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Der Tod lauert an Deck … Eigentlich hat Ex-BND-Agent Arne Claasen seinen Job in der Hamburger Cold-Cases-Abteilung längst an den Nagel gehängt – doch nun erwartet ihn ein weiterer Auftrag: Acht Jahre zuvor geriet Kapitänin Mareike Sänger auf ihrem Schoner in Seenot – nur sie und ihr Erster Offizier überlebten das Unglück. Kurz darauf wurde sie tot auf einem Segler aufgefunden, ihr Körper zerschmettert am Fuße des Großmastes. Konnte sie mit ihrer Schuld nicht mehr leben oder stieß sie jemand in ihren Tod? Zusammen mit seinem Partner, Privatdetektiv Marten Hendriksen, beginnt Claasen zu ermitteln – und stößt schon bald auf eine Spur eines osteuropäischen Mädchenhändlerring. War die Kapitänin in deren Machenschaften verwickelt – und musste sie dafür mit ihrem Leben bezahlen? Ein neuer Mordfalls in der Hansestadt – von BESTSELLERAUTOR Ole Hansen.
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Seitenzahl: 339
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über dieses Buch:
Eigentlich hat Ex-BND-Agent Arne Claasen seinen Job in der Hamburger Cold-Cases-Abteilung längst an den Nagel gehängt – doch nun erwartet ihn ein weiterer Auftrag: Acht Jahre zuvor geriet Kapitänin Mareike Sänger auf ihrem Schoner in Seenot – nur sie und ihr Erster Offizier überlebten das Unglück. Kurz darauf wurde sie tot auf einem Segler aufgefunden, ihr Körper zerschmettert am Fuße des Großmastes. Konnte sie mit ihrer Schuld nicht mehr leben oder stieß sie jemand in ihren Tod? Zusammen mit seinem Partner, Privatdetektiv Marten Hendriksen, beginnt Claasen zu ermitteln – und stößt schon bald auf eine Spur eines osteuropäischen Mädchenhändlerring. War die Kapitänin in deren Machenschaften verwickelt – und musste sie dafür mit ihrem Leben bezahlen?
Über den Autor:
Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. (COU) Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben, sowie Umweltwissenschaften und Geschichte, wobei er seine beiden Doktortitel erlangte. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde. Heute wohnt der Autor an der Ostsee.
Von Ole Hansen sind bei dotbooks bereits die folgenden Serien und Einzelromane erschienen:
Seine Reihe um den Privatdetektiv JEREMIAS VOSS umfasst aktuell 11 Bände, beginnend mit »Jeremias Voss und die Tote vom Fischmarkt«.
In seiner zweiten Serie um MARTEN HENDRIKSEN, Privatdetektiv und Rechtsmediziner mit Leichenallergie, sind bisher sechs Romane erschienen, beginnend mit dem ersten Fall »Hendriksen und der mörderische Zufall«.
Ex-BND-Agent ARNE CLAASEN ermittelt bisher in drei Fällen in der Hamburger Abteilung für Cold Cases, beginnend mit »Arne Claasen und die vergessenen Toten«.
CLAASEN & HENDRIKSEN klären gemeinsam die brisantesten Verbrechen Hamburgs, beginnend mit ihrem ersten gemeinsamen Fall »Die Tote von Pier 17«. Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Einige seiner Kriminalromane sind auch in Sammelbänden erschienen.
In seiner vierbändige Thriller-Serie »Der Journalist« deckt Investigativjournalist Tom Porter auf der ganzen Welt Intrigen in den höchsten Rängen der Politik auf.
Außerdem erschienen seine Thriller »Die Libyen-Verschwörung« und »Die Akte Panama«.
Unter seinem Klarnamen Herbert Rhein veröffentlichte der Autor bei dotbooks auch die folgenden eBooks:
»Todesart: Nicht natürlich. Gerichtsmediziner im Kampf gegen das Verbrechen.«
»Todesart: Nicht natürlich. Mit Mikroskop und Skalpell auf Verbrecherjagd.«
Als Hörbuch bei AUDIOBUCH und Thalia sind außerdem verfügbar:
»Jeremias Voss« Band 1 & 2
»Marten Hendriksen« Band 1 – 5
»Claasen & Hendrksen« Band 1 & 2
Folgende Bücher von Ole Hansen sind auch als Printausgabe erhältlich:
»Jeremias Voss und die Tote vom Fischmarkt. Der erste Fall«
»Jeremias Voss und der tote Hengst. Der zweite Fall«
»Hendriksen und der mörderische Zufall. Der erste Fall«
»Hendriksen und der Tote aus der Elbe. Der zweite Fall«
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Originalausgabe Juli 2025
Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Janson.art, Igor Tichonow
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98952-465-1
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Ole Hansen
Die tote Kapitänin
Der dritte Fall für Claasen & Hendriksen
dotbooks.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Lesetipps
Arne Claasen stieg die Treppen zum Büro des Senators für Inneres und Sport nicht mit dem üblichen Elan hoch. Er war nachdenklich, denn er konnte sich absolut keinen Grund vorstellen denken, warum ihn der Senator sprechen wollte und warum er darum gebeten hatte, er möge so schnell wie möglich herkommen. Seit seiner Pensionierung als Leiter der Sonderkommission Cold Cases waren einige Monate vergangen, bis dahin hatte er dem Senator für Inneres und Sport unterstanden, obwohl er seinen Dienst im LKA tat. Jetzt war er Teilhaber der Hamburger Agentur für vertrauliche Ermittlungen, und es bestanden keine Verbindungen mehr zum Senator. Also, was wollte der von ihm?
Claasen hatte das Vorzimmer erreicht, gab sich einen Ruck und drückte das Kreuz durch. Alles Zögerliche fiel von ihm ab. Energisch klopfte er an die Tür, wartete ein paar Sekunden, und als er keine Antwort hörte, öffnete er die Tür und trat ein.
»Guten Tag, die Damen«, grüßte er höflich, »ich bin Arne Claasen, Kriminaldirektor a. D. Mir wurde ausgerichtet, dass der Senator mich sprechen wollte.«
Die ältere der beiden Frauen wandte sich ihm zu. »Guten Tag, Herr Claasen, einen Augenblick müssen Sie noch warten. Die Chefsekretärin ist gerade bei ihm. Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Die Sekretärin zeigte auf eine Sitzgruppe, die nach neuestem Design aussah – und genauso unbequem.
»Frau von Hatten wird gleich bei Ihnen sein. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?«
»Nein, vielen Dank.«
Claasen ging zu der Sitzgruppe aus Metall und Kunststoff, ließ sich vorsichtig nieder und war erstaunt, dass sie wider Erwarten bequem war.
Er hatte sich allerdings kaum gesetzt, als die Chefsekretärin mit einer Unterschriftsmappe in der Hand erschien. Sie trug ein perfekt sitzendes graues Kostüm mit weißer Bluse und einer farblich auf das Kostüm abgestimmten Fliege. Sie legte die Unterschriftsmappe auf ihren Schreibtisch und kam zu Claasen. Der erhob sich höflich.
»Herr Claasen?«
»Ja, das bin ich.«
»Bitte kommen Sie mit. Der Herr Senator hat schon nach Ihnen gefragt.«
Die Chefsekretärin ging zur Tür, aus der sie gerade gekommen war, kündigte Claasen an und hielt ihm die Tür auf, damit er eintreten konnte.
Der Senator kam hinter seinem Schreibtisch hervor und ging auf Claasen zu.
»Herr Kriminaldirektor Claasen, ich freue mich, Sie wiederzusehen. Sicher fragen Sie sich, was Sie hier sollen.«
Claasen kannte den Senator gut. Er war sein Gönner gewesen, als er noch beim LKA Dienst tat – aus Dankbarkeit. Denn Claasen hatte als Führer einer Antiterroreinheit den Anschlag einer islamischen Terrorgruppe vereitelt. Die Extremisten hatten einen Selbstmordanschlag auf eine Innenministerkonferenz in Hamburg geplant, und bei dem Einsatz wurde Claasen so schwer verletzt, dass er aus dem Außendienst des BND ausscheiden musste. Die einzigen Möglichkeiten für ihn waren ein Bürojob oder Pension. Beides war für ihn inakzeptabel. Der Hamburger Innensenator hielt die bürokratische Behandlung von Claasens Fall für unwürdig, schließlich hatte er unter Einsatz seines Lebens ein Blutbad in Hamburg verhindert und war für seine Tapferkeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Er bot Claasen eine Stelle als Kriminaldirektor beim LKA an und ernannte ihn gleichzeitig zum Leiter der neu gegründeten Sonderkommission Cold Cases.
»Herr Senator, Sie haben wie immer den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich habe mich den ganzen Weg hierher gefragt, was ich verbrochen habe, um von Ihnen vorgeladen zu werden.«
Der Senator lachte. »Lieber Herr Claasen, ich habe Sie nicht vorgeladen, sondern hergebeten. Doch setzen wir uns.«
Er führte Claasen zu einer Sitzgruppe, die deutlich bequemer aussah als die im Vorzimmer. Während sie Platz nahmen, kam eine der Sekretärinnen mit einem Tablett mit Kaffee und Keksen herein. Der Senator wartete, bis sie den Kaffee eingeschenkt und das Büro wieder verlassen hatte.
»Ich benötige Ihre Hilfe. Ich habe einen anonymen Hinweis bekommen. Angeblich sollen in einen Jahre zurückliegenden Fall hochgestellte Persönlichkeiten der Stadt verwickelt sein. Ich möchte, dass Sie Nachforschungen anstellen, und damit die absolut objektiv durchgeführt werden, will ich, dass das ein Außenseiter macht, und wer wäre dazu besser geeignet als Sie?«
»Aber ich bin pensioniert und habe keinerlei polizeiliche Befugnisse mehr. Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«
»Ihnen unterläuft da einen kleinen Denkfehler. Sie sind nicht pensioniert, sondern wurden auf eigenen Wunsch in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Das, mein lieber Claasen, ermöglicht es mir, Sie wieder in den aktiven Dienst zurückzuholen. Seit heute sind Sie wieder bis auf Weiteres Kriminaldirektor beim LKA und übernehmen kommissarisch Ihre alte Sonderkommission Cold Cases.«
»Ich höre schon die Freudenschreie des Polizeipräsidenten und des Leiters des LKA.«
»Lassen Sie sie schreien. Sie unterstehen mir und sind nur mir meldepflichtig. Das werde ich den Herren erklären.«
»Soweit habe ich verstanden. Bleibt die Frage, um welchen Fall es sich handelt.«
»Darauf komme ich gleich. Noch eins vorweg: Die Untersuchung muss streng geheim bleiben. Nur Ihr Team dürfen Sie, soweit erforderlich, einweihen.«
Die Einweisung dauerte nur fünfzehn Minuten. Danach verließ Claasen den Innensenator, um sich beim Leiter des LKA zum Dienst zu melden. Auf dieses Wiedersehen freute er sich schon.
***
Der Topsegelschoner Poseidon warf am 29. Mai um ein Uhr dreißig in Travemünde die Leinen los. Sein Ziel war die Oldtimer-Parade vor der Landeshauptstadt Kiel. Das Ablegen hatte sich um fast zwei Stunden verzögert. Grund war das späte Eintreffen der Landwirtschaftsministerin des Landes Schleswig-Holstein, die begleitet wurde von zwei Beamten, einem Reporter und einem weiblichen Bodyguard. Vom Oberbootsmann wurden ihnen Rettungswesten ausgehändigt, mit der Weisung, sie während des gesamten Törns zu tragen. Nur einer der Beamten folgte der Aufforderung.
Es herrschte optimales Segelwetter: Konstanter Wind mit Stärke fünf bis sechs versprach eine schnelle Reise. Die letzte Wettermeldung kündigte eine Schlechtwetterfront mit vereinzelten Gewitterzellen aus Südwest an, die gegen siebzehn Uhr mit Windstärke acht die Lübecker Bucht erreichen sollte. Die Kapitänin, Mareike Sänger, eine erfahrene Frau auf Großseglern, hielt das nicht für eine Gefahr. Ihr Schiff konnte Windstärken bis neun problemlos meistern. Sie und ihr Erster Offizier, ebenfalls ein erfahrener Segler, kamen zu dem Schluss, dass diese Wetterfront keine Bedrohung war. Wenn sich die Zugrichtung nicht wesentlich änderte, würde die Front hinter ihnen vorbeiziehen.
Um die Verspätung wieder aufzuholen, hatte sie nach Absprache mit dem Ersten Offizier alle Segel setzen lassen. Wie erwartet rauschte die Poseidon in Sichtnähe des Landes in Richtung Kiel.
Die Kapitänin stand am Achterdeck und beobachtete die Wetterfront, die sich nach ihren Beobachtungen schneller näherte als angekündigt. Mit einem starken Fernglas suchte sie die Bäume und Büsche an Land auf Anzeichen von ungewöhnlich starken Bewegungen ab, was ein Zeichen für Böen wäre. Sie konnte keine Veränderungen erkennen, wie sie später der Untersuchungskommission mitteilte. Es herrschte weiter schönes Wetter: wolkenloser Himmel, blaues Meer mit der Windstärke entsprechendem Seegang. Der Schoner lief mit maximaler Rumpfgeschwindigkeit. Wenn es so weiterging, würden sie es noch zur Schiffsparade in der Kieler Bucht schaffen.
Eine Wolke näherte sich von Westen her, ein paar Blitze waren über Land zu sehen. Von dort schob sich eine schwarze Wolkenwand in Richtung Ostsee. Für die Poseidon stellte sie jedoch keine Gefahr dar, denn bis die Wetterfront die Ostsee erreichte, waren sie längst aus der Zone heraus.
Plötzlich sah die Kapitänin, wie sich die Bäume an Land bis auf den Boden neigten. Sofort erkannte sie die Gefahr, die da auf sie zuraste. Ohne zu zögern, befahl sie: »Ruder hart Steuerbord, Schiff in Wind, alle Mann an Deck. Segel reffen!«
Der Erste Offizier führte ihre Anweisung sofort aus.
Mit zweihundertfünfzig Stundenkilometern raste die wie aus dem Nichts kommende Bö auf den Schoner zu und packte ihn, noch bevor die befohlenen Segelmanöver ausgeführt werden konnten. Der Großmast brach als Erstes. Die beiden anderen Masten mit den noch stehenden Segeln wurden unter Wasser gedrückt. Der Schoner neigte sich zur Seite, Wasser schlug über Deck und strömte den Niedergang ins Boot hinunter. Minuten später kenterte der Schoner und sank. Kurz darauf war nur noch eine brodelnde See zu erkennen, die Wrackteile vor sich hertrieb.
Die Personen, die sich an Bord aufhielten, wurden ins Wasser katapultiert. Diejenigen, die dem Befehl »Alle Mann an Deck« gefolgt waren, schafften es nur bis zum Ende des Niedergangs, wo sie von der einbrechenden See in den Bauch des Schoners zurückgeschleudert wurden. Bevor sie registrierten, was geschehen war, waren sie ertrunken. Darunter die Landwirtschaftsministerin des Landes Schleswig-Holstein.
Das Unglück wurde von Land aus beobachtet, aber Hilfe war nicht möglich. Der Sturm und die aufgewühlte See hätten jedes Sportboot zerschlagen. Der nächste Seenotrettungskreuzer lag im Hafen auf Fehmarn und lief, sobald die Meldung vom Untergang der Poseidon bei ihm eintraf, sofort aus. Als er die Unglücksstelle erreichte, konnte er nur noch wenige Überlebende und die im Wasser treibenden Leichen an Bord nehmen.
Überlebt hatten nur die, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks an Deck befanden und die eine Schwimmweste trugen. Dazu gehörten die Kapitänin, der Erste Offizier und einer der Beamten aus dem Gefolge der Ministerin. Der Rudergänger, der ebenfalls eine Schwimmweste getragen hatte, war von der Bö gegen die Reling geschleudert worden und wurde vom Seenotrettungskreuzer mit gebrochenem Genick aus dem Wasser geborgen.
Nach ihrer Rettung wurden die Kapitänin und der Erste Offizier angeklagt, die Tragödie aufgrund unseemännischen Verhaltens verschuldet zu haben. Die Verhandlung vor dem zuständigen Gericht, bei der Kapitäne von großen Segelschiffen als Sachverständige gehört wurden, ergab jedoch, dass die Beschuldigten keine seemännischen Fehlentscheidungen getroffen hatten. Sie wurden in allen Anklagepunkten freigesprochen.
Zwei Wochen später wurde die Leiche der Kapitänin an Deck eines Schoners, der im Altonaer Museumshafen vertäut lag, gefunden. Mareike Sänger lag zerschmettert am Fuß des Großmastes. In der Jackentasche wurde ein Abschiedsbrief gefunden, aus dem hervorging, dass sie mit dem Gedanken, so viele Menschen getötet zu haben, nicht weiterleben konnte, und deshalb aus dem Leben geschieden war.
Die nachfolgende polizeiliche Untersuchung, unter Leitung von Kriminalrat Dr. Schreiner, deklarierte den Fall offiziell als Selbstmord, und er wurde zu den Akten gelegt. Der Rechtsmediziner, ein junger Pathologe, kam zu dem gleichen Ergebnis.
***
Margarete saß in ihrem Rollstuhl im Vorzimmer von Kriminaloberinspektorin Merle Johannson, der Nachfolgerin von Kriminaldirektor Arne Claasen, und blätterte durch die Tageszeitung, wie sie es jeden Morgen tat, bevor sie sie auf dem Schreibtisch ihrer Chefin ablegte. Normalerweise las sie nur Überschriften und markierte mit einem roten Stift die Artikel, die für sie interessant sein könnten. Heute blieb ihre Aufmerksamkeit jedoch an einem Artikel hängen:
Gedenkgottesdienst für die Opfer der Seekatastrophe am 29. Mai vor acht Jahren vor der Neustädter Bucht.
Im Beisein des Ministerpräsidenten Ulf Mattes und des Neustädter Bürgermeisters hielt Probst Jens Droden den Gedenkgottesdienst. Im Anschluss gedachte der Ministerpräsident der Toten und sprach den Angehörigen seine Anteilnahme aus.
Um elf Uhr betrat Kriminaldirektor Arne Claasen den Arbeitsbereich der Sonderkommission Cold Cases, und sein Blick fiel auf das Pappschild, das am Eingang an einer Trennwand angeheftet war und darauf hinwies, dass sich hier die »berüchtigte Sonderkommission« befand, die längst vergessene Kriminalfälle aufarbeitete. Der Witzbold, der das Schild angebracht hatte, war zweifellos Kasper Millbrandt, der kurz vor der Pension stehende Hauptwachtmeister. Claasen nahm es mit einem Kopfschütteln ab, ging um die Trennwand herum und betrat Margaretes Reich.
Verblüfft sah sie ihn an, um dann begeistert zu rufen: »Moin, Chef!«
Sie hatte zwar erfahren, dass Claasen wieder im Dienst war und die Sonderkommission vorübergehend leiten sollte, doch so schnell hatte sie ihn nicht erwartet.
»Willkommen daheim, Herr Claasen. Wir freuen uns alle riesig. Welchem Umstand haben wir es zu verdanken, dass Sie wieder bei uns Dienst machen dürfen?«
»Der Anlass ist so geheim, dass ich ihn selber nicht genau kenne. Sollte jemand fragen, sag ihm, ich habe einen Spezialauftrag, der mit meiner Zeit beim BND zusammenhängt. Dass ich bei Cold Case arbeite, sei nur Tarnung.«
»Das glaubt mir doch niemand, Chef.«
»Dann sag ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit, es hat etwas mit der Bekämpfung von islamistischen Terrorgruppen zu tun. Damit hat man dann genügend Stoff zum Tratschen.«
»Chef, Sie waren beim Big Boss, wie mir seine Sekretärin sagte. Hat sich dabei etwas Interessantes ergeben?«
»Nichts Wesentliches, er hat nur seine Freude darüber ausgedrückt, dass ich wieder beim LKA bin. Und dann hat er mich darauf hingewiesen, dass ich mich bei allen Ermittlungen an die Gesetze, Verordnungen, Dienstanweisungen und so weiter halten soll. Davon unabhängig habe ich jetzt meine erste Dienstanweisung an dich.« Claasen legte ihr das Pappschild vom Eingang auf den Tisch. »Das ist mir, wenn auch lustig, zu abwertend. Wirf es weg und sag Kasper, er soll ein Schild aus Bronze mit einer seriösen Gravur beschaffen, und wenn das nicht geht, dann eins aus Messing.«
»Okay, wird sofort erledigt.«
»Liegt ansonsten etwas Wichtiges an?«
»Nichts, Chef. Ruhe auf der ganzen Linie. Wir haben nur ein Schreiben von der Verwaltung bekommen. Zukünftig sollen wir für Schreiben innerhalb des LKA die Rückseite von schon benutztem Papier verwenden.«
Claasen verdrehte die Augen. »Und dann sagst du, es gebe nichts Wichtiges?«
Claasen verließ Margarete, ging um eine zweite Stellwand herum und stand nun in einem großen Raum, in dem sich sein Arbeitsplatz und der seines Teams befand. Die Wände waren mit einem billigen, scheußlich aussehenden Grauton gestrichen. Im Gegensatz dazu war die Einrichtung geradezu luxuriös. Das war das Verdienst von Hauptwachtmeister Millbrandt. Er war über vierzig Jahre beim LKA und kannte sprichwörtlich jeden im Amt. Und wie es bei altgedienten Beamten üblich war, hatten sie ein Netzwerk gebildet, in dem einer den anderen unterstützte. Und so hatte er für Claasen einen Schreibtisch organisiert, der dem eines LKA-Leiters entsprach. Auch er selbst sowie Kriminaloberinspektorin Merle Johannson und Kriminalinspektor Oliver Förster hatten eine Ausstattung, die nicht unbedingt ihren Amtsbezeichnungen entsprach. Ein Teppich bedeckte den Zementboden und ließ den Raum wohnlicher erscheinen.
Claasen stand vor seinem alten Schreibtisch, der jetzt Merle als offizieller Leiterin der Sonderkommission gehörte, und überlegte, ob er ihn wieder in Besitz nehmen sollte.
Margarete störte ihn bei seinen Überlegungen, fuhr mit ihrem Rollstuhl an den Schreibtisch heran und reichte ihm ein Glas. Um die Mitte hatte sie eine Serviette gewickelt, damit er sich nicht die Finger verbrannte.
Magarete wusste, dass Claasen noch immer seiner Zeit als BND-Agent im Nahen Osten nachhing, und hatte ihm zur Begrüßung einen Tee aufgebrüht.
»Der ist heiß und süß, ich habe einen Löffel Zucker mehr hineingetan. Das gibt extra Power.«
»Margarete, du bist ein Engel. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.«
»Das freut mich, Chef. Ich habe es aber auch zu meinem eigenen Wohl getan, denn ich arbeite lieber für einen lachenden Chef als für einen grimmigen. Und das mit dem Engel klingt zwar gut, aber ich habe noch nie von flugunfähigen Engeln gehört. Übrigens, Ihr alter Schreibtisch steht Ihnen zur Verfügung. Als wir hörten, dass Sie wieder zu uns kommen, haben Kasper und ich die Schreibtische umgeräumt. Jetzt ist alles wieder so wie vor Ihrer Pensionierung.«
»Also doch Engel.« Claasens Stimme wurde sachlich. »Jetzt genug der Schmeicheleinheiten. Sind die Papiere in deiner Hand für mich bestimmt?«
»Eigentlich für Merle, aber da Sie nun wieder der Chef sind, gehören sie natürlich Ihnen. Es handelt sich um ausgefallene Fälle, die als Cold Cases gelten. Ich dachte, ich stöbere mal in den Akten und suche nach Selbstmordfällen, die Merles, Verzeihung, Ihren Jagdinstinkt anregen dürften.«
»Selbstmordfälle? Das erstaunt mich jetzt schon. Es gibt doch einen Haufen ungelöster Mordfälle in den Akten. Was hat dich denn auf die Idee gebracht?«
»Genau weiß ich das selbst nicht. War so eine Idee, wie sie einem plötzlich in den Kopf schießt, ohne dass man weiß, warum.«
»Das kenne ich. Geht mir oft so, und es hat meistens etwas zu bedeuten. Nicht umsonst tauchen diese Gedanken aus dem Unterbewusstsein auf. Lass mal hören, auf was du gestoßen bist.«
Margarete gab Claasen einen dünnen Ordner und einen zusammengefalteten Zeitungsartikel. Claasen legte beides beiseite. »Ich habe auch die Akte von den damaligen Ermittlungen besorgt.«
»Sehr gut, doch bevor ich sie lese, gib mir einen kurzen Überblick. Wie bist du darauf aufmerksam geworden? Glaubst du, dass es sich um Mord handelt?«
»Ich habe die lästige Angewohnheit, Artikel, die mich interessieren, aus Zeitungen oder Zeitschriften auszuschneiden und zu sammeln. Warum ich das tue, weiß ich selbst nicht, meistens liegen sie nur auf der Sitzbank in der Küche herum und stapeln sich dort immer höher. Am letzten Wochenende bekam ich einen Aufräumfimmel und wollte alles wegwerfen. Da fiel mir der Artikel in die Hand, den ich Ihnen gerade gegeben habe.«
»Und warum könnte es ein Fall für uns sein? Bitte keine Lyrik, sondern nur in Stichworten.«
Es dauerte trotzdem eine Viertelstunde, ehe Margarete die Fakten und ihre Schlussfolgerungen vorgetragen hatte. Zum Schluss sah sie Claasen gespannt an. Der schwieg nachdenklich. Nach einer ganzen Weile sagte er: »Gratuliere, das scheint wirklich ein Fall für uns zu sein. Ich bin gespannt, was die restlichen Mitglieder des Teams dazu sagen werden. Wir verlegen unsere morgendliche Besprechung auf zehn Uhr. Sorg dafür, dass alle eine Kopie der Unterlagen bekommen. Um zehn Uhr will ich wissen, wie sie den Fall bewerten.«
»Okay, Chef, wird sofort erledigt.«
Claasen gab ihr die Mappe und den Zeitungsartikel zurück.
»Wollen Sie auch eine Kopie?«
»Selbstverständlich.«
Claasen las zuerst das amtliche Protokoll durch. Es bestand nur aus zwei Seiten, die eine detaillierte Beschreibung enthielten, was die Ermittler am Unfallort vorgefunden hatten, sowie eine Reihe von Fotografien vom Unfallort und von der Toten. Die weibliche Leiche lag zerschmettert an Deck eines Schoners. Um den Hals hatte sie eine Plastiktüte an einer Schnur hängen, in der sich ein Abschiedsbrief befand.
Das Protokoll des Rechtsmediziners gab nicht viel her. Es bestätigte nur den Tod der Frau. Als Todesursache war Sturz aus großer Höhe angegeben.
Der Zeitungsartikel war ausführlicher, enthielt jedoch so viele Vermutungen, dass es schwierig war, die Spreu vom Weizen zu trennen. Trotzdem waren sie für Claasen wichtig, da die Spekulationen Ansatzpunkte für Nachforschungen ergaben. Obwohl der Rechtsmediziner Selbstmord angegeben hatte, handelte es sich bei der Tat trotzdem um ein Tötungsdelikt und musste, wie auch bei einem Gewaltverbrechen oder Unfall, obduziert werden. Claasen entnahm den Unterlagen, dass der Leichnam in das Institut für Rechtsmedizin und Forensik von Professor Silke Moorbach, gebracht worden war.
Er griff zum Telefon und rief Professor Moorbach an. Ihre Sekretärin meldete sich.
»Moin, ich bin Kriminaldirektor Claasen vom LKA und hätte gerne Frau Professor Moorbach gesprochen.«
»Das ist im Moment sehr schlecht. Frau Professor obduziert gerade und möchte dabei nicht gestört werden.«
»Okay, sagen Sie ihr bitte, dass ich angerufen habe und um Rückruf bitte. Es ist nicht brandeilig.«
»Werde ich Frau Professor ausrichten. Es wird aber noch gut eine Stunde dauern.«
»Das macht nichts. Ich bin in meinem Büro. Frau Moorbach hat meine Telefonnummer.«
Claasen beendete das Gespräch, räumte seinen Schreibtisch auf und ging ins Vorzimmer.
»Margarete, ich bin beim Arzt.«
»Sind Sie krank, Chef?«, fragte sie voller Sorge.
»Nein, es ist alles okay, nur meine halbjährliche Routineuntersuchung. Völlig unnötig, aber die muss ich machen, um die Bestätigung zu bekommen, dass ich dienstfähig bin. Lästig, aber lässt sich nicht umgehen.«
»Lassen Sie sich ja dienstfähig schreiben. Ihre ganze Truppe ist froh, dass sie zurück sind, Chef.«
»Danke für das Kompliment. Ich kann es nur zurückgeben, denn auch ich will kein anderes Team. Sollte Professor Moorbach zurückrufen, sag ihr, wo ich bin und dass ich sie, sobald ich mit der Untersuchung durch bin, anrufen werde. Vom Arzt aus fahre ich nach Hause.«
»Alles klar, Chef. Ist Ihr Handy aufgeladen, damit ich Sie im Notfall erreichen kann?«
»Selbstverständlich.«
»So selbstverständlich ist das nicht. Ihnen gehen so viele Gedanken durch den Kopf, dass Sie das Handy häufig vergessen.«
Claasen erwiderte darauf nichts, sondern verließ lächelnd das Büro.
Die ärztliche Untersuchung endete wie immer. Seine Vitalwerte und Körperfunktionen entsprachen denen eines Zwanzigjährigen und sein Aussehen dem eines Fünfzigjährigen. Aufgrund der vielen Verletzungen empfahl ihm der Arzt, sich pensionieren zu lassen und sich beim Angeln zu erholen. Claasen quittierte den Vorschlag mit einem Lachen. Er lehnte ab, und dem Arzt blieb nichts anderes übrig, als ihn dienstfähig zu schreiben.
Claasen hatte zu Hause gerade einen Topf auf den Gasherd gesetzt, um Spaghetti alla Carbonara zuzubereiten, als sein Handy klingelte. Er sah auf dem Display, dass es Silke Moorbach war, und drückte auf Empfang.
»Guten Abend, Silke, hättest du noch eine halbe Stunde gewartet, dann hätte ich dich angerufen.«
»Dann hättest du mich nicht mehr erreicht. Ich bin kurzfristig eingeladen worden. Um was geht es, Arne?«
»Augenblick, ich muss den Gashahn abschalten.«
»Kochst du etwa selbst?«
»Natürlich, was ist daran so ungewöhnlich?«
»Gerüchte sagen, dass man bei einer Einladung von dir zum Dinner einen guten Grund für eine Absage bereithalten sollte.«
»Böse Gerüchte von bösen Menschen. Ich werde dich einmal für ein Dinner for two auf meiner schwimmenden Oase einladen. Doch zurück zu meinem Anliegen. Denke acht Jahre zurück. Kannst du dich an einen Fall erinnern, bei dem eine Kapitänin Selbstmord begangen haben soll, indem sie sich vom Großmast eines Schoners in den Tod gestürzt hat?«
»Kaum zu glauben, aber ich erinnere mich noch an diesen Fall. Weil er so ungewöhnlich war.«
»Inwiefern ungewöhnlich?«
»Die Kapitänin war erst kurz zuvor von der Schuld, den Untergang ihres Schoners verschuldet zu haben, freigesprochen worden. Ich frage dich, wer begeht Selbstmord nach einem Freispruch, der ausdrücklich bestätigt, dass ihr seemännisches Verhalten vorbildlich war?«
»Das ist in der Tat eigenartig.«
»Es gab aber noch etwas, was mir seltsam erschien. Bei der Obduktion stellten wir fest, dass sie einen Tumor im Kopf hatte. So wie er lag, konnte er nicht operiert werden. Ich habe mit dem behandelnden Arzt gesprochen. Der bestätigte meine Diagnose, schätzte ihre Lebenserwartung jedoch noch kürzer ein als ich. Er sprach von zwei bis vier Monaten. Ich frage dich, welcher Mensch begeht auf so schreckliche Weise Selbstmord, wenn er weiß, dass sein Leben in kurzer Zeit zu Ende ist? Trotzdem hat sie es getan, darüber gab es keine Meinungsverschiedenheiten.«
»Schon gediegen. Hast du weiter nachforschen lassen?«
»Nur insoweit, dass ich den Unfallort nach Spuren untersuchte, ob Fremdverschulden vorliegen könnte. Ich habe nichts Derartiges gefunden. Ich habe meine Bedenken in meinem Abschlussbericht erwähnt und es der Polizei überlassen, ob sie weitere Nachforschungen für notwendig erachtet. Hat sie natürlich nicht. Sie war froh, den Fall zu den Akten legen zu können und in der Ablage verstauben zu lassen. Das wäre er auch, wenn nun nicht ein gewisser wenig beliebter Kriminaldirektor ihn wieder in die Hand genommen hätte. Allein diese Tatsache wird dir drei Minuspunkte bei deinem Boss einbringen.«
Am nächsten Morgen ging Claasen nicht direkt ins Büro, sondern suchte die Cafeteria auf, um zu frühstücken. Obwohl die Dienstzeit schon begonnen hatte, war die noch zu einem Drittel besetzt. Aus dem hinteren Teil winkte ein Mann, und Claasen musste grinsen. Es war sein Freund Hans Friedel, ebenfalls Kriminaldirektor und Leiter der Abteilung Tötungsdelikte und Schwerkriminalität.
Claasen nahm vier halbe Brötchen, dazu Butter, Käse, Marmelade und einen großen Pott Kaffee und jonglierte sein Tablett durch die Tischreihen.
»Moin, Hans, hat dein Eheweib dich ohne Frühstück aus dem Haus gejagt? Was hast du angestellt?«
»Wie immer liegst du bei der Beurteilung meiner Lage meilenweit daneben. Erstens würde sie so etwas nie tun, und zweitens ist sie zu ihrer kranken Mutter gefahren. Und nun steh nicht wie eine Salzsäule herum, sondern setz dich.«
Claasen stellte sein Tablett auf den Tisch, zog einen Stuhl heraus und nahm Platz. Er nahm einen Schluck Kaffee und machte ein genießerisches Gesicht.
»Nichts geht über eine Tasse heißen Kaffee am Morgen. Das hier ist übrigens ein vom Schicksal eingefädeltes Treffen.«
Friedel sah ihn erstaunt an. »Hast du Alkohol im Kaffee, oder was bringt dich zu dieser abwegigen Feststellung?«
»Ganz einfach. Ich war bereits auf dem Weg zu deinem Büro, als mich der Wunsch nach einem Frühstück umdrehen ließ und in die Cafeteria führte. Du wirst zugeben müssen, dass hier eine höhere Macht dahinterstehen muss.«
»Arne, du spinnst. Im Ernst, was wolltest du von mir? Übrigens, es war gut, dass dich niemand in der Nähe meines Zimmers gesehen hat, denn es ist im Moment nicht förderlich, in deiner Nähe gesehen zu werden.«
Claasen grinste. »Hat mein Disput mit unserem Chef schon die Runde gemacht?«
»Natürlich, ist doch schon über eine Stunde her.«
»Soweit zur Verschwiegenheit. Das ist ja hier schlimmer als in einem Mädchenpensionat.«
»Ein Rat, den du natürlich nicht beherzigen wirst. Trotzdem, Arne, du solltest vorsichtig sein mit dem, was du sagst. Du hast im Amt mehr Feinde, als du denkst.«
»Ich weiß, danke für den Rat. Sie können sich über mich ärgern, aber antun können sie mir nichts. Ich stehe unter dem Schutz des Innensenators, dem ich persönlich meldepflichtig bin, und dem Ersten Bürgermeister und dem Innenminister des …«
»Hör auf. Gib nicht so an. Ich weiß, dass du mächtige Gönner hast, sonst wärst du längst weg vom Fenster.«
»Ich weiß, dass sie sich darüber ärgern, und dass sie nichts dagegen tun können, macht ja den ganzen Spaß aus. Doch lassen wir die Herren mal zu Seite. Ich wollte dich sprechen, und zwar wegen eines Falls von vor acht Jahren.«
»Nun bin ich aber gespannt.«
»Kannst du dich an die Schiffskatastrophe vor der Neustädter Bucht erinnern?«
Friedel dachte einige Augenblicke nach. »War das nicht die Poseidon, ein Schoner, der von einer Bö getroffen wurde und innerhalb von Minuten sank? Mit der Landwirtschaftsministerin an Bord?«
»Richtig. Was weißt du noch darüber?«
»Eigentlich nicht viel, nur dass der Kapitän eine Frau war, der man mangelnde seemännische Kenntnis vorgeworfen und für den Tod ihrer Besatzung verantwortlich gemacht hat.«
»Auch richtig. Sie wurde jedoch in allen Anklagepunkten freigesprochen.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder«, sagte Friedel. »Beging Sie nicht Selbstmord, indem sie sich vom Großmast eines Schoners im Hamburger Hafen aufs Deck stürzte?«
»Was mich wundert, Hans, ist die Frage, warum niemand auf den Gedanken gekommen ist, den Tod zu untersuchen. Es muss doch jemandem aufgefallen sein, dass ein Selbstmord nur zwei Wochen nach dem Freispruch ungewöhnlich ist.«
»Ich glaube, darüber hat niemand nachgedacht, nachdem sie den Abschiedsbrief gelesen hatten. Er hat schlüssig erklärt, warum sie es getan hat.«
»Dieser Abschiedsbrief wird immer wieder erwähnt. Ich muss ihn mir besorgen. Wer könnte ihn haben?«
»Er liegt mit Sicherheit bei dir nebenan in der Asservatenkammer. Ich habe aber noch ein Goodie für dich. Dein geliebter Feind, unser verehrter Chef Dr. Schreiner, war damals Kriminalrat und der Leiter der Ermittlung, und soweit ich weiß, war es maßgeblich sein Urteil, dass der Fall als Selbstmord eingestuft und zu den Akten gelegt wurde. Willst du den Fall als Cold Case betrachten, was er genau genommen nicht ist, und ermitteln?«
»Ich war mir unsicher, ob ich ihn anpacken soll oder nicht, deshalb wollte ich dich ja sprechen. Jetzt, nachdem du mir den Namen des Leiters der Ermittlungen genannt hast, drängt er sich mir förmlich auf.«
»Das dachte ich mir, deshalb habe ich aus der Schule geplaudert. Aber offiziell weiß ich von nichts.«
»Schon klar, Hans, von mir erfährt niemand etwas, aber das weißt du ja.« Claasen sah auf die Uhr. »Verdammt, jetzt muss ich eilen, denn ich habe für zehn Uhr eine Besprechung angesetzt. Kannst du mein Geschirr mit abgeben?«
»Mach ich, nun lauf.«
Claasen erreichte seinen Arbeitsplatz eine Minute vor zehn. Das Team wartete bereits auf ihn. Auf seinem Schreibtisch stand ein dampfender Becher Kaffee. Auch seine Mitarbeiter hatten sich mit Kaffee versorgt.
Kriminaloberkommissarin Merle Johannson, Kriminalkommissar Oliver Förster und Hauptwachtmeister Millbrandt begrüßten ihn, wie sie es vor seiner Pensionierung getan hatten: mit einem »Moin, Chef«.
Claasen erwiderte den Gruß und kam sofort zur Sache.
»Margarete hat euch eine Kopie von einem Selbstmordfall gegeben, der möglicherweise unser nächster Cold Case werden könnte. Ich nehme an, ihr habt ihn euch durchgelesen. Ich möchte jetzt eure Meinung dazu hören. Fangen wir mit Merle an. Was denkst du darüber?«
Merle blickte auf einen Zettel, den sie vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte.
»Chef, basierend auf den Informationen sehe ich keine Möglichkeit, aus dem Selbstmord einen Mordfall zu machen. Und das müssten wir, um im Rahmen der Cold Cases zu ermitteln. Um zu einer anderen Aussage zu kommen, brauchen wir mehr Fakten. Insbesondere müssten wir Einsicht in den Abschiedsbrief bekommen, denn soweit ich den Unterlagen entnehmen kann, war es hauptsächlich dieser Brief, der die Untersuchungskommission zum Urteil Selbstmord kommen ließ.«
»Danke, Merle.«
Zu Margarete sagte Claasen: »Notiere: Johannson nein.«
»Zu dir, Oliver. Wie schätzt du den Fall ein?«
»Ich weiß es nicht, oder besser gesagt, ich kann mich nicht entscheiden. Es ist schon gediegen, dass die Kapitänin nur zwei Wochen nach ihrem Freispruch Selbstmord begeht. Sorry, Chef, ich will mich nicht festlegen, und ich unterstütze Merles Auffassung, dass wir mehr Informationen brauchen, um uns auf einer sicheren Basis entscheiden zu können.«
»Danke, Oliver.«
»Soll ich Förster halbe-halbe schreiben?«, fragte Margarete.
»Tu das.«
»Nun zu dir, Kasper.«
»Keine Meinung, Chef. Ich bin Verwaltungsbeamter und könnte Ihnen noch einen Aktenschrank aus Edelholz besorgen, aber mit Ermittlungsarbeiten habe ich nichts zu tun.«
»Schon verstanden, Kasper. Ich wollte dich nur nicht auslassen.«
»Also, Millbrandt keine Wertung.«
»Als Letzte bist du dran, Margarete.«
»Mein Urteil ist doch klar. Ich habe ja die Unterlagen zusammengestellt, weil ich der Überzeugung bin, dass hier ein Mord als Selbstmord getarnt werden sollte. Meine Antwort ist ja.«
»Dann haben wir ein Nein, ein Ja und ein Unentschieden und damit keinen Hinweis, in welche Richtung wir gehen sollen.«
»Ihre Stimme fehlt noch«, warf Merle ein.
»Ich stimme mit ja.«
»Dürfen wir wissen, warum?«, fragte Merle.
»Ich komme gleich darauf. Zunächst einmal ergibt die Abstimmung, dass wir den Fall untersuchen werden.«
Claasen war mit der Art und Weise, wie es bislang gelaufen war, zufrieden.
»Wie soll ich ihn nennen?«, fragte Margarete.
Claasen dachte nach. »Wie wäre es mit Der Tod von Kapitänin Sänger?«, schlug Oliver Förster vor.
Claasen nickte. »Lassen wir die ersten drei Worte weg, sie klingen zu sehr nach Krimi. Bleibt Kapitänin Sänger übrig, und so nennen wir unseren Fall. Jetzt zu Merles Frage: Was mich an dem Selbstmord stört, ist der Tumor im Gehirn. Wie mir Professor Moorbach sagte, hätte sie nur noch eine Lebenserwartung von einigen Monaten gehabt. Warum sollte sie sich deshalb auf so eigenartige Weise umbringen? Es ist schließlich keine Kleinigkeit, einen Großmast hochzuklettern, um sich von dort herunterzustürzen. Es gäbe doch viel einfachere Möglichkeiten, sich das Leben zu nehmen.«
»Es könnte genauso gut sein, dass sie die Schmerzen in der Endphase ihres Lebens umgehen wollte«, gab Merle zu bedenken.
Claasen nickte zustimmend. »Ein berechtigter Einwand, sofern sie von dem Tumor wusste. Müssen wir untersuchen.«
Claasen sah zu Margarete hinüber, ob sie mit dem Eintragen der wichtigsten Fakten auf dem Whiteboard mitkam.
»Die zweite Sache, die mich nachdenklich werden ließ, lag im Zeitpunkt des angeblichen Selbstmords. Es wurde schon ein paarmal angesprochen. Sich zwei Wochen, nachdem sie das Gericht in allen Punkten freigesprochen hatte, das Leben zu nehmen, widerspricht jeglicher Logik. Wenn sie es vor dem Urteil getan hätte, dann müssten wir es als verständlich ansehen. Ich denke, das wäre im Wesentlichen zunächst alles. Hat noch jemand Fragen oder Ergänzungen?«
Als sich niemand meldete, sagte er: »Dann komme ich jetzt zur Aufgabenverteilung. Margarete, du beschaffst den Abschiedsbrief und alles, was es zu dem Fall offiziell gibt. Der Ordner, den ich hier vorliegen habe, kann nicht der offizielle sein. Neben dem Abschiedsbrief fehlen Fotografien.«
»Okay, Chef, ich versuche es.«
»Merle und du, Oliver, ihr versucht, die Überlebenden ausfindig zu machen. Und du, Kasper, versuchst herauszufinden, wer von amtlicher Seite an den Ermittlungen beteiligt war. Das ist eine heikle Angelegenheit, die mit viel Fingerspitzengefühl durchgeführt werden muss, da ich nicht möchte, dass in diesem Stadium unsere Ermittlungsarbeit bekannt wird. Das gilt auch für euch andere.«
»Und was machen Sie?«, wollte Merle wissen.
»Ich werde mich um die medizinischen Aspekte kümmern. Wenn keiner mehr eine Frage hat, beenden wir die Besprechung und packen die Ermittlungen an – viel Glück.«
Claasen fuhr zum Mittag zu seinem schwimmenden Domizil und rief von unterwegs den Pizzaservice an, bei dem er gewöhnlich seine Bestellungen aufgab. Er hatte die Zeit gut berechnet, denn als er bei seinem Boot ankam, traf auch der Pizzabote ein.
Claasen zahlte, nahm ihm die Bestellung ab und stieg auf sein Boot. Er stellte die Pizza auf den Esstisch, holte aus dem Kühlschrank eine Flasche alkoholfreies Bier und nahm am Tisch Platz. Wie immer war die Pizza ganz nach seinem Geschmack. Nach dem Essen machte er klar Schiff, denn er hasste es, nach Feierabend in ein unaufgeräumtes Wohnboot zurückzukehren.
Als er eineinhalb Stunden später wieder an seinem Arbeitsplatz eintraf, lag auf seinem Schreibtisch ein grauer Schnellhefter. Ein Stempel und die vielen Kürzel der Unterschriften zeigten ihm, durch wie viele Hände der Ordner gelaufen war. Darunter lag ein Stapel Papier, der mit einer Heftklammer zusammengehalten wurde.
Im Eingang erschien Margarete im Rollstuhl. »Chef, das ist der Originalordner vom Fall Sänger. Ich habe meiner Freundin, die die Akten verwaltet, versprochen, dass sie ihn vor Feierabend zurückbekommt. Die Papiere darunter sind eine Kopie. Die Fotografien sind farblich nicht gut herausgekommen, aber ich denke, Sie sind eh nicht an den Farben interessiert, oder?«
Claasen schlug einzelne Bilder in der Kopie auf und verglich sie mit dem Original.
»Die Qualität reicht für unsere Zwecke aus. Du hast gute Arbeit geleistet, Margarete. Wenn ich bedenke, dass man dich mir zugeteilt hatte, um mich zu ärgern, kann ich nur sagen, dass die Personalabteilung einen gewaltigen Fehler gemacht hat. Margarete, du bist eine Perle.«
»Danke, Chef, es macht Spaß, für Sie zu arbeiten. Und wissen Sie, worüber ich mich am meisten freue? Sie behandeln mich nicht wie einen Krüppel, sondern wie jeden anderen im Team. Sie können sich nicht vorstellen, was das für mein Selbstwertgefühl bedeutet.«
»Schon gut, Margarete. Ich blättere kurz das Original durch, dann kannst du es wieder zu deiner Freundin bringen.«
Er wandte seine Aufmerksamkeit den Fotos zu, die die Leiche an Deck des Schoners Seeschwalbe zeigten. Schon als BND-Agent im Nahen Osten hat er sich für das Umfeld der Toten, mit denen er es zu tun hatte, interessiert und sich immer die Frage gestellt, ob der Tote vor Ort ermordet worden oder man ihn dort platziert hatte, weil man Zusammenhänge und Spuren verwischen wollte. Die Frage war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er das auch in Deutschland so hielt.
Nach einer Weile klappte er den Ordner zu und gab ihn Margarete zurück.
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Ich weiß es nicht, aber es gibt Zweifel. Ich muss mir den Fundort der Leiche ansehen.«
»Jetzt, nach acht Jahren? Glauben Sie, da finden Sie noch etwas?«
»Mit Sicherheit nicht. Darum geht es jedoch nicht. Mich interessieren die Absturzstelle und die Lage der Leiche.«
»Okay, Chef, ich verstehe es sowieso nicht. Da bringe ich besser den Ordner zurück.«
Claasen drehte sich zu Kasper um. Der saß an seinem Schreibtisch und brütete über irgendeinem Papier.
»Kasper, finde heraus, ob der Schoner Seeschwalbe in Hamburg liegt, und wenn ja, wo er festgemacht hat.«
»Okay, Chef, geht sofort los.«
Es dauerte nicht lange, dann schob Kasper Claasen einen handschriftlichen Zettel über den Schreibtisch.
Claasen nahm ihn auf und las:
Schoner Seeschwalbe liegt an den St. Pauli-Landungsbrücken, rechts vom Alten Elbtunnel. Der Schoner läuft in drei Tagen aus. Der Kapitän ist gewöhnlich an Bord. Er wohnt dort.
»Danke, Kasper, das ging ja schnell. Gute Arbeit.«
»Der Beamte, mit dem ich im Büro des Hafenmeisters sprach, hat mir gesagt, dass der Kapitän ein maulfauler Brummbär ist. Eine Flasche Korn löst jedoch seine Zunge.«
Claasen lächelte. »Sieh an, ein cleverer Kerl. Spielt den Muffelkopp, um seinen Schnapsbestand aufzufrischen. Ich glaube, ich werde das Schlitzohr mögen. Kannst du mir eine Flasche Köm besorgen?«
Claasen zog sein Portemonnaie aus der Tasche und gab Kasper einen Zwanzig-Euro-Schein.
Claasen zog seine Motorrad-Kombi an, sagte Margarete, wo er hinfuhr, und verließ das LKA in Richtung der Fahrrad- und Motorradparkplätze.
Er war ein begeisterter Motorradfahrer. Auch das war etwas, das er sich im Nahen Osten angeeignet hatte, denn die Chancen, dort zu überleben, waren mit einem Motorrad weitaus höher als mit einem Auto.
Claasen fuhr quer durch die Stadt zu den St. Pauli-Landungsbrücken und stellte das Motorrad neben der Gangway zu Pier zwei ab. Das Schild Parken verboten ignorierte er. Er zog aus einer der Satteltaschen ein Schild heraus und befestigte es so am Rahmen, dass es nicht leicht gestohlen werden konnte. Polizei im Einsatz