Die Toten von Rottweil - Herbert Noack - E-Book

Die Toten von Rottweil E-Book

Herbert Noack

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Kommissar Zeller versteht sein Rottweil nicht mehr. Noch nie wurden so viele Menschen innerhalb eines derartig kurzen Zeitraumes ermordet. Den ersten Toten fand man auf dem Hofgerichtsstuhl. Es handelt sich um den stadtbekannten Richter Schuhmacher. Er wurde erdrosselt und verstümmelt. Kurze Zeit später die nächsten Morde: Zwei grausam zugerichtete Frauenleichen wurden im TK Elevator Testturm entdeckt. Die Kripo ermittelt mit Hochdruck, denn der nächste Mord wurde Zeller bereits angekündigt …

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Herbert Noack

Die Toten von Rottweil

KOMMISSAR ZELLERS ERSTER FALL

Zum Buch

Rache unterm Schwarzen Tor Hauptkommissar Zeller versteht seine Heimatstadt Rottweil nicht mehr. Noch nie wurden so viele Menschen innerhalb kürzester Zeit ermordet. Die erste Leiche ist der Richter Linus Schuhmacher. Ermordet und verstümmelt abgelegt auf dem Hofgerichtstuhl, vis-à-vis des Landgerichts. Doch es ist erst der Anfang einer beispiellosen Mordserie in der Stadt. Kurze Zeit später wurden die nächsten Leichen gefunden, hoch über der Stadt im TK Elevator Testturm. Ein Zusammenhang ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Handelt es sich um einen oder mehrere Täter? Der Kommissar und sein Team tappen im Dunkeln und gehen bei ihren Ermittlungen bis an ihre Grenzen. Nichts wird mehr so sein wie vor den schrecklichen Morden. Und dann bekommt Zeller plötzlich einen Anruf. Der Unbekannte nennt sich »Narrenengel« und kündigt ihm den nächsten Mord an. Werden Zeller und sein Team dem Täter rechtzeitig auf die Spur kommen?

Herbert Noack, geboren 1961, lebt seit vielen Jahren am Rande des Schwarzwalds und hat sich ganz dem Krimi-Genre verschrieben. Oft und gern ist er in der freien Natur unterwegs. In dieser Umgebung kommen ihm die besten Ideen und meisten Anregungen für seine Bücher. Er ist begeisterter Autor zeitgenössischer Krimis und spannender Unterhaltung. Mehr von ihm erfahren Sie auf seiner Webseite unter: www.herbert-noack.de

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andreas Göllner / Pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6872-8

 

 

Kapitel 1

Es hätte ein ganz normaler Tag werden können, wie es schon unzählige normale Tage in dieser ältesten Stadt Baden-Württembergs gegeben hatte und immer wieder geben würde, an denen nichts passierte. Rottweil war das Tor zum Schwarzwald und nicht Stuttgart. Kein Verkehr brummte um diese frühe Morgenstunde. Nur ein paar Busse schluckten mit weit geöffnetem Maul bereitwillig wenige Fahrgäste und ließen sie in ihrem Inneren verschwinden, um sie kurze Zeit später an irgendeiner nahen oder entfernten Haltestelle wieder auszuspucken.

Einige Elstern balgten sich auf dem gepflasterten Weg um die Reste einer Mahlzeit, die ein nächtlicher Passant achtlos weggeworfen hatte. Allerdings waren sie nicht allein bei ihrem Festmahl. Sie mussten es mit weiteren, eilig herbeigeflatterten Vögeln teilen, denn auch diese Horde von aufgeregten, hin und her wuselnden Spatzen wollte etwas zum Frühstück ergattern. Da kam diese üppige Mahlzeit gerade recht. Erst eine neugierig herbeigelaufene Katze bereitete dem Treiben ein Ende. Ihre bloße Anwesenheit reichte aus. Die Vögel flüchteten und flogen ohne einen Bissen im Schnabel ärgerlich zwitschernd davon.

Ein junger Angestellter des italienischen Cafés unterhalb des Schwarzen Tors stellte missmutig die gekippten Stühle aufrecht um die Tische. Seine gegelten Haare glänzten in der aufgehenden Sonne. Man sah ihm an, dass er seine Arbeit nicht besonders schätzte und sie widerwillig erledigte. Sein Gesicht hellte sich erst auf, als ein hübsches junges Mädchen in einem karierten Minirock an ihm vorbeilief. Interessiert unterbrach er seine Arbeit und pfiff ihr verhalten hinterher. Sie schien es nicht zu bemerken und eilte weiter in Richtung Königsstraße. Enttäuscht schaute er ihr nach. Dafür hatte sein Chef das Gepfeife gehört und rief ihm aus dem Inneren des Lokals ärgerlich etwas auf Italienisch zu. Es wirkte augenblicklich. Der junge Mann riss sich zusammen und erledigte im erhöhten Tempo seine Aufgabe.

Auch in den angrenzenden Buchladen kam Bewegung. Ein ungefähr 40-jähriger Mann schloss die Ladentür von innen auf, öffnete sie schwungvoll und trat entschlossen auf die Straße. Als Erstes schaute er zum Himmel hinauf. Der Tag würde schön werden, dachte er, lächelte vergnügt und rieb sich die Hände. Alles sah nach viel Laufkundschaft aus. Zwei seiner Angestellten schlenderten soeben auf den Laden zu – er winkte sie heran und zeigte auf die Verkaufstische und Bücherständer im Inneren des Geschäftes. »Guten Morgen, Vera und Sabine. Beeilt euch ein wenig! Alles muss sofort nach draußen. Ich kümmere mich um die neue Bestsellerliste des SWR am Schaufenster.«

Die beiden schienen es gewohnt, so empfangen zu werden. Rasch warfen sie ihre Taschen in die Ecke, packten einen Verkaufstisch und schleppten ihn nach draußen.

Die Besitzerin des gegenüberliegenden Buchladens sah interessiert auf die Aktivitäten ihres Mitbewerbers. Sie rief etwas in den Laden hinein und kurze Zeit später erschien ihr Ehemann in der Tür. Auch er schaute zuerst zum Himmel hinauf und schmunzelte. Es würde ein schöner Tag werden, meinte er zu seiner Frau, es würden viele Menschen unterwegs sein. Beide taten es ihrem Gegenüber nach und trugen den großen Büchertisch ins Freie. Außerdem rollerten sie noch zwei Postkartenständer dazu und positionierten sie an den Seiten des langen Tisches.

So erwachten langsam alle Geschäfte auf der Straße zum Schwarzen Tor. Als Letztes öffnete das »Schweizer Lädeli«. Das war keine Überraschung. Seine Kundschaft kam später.

Alles war wie immer. Friedlich, verschlafen und harmonisch. Fast schon langweilig. Nichts deutete darauf hin, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde an diesem Tag. Etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Das das Leben in der Stadt in Atem halten würde. Obwohl es kaum etwas geben konnte, was Rottweil noch nicht erlebt oder gesehen hatte.

*

Man erkannte nicht gleich, was es war, das da auf dem gedrungen wirkenden und aus rotem Sandstein bestehenden Hofgerichtsstuhl nahe der Steinmauer im Schatten der mächtigen Bäume bewegungslos lag. Der Mann sah aus, als ob er betrunken wäre und seinen Rausch ausschlafen würde. Nicht so, als ob er dringend Hilfe benötigte. Er war sehr gut gekleidet, der maßgeschneiderte schwarze Anzug schien nicht billig gewesen zu sein. Den Kopf hatte er auf die Brust gesenkt. Der Hut war herabgefallen und lag im Schmutz vor ihm. Vielleicht war er ein wenig zu luftig angezogen, das Sakko zu dünn für die Temperaturen um diese frühe Uhrzeit.

Um den Hals trug er ein dunkles, mit einem dezenten Muster besticktes Seidentuch. Es war ein schönes, modisches Accessoire, passend zu seinem Anzug. Sicherlich hatte er es vorbeugend gegen eine Erkältung umgebunden, mochte der Passant denken, der gerade mit raschem Schritt an ihm vorbeieilte und den Mann dabei nur mit einem flüchtigen Seitenblick bedachte.

Glück für ihn, dass er nicht genauer hingesehen hatte. Wer weiß, wie sein weiterer Tag sonst verlaufen wäre? Wenn er durch Zufall erkannt hätte, wer der Mann war, der dort regungslos lag. Denn er war beileibe kein Unbekannter. Als oberster Richter hatte er schon Urteile mit weitreichender Bedeutung am Landgericht gefällt, welches schräg gegenüber stolz und eindrucksvoll, vielleicht sogar ein wenig einschüchternd stand wie ein uneinnehmbares Bollwerk des Rechtes gegen das Unrecht.

Aber der Mann schlief nicht und hatte auch keinen Rausch. Es sah nur auf den ersten Blick so aus. Er war tot.

Kapitel 2

Zeller konnte es nicht glauben, als das schrille Klingeln seines Smartphones ihn am heutigen Samstag weckte. Der Blick zur Uhr ließ ihn erschaudern. Er hatte gerade mal drei Stunden geschlafen. Es war spät geworden gestern Nacht, zuerst im »Kapuziner«, dann im »Goldenen Becher« und zum Schluss im »ZiZ«. Er hatte seinen Ärger herunterspülen müssen. Wieder einmal war er allein losgezogen. Sie hatte nicht mitgewollt.

Und jetzt riefen sie ihn um sechs an. Dachten seine Kollegen etwa, Zeller konnte man immer erreichen, bei Tag und bei Nacht? Er hatte weder Bereitschaft noch normalen Dienst. Eigentlich wäre er gar nicht da. Hätte Anne ihre gemeinsame Reise nicht gecancelt, dann säßen sie in diesem Moment am Stuttgarter Flughafen und würden auf ihre Maschine nach Wien warten. Und er hätte keinen Kater, weil er keinen Ärger gehabt hätte.

Doch jetzt lagen sie hier in ihrem Bett und Anne schlief tief und fest. Ihre Atemzüge gingen gleichmäßig, von dem flehentlichen Rufen seines Smartphones hatte sie nichts mitbekommen. Er gab ihr einen Kuss auf das unschuldige Gesicht und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie fühlte sich gestört und drehte sich murrend auf die andere Seite. Zeller bedeckte ihren Rücken mit der heruntergerutschten Bettdecke und nahm das Smartphone in die Hand.

»Ja? Zeller hier.« Er gähnte laut ins Telefon. Der Kriminalhauptkommissar war nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt.

»Paul, wir haben einen Toten. Keinen Unbekannten, wenn du verstehst, was ich meine«, sagte eine Frauenstimme.

»Auch das noch. Es ist Samstag. Können die sich nicht am Montag gegenseitig umbringen und uns wenigstens das Wochenende in Ruhe lassen? Wer ist es denn?« Etwas Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. Vielleicht war es doch nicht unbedingt notwendig, dass er dabei sein musste. Womöglich konnten das auch seine Kollegen lösen.

»Linus Schuhmacher. Der Richter.«

Zeller war augenblicklich hellwach. Jetzt verstand er, was sie damit gemeint hatte, er sei kein Unbekannter. Schuhmacher war tot? Er hatte ihn doch gestern Morgen noch gesprochen.

»Du machst Witze.«

»Paul, wach endlich auf.«

»Wie ist er umgekommen?«, fragte Zeller, und fügte noch hinzu: »Wurde er etwa ermordet?«

»Du kannst Fragen stellen, Zeller. Hätte ich angerufen, wenn er an Altersschwäche gestorben wäre? Los, raus aus den Federn.«

»Wohin soll ich kommen?«

»Zum Hofgerichtsstuhl«

»Carla, bitte. Wohin?«

»Kennst du den Hofgerichtsstuhl nicht? An der Königsstraße, Ecke Lorenz-Bock-Straße. Gleich in der Nähe vom Gericht. Also schwing dich in dein Auto und komm endlich her. Es ist wichtig. Hier ist jetzt schon großer Bahnhof. Sogar Bausinger ist da.«

Zeller quälte sich aus dem Bett. Das konnte ja heiter werden. Sein Chef schon im Einsatz? Er stellte sich seine Stimmung lebhaft vor. Eigentlich hatte er keine Lust darauf und überlegte einen Moment, sich lieber krankzumelden. Einfach wieder hinlegen, die Bettdecke über den Kopf ziehen und schlafen.

Als Zeller am Tatort eintraf, war immer noch »großer Bahnhof«, wie Carla Zimmermann ihn vorgewarnt hatte. Das Gelände um den Hofgerichtsstuhl, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Erinnerung an das kaiserliche Hofgericht hier stand, war weiträumig abgesperrt. Einige neugierige Fußgänger waren stehen geblieben und glotzten sich die Augen aus. Viele hatten Smartphones in den Händen. Wahrscheinlich war der Vorfall in Rottweil längst in aller Munde. Ein paar Leute von der Zeitung sah er auch. Als sie Zeller erblickten, rannten sie auf ihn zu und versuchten, ihm Fragen zu stellen. Der Kommissar winkte ab.

Ein junger Mann probierte, unter der Absperrung hindurchzuschlüpfen. Vergeblich. Ein Polizist bekam es mit, packte ihn an der Kapuze seiner Jacke und zog ihn hinter die Absperrung zurück. Er werde sich beschweren, hörte man den Mann schimpfen, die Hörer des Antenne 1 Neckarburg Rock & Pop hätten ein Recht auf eine aktuelle Berichterstattung. Der Polizist gab ihm trotzdem nicht die Erlaubnis.

Viel war für die Schaulustigen nicht zu sehen. Ein großer weißer Pavillon war von den Beamten über den Hofgerichtsstuhl gestülpt worden. Zeller klappte die Wand des Sichtschutzes beiseite und sah Ulrike Brenner zu, wie sie den toten Richter fotografierte. Einer ihrer Kollegen sicherte indes mit einem Pinsel unsichtbare Spuren auf dem Steinthron. Ein weiterer untersuchte die Sakkotaschen des Richters. Die Kriminaltechnik war gut vertreten, im Gegensatz zur Kriminalpolizei. Da war nur er da und sein Chef Bausinger.

Neben Bausinger stand eine junge Frau im weißen Overall. Sein Chef redete unaufhörlich auf sie ein, hatte einen Arm auf ihre Schulter gelegt und zeigte mit dem anderen auf den Toten. Zeller sah auf einen Blick, dass er sie beeindrucken wollte und sein Wissen mit einer großen Gießkanne über sie ausleerte. Er drehte sich ab und wandte sich an die Leiterin der Spurensicherung – der K8, wie sie hier dazu sagten. Vielleicht hatte sie Informationen für ihn.

»Hallo, Ulli. Schon was gefunden an diesem gottverdammten Tagesbeginn?«

»Ach, Paul. Wieso bist du so schlecht drauf? Heißt es nicht: Eine Leiche am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen? Oder so ähnlich.«

»Kannst du schon was sagen?«

»Männliche Leiche«, antwortete Doktor Ulrike Brenner spöttisch. Die gut 40 Jahre alte Frau mit dem etwas rundlichen Gesicht sah im Gegensatz zu Zeller ausgeruht und gut gelaunt aus. Ihr dezentes Make-up war sorgfältig aufgetragen.

»Prima! Ich wusste, du bist eine der Besten, die wir haben.«

»Man hat ihn erhängt, erdrosselt, stranguliert. Such dir was aus. Auf jeden Fall war es kein Selbstmord. Der Kehlkopf ist eingedrückt. Außerdem hat er die typischen Flecken im Gesicht.«

»Weißt du, wann es passiert ist?«

»Kann noch nicht lange her sein. Ich denke, keine drei Stunden, zwischen 2 und 4 Uhr. Die Leichenstarre ist noch nicht eingetreten.«

»Ist es hier geschehen?«

»Glaube ich nicht. Das hier ist nie und nimmer der Tatort.«

»Habt ihr noch was anderes gefunden?«, fragte Zeller in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt für seine Anfangsermittlungen zu bekommen.

»Später, Paul. Lass uns erst mal unsere Arbeit tun. Ich melde mich bei dir.«

»Aber nicht nur beim Zeller, werte Frau Doktor. Ich möchte auch informiert werden. Als Erster, bitte schön.«

Zeller schaute zu Bausinger hinüber, der offenbar den Chef vor der jungen Dame heraushängen lassen wollte, die ihn begleitete und die Zeller noch nicht kannte. Ein Umstand, der sich gleich ändern würde, denn die beiden kamen auf ihn zugelaufen.

»Paul, ich möchte dir unsere neue Mitarbeiterin vorstellen. Eine der Besten im Kurs ihres Jahrgangs an der Polizeihochschule in Böblingen. Ich hatte es dir vor einiger Zeit gesagt. Sie heißt … Ach, das kann sie dir alles selbst sagen. Bitte, junge Dame«, fügte er mit einem süßlichen Lächeln hinzu.

»Elli Jones. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Kriminalhauptkommissar«, sagte sie brav und streckte ihm die Hand entgegen.

Zeller musterte sie kritisch. Wer so eng verbandelt mit Bausinger war, konnte nichts taugen. Sie würde nicht lange bleiben. Sicherlich nur eine Praktikantin auf der Suche nach der Abteilung bei der Kriminalpolizei, die ihr am besten gefiel. Gerade als er der jungen Frau etwas erwidern wollte, rief Ulrike aufgeregt nach ihm.

»Paul, kommst du mal bitte? Wir haben da was, das wird dich interessieren.«

Als Zeller neben ihr stand, zeigte sie auf die rechte Hand des Toten. An ihr fehlte der Zeigefinger, abgetrennt mit einem sauberen Schnitt. Sie hätten nicht lange nach ihm suchen müssen, erzählte Ulli ihm weiter. Er hatte sich in der Innentasche seines Sakkos befunden.

Etwa zur gleichen Zeit ärgerte sich Berta Abele, als sie an diesem Samstag auf der Arbeit im TK Elevator Testturm erschien. Eigentlich war es ihr freier Tag. Doch gestern am späten Nachmittag hatte man sie angerufen und gefragt, ob sie nicht noch einmal Feuerwehr spielen könne. Genau wie schon die Wochen zuvor. Wieder war jemand plötzlich erkrankt. Es sei aber wirklich das letzte Mal in diesem Monat.

Na gut, hatte sie zu sich gesagt. Ihre Partnerin würde Ramona sein, das junge Ding. Mit ihr arbeitete sie gern. Sie würden rasch fertig werden, denn Ramona war genauso schnell wie sie. Keine Trödlerin wie so manche andere Kollegin. Da konnte man sich nebenbei auch noch ein wenig unterhalten.

Doch am späten Abend hatte Ramona sie zu Hause angerufen und sich bei ihr abgemeldet. Das war schon wirklich nett von ihr, ehrlich. Die Begründung dagegen weniger. Sie hatte schweren Durchfall und konnte unmöglich arbeiten kommen.

Als ob ganz Rottweil mit diesem Virus befallen wäre und eine Magen-Darm-Grippe hätte. Jetzt fehlte Ramona also auch noch! Wie schon so oft in der letzten Zeit. Da war etwas, was sie ihr verschwieg, war sich Berta sicher. Wahrscheinlich war sie doch schwerer erkrankt, als sie zugab.

Doch Berta machte sich nichts vor. Bestimmt war es die letzte Chance für Ramona gewesen. So etwas konnte sich niemand ewig erlauben. Egal, wie lange man schon in der Firma beschäftigt war. Der Chef hatte ihr bereits beim vergangenen Fernbleiben gedroht, dass sie sich nach einem anderen Job umschauen solle, nach einem, der ihre Gesundheit nicht so strapaziere. Es gebe genug Anfragen, sie würden vor seinem Büro geradezu Schlange stehen. Jeden Tag! Sofort würde er eine neue Putzkraft einstellen können. Unter Tränen hatte Ramona ihn angefleht, sie zu behalten. Sie brauche das Geld. Unbedingt! Er hatte sich erweichen lassen. Das letzte Mal, wie er gesagt hatte. Und nun fehlte sie schon wieder.

Seufzend öffnete Berta die Eingangstür zum Turm. Verwundert stellte sie fest, dass gar nicht abgeschlossen war. Das hatte sie noch nie erlebt, seitdem sie hier in der Frühschicht arbeitete.

Sie zog ihre Jacke aus und hängte sie an einen Haken neben ihrem Spind. Dann ging sie in den Nebenraum, in dem sich die Sanitärartikel befanden, und belud ihren Wagen mit den fehlenden Flaschen, Handtüchern und Lappen. Noch zwei weitere Toilettenreiniger aufgeladen und sie konnte loslegen. Berta schaute auch nach der Essigessenz und angelte sich einen neuen Wischmopp aus dem Ständer. Lieber ein bisschen mehr mitschleppen als zu wenig. Sie mussten schließlich später nach oben in den Konferenzraum. Der war heute dran, gestern hatte es eine Abendveranstaltung gegeben.

Den Aufstieg mit dem Fahrstuhl in diese luftige Höhe vertrug sie nicht gut. Schließlich war sie vergangene Woche stolze 70 Jahre alt geworden und hatte eigentlich nie im Leben daran gedacht, dass sie in diesem Alter immer noch arbeiten würde. Aber sie tat es gern. Die Putzerei war nicht besonders anspruchsvoll und der Lohn dafür nicht schlecht. Da blieb etwas für ihre Enkel übrig. Welche Oma steckte ihren Lieblingen nicht gern etwas zu?

Ein lautstarkes und übertrieben frisches »Guten Morgen« schlug ihr mit einem sächsischen Unterton brutal in den Magen. »Na, Berta, wie geht’s dir? Oh, mir geht’s gar nicht gut. Kurt war gestern Abend nämlich bei mir. Der hatte ein wunderbares Wässerchen dabeigehabt. Mann, war das gut. So richtig fruchtig. Jetzt geht’s mir schlecht. Hab ich einen Brand! Ich verdurste fast.«

Berta war bedient. Auch das noch, schoss es ihr durch den Kopf, diese vorlaute und primitive Kuh Gudrun Zetsche hatte man ihr zugeteilt. Es hätte nicht schlimmer kommen können. Der Tag war gelaufen. Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben. Es gab nichts Schlimmeres als diese Kampfdrohne.

Wortlos hielt sie der drallen Frau ihre Wasserflasche hin. Gudrun griff hastig danach und trank sie in gierigen Zügen leer.

»Oh, danke, Berta. Das war meine Rettung. Habe ich heute einen schlimmen Schädel. Das hämmert wie verrückt«, jammerte sie weiter. Mit dem Handrücken wischte sie ihren Mund trocken und zog dabei geräuschvoll die Nase hoch.

»Nimm doch wenigstens ein Taschentuch. Das ist ja nicht zum Aushalten mit dir. Los jetzt! Wir sind spät dran.«

Sie begannen ihre Arbeit im Eingangsbereich, reinigten die Kassenschalter und wischten die Scheiben ab. Der Boden war schon fertig geputzt. Dafür gab es einen fahrbaren Kärcher. Das wäre ja auch noch schöner gewesen, jeden Morgen hier den Schmutz der vielen Besucher herauszuwischen. Da hätten sie schon um vier anfangen müssen.

Danach ging es in die Sanitärräume. Berta hatte es geahnt. Ihre Kollegin machte sich erst einmal aus dem Staub und verschwand im Frauenklo. Berta nahm sich stattdessen die Herrentoilette vor. Rasch putzte sie den Waschbereich, um dann die Kabinen mit ihrem Mopp zu beglücken. Als sie bei der letzten Kabine angelangt war, bemerkte sie neben der Kloschüssel auf dem Boden etwas Ungewöhnliches. Es war nichts Besonderes, wenn hier im Klo nach einem Abend mit viel Publikum etwas herumlag. Irgendjemand verlor immer etwas, aber das da war wohl eher selten. Ein schwarzes Schlüsseletui in Form eines Eishockeyschlägers mit einem großen K in einer dreizackigen Krone darauf. Seufzend bückte Berta sich und steckte das Etui in die Tasche ihres Arbeitskittels. Sie würde es unten am Empfang hinterlegen. Sicher würde bald jemand danach fragen.

Jetzt sah sie auch noch einen blassrosa Blutfleck auf dem Boden. Angestrengt versuchte sie, ihn zu entfernen, was gar nicht so einfach war. Mehrfach musste sie mit dem Lappen darüberschrubben, ehe er endlich verschwunden war. Wahrscheinlich hatte da gestern jemand Nasenbluten gehabt, dachte sie sich. Am Morgen des vorangegangenen Tages war der Fleck jedenfalls noch nicht da gewesen. Sie hätte ihn beim Reinigen bestimmt nicht übersehen. Im selben Moment hörte sie, wie jemand die Toilette betrat. Sie erschrak. Wer konnte das um diese Uhrzeit sein? Mit einem raschen Blick sah sie noch einmal nach dem Fleck. Er war nicht mehr zu sehen. Zufrieden schloss sie die Tür hinter sich.

Es war kein fremder Besucher, den sie gehört hatte, sondern ihre Kollegin. Als ob sie nichts anderes zu tun hätte, als ihr nachzuschnüffeln.

»Was hast du denn so lange in der Kabine gemacht? Hat da wieder einer rumgesaut?«, wollte Gudrun prompt von ihr wissen.

»Bist du endlich fertig mit deinem Geschäft?«, erwiderte Berta unwirsch und ging gleich in den Gegenangriff über: »Muss ich wieder alles allein machen? Jedes Mal, wenn ich mit dir arbeite, kommst du mit irgendwelchen Ausreden daher. Mal ist es dein Kreuz oder du hast dir dein Bein vertreten und kannst nicht mehr laufen. Oder du hast plötzlich ganz schlimmen Durchfall und kommst nicht vom Klo runter. Immer ist es etwas anderes. Aber nicht mit mir, meine Liebe. Mich verkaufst du nicht für dumm. Geraucht hast du auch schon wieder. Das rieche ich doch! Los jetzt, ab nach oben. Der Konferenzraum ist noch schmutzig. In ein paar Stunden kommen die Besucher. Da müssen wir fertig sein und alles muss glänzen. Ich hole jetzt geschwind den Schlüssel für den Aufzug.« Resolut marschierte sie an Gudrun vorbei.

»Berta, das dürfen wir nicht«, sagte die kleinlaut zu ihr.

»Papperlapapp. Sonst hast du immer die große Klappe, aber auf einmal kommen dir wegen dieser kleinen Fahrt Bedenken. Hättest du mal lieber auf die Uhr geschaut, als du gekommen bist.«

Sie nahmen den Panoramaaufzug trotz ausdrücklichen Verbots der Geschäftsleitung. Der war schön geräumig. In ihm konnte Berta einigermaßen entspannt bis nach oben fahren, ohne eine klaustrophobische Attacke zu bekommen. Die rasende Fahrt dauerte nicht lange. Am großen Konferenzraum ließen sie den Aufzug anhalten. Als die Tür sich öffnete, schlug ihnen ein erbärmlicher Gestank entgegen. Misstrauisch schaute Berta in den Gang, doch hier oben sah es aus wie immer. Gudrun schob den Wagen. Wie immer stellte sie sich tollpatschig an und hätte Berta nicht blitzschnell zugegriffen, wäre er umgekippt. Das wäre eine schöne Sauerei geworden.

Etwas verwundert stellte sie fest, dass der Aufzug sich in Bewegung setzte. Um diese Zeit war außer den Sicherheitsleuten niemand auf dem Testturmgelände zu finden, geschweige denn im Turm selbst. Sie hatte es noch nie erlebt, dass einer von ihnen um diese Zeit im Aufzug nach oben kam. Aber heute war alles anders.

Die Tür zum großen Konferenzzimmer stand offen. Je näher sie dem Raum kamen, desto stärker wurde dieser Gestank. Was war das nur, dachte sich Berta und hielt sich mit einer Hand die Nase zu. Gudrun stieß ihre Kollegin zur Seite und rannte ins Konferenzzimmer. Kaum war sie darin verschwunden, schrie sie fürchterlich. Berta folgte ihr augenblicklich. Auch sie stieß einen grellen Schrei aus. Der Anblick war einfach nur grauenhaft.

Die beiden Frauen machten augenblicklich auf dem Absatz kehrt und rannten zurück zum Aufzug. In der Aufregung stieß Berta gegen den Putzwagen. Er fiel krachend um und die verschiedenen Flaschen, Tuben und Dosen verteilten sich quer über den Flur. Endlich am Aufzug angekommen, drückte Berta wie wild auf den grünen Knopf. Immer wieder. Doch der Fahrstuhl war noch unterwegs. Hand in Hand standen die beiden Frauen dicht nebeneinander und warteten. Endlich kam der Lift in ihrer Etage zum Stehen. Die Tür öffnete sich mit einem zischenden Geräusch. Erschrocken riss Berta die Augen auf. »Nein! Bitte nicht«, rief sie aus und hob schützend ihre Arme über den Kopf. Doch vergeblich. Wuchtig krachten mehrere Schläge auf ihren Schädel nieder. Leblos sank sie zu Boden. Gudrun rannte schreiend davon. Doch es half nichts, sie war zu langsam. Auch sie bekam einen schweren Schlag auf den Hinterkopf. Weitere folgten. Doch die bemerkte sie nicht mehr. Auch sie war tot.

Kapitel 3

Kriminalhauptkommissar Paul Zeller stand stumm neben seiner neuen Assistentin vor dem Aufzug des TK Elevator Testturms und wartete. Was war heute nur los, überlegte er dabei, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Vor nicht einmal 100 Minuten waren sie beim ermordeten Richter Schuhmacher gewesen und nun gab es einen weiteren Fall. Wieder Mord. Zwei Tote. Warum nur war er nicht nach Wien geflogen? Vielleicht wäre er gerade um diese Uhrzeit im Café Central in der Wiener Herrengasse gesessen und hätte ein Stück Sachertorte mit einem großen Mokka vor sich stehen gehabt. Oder im Prater in einer Gondel des Riesenrades hoch über der Stadt. Es wäre so friedlich gewesen, so erholsam und inspirierend. Doch er war hier, in seinem Rottweil, welches er seit knapp zwei Stunden nicht wiedererkannte.

So viele Opfer gab es sonst nicht einmal in einem ganzen Jahr. War es Zufall oder Absicht? In Anbetracht der geringen Kriminalitätsrate in Rottweil hätte er eigentlich zu Ersterem tendiert. Aber etwas in ihm war skeptisch. In seinem langen Polizistenleben hatte er gelernt, dass es keine Zufälle gab. Wenn er den Gedanken weiterspann, wurde es noch fürchterlicher. Denn wenn es kein Zufall war, dann wäre alles akribisch geplant gewesen. Keine Bluttat im Affekt. Und vielleicht waren diese Taten erst der Anfang? Er hoffte inständig, dass es anders war. Der Beginn einer Mordserie, hier in dieser Stadt, überstieg seine Vorstellungskraft.

Noch immer warteten sie auf den Aufzug. Mit einem Seitenblick schaute er auf die junge Frau neben sich. Eigentlich hätte er etwas zu ihr sagen müssen. Doch er schwieg. Er hatte mit sich zu tun. Worüber sollte er sich auch mit ihr unterhalten? Die Themen dieser Generation waren nicht die seinen. Für Social Media war er zu alt. Für ihre Musik genauso. Überdies kam erschwerend hinzu, dass ausgerechnet sein Vorgesetzter diese Frau Jones ausgesucht hatte – wahrscheinlich um ihn zu bespitzeln. Also schwieg er lieber. Über das Wetter zu reden war für ihn pure Zeitverschwendung.

Zeller vermied es in der Folge krampfhaft, Jones anzuschauen, und blickte stur auf die Tür des Aufzuges. Als ob dort die Lösung ihres Falles geschrieben stünde. Jetzt bewegte sich was in dem Schacht. Der Aufzug hielt vor ihnen an, die Tür öffnete sich. Drei Männer standen darin, einer davon trug die rote Jacke des Notfallarztes, die beiden anderen die Uniformen der Rettungssanitäter. Sie nickten sich zu.

»Hallo, Paul. Auch schon auf? Hätte ich gar nicht gedacht von dir«, begrüßte ihn der Notarzt vertraut. Sie kannten sich seit vielen Jahren.

»Da fragst du noch, Lothar? Kennst mich doch. Du bist schon fertig? Nichts mehr zu tun da oben?«, entgegnete Zeller gleich mit mehreren Fragen und ahnte sogleich die Antwort. Die irrwitzige Hoffnung, dass es nicht so schlimm werden würde wie angenommen, war gegenstandslos. Wenn der Notarzt so rasch den Tatort verließ, dann gab es aus medizinischer Sicht nichts mehr zu tun. Jetzt erfolgte eine fließende Übergabe an die andere Zunft, die Bestatter. Sie würden die beiden Toten in einen Alu-Sarg packen und in die Rechtsmedizin nach Tübingen zur Obduktion bringen. Vorher musste sie der Staatsanwalt anordnen. Obduktionen waren teuer.

»Ich hätte mir den Weg sparen können. Leider. Da oben sieht es aus wie in einem Schlachthaus. Ich hoffe, ihr habt gut gefrühstückt. Schönen Tag noch.« Er machte eine grüßende Handbewegung an den nicht vorhandenen Hut und verschwand.

Zeller und Jones betraten die Kabine. Hinter ihnen schlossen sich die Türen. Die mitfahrende Angestellte des Testturms drückte einen Knopf und der Fahrstuhl setzte sich lautlos in Bewegung.

Unauffällig musterte Zeller seine neue Kollegin. Seine langjährige Erfahrung hatte ihm im Voraus gesagt, was er sehen würde in ihrem hübschen Gesicht: Diese Mischung aus Aufgeregtheit und Lampenfieber, verbunden mit der Freude, zu einem ersten richtigen Einsatz mitgenommen zu werden, und die zögerliche Angst vor dem, was sie erwarten würde. So war es bei allen gewesen, die er an seiner Seite eine Weile durch den Polizeialltag mitgenommen hatte. Keine hatte es bisher lange bei ihm ausgehalten. Außer Susanne, die war nicht unterzukriegen gewesen. Bis es nicht mehr gegangen war zwischen ihr und Zellers Chef. Dazu diese fatale Fehlentscheidung. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Doch daran war nur Bausinger schuld gewesen.

Immerhin schien seine Neue ihre Aufregung gut im Griff zu haben und redete nicht pausenlos auf ihn ein. Oder hatte ihr das erste, unfreundliche Treffen mit ihm die Sprache verschlagen und sie war vorsichtig geworden? Fast tat es ihm leid, ihr nicht die Hand gegeben zu haben. Egal, sie würde es verkraften. Und wenn nicht, war es ihr Problem.

Er bemerkte nicht ohne einen Anflug von Sympathie, dass sie sich mit ihren Fragen tapfer zurückhielt. Es fiel ihr sicherlich nicht leicht. Erst Anfang letzten Monats hatte man ihm die Lehrgangsbeste an der Polizeihochschule Baden-Württemberg in Böblingen angekündigt. Nach ihrer Polizeiausbildung war sie kurze Zeit in Stuttgart gewesen und später auf diesem Lehrgang. Er hatte die Information gleich wieder vergessen und sich nicht weiter darum gekümmert. Schließlich hatte er anderes zu tun gehabt. Erst als Bausinger Jones heute Morgen vorgestellt hatte, war es ihm wieder eingefallen. Sein Chef hatte sie ihm damals schon angepriesen wie einen Rohdiamanten, den es galt, behutsam zu formen. Auch wenn es nicht der richtige Ausdruck für die Bearbeitung eines Diamanten war, gefiel Paul die Wortwahl besser. Ein Schleifer wollte er keinesfalls sein. Dafür konnte Bausinger andere nehmen.

»Sie heißen Elli Jones?«, ließ sich Zeller zu einer Frage hinreißen.

»Ja.«

»Woher?«

»Aus Triberg. Jedenfalls die letzten 20 Jahre.«

»Und vorher?«

»Israel.«

»Echt?«, gab er zurück und war kurz interessiert, fragte aber nicht weiter nach und so verebbte das gerade begonnene Gespräch wieder.

Während sie in einer enormen Geschwindigkeit nach oben brausten, schaute er versonnen durch die Panoramafenster nach draußen. Wie schön hätte diese Fahrt sein können, wenn man sich nur an der ständig verändernden fantastischen Aussicht hätte berauschen können. Ewig hätte er so weiterfahren können. Egal, wie hoch. Doch sein Wunsch blieb unerhört. Fast unmerklich wurde der Fahrstuhl abgebremst und die Fahrt war beendet. Als sich die Türen öffneten, zögerten sie zunächst, hinauszutreten. Die Worte des Notarztes hallten noch nach. Außerdem schlug ihnen ein erbärmlicher Gestank entgegen. Es roch wie in einem Schweinestall. Zeller gab sich einen Ruck und sagte zu seiner Kollegin, die ihn mit angstvollem Blick ansah: »Na los, Jones. Es wird schon nicht so schlimm werden. Bleiben Sie hinter mir. Ist besser so. Und halten Sie sich ein Taschentuch vor die Nase.«

Mehrere Kriminaltechniker, verhüllt in ihren weißen Ganzkörperanzügen, liefen, standen oder knieten um zwei Hügel mit abgedeckten Inhalten. Der eine direkt neben dem Aufzug, der andere um die 30 Meter weiter weg. Der Notarzt hatte nicht übertrieben mit seiner Warnung. Blut und Gehirnmasse waren weiträumig auf dem Boden des Korridors verteilt. Hier hatte ein wahres Gemetzel stattgefunden. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben.

Als er sich die Leichen unter den Tüchern zeigen ließ, vernahm er einen dumpfen Aufprall hinter sich, wenige Meter vom Aufzug entfernt. Seiner Begleiterin war der Anblick um diese Uhrzeit wohl zu viel. Zeller tat so, als habe er es nicht bemerkt. Sie wird schon wieder hochkommen, dachte er nur. So etwas gehörte zum Anfang bei der Kripo dazu. Erst später würde man bei solch schrecklichen Bildern nicht mehr das Bewusstsein verlieren.

Er brauchte nicht lang hinzuschauen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Beide Frauen hatten die gleiche Todesursache erlitten. Jeder von ihnen war der Schädel mit brachialer Gewalt eingeschlagen worden. Das konnte kein Mensch überleben. Keine Chance.

Er sah die Leiterin der Spurensicherung vor einem der Tücher knien und lief zu ihr. »Ulli, du schon wieder. Ich sehe dich seit Neuestem öfter als meinen besten Freund. Gegenüber dem Anblick heute Morgen allerdings sieht es ja hier echt schlimm aus. Da war der tote Richter eine wahre Augenweide.«

»Als ob du Freunde hättest, Paul. Die wenigen, die dafür infrage kämen, sind schon lange davongelaufen oder tot.«

»Ach, komm. So schlecht bin ich doch gar nicht«, versetzte er. »Hast du schon was Besonderes gefunden?«

Sie schüttelte zögernd den Kopf. »Noch nicht, Paul. Wir haben gerade erst angefangen. Es ist ein schrecklicher Tag, den ich bestimmt nicht so schnell wieder vergessen werde. Wir kommen mit der Arbeit kaum hinterher. Heute Morgen da draußen, jetzt hier drin. Meine Truppe musste sich teilen. Drei Kollegen sind beim Hofgerichtsstuhl, der Rest hier. Immerhin haben wir hier weniger Gaffer. Eines aber passt nicht und macht mich nachdenklich.«

»Was? Raus damit.«

»Die Ältere von den beiden, die vorn am Fahrstuhl liegt, trägt nur einen Unterrock. Sie wird wohl kaum so gearbeitet haben.«

»Das ist eigenartig. Habt ihr den fehlenden Arbeitskittel gefunden?«

»Noch nicht. Aber wenn es sein muss, krempeln wir den gesamten Turm nach dem Kleidungsstück um. Egal, wie lange er dann geschlossen bleiben muss.«

»Kannst du was zur Tatzeit sagen?«, versuchte Zeller erneut, Ulli ein paar Informationen zu entlocken.

»Es ist noch keine drei Stunden her. Der Notruf von hier kam um 6.40 Uhr. Viel früher wird man sie nicht getötet haben. Irgendwann zwischen ihrem Arbeitsbeginn und dem Anruf. Genauer geht’s nicht. Die Todesursache scheint klar, so eine rohe Gewalt überlebt niemand. Die jüngere Frau, da weiter hinten, versuchte zu flüchten. Sie kam nicht weit. Der Täter holte sie ein und erschlug sie. Dass kein Mensch ihr Schreien hörte? Man hat sie beide erschlagen wie räudige Hunde. Einfach nur grausam.«

»Die Tatwaffe muss stabil gewesen sein«, entgegnete Zeller und kauerte sich neben sie. »Ein Schirm oder ein Spazierstock wird es wohl eher nicht gewesen sein.«

»Auf keinen Fall! So eine Sauerei kann nur etwas Hartes anrichten wie ein Baseballschläger, eine Metallstange oder ein dicker Knüppel«, antwortete Ulrike Brenner und erhob sich.

»Oder ein Golfschläger«, sagte Zeller mehr zu sich selbst und schaute nachdenklich drein. Er meinte sich zu erinnern, im Foyer eine Tasche mit mehreren Golfschlägern stehen gesehen zu haben.

»Kann gut sein. Es gibt viele Möglichkeiten«, erwiderte die Kriminaltechnikerin dünnhäutig.

»Ich muss dir noch etwas zeigen. Du wirst erstaunt sein.« Er folgte ihr in den großen Konferenzraum. Der Gestank wurde immer grässlicher. Elli Jones, gerade ein wenig erholt, war zu ihnen gestoßen und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. Angewidert drehte sich die junge Frau bei dem Anblick gleich wieder weg.

Zeller traute seinen Augen nicht. Was sollte das sein? Eine Protestaktion mit Symbolcharakter? Hatte der Vortrag vom gestrigen Abend damit zu tun? Oder ging es gegen die Firma, die den Turm erbaut hatte? Mitten im Konferenzraum hing ein Schwein von der Decke. Der Bauch war geöffnet, aus ihm baumelten die Gedärme heraus. In die Schnauze hatte man dem Tier einen Packen Geldscheinattrappen gesteckt. »Zur Abwechslung wirklich was Neues, Ulli. Den Mord an einem Schwein habe ich bisher noch nie untersuchen müssen. Was soll Jones hier neben mir davon halten? Sie wird sich fragen, wo sie hineingeraten ist. Tierkadaver, ein ermordeter Richter und zwei erschlagene Frauen. Etwas viel für einen einzigen Tag.«

Er stellte seine blasse Kollegin und die Kriminaltechnikerin gegenseitig vor. Ulli Brenner lächelte Jones freundlich an. Irgendjemand musste ihr den Tag retten. Zeller würde es bestimmt nicht sein. »Ist für mich auch neu. Weder in der Ausbildung noch in Verbindung mit einem Mordfall habe ich so was schon gehabt. Allerdings hatte ich schon mit allerlei anderen Schweinen zu tun – unterschiedlichen Alters, beruflicher Position und Geschlechts. Wenn das nichts zu bedeuten hat … Ich habe die Sau extra für dich hängen lassen und hoffe, du dankst es mir einmal«, sagte sie zu Paul.

»Aber natürlich! Das weißt du doch. Ich bin gespannt auf den Todeszeitpunkt. Hing das Schwein schon, als die beiden Frauen den Raum betraten, oder hat man es später hier drapiert? Ich denke mal, es war schon da. Alles andere ergibt wenig Sinn.« Zeller hatte genug gesehen und verließ mit seiner neuen Kollegin den Konferenzraum. Draußen wandte er sich ihr zu: »Ich hoffe, der Tag heute wird Sie nicht von der Verwirklichung Ihres Berufswunsches abhalten. So etwas habe ich auch noch nicht erlebt. Glauben Sie mir. Und wahrscheinlich werden Sie das auch nie mehr erleben. Damit Sie auf andere Gedanken kommen, bringen Sie in Erfahrung, was hier gestern für eine Veranstaltung stattgefunden hat, wer referiert hat und wie viele Besucher da waren. Vielleicht ist eine Liste für Kartenvorbestellungen vorhanden. Dann haben wir Informationen darüber, wer anwesend war. Und lassen Sie bei den Bauern der Umgebung nachfragen. Ich will wissen, wem eine Sau abhandengekommen ist. Allerdings braucht derjenige nicht zu denken, dass er die zum Verwursten mitnehmen kann. Die geht nach Tübingen.«

»Jetzt gleich?«

»Nein, Jones, nächstes Jahr. Oder vielleicht übernächstes? Was stellen Sie für Fragen? Natürlich sofort! Wir brauchen Fakten.«

Sie nahmen den Panoramaaufzug nach unten. Eva, eine junge Polizistin, die gerade ihre Ausbildung beendet hatte, kam im Foyer auf Zeller zu. »Herr Kriminalhauptkommissar, im Raum zwei wartet die verantwortliche Turmmanagerin. Möchten Sie mit ihr sprechen? Sie heißt Elke Schatz.«

Er nickte und entschuldigte sich bei Jones. Dann folgte er der anderen Kollegin in das Zimmer neben dem zentralen Besuchereingang.

Dort stellte er sich kurz vor und setzte sich der Turmmanagerin gegenüber. Sie sah mitgenommen aus, weinte unaufhörlich und wischte sich ständig mit einem Taschentuch die Augen trocken. Das Make-up der adretten Frau um die 40 war verwischt. Schluchzend schnäuzte sie sich. Zeller wartete. Er wollte sie nicht drängen. Hier würde ein zu forsches Befragen das Gegenteil von dem bewirken, was er erreichen wollte. Er würde nichts erfahren. Als sie sich allmählich beruhigt hatte, sagte sie zu ihm: »Schrecklich. Einfach nur furchtbar. Berta war so eine treue Seele. Eigentlich hatte sie heute frei. Sie hätte gar nicht kommen müssen. Doch die Kollegin, die für heute eingeteilt war, musste sich krankmelden. Als ob sie es geahnt hätte. Berta ist deshalb kurzfristig eingesprungen. Man konnte immer auf sie zählen.«

»Sie waren zu zweit.«

»Ja, die andere Frau hieß Gudrun. Auch sie hat eine erkrankte Mitarbeiterin vertreten. Doch die Gudrun war das Gegenteil von Berta. Aber was soll man machen, es gibt nicht mehr viele gute Kräfte für diesen Job. Wer will sich denn heutzutage noch die Hände schmutzig machen! Da waren wir froh, dass …« Sie verstummte wieder. Der nächste Weinkrampf schüttelte sie. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Polizist. Es ist einfach abscheulich. Ich muss immerzu heulen. Dagegen kann ich nichts machen«, sagte sie schließlich etwas gefasster.

»Kein Problem, Frau Schatz. Sie sagen uns, was Sie gesehen haben, wenn Sie es können. Lassen Sie sich Zeit. Das wird schon noch«, beruhigte er sie.

Sie nickte und wischte sich wieder mit dem zerknüllten Taschentuch über die Augen.

Der Kommissar versuchte es erneut. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie den Turm betraten?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches. Es war wie jeden Tag. Die Schicht der Putzkräfte begann gegen 6 Uhr. Schließlich hätten wir heute unseren Turm ganz normal geöffnet und da kommen wirklich viele Leute zu uns. Da muss alles sauber sein. Es gab jede Menge Vorbestellungen für Führungen und Einzelbesuche. Die meisten Tickets werden über unseren Onlineshop geordert.«

»Gibt es einen Portier oder einen Sicherheitsdienst?«

»Nur einen Portier als Wachdienst in Personalunion. Der ist dann mit der Polizei verbunden. Zweimal die Nacht kommt eine Streife vorbeigefahren, einmal um Mitternacht, dann noch mal gegen vier.«

»Wer hatte Dienst in der vergangenen Nacht?«

»Eduard Seidel. Er war die gesamte letzte Woche zuständig. Es wird wöchentlich gewechselt. Bei großen Veranstaltungen hilft manchmal stundenweise Personal von einem anderen Sicherheitsunternehmen.« Wieder kamen der Frau die Tränen.

Zeller stand auf. Von ihr würde er heute nichts Verwertbares mehr erfahren. »Frau Schatz, es ist gut für heute. Kommen Sie morgen in mein Büro. Es ist zwar Sonntag, aber Ihre Aussage ist wirklich wichtig, das brauche ich Ihnen nicht extra zu sagen. Morgen können Sie mit mir oder mit einem meiner Kollegen über alles in Ruhe reden. Man wird sich jetzt um Sie kümmern und Sie gern nach Hause bringen, wenn Sie möchten.« Mit einem Kopfnicken gab er der soeben eingetroffenen Polizeipsychologin ein Zeichen.

Gerade als er den Raum verlassen wollte, rief die Managerin ihm aufgeregt hinterher: »Herr Kommissar, da war doch noch was. Fast hätte ich es vergessen. Als ich gleich nach dem Notruf gegen 7 Uhr zum Turm kam, war Ede Seidel vom Sicherheitsdienst nicht im Foyer an seinem Platz, wie sonst in aller Regel. Und trotzdem konnte ich eintreten, ohne den Pin eingeben zu müssen. Es war aber kein Mensch da. Erst nachdem ich laut nach Seidel gerufen habe, ist er erschienen.«

»Wo ist er gewesen?«

»Das weiß ich nicht. Er trug eine Papierrolle im Arm. Er sagte, er käme aus dem Raum für die Reinigungskräfte. Seine Jacke hatte einen deutlich sichtbaren nassen Fleck. Er hatte etwas verschüttet. Wenn Sie mich fragen, sah es wie Rotwein aus. Doch ich kann mich auch irren.«

»Ist die Tür um diese Uhrzeit immer nur über den Pin zu öffnen?«

»Oder mit dem Chip, den braucht man nur dranzuhalten. Meistens winke ich aber einfach nur dem anwesenden Sicherheitsbeamten zu und dieser öffnet mir dann die Eingangstür von seiner Theke aus. Der Betrieb geht ja erst viel später los. Heute war die Tür aber wie gesagt gar nicht verschlossen.«

Zeller dankte ihr und versuchte, freundlich zu lächeln, obwohl er mit seinen Gedanken längst woanders war. Der Hinweis auf Seidels Abwesenheit konnte wichtig sein. Was hatte der Mann gemacht, als Frau Schatz im Turm erschienen war? Hatte er wirklich etwas verschüttet und war gerade dabei gewesen, das Malheur zu beseitigen? Und konnte der Fleck nicht viel eher von Blut herrühren als von Rotwein? Er dankte der Turmmanagerin und versuchte, Jones zu finden. Doch sie war nirgendwo zu sehen.

Zeller lehnte sich an die Theke und wartete. Sein Smartphone fing an zu schellen. Es war Anne. Sie machte sich Sorgen um ihn. Normalerweise hätte er wenigstens einmal durchgerufen, wenn er schon so mir nichts, dir nichts verschwand. Ihre Stimme klang aufgeregt. Es war besser, wenn er sich beeilte, nicht, dass dieser Zustand sich noch hochschaukelte. Das wollte er unbedingt vermeiden. Er versuchte, sie zu beruhigen, was ihm ganz gut gelang. Jedenfalls hörte sie sich schon nach kurzer Zeit entspannter an. Es werde spät werden heute, sagte er ihr. Leider. Sie solle nicht auf ihn warten.