schimpfworte auf einen Zaun gemalt hätte oder mir gerade mein Eis ins Klo gefallen wäre. Keiner von ihnen sagte Hallo oder winkte mir zu oder versuchte auch nur, freundlich zu sein. Miss Pewlish hatte recht – Barrow war kein bisschen wie Skirting.

Ich setzte mich in die letzte Reihe und warf meinem neuen Partner einen Seitenblick zu. Callum starrte mich an, den Mund vor Ekel leicht geöffnet. Ich schluckte nervös. In Skirting hatte ich nie Probleme damit gehabt, Freunde zu finden. Ich musste nur ich selbst sein und ganz viele Fragen stellen. Ich nickte den ganzen Papierbällchen zu, die auf dem Boden lagen.

»Wow!«, sagte ich. »So viele Zettel! Du musst total gerne schreiben.«

Callum umklammerte seinen Bleistift noch fester. Ich räusperte mich.

»Tja«, sagte ich. »Ich nehme an, wir sind jetzt Partner.«

Ich streckte ihm meine Hand entgegen und schaltete auf meine beste Cowboy-Stimme um. »Schlag ein, Partner«, sagte ich.

Callum zerbrach seinen Bleistift.

3 Der härteste Junge in Barrow

Den ganzen Morgen lasen wir mit verteilten Rollen das Theaterstück. Nach dem Mittagessen begannen wir wieder von vorn. Weder Callum noch ich hatte eine Rolle, also saßen wir nur stumm da und lasen mit. Zumindest ich tat das. Callum riss eine Seite nach der anderen aus dem Textbuch, knüllte sie zusammen und warf sie anderen Kindern an den Kopf.

Endlich verkündete die Glocke das Ende des Schultags. Miss Pewlish ließ unverzüglich ihren Text fallen, stürmte zur Tür und schwang eine Rassel über dem Kopf.

»Viertel vor vier!«, schrie sie. »Ihr habt fünfzehn Minuten für den Nachhauseweg, bevor die Ausgangssperre beginnt! Los, los, los!«

Die Kinder sprangen ohne jedes weitere Wort von ihren Plätzen, schnappten sich ihren jeweiligen Partner und rasten aus dem Klassenzimmer.

»LOS! LOS! LOS!«, keifte Miss Pewlish hinter den davonstürmenden Kindern her. »Und vergesst nicht: Übermorgen ist Referatstag! Denkt daran, alle etwas mitzubringen, das ihr präsentieren könnt!«

Rasch sprang ich hoch und schaute mich nach meinem Partner um. Callum schnappte sich mehrere mit Bleistiften gefüllte Gefäße vom Fensterbrett und leerte sie in seinen Rucksack. Ich nahm seine Hand, aber sofort wirbelte er herum und stieß mich von sich.

»Was soll das denn werden?«, brüllte er.

Ich zuckte zusammen. »Ich … ich dachte, ich sollte deine Hand nehmen.«

»Nein!«, sagte Callum. »Nein, solltest du nicht!«

»Oh«, murmelte ich. »Ähm … tut mir leid.«

Callum wischte sich die Hand an seiner Hose ab und stürmte aus dem Klassenzimmer. Verzweifelt schaute ich ihm nach.

»Hey! Partner! Warte auf mich!«

»Der wartet draußen«, sagte eine Stimme hinter mir. »Das macht er immer.«

Ich drehte mich um. Das Mädchen, das mich angesprochen hatte, packte gerade seine Tasche. In meinem ganzen Leben hatte ich noch niemanden mit so vielen Haaren gesehen, und sie standen auch noch in alle Richtungen ab. Sie hatte versucht, sie mit einem Haarband im Zaum zu halten, war aber gescheitert. Neben ihr wartete ein Junge. Er war riesig – mindestens zwei Kopf größer als ich und zwei Mal so breit. Er blickte auf mich herab, ruhig und ausdruckslos – wie ein Pferd. Ich schluckte.

»Ähm … wie bitte?«

Das Mädchen schaute mich nicht an, und sie lächelte auch nicht, als sie mir antwortete.

»Er kann ohne Partner nicht nach Hause gehen. Es sei denn, er will sich Ärger einhandeln.« Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu. »Versuch einfach, ihn nicht zu reizen. Auch wenn das unmöglich sein wird.«

»Oh. Danke«, sagte ich.

Ich hielt inne. Vielleicht war das der richtige Zeitpunkt, um neue Freunde zu finden. Ich holte mir rasch meinen Rucksack, wandte mich um und streckte meine Hand aus.

»Entschuldigt, ich hab gar nicht mitbekommen, wie ihr beiden heißt …«

Aber ich war allein. Das Mädchen und der Junge hatten den Klassenraum verlassen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Der Spielplatz draußen war leer gefegt. In der Ferne konnte ich die anderen Kinder über die Dorfwiese hetzen sehen. Aber genau wie das Mädchen gesagt hatte: Am Fuß der Treppe wartete Callum auf mich. Er stierte finster zu mir herauf.

»Beeil dich mal.«

Ich wetzte hinter ihm her, während er über den Spielplatz, am Rathausturm vorbei und über die Brücke marschierte und schließlich auf den Pfad bog, der am Fluss entlangführte. Ich warf dem Turm mit seiner großen Uhr rasch noch einen Blick zu, bevor er außer Sicht war. Eine Sturmfalle ragte aus seiner Spitze heraus wie eine Verkehrsampel. Das rote Licht gab blinkend die Sekunden an, die noch verblieben, bis die Ausgangssperre begann.

Wir gingen schweigend nebeneinander her, während links und rechts von uns die Farne in der Sommerbrise raschelten. Es war schwer vorstellbar, dass unser Tal jeden Augenblick von einem Tornado heimgesucht werden sollte. Alles schien so friedlich.

»Also«, sagte ich fröhlich und versuchte, Konversation zu machen. »Freust du dich schon auf die Theateraufführung?«

»Nein«, sagte Callum. »Das ist dämlich.«

»Oh«, sagte ich.

Wir gingen weiter.

»Was ist mit … dem Referatstag?«, versuchte ich. »Ist der auch … dämlich?«

Callum nickte. »Total. Jeder muss vor der ganzen Klasse irgendwas vorführen.«

»Oh, ich verstehe«, sagte ich und nickte. »Das ist sehr interessant. Und was wirst du vorführen?«

»Gar nichts«, sagte Callum ungerührt.

»Aber ist das nicht eine Hausaufgabe?«

Er blieb stehen und funkelte mich an.

»Natürlich ist das ne Hausaufgabe«, platzte er heraus. »Deshalb mach ich’s ja auch nicht.«

Er fixierte mich. Schließlich seufzte er und verschränkte die Arme.

»Jetzt pass mal auf«, sagte er. »Wir müssen das klären. Du darfst nicht so tun, als würden wir zusammengehören. Wenn uns irgendwer entgegenkommt, versteckst du dich in den Büschen. Kapiert?«

Ich schaute mir die »Büsche« am Wegesrand an. Sie bestanden eigentlich nur aus dicht gewachsenen Brennnesseln. Callum packte mich an der Schulter und beugte sich zu mir runter.

»Ich erklär dir das«, sagte er. »Ich bin hier in der Gegend ein ziemlich großes Tier. Die Wahrheit ist: Ich bin der härteste Junge in Barrow. Und deshalb kann ich’s mir nicht erlauben, mit so nem Weichei wie dir gesehen zu werden – da würden doch alle gleich jeden Respekt vor mir verlieren, oder nicht?«

Ich runzelte die Stirn. »Weichei? Was meinst du denn mit Weich…«

»Super, dass du das verstehst«, sagte Callum und klopfte mir auf die Schulter. Dann schaute er sich nervös um. »Und jetzt wollen wir lieber mal schnell von hier verschwinden, bevor …«

»Sieh mal einer an«, sagte eine Stimme hinter uns. »Wen haben wir denn da?«

Callums Gesicht verlor jede Farbe. Ich drehte mich um. Drei Jungs standen auf dem Pfad hinter uns. Statt Schuluniformen trugen sie neongelbe Trainingsanzüge, die zusätzlich an Ellbogen und Knien mit Signalstreifen beklebt waren. Auf ihren Oberteilen stand in großen Buchstaben JUNIOR-SICHERHEITSDIENST. Einer von ihnen trat vor und spielte an einer kleinen Pfeife, die er an einer Kette um den Hals trug.

»Tja, Jungs«, sagte er und schüttelte zungenschnalzend den Kopf. »Wie’s aussieht, haben wir hier zwei Nachzügler aufgegriffen, die meinen, während einer SW