Die Tote vom Giebichenstein - Thomas Wollschläger - E-Book

Die Tote vom Giebichenstein E-Book

Thomas Wollschläger

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Beschreibung

Halle an der Saale 1930. Oberkommissar Alfred Hinze ist in seine Heimatstadt Halle versetzt worden, um die dortige Kriminalinspektion zu unterstützen. Eine Reihe von Todesfällen führt ihn an die unterschiedlichsten Schauplätze in der Saalestadt. Er ermittelt an den Gleisen der Hafenbahn, auf der Burg Giebichenstein, im damals funkelnagelneuen Bau der Großgarage Süd und im 'Krug zum Grünen Kranze'. Kann er den geheimnisvollen Spuren folgen, die Fälle aufklären und die Täter überführen?

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Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für Klaus

Inhalt

Mord an der Hafenbahn

Die Tote vom Giebichenstein

Eine Leiche im Kofferraum

Der zerbrochene Krug

Nachwort: Die Schauplätze in Halle

Bildnachweis

Mord an der Hafenbahn

Mit einem ohrenbetäubenden Knall krachte die schwere Lokomotive in die rechte Seitenwand der Straßenbahn. Durch die Wucht des Aufpralls aus den Gleisen gehoben, schleuderte der immerhin fünf Tonnen wiegende Motorwagen wie ein Spielzeug herum, kippte nach links und überschlug sich. Dabei riss die Kupplung zum Beiwagen der Straßenbahn, welcher ebenfalls entgleiste und eine Vierteldrehung vollführte. Mit der rechten Seite rutschte der nun führungslose Beiwagen an den Fahrweg des Güterzuges heran. Für die mächtigen Güterwaggons bot die dünne Außenhaut des Straßenbahnwagens kaum einen Widerstand, so dass dieselbe kreischend und splitternd auf ihrer gesamten Länge zerrissen wurde. Durch die Zerstörungsenergie mitgerissen, schleifte der Beiwagen noch ein Dutzend Meter neben dem Güterzug her, bis der Kontakt abriss. Der Wagen kippte noch ein wenig nach links, blieb aber dann doch weitgehend aufrecht stehen.

Der Zug der Hafenbahn selbst war trotz des Aufpralls auf den Schienen geblieben und hatte seine Fahrt nur unmerklich verlangsamt. Erst einige Sekunden nach dem Zusammenstoß, als die Reste der Straßenbahn zum Stillstand gekommen waren, begannen auch die Bremsen der Lokomotive zu arbeiten. Ein nochmaliges Kreischen, Zischen und Pfeifen, dann brachten die Saugluftbremsen die Dampflok allmählich zum Halten. Fauchend stieß die Lok nochmals eine gewaltige Dampfwolke aus, die Kupplungen der Güterwaggons stießen aneinander, danach stand der Zug. Einige Sekunden lang vermeinte man beinahe, eine Stille wahrzunehmen, ehe die Außenwelt auf den Unfall reagierte.

„Ein schöner Mist ist das“, fluchte Wachtmeister Egon Schmiedeberg und wischte sich mit einem zerfransten Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Ganz so salopp hätte ich mich vielleicht nicht ausgedrückt, allerdings musste ich dem Wachtmeister rein inhaltlich schon ein wenig Recht geben. Ein Unfall mit Personenschäden ist niemals eine angenehme Sache und bringt für Betroffene, Beteiligte, Helfer und Ermittlungsbeamte eine ganze Menge von Belastungen und Herausforderungen mit sich. Dies war hier nicht anders. Die Unfallstelle in der Merseburger Straße bot ein großflächiges Bild der Verwüstung. Trümmerteile bedeckten den Bahnübergang, die Straßenbahngleise und nahezu die gesamte Straßenbreite. Der völlig zerstörte Motorwagen der Halleschen Straßenbahn bestand nur noch aus einem zerknäulten Gerippe, an dem einige Holz- und Glasreste hafteten. Es grenzte an ein Wunder, dass überhaupt irgendjemand lebend aus diesem Wagen davongekommen war. Der Beiwagen, den es nicht ganz so schlimm getroffen hatte, stand halbwegs aufrecht, parallel zum Bahnübergang. Jedoch fehlte ihm die rechte Seitenwand; deren Reste wiederum hingen an den ansonsten kaum beschädigten Güterwaggons des Hafenbahnzuges. Dessen Lokomotive, die den Straßenbahnzug frontal gerammt hatte, wirkte auf den ersten Blick wenig betroffen. Ein zweites Hinsehen offenbarte dann aber doch die beiden abgerissenen Frontscheinwerfer, verbogene Dampfleitungen und einen angeknacksten Schornstein. Zum Glück für alle Beteiligten hatte der Dampfkessel trotz aller Blessuren kein Leck davongetragen, so dass zu all den Verletzungen nicht auch noch Verbrühungen durch heißen Dampf gekommen und die Gefahr einer Kesselexplosion gebannt war.

„Kann sein, Wachtmeister, aber versuchen wir, ein wenig sachlich zu bleiben. Was haben wir denn bisher?“, fragte ich. „Berichten Sie erst einmal über die Verletzten und die … die anderen Personen“.

„Ja, also das ist so. Verletzte – das heißt, Schwerverletzte – gab es fünf; die sind mittlerweile alle ins Krankenhaus abtransportiert worden. Hier hat es nur noch ein paar Leichtverletzte. Keine großen Blessuren, der Doktor kümmert sich um sie. Da drüben“, meinte Schmiedeberg und wies auf den Bürgersteig.

Dort standen und saßen drei, vier Personen, denen ein kleiner, kugelrunder Mann mit weißem Kittel soeben Pflaster und kleinere Verbände anlegte.

„Das ist Doktor Krause. Ein Kinderarzt, glaube ich – er hat seine Praxis dort drüben im Haus. Er war wohl auch einer der ersten, die überhaupt vor Ort waren und sich um die Leute gekümmert haben.“

„Das klingt plausibel, wenn seine Praxis praktisch neben der Unfallstelle liegt. Vielleicht hat er den Unfall sogar beobachtet – das müssen wir ihn nachher noch fragen. Dann wäre er ein wichtiger Unfallzeuge. Wohin hat man die Verletzten gebracht? Ins St. Barbara?“

„Ich denke schon. Wohin sonst, Herr Kommissar?“, entgegnete Schmiedeberg etwas unsicher.

„Oberkommissar. Erkundigen Sie sich gleich noch einmal danach, das sollten wir genau wissen. Aber erstmal weiter, bitte.“

„Verzeihung, Herr Oberkommissar. Ähem, wo waren wir? Ach ja, die Verletzten hatten wir. Bleiben also noch die Toten. Das wären drei – bis jetzt. Man hat sie an Ort und Stelle liegen lassen. Wir haben sie vorhin notdürftig abgedeckt.“

Inmitten der Trümmerlandschaft des Straßenbahnmotorwagens zeichneten sich bei näherem Hinsehen drei flache, weiße Hügelchen ab; offensichtlich die Körper der Verstorbenen, die man mit Bettlaken, wie es schien, zugedeckt hatte.

„Die Gerichtsmedizin ist demnach noch nicht eingetroffen?“, vergewisserte ich mich.

„Nein, obwohl sie verständigt worden sein müsste. Ich könnte mich ja mal erkundigen, ob tatsächlich jemand unterwegs ist“, bot Schmiedeberg an.

„Tun Sie das, Wachtmeister. Ich werde mich so lange mit dem guten Samariter dort drüben unterhalten.“

„Jawohl, Herr Oberkommissar“, bestätigte er und marschierte zum Straßenrand, wo sich mehrere kleine Ladengeschäfte befanden. Deren zweites war ein Zeitungs- und Tabakladen, in welchen Schmiedeberg eintrat. Offensichtlich befand sich dort das nächstliegende Telefon. Derweil hatte ich mich zu der Gruppe von Leuten begeben, die von dem Mediziner betreut wurden.

„Tag, Doktor“, sagte ich. „Wie geht es denn Ihren Patienten?“

„Soweit es die hier Anwesenden betrifft, ganz gut. Was ich allerdings für diejenigen, die vorhin abtransportiert wurden, nicht ganz so uneingeschränkt sagen kann. Für ein oder zwei von denen dürfte es knapp werden. Sie sind von der Polizei, nehme ich an?“

„Stimmt auffallend. Oberkommissar Alfred Hinze, preußisches Landespolizeiamt. Und sie sind Doktor Krause und Kinderarzt, soweit ich weiß?“

„Ganz recht. Geburten, erste Schritte, Ziegenpeter, Scharlach und Röteln – suchen Sie sich die schönste Kinderkrankheit aus und ich behandle sie. Das hier kann ich allerdings auch noch, so wie es jeder Arzt hinkriegen sollte. – So, gleich hast du es geschafft, junger Mann.“

Während unserer Unterhaltung hatte der rundliche Doktor seine Wundversorgung keinen Augenblick unterbrochen. Soeben hatte er einem etwa zwölfjährigen Jungen eine Platzwunde am Kopf mit Jod ausgewaschen und schnitt jetzt ein großes Pflaster zurecht.

„Haben Sie denn den Unfall beobachtet?“

„Beobachtet nein, gehört ja. Ich hatte das Fenster vom Behandlungszimmer offen, es ist ja draußen wärmer als drinnen. Plötzlich gab’s den großen Knall. Ich hab‘ hinaus geschaut – und dann so schnell ich konnte meine Tasche geschnappt und bin hinausgelaufen. – Fertig. Lass deine Mutter heute Abend vorsichtig das Pflaster abnehmen, und wenn es immer noch bluten sollte, kommst du nochmal vorbei. Verstanden?“

Die letzten Worte hatte Krause an den Jungen gerichtet, der vorsichtig an seinem Riesenpflaster herumtastete und eifrig nickte.

„Ja, Herr Doktor. Danke, Herr Doktor.“

„Fühlst du dich denn jetzt etwas besser, Junge?“, wollte ich von ihm wissen.

„Besser? Ich fühle mich schon wieder ganz gesund, Herr Inspektor!“, versicherte der tapfere Held eilfertig.

„Soso, ganz gesund. Na, dann muss der Doktor Krause ja geradezu ein Wunderdoktor sein“, meinte ich lächelnd. „Aber wenn das so ist, dann kannst du mir vielleicht eine Frage beantworten. Meinst du, das ginge?“

„Aber klar, Herr Inspektor!“

„Das heißt Kommissar, nicht Inspektor“, belehrte ich ihn. „Wir sind schließlich nicht in England. Jedenfalls wollte ich gerne von dir wissen, ob du von dem Unfall etwas mitbekommen hast – also wie es passiert ist oder was du gesehen hast.“

Zu seinem und meinem Bedauern schüttelte er sogleich den Kopf.

„Nein, gar nichts, Herr Ins… – ähem, Kommissar. Sonst schaue ich immer aus dem Fenster, aber heute nicht. Ich hab‘ gelesen, sehen Sie, das hier“ – mit diesen Worten hielt er ein zerlesenes Romanheft in die Höhe, dessen Titel (‚Sherlock Holmes und die Liga der rothaarigen Männer‘) verriet, woher er die Idee hatte, dass Kriminalbeamte ‚Inspektor‘ hießen – „und da habe ich wohl gar nichts gemerkt. Der Zug war plötzlich einfach da, und dann hat es mich auch schon umeinander geworfen.“

„Du hast im hinteren Straßenbahnwagen gesessen? Ja? Und dann war der Zug einfach so da, sagst du?“

Der Junge nickte erneut und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.

„Mehr weiß ich wirklich nicht, ich schwör’s ihnen!“

„Schon gut, mein Junge, ich glaube dir. Hast du sehr gut gemacht, danke erst einmal! – Ist einem von Ihnen noch irgendetwas aufgefallen?“, fragte ich die drei anderen Straßenbahnpassagiere, die bereits zuvor von Doktor Krause verarztet worden waren.

Doch auch diese, zwei Männer und eine Frau, konnten nur ratlos mit dem Kopf schütteln. Nein, ihnen war überhaupt nichts Ungewöhnliches aufgefallen, bevor es scheinbar aus heiterem Himmel gekracht hatte.

Schade, ich hatte mir etwas mehr von den Zeugenaussagen erhofft. Natürlich kam es gar nicht so selten vor, dass trotz vieler Beteiligter an einem Geschehen oder Tatort nur sehr wenige verwertbare Erinnerungen und Aussagen gesichert werden konnten. In diesem Fall jedoch störte mich irgendetwas daran; irgendetwas schien nicht stimmig zu sein. Ich konnte nur überhaupt nicht erklären, was genau das sein sollte.

„Gut, dann belassen wir es vorerst dabei“, meinte ich nachdenklich. Kurzentschlossen wandte ich mich noch einmal an den Kinderarzt.

„Sie scheinen mir hier den meisten Überblick zu haben, Herr Doktor. Fällt Ihnen noch jemand ein, den ich befragen könnte? Außer den bereits ins Krankhaus abtransportierten Personen?“

Krause kratze sich einen Augenblick lang am Kinn, dann erhellte sich sein Blick.

„Einfallen würde mir schon jemand, aber ich fürchte, das wird Ihnen im Moment nichts nützen.“

„Probieren Sie es einfach“, schlug ich vor.

„Nun ja – ich denke, Sie sollten auf jeden Fall mit dem Lokomotivführer von der Hafenbahn reden“, meinte Krause. „Er ist äußerlich unverletzt, aber steht ziemlich unter Schock. Ich glaube kaum, dass Sie von ihm etwas Brauchbares herausbekommen. Er sitzt da drüben, bei seiner Lok.“

Der Zug der Hafenbahn hatte nach dem Zusammenstoß mit der Straßenbahn die Fahrbahn der Merseburger Straße noch in voller Länge passiert. Die Dampflok und die vier Güterwaggons standen deshalb alle auf der jenseits der Straße gelegenen Bahntrasse. Auf dem Trittbrett der Lokomotive saß ein Mann in der dunklen Uniform der Reichsbahn, den Kopf gesenkt und eine Schirmmütze in den Händen knautschend. Vorsichtig einen Weg um die Trümmerberge balancierend, ging ich zu ihm hinüber.

„Kann ich kurz mit Ihnen reden?“, versuchte ich ihn anzusprechen.

Zunächst zeigte sich überhaupt keine Reaktion. „Hallo? Ich bin von der Polizei und möchte mit Ihnen sprechen. Hören Sie?“

Langsam hob der Lokführer seinen Kopf. Anscheinend versuchte er mich anzuschauen, allerdings starrten seine Augen irgendwo in die Ferne, anstelle auf mich.

„Ja … nein … was wollen … Sie denn?“, brachte er nach und nach Worte und Satzfetzen hervor.

„Ich wollte von Ihnen wissen, was Sie mir über den Unfall sagen können. Was ist passiert? Woran erinnern Sie sich?“

„Erinnern … ja … ich weiß nicht“, antwortete er stockend. Mittlerweile hatte er es geschafft, seine Augen etwas mehr unter Kontrolle zu bekommen und sie halbwegs auf mich zu richten. In den Augen jedoch zeigte sich vollkommene Verständnislosigkeit, die sich auch in seinen anschließenden Worten widerspiegelte: „Welcher Unfall?“

„Der Unfall mit der Straßenbahn. Ihr Zug ist mit der Bahn zusammengestoßen. Sie waren der Lokführer. Schauen Sie dort“, versuchte ich es noch ein letztes Mal und wies mit der Hand auf das vor unseren Augen liegende Schlachtfeld.

Er folgte mit seinem Blick meiner Hand. Kurz vermeinte ich, ein Erstaunen in seinem Blick wahrzunehmen, danach versank dieser jedoch wieder in der bisherigen Teilnahmslosigkeit.

„Oh“, war das einzige, was er noch von sich gab.

Resignierend brach ich meine Frageversuche – von Gespräch konnte ja keine Rede sein – ab. Zum jetzigen Zeitpunkt hatte das offensichtlich keinen Zweck. Man konnte nur hoffen, dass er seinen Schockzustand bald überwinden und in den nächsten Tagen wieder ansprechbar sein würde.

Suchend schaute ich über das Gelände. Wachtmeister Schmiedeberg hatte offenbar sein Telefonat längst beendet und stand nunmehr neben den Trümmern des Motorwagens. Soeben zog er eine Taschenuhr aus seiner Uniformjacke, blickte darauf und schüttelte anschließend vorwurfsvoll den Kopf.

„Verspätet sich die Gerichtsmedizin immer noch?“, fragte ich, nachdem ich mich zu seinem Warteplatz begeben hatte.

„Ja, ich verstehe es auch nicht. Als ich angerufen habe, hieß es, sie hätten das Institut vor einer Viertelstunde verlassen. Das ist jetzt“ – dabei blickte er erneut auf seine Uhr – „25 Minuten her. Eigentlich müssten sie längst hier sein.“

„Mehr als warten können wir nicht. Haben Sie sonst noch etwas erreicht?“

„Ich habe gleich noch im St.-Barbara-Krankenhaus angerufen. Sie wollten doch wissen, ob die Verletzten dorthin gebracht worden sind.“

„Und?“

„Sind sie. Als ich anrief, waren alle fünf eingetroffen. Wie es um sie steht, konnte man mir noch nicht sagen; man sei dabei, sich um alle zu kümmern, hieß es.“

Das war doch immerhin etwas.

„Mehr kann man auch nicht erwarten“, meinte ich. „Gut gemacht, Wachtmeister. Dann hätte ich zwei neue Bitten an Sie: Erstens sollte jemand den Lokführer nach Hause bringen. Der Mann ist völlig verstört und kann heute mit Sicherheit keine Lok mehr fahren. Selbst allein heimschicken würde ich ihn nicht. Wenn Sie oder einer der Kollegen das übernehmen könnten?“

„Kein Problem, Herr Oberkommissar. Das kann ich selbst übernehmen. Was wäre das andere?“

„Zweitens müssten Sie vorher bei der Reichsbahn anrufen, sie sollen jemand schicken, der den Zug wegfährt – weil eben der Lokführer dazu nicht mehr selbst in der Lage ist. Und richten Sie den Reichsbahnleuten aus, dass die Lokomotive unbedingt so abgestellt werden muss, wie sie ist. Es darf keinesfalls schon irgendetwas repariert werden, zuerst muss sie von einem unserer Techniker untersucht werden.“

„Wird gemacht. Bleiben Sie dann vor Ort und warten selbst auf die Gerichtsmedizin? Nicht, dass die Herrschaften nicht wissen, was sie hier machen sollen, wenn sie denn mal überhaupt eintreffen.“

Unwillkürlich musste ich ob der direkten Art des Wachtmeisters grinsen. Schmiedeberg gefiel mir. Er war recht flott, aber nicht übereifrig; er dachte überlegt mit, und nicht zuletzt schien er sich mit der Arbeitsweise der Kriminalpolizei auszukennen. Letzteres stellte für einen Streifenpolizisten keineswegs eine Selbstverständlichkeit dar, da vieles an kriminalistischen Ermittlungsmethoden und kriminaltechnischen Möglichkeiten erst in den letzten Jahren aufgekommen und selbst für viele Kriminalbeamte noch einigermaßen neu war.

„Ja, genauso hatte ich das vor. Die Herren von der Universität werden schon noch auftauchen, machen Sie sich ruhig auf den Weg. Und danke für die Unterstützung!“

„Dafür bin ich ja da“, antwortete Schmiedeberg, tippte zwei Finger zum Gruß an seinen Tschako und machte sich erneut auf den Weg zum Zeitungsladen, um den Anruf bei der Reichsbahn zu erledigen. Ich selbst begab mich langsamen Schrittes zu den Resten des Straßenbahnwagens, um das Eintreffen der Gerichtsmediziner abzuwarten.

Der nächste Morgen brachte zunächst einmal jede Menge Papierkram und Schreibarbeit mit sich. Notizen wollten sortiert und vervollständigt werden, Formulare ausgefüllt, Protokolle und Berichte entworfen, diktiert und von der Sekretärin abgetippt werden. Mein mir zugeordneter Kriminalassistent Erwin Kaiser hatte den gestrigen Tag zwecks einer Zeugenaussage vor dem Landgericht in Leipzig verbringen müssen und mir deshalb noch nicht zur Seite stehen können. Als erstes galt es daher, ihn auf den neuesten Stand der bisherigen Ermittlungen zu bringen, damit er mir möglichst schnell einen Teil der Arbeit abnehmen konnte.

Die Herren von der Gerichtsmedizin hatten am Unfallort leider keine neuen Erkenntnisse auftun können. Zwar hatte sich Doktor Adalbert Schlosser reichlich zerknirscht über die Verspätung gegeben und versprochen, mit seinen beiden Assistenten besonders gründlich und zügig vorzugehen, doch mehr als das, was wir bereits wussten, förderten sie nicht zutage. Die drei Toten waren eindeutig an den Folgen des Unfalls verstorben. Der Straßenbahnfahrer befand sich unter den Toten. Ihn würde man also zu dem Unfallhergang nicht mehr befragen können; allerdings stand nun auch fest, dass er nicht etwa einen plötzlichen Herzanfall erlitten hatte, was eine mögliche Erklärung für das Zustandekommen des Unfalls gewesen wäre. Der Schaffner hatte sich zu dem Zeitpunkt im Beiwagen aufgehalten und gerade einem Fahrgast ein Billet ausgestellt, und war deswegen zum Glück nur leicht verletzt worden. Zum Ablauf des Zusammenstoßes konnte er jedoch leider nichts beitragen. So blieb uns anscheinend nur die vage Hoffnung auf eine baldige Rekonvaleszenz des Lokomotivführers, damit uns dieser mit einer womöglich wiederkehrenden Erinnerung weiterhelfen konnte.

Soweit hatte ich Erwin Kaiser ins Bild gesetzt, als der Kriminalassistent eine kurze, harmlose Frage stellte, die unseren Ermittlungen einen völlig unerwarteten Schwung versetzten. Soeben hatte er die Notizen zu den Aussagen, die ich für ihn zusammengefasst hatte, vor sich ausgebreitet, da stutzte er und sah mich verwundert an.

„Wo ist eigentlich die Aussage des Heizers?“

Ich musste ziemlich verdutzt dreingeschaut haben und brauchte einen Augenblick, um zu antworten.

„Die Aussage von wem, bitte? Welcher Heizer?“