Mörderisches Rottweil - Herbert Noack - E-Book

Mörderisches Rottweil E-Book

Herbert Noack

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Am Morgen nach dem Jahresfest des Fördervereins im Rottweiler Salinenmuseum findet dessen Vorsitzende eine erhängte Frau im Rundbau. Es ist die attraktive Elke Schatz, ehemalige Managerin des TK Elevator Testturms. Schnell stellt sich heraus, dass sie ermordet wurde. Als kurze Zeit später ein zweiter Mord geschieht - wieder im Umfeld des Salinenmuseums - steht Kommissar Zeller mit seinem Team vor einem Rätsel. Und auch privat geht es beim Kommissar turbulent zu.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 303

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herbert Noack

Mörderisches Rottweil

Kommissar Zellers zweiter Fall

Zum Buch

Mord im Salinenmuseum Am Morgen nach dem Jahresfest des Fördervereins im Rottweiler Salinenmuseum findet dessen Vorsitzende Inge Kurz eine erhängte Frau im Rundbau. Es ist die attraktive Elke Schatz, die bis vor ein paar Monaten noch Turmmanagerin des TK Elevator Testturms gewesen ist. Schnell stellt sich heraus, dass die Frau ermordet wurde. Ein Motiv für die Tat ist nicht erkennbar. Kommissar Zeller und sein Team stehen vor einem Rätsel, viele Ermittlungsansätze laufen ins Leere. Immer wieder gerät dabei ein blauer VW Golf ins Blickfeld des Kommissars – er ist auf einen Hauptmann des KSK in Calw zugelassen. Ist der Täter dort zu suchen? Oder wurde Elke Schatz von ihrem geheimnisvollen Liebhaber getötet, den keiner zu kennen scheint? Kurze Zeit später geschieht ein zweiter Mord – wieder im Umfeld des Salinenmuseums. Und als wäre das nicht genug, kommt es bei Zeller auch privat zu unerwarteten Turbulenzen.

Herbert Noack, geboren 1961, lebt seit vielen Jahren am Rande des Schwarzwalds und hat sich ganz dem Krimi-Genre verschrieben. Oft und gern ist er in der freien Natur unterwegs. Dort kommen ihm die besten Ideen und Anregungen für seine Bücher. Er ist begeisterter Autor zeitgenössischer Krimis und spannender Unterhaltung. Mehr Informationen zum Autor finden Sie unter: www.herbert-noack.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Volker Loche / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7588-7

 

 

Kapitel 1

Nebel waberte durch das abgelegene Primtal unterhalb der alten Stadt. Eine weiße Suppe, die alles Licht in sich verschluckte, was zaghaft versuchte, das Undurchdringliche zu durchbrechen. Um diese Jahreszeit, es war Anfang Herbst, kam am frühen Morgen niemand in dieses hübsche Tal. Später schon, da würde wieder reger Verkehr hier herrschen – Spaziergänger, Wanderer, Radfahrer. Nicht einmal der regelmäßig auf den nahen Gleisen verkehrende Zug vermochte mit seinen starken Scheinwerfern die Schwaden zu durchdringen und die Fahrspur zu erhellen. Sicherheitshalber verringerte der Zugführer die Geschwindigkeit und ließ das Signalhorn erschallen, weithin hörbar. Immer wieder, bis er nach wenigen Augenblicken das Tal durchquert hatte und in den schönsten Sonnenschein fuhr. Rasch erhöhte er die Geschwindigkeit. Er wollte keine Verspätung riskieren.

Mitten in dieser Nebelwand schlug unerwartet eine Kirchturmuhr. Für diese Uhrzeit waren es viel zu viele Schläge. So spät, wie es das Uhrwerk dem Hörenden weismachen wollte, war es noch gar nicht. Als ob ein Kirchturm im Tal stünde, mit Gotteshaus, Apsis, Altar und Seitenflügeln. Vielleicht war es ein verwunschenes Kirchlein oder eine verlassene Kirchenruine, mochte sich ein Wanderer vorstellen, der hier das erste Mal in diesem Tal unterwegs war. In Rottweil war vieles alt. Da konnte es durchaus zutreffend sein. Das kleine Kapellchen oben auf dem Ösch am Weg hier herunter konnte es nicht sein. Das besaß keine Glocken. Hatte es noch nie besessen. Kaum waren die kalten Töne der Glocken verstummt, hörte man das Gebell eines Hundes. Immer wieder bellte das Tier aufgeregt und hörte erst auf, als eine Autotür geöffnet, kurze Zeit später mit einem Knall geschlossen und der Motor gestartet wurde. Aufheulend fuhr das Auto davon.

Eine gute Stunde später war der undurchdringliche Nebel verschwunden. Das, was vor Kurzem noch bedrohlich und geheimnisvoll dalag, wurde durch die auftreffenden Sonnenstrahlen verwandelt. Vor dem Auge des Wanderers öffnete sich ein liebliches, unberührtes Tal im saftigen Grün der Wiesen. Was für ein Anblick. Ein Stück Natur unterhalb der ältesten Stadt Baden-Württembergs, die langsam zum Leben erwachte. Hier unten hörte man nichts von der ruhelosen Geschäftigkeit der Einwohner, vom Autolärm auf den Straßen. Hier war es still. Ein schöner, wunderbarer Ort für einen gestressten Geist. Fast war man geneigt zu denken, einen Teil des Paradieses vor sich zu haben, ein kleines Stück vom Garten Eden. Ein schönes Tal, besonders dann, wenn man an einem sonnigen Tag zu Fuß oder mit dem Rad gekommen war, auf der Suche nach Ruhe, nach Natur, nach einer grünen Umgebung und wenigen Menschen. All das fand man hier. Nicht immer natürlich, besonders am Wochenende nicht. Da konnte es dem nach Erholung Suchenden schon passieren, dass er Teil einer ganzen Gruppe wurde, die dasselbe wollte wie er. Dann war er umgeben von den Menschen, vor denen er hatte fliehen wollen. Vielleicht! Es konnte aber auch sein, dass er Menschen traf, die er schon lange vergebens gesucht hatte, überall in der Stadt, und die er nun, vollkommen unvorbereitet, hier traf, in einer Gegend, wo er sie nie vermutet hätte. Es war ein friedliches Tal, das Primtal. Ein Wohlfühlort vor den Toren der malerischen mittelalterlichen Stadt Rottweil, ein Ort, an dem man nie etwas Grausames, etwas Abscheuliches, etwas Menschenverachtendes vermuten würde. Hier war die Natur intakt, gab es keine Wölfe, keine großen Raubtiere. In diesem Tal gab es nichts Gefährliches, nicht aus der Tierwelt und schon gar nicht aus der Welt des Menschen. Jedenfalls bisher noch nicht. Und das musste etwas heißen.

Hatte der Wanderer das kleine Brücklein über die Prim überquert, sah er zu seiner Linken ein hübsches, gepflegtes Areal auftauchen. Vom Salinenmuseum fielen ihm zuerst die zwei großen Türme ins Auge, die neben weiteren Gebäuden im schön hergerichteten Fachwerkstil standen. Dazu, etwas nach hinten versetzt, ein großer, beeindruckender Rundbau – das Kuppeldach eines ehemaligen Sole-Rundbehälters. Wieder ertönte die Glocke mit der falschen Anzahl von Schlägen. Ihr Klang schien aus dem Rundbau zu kommen. Genau wie die Schläge der Eingangstür, die im Wind immerzu gegen den Rahmen knallte.

Es war an einem Montag, als die gerade 65 Jahre alt gewordene Inge Kurz von ihrem Fahrrad stieg, es an den Maschendrahtzaun lehnte und umständlich einen Schlüssel aus ihrer Handtasche kramte. Sie war noch ein wenig müde. Es war spät geworden gestern, wie immer, wenn die Saison zu Ende ging und das beliebte Jahresabschlussfest stattfand. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss des Tores im Zaun und wunderte sich, als sie ihn nicht wie erwartet im Schloss umdrehen konnte. Das Tor war bereits offen. Na, so was aber auch, überlegte sie beim Betreten der Anlage, da hatten es die zuständigen Vereinsmitglieder gestern Abend aber eilig gehabt, nach Hause zu kommen, und dabei schlichtweg vergessen abzuschließen. Na gut, so was konnte schon mal vorkommen. Zu stehlen gab es in ihrem Museum ohnehin nichts. Die paar alten Werkzeuge interessierten nur ausgesuchte Sammler – für sie würde es sich kaum lohnen, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Das Infomaterial schon gar nicht. Durchgehen lassen konnte sie so eine Nachlässigkeit natürlich trotzdem nicht. Wo käme man da hin, wenn der eingeteilte Dienst seine Arbeit jedes Mal so schlampig verrichtete! Nicht auszudenken, was beim nächsten Mal passieren würde. Sie musste das Thema auf der nächsten Vereinssitzung ansprechen. Da biss die Maus keinen Faden ab.

Inge schloss den Raum auf, in dem sich das große Wasserrad befand. Neugierig schaltete sie den Stromschalter ein. Gestern, gerade zur Vorführung, hatte das Rad schon wieder gesponnen. Das war nichts Neues. Manchmal fing es sich aus unerklärlichen Gründen von allein wieder und funktionierte nach kurzer Zeit einwandfrei. Doch dieses Mal nicht. Es ruckte zwar an, aber in die falsche Richtung. Auch nach mehrmaligem Ein- und Ausschalten des Stromkreises besserte sich nichts. Da gab es nur eine Lösung: Achim musste ran, der Elektrikermeister. Wieder mal. Er war ihr Mann für alle Fälle. Sie war sich sicher, dass er es würde reparieren können, als Einziger aus ihrem Verein. Ein Bierchen extra für ihn würde es richten. Und ein Lächeln von ihr.

Sie stellte ihre Tasche auf das Tischchen im Nebenraum, als genau in diesem Moment der laute Stundenschlag der Uhr ertönte. Hatte man auch die wieder vergessen abzustellen? Wieso nur? Sie hatten doch vereinbart, sie nur kurz bei Führungen laufen zu lassen. Zu teuer war eine Reparatur dieses alten Relikts aus den Zeiten, als in der Saline noch voll gearbeitet wurde. Dreimal ertönte der Glockenschlag. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte Inge, dass die Zeit nicht stimmte. Es war gerade mal 9 Uhr vorbei. Sie lief schnurstracks zum Rundbau. Vorübergehend stutzte sie, als sie im aufkommenden Wind sah, wie die Tür des imposanten Baus sich öffnete und wenige Augenblicke später mit einem lauten Knall wieder zuschlug. Die stand also auch offen? Das wurde ja immer schöner! Ihr Team würde sich etwas anhören müssen, so viel war klar. Sie konnte sich doch unmöglich um alles allein kümmern. Wer hatte gestern den letzten Dienst gehabt? Dieter Gerke? Und Dörte Klein? Na klar. Dörte war ihr schon beim letzten Mal aufgefallen – es war das Aufräumen nach dem Open-Air-Kino gewesen. Inge musste unbedingt mit den beiden sprechen.

Beim Betreten des Rundbaus fiel ihr als Erstes das hin- und herschwingende Pendel der alten Uhr auf. Als sie den Hebel betätigte, der die Verbindung zu den Zahnrädern unterbrach, sah sie einen Schuh dahinter liegen. Einen eleganten roten Frauenschuh. Noch bevor sie sich fragen konnte, wie er dort hingekommen sein könnte, wanderte ihr Blick nach oben zur Kuppel, und sie sah die schreckliche Antwort: Direkt darunter, in gut fünf Metern Höhe, hing eine Frau. Sie trug nur noch einen Schuh. Er war rot. Inge schrie entsetzt auf und hastete panisch nach draußen. Mit zittrigen Händen wählte sie die Notrufnummer der Polizei.

Kapitel 2

Als Kriminalhauptkommissar Paul Zeller von seinem alten schwarzen Fahrrad stieg und das Museumsgelände betreten wollte, kam der Notarzt ihm bereits eilig entgegengelaufen.

»Du gehst schon, Lothar? Nichts mehr zu tun für dich?«, fragte Zeller hoffnungsvoll, obwohl er es besser wusste.

»Nein, Paul, die Frau ist tot, die braucht mich nicht mehr. Ob sie dich und deine Kollegen braucht, kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen – vielleicht hatte sie auch einfach von allem genug. Obwohl, die Würgemale sagen etwas anderes aus. Ulli kann dir sicherlich mehr dazu sagen, bei mir kam ein dringender Notfall dazwischen und ich muss los.«

»Ulli ist da?« Ein Lächeln glitt über Zellers Gesicht. »Ich dachte, sie ist noch immer vom Dienst freigestellt und erholt sich irgendwo in der Karibik?«, rief er dem davoneilenden Notarzt hinterher.

»Da bist du schlecht informiert. Sie ist mit ihrem Team dahinten im Rundbau und wird sich freuen, dich zu sehen. Wünsch dir noch was«, antwortete Lothar Paschke schon aus einiger Entfernung. Rasch verließ er das Museumsgelände und stieg in den davor wartenden Rettungswagen. Mit eingeschaltetem Martinshorn jagten sie davon. Dafür traf jetzt das Auto des Bestattungsdienstes ein. Als die zwei würdevoll dreinblickenden Männer in ihren schwarzen Anzügen ausstiegen, nickte Zeller ihnen zu. Man kannte sich inzwischen. Er bat die beiden, noch ein wenig zu warten, und stapfte selbst zum Ort der Tragödie. Wie er diesen Wechsel hasste. Diesen raschen Übergang vom Leben zum Tod.

Er kam nicht dazu, seine Gedanken zu vertiefen, denn hinter ihm ertönte der Ruf einer bekannten Stimme. »Paul, warte doch mal auf mich. Du hast ja einen Schritt drauf, da kommen doch keine zehn Pferde hinterher!« Keuchend holte ihn seine Kollegin, Kommissarin Elli Jones, ein. »Weißt du schon was Genaueres? Ich habe nur den Anruf bekommen, mich hier schleunigst einzufinden. Doch ehe ich dieses Museum hier gefunden hatte … So gut kenne ich mich noch nicht aus hier in der Gegend. Hättest mich ruhig abholen können.«

»Ich bin mit dem Fahrrad da. Auf meinem Gepäckträger wärst du bestimmt nicht gern mitgefahren«, entgegnete der Kommissar.

»Der Zeller wird zum Öko«, sagte sie trocken, »ist ja was ganz Neues. Aber finde ich gut!«

»Da siehst du mal wieder, zu was dein Chef alles fähig ist. Würde dir auch guttun.« Er lächelte die schlanke und durchtrainierte Elli schelmisch an. »Aber lassen wir die Scherze. Dort oben, im Rundturm, hängt eine Frau. Vielleicht ein Suizid, meinte der diensthabende Notarzt. Wenn es kein Mord war, sind wir hier wenigstens schnell fertig. Wäre doch auch nicht schlecht.«

Ullis Truppe von der Spurensicherung hatte das Areal schon weiträumig abgesperrt. Ein Zeller unbekannter Polizist stand Wache vor dem Rundbau und wies gerade den Chefreporter des Radios Antenne 1 Neckarburg Rock und Pop, Mike Färber, ab. Als dieser Zeller und Jones kommen sah, lief er sofort auf sie zu. »Herr Oberkommissar Zeller, können Sie mir schon etwas sagen? Was ist hier los? Sie wissen, die Hörer haben ein …«

Unwirsch stieß Zeller das Smartphone zur Seite, das der Reporter ihm unter die Nase hielt. »Färber, wo kommen denn Sie schon wieder her? Von wem haben Sie den Tipp erhalten? Machen Sie sich vom Acker, aber dalli! Sie haben hier nichts zu suchen.«

»Ach, kommen Sie schon, Herr Zeller. Sie schulden mir noch was.«

»Ach ja? Ich wüsste nicht, was das sein sollte. Scheren Sie sich jetzt zum Ausgang, ich will Sie hier drin die nächste Zeit nicht mehr sehen.« Zeller winkte den wachhabenden Polizisten heran. »Und noch was, Färber: für Sie immer noch Kriminalhauptkommissar Zeller. Über Ihren Informanten sprechen wir noch.« Er ließ den protestierenden Reporter stehen und wandte sich seiner Arbeit zu.

Zwei Kollegen der KTU, gekleidet in ihre weißen Schutzanzüge, durchsuchten das Gelände um den Rundbau. Ein weiterer warf den beiden Kripobeamten zwei Overalls zu, in die sie sich brav hineinzwängten. Vorschrift war Vorschrift.

Im Rundbau, dem großen Ausstellungsraum des Salinenmuseums, herrschte eine konzentrierte Atmosphäre. Vier weitere Kriminaltechniker waren, verteilt über den gesamten großen Raum, dabei, wichtige Spuren zu sichern. Eine alte Schubkarre lag umgekippt in der Ecke. Einige Infostände sahen aus, als ob sie verschoben oder mutwillig umgestoßen worden waren. Jedes auch noch so kleine Detail konnte letztendlich entscheidend sein. Was sie jetzt nicht akribisch sicherstellten, war womöglich für immer verloren. Das bedeutete Arbeit über Stunden. Kein guter Wochenbeginn, dachte Zeller, während er sich umsah. Neben dem großen Uhrenmechanismus stand ein offener Aluminiumsarg, der Inhalt war in einem weißen Sack verborgen.

»Hallo, Doktor Brenner! Schön, dich wiederzusehen, Ulli, ich habe dich schon vermisst. Alles gut bei dir?«, begrüßte Zeller die Leiterin der Spurensicherung. Sie erhob sich aus ihrer kauernden Stellung und lief ihm entgegen. Beide umarmten sich. »Schön, dass du wieder an Bord bist. Ohne dich ist alles nur halb so angenehm. Fast schon unerträglich.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Hättest dich doch mal bei mir melden können. Wäre schön gewesen.«

Ebenso leise erwiderte sie: »Paul, ich habe tausendmal daran gedacht und es tausendmal wieder verschoben. Ich hatte Angst davor. Du verstehst mich?«

Statt einer Antwort drückte er sie noch einmal fest an sich. Und wie er sie verstehen konnte.

Sie befreite sich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. Die Nähe zu ihm in der Öffentlichkeit war ihr nicht so angenehm. Elli Jones tätschelte ihr die Schulter und umarmte sie ebenfalls. Etwas gerührt wischte sich Ulli Brenner die glasig gewordenen Augen mit dem Handrücken ab.

»So, genug gekuschelt, die Wiedersehensfeier können wir auch auf später verschieben«, begann Zeller nun wieder gewohnt ruppig. »Was haben wir hier? Der Notarzt machte Andeutungen, dass es ein Suizid gewesen sein könnte?«

»Dann würden ich und mein Team nicht mehr gebraucht und wir wären längst über alle Berge. Ich bin da leider vollkommen anderer Meinung.« Ulli stellte sich mit verschränkten Armen vor Zeller.

»Schön zu hören, dass du wieder ganz die Alte bist. Auch wenn das in nächster Zeit eine Menge Arbeit für uns bedeuten könnte. Aber wir werden sehen. Wieso habt ihr die Frau nicht hängen lassen? Du weißt doch, dass ich den Fundort möglichst unverändert in Augenschein nehmen möchte.«

»Ging nicht anders, Paul! Auch nicht für dich. Da musst du schon früher kommen«, entgegnete ihm Ulli.

Zeller konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seiner Kollegin schien es tatsächlich schon wieder ganz gut zu gehen, obwohl sie fast ein ganzes Jahr krankgeschrieben gewesen war. »Todeszeitpunkt?«, fragte er, ohne auf ihre Spitze einzugehen.

»Die Leichenstarre ist bereits voll eingetreten. Ich schätze, so vor sechs, höchstens acht Stunden, also zwischen 1 und 3 Uhr heute in der Früh. Doch Genaueres wie immer erst nach der Obduktion. Die muss allerdings noch genehmigt werden. Der Staatsanwalt weiß Bescheid.«

»Konnte die Identität der Leiche festgestellt werden?«

Ulli Brenner schüttelte den Kopf.

»Kann ich sie mal sehen?« Ohne Ullis Antwort abzuwarten, bückte sich Zeller zum Sarg hinunter und öffnete den Reißverschluss des weißen Sackes. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er in das bläulich angelaufene Gesicht der Frau sah. »Na, wen haben wir denn da? Das ist ja ein grässliches Wiedersehen.«

»Du kennst sie? Irgendwie kam mir die Frau auch bekannt vor. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wo ich Sie schon einmal gesehen habe.«

»Da kann ich dir helfen: Sie heißt Elke Schatz, und als ich sie das erste Mal sah, arbeitete sie als Turmmanagerin im TK Elevator Testturm. Da erfreute sie sich noch allerbester Gesundheit. Und nun bringt sie sich hier in diesem alten Salinenmuseum einfach um? Kaum zu glauben.«

»Wie gesagt, ich denke nicht, dass sie selbst Hand an sich gelegt hat.«

»Aber Lothar …«

»Jaja. Der soll sich mit seinen Prognosen zurückhalten, gerade wenn er es so furchtbar eilig hat wie vorhin. Die sind meistens falsch. Er sollte ihren Tod lediglich feststellen und nicht untersuchen. Der gute Lothar soll mal lieber bei seiner Arbeit bleiben und versuchen, Menschenleben zu retten. Wenn das nicht mehr möglich ist, soll er alles andere besser uns überlassen.« Ulli Brenner bückte sich zur Leiche hinunter und legte ihren Hals frei. »Fällt dir was auf?«, fragte sie an Zeller gewandt.

Der Kommissar brauchte nicht lange hinzuschauen. Es waren Würgemale und eine tiefrote Strangfurche zu erkennen. »Es sieht so aus, als ob der Täter die Frau zuerst gewürgt und später aufgehängt hat. Siehst du die stecknadelgroßen Punkte um die Augen, auf den Augenlidern und Wangen?«, fragte Zeller.

»Das nennt man Petechien«, ließ sich Ulli Brenner vernehmen.

»Ich weiß«, mischte Elli Jones sich eifrig in das Gespräch ein, »Petechien sind venöse Stauungen und kommen oft bei Strangulationen vor. Ich tippe auf einen Mann als Täter. Zum Erwürgen braucht man Kraft. Elke Schatz wird sich gewehrt haben. Der Mörder hat bestimmt Kampfspuren davongetragen. Schaut euch doch mal ihre Fingernägel an! Das sind ja richtige Krallen. Drei davon sind abgebrochen. Unter den verbleibenden findet ihr bestimmt Hautreste. Auch kommt mir das eine Handgelenk seltsam verdreht vor. Es könnte gebrochen sein. Die Frau in diese Höhe hochzuwuchten und an ein Seil zu hängen, erfordert ebenfalls eine gewisse Stärke. Ich denke, Ulli, du hast vollkommen recht. Hier haben wir es mit einem eindeutigen Tötungsdelikt zu tun. Kannst du uns die Fotos von der Auffindesituation zeigen? Die könnten meine Hypothesen bestätigen.«

»Sicher kann es ein Mann gewesen sein. Muss aber nicht. Solange keine Beweise existieren, können wir nur mutmaßen«, brummte Zeller etwas verstimmt.

»So schlecht ist der Gedanke von Elli gar nicht. Oder der oder die Täter hatten das Seil über den Balken geworfen und dann die Frau hochgezogen«, gab Ulli zu bedenken.

»Gute Idee. So kann es gewesen sein. Aber auch dafür braucht man Kraft.« Zeller nickte nachdenklich.

»Wir werden bestimmt noch mehr Abwehrspuren an ihr finden. Lass sie uns erst mal richtig untersuchen. Dann wissen wir mehr.« Ulli verlangte nach der Digitalkamera.

Sofort kam Kriminaltechniker Rolf Hartmann zu ihnen, in der Hand trug er den Apparat. »Hallo, Paul, hör auf zu granteln. Wir mussten so handeln und konnten sie nicht länger dort oben hängen lassen. Hier sind die Fotos. Du und dein Team könnt sie euch später in der Dienststelle auf eurem PC ansehen. Ich schicke sie euch rüber.«

Zeller nickte ihm kurz zu und nahm die Kamera ungeduldig entgegen. Er wollte nicht so lange warten. Aufmerksam klickte er sich durch die Fotos. Hier und da vergrößerte er den Ausschnitt des Bildes und schaute genauer auf bestimmte Details. Die Fotos reichten, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen.

Er sah nach oben zu dem Balken, an dem der Strick befestigt gewesen war. »Ob er da hochgeklettert ist? Habt ihr Spuren dort oben gefunden?«

»Wir tippen auf die da drüben.« Hartmann deutete auf eine am Boden liegende Aluminiumleiter. »Die Frau könnte – rein theoretisch natürlich – auch selbst hinaufgestiegen sein.«

»Du meinst, sie ist hochgeklettert und hat dann die Leiter weggestoßen? Und hat sich die ganzen Wunden selbst zugefügt? Nein, das halte ich für wenig plausibel.«

»Wie gesagt, rein theoretisch. Du sagst doch selbst immer, dass keine Möglichkeit außer Acht gelassen werden darf«, verteidigte sich Hartmann.

Zeller ging nicht darauf ein. »Sie hatte kein Smartphone bei sich? Keinen Ausweis? Überhaupt keine persönlichen Dokumente? Keine Handtasche?«

»Nein. Auf jeden Fall haben wir bisher nichts gefunden. Aber wir sind hier auch noch nicht fertig.«

»Wer hat die Tote entdeckt?«, fragte Zeller weiter.

»Die Leiterin des Fördervereins Salinenmuseum Rottweil, eine Frau Kurz. Die wartet draußen in der Baracke, neben der Küche. Es ist jemand bei ihr, keine Sorge«, ließ sich Ulli Brenner an Hartmanns Stelle vernehmen und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu.

Zeller und Jones ließen die Techniker allein und liefen hinunter zu der Baracke, die Ulli ihnen genannt hatte. Es handelte sich dabei um einen älteren Flachbau, der früher als Aufenthaltsraum für die Arbeiter der Saline gedient hatte und später als Wohnung für einen der letzten Salinenangestellten – ein Bohrhauswärter – und seine siebenköpfige Familie. Jetzt war es das Vereinsheim. Immerhin wurde die Saline noch bis Ende der 60er-Jahre wirtschaftlich genutzt. Erst 1969, nach insgesamt 145 Jahren, waren die Feuer unter den Siedepfannen für immer erloschen. 800.000 Tonnen Salz waren hier über die Jahre gewonnen worden. Eine enorme Menge. Jones hatte sich informiert und bombardierte den Kommissar auf dem Weg zu ihrer Zeugin mit ihrem erworbenen Wissen.

»Du kannst ja als Museumsführerin anheuern«, quittierte Zeller ihren Vortrag bissig.

»Gar keine schlechte Idee. Die Leute im Verein sind allemal freundlicher als du«, konterte Jones.

Inge Kurz saß am Tisch, ein Glas Wasser vor sich, und schaute angestrengt auf das vor ihr liegende Smartphone. Immer wieder tippte sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand hektisch darauf herum. Sie schien sich angeregt mit jemandem auszutauschen. Sicherlich wusste bereits die halbe Welt von der Toten, zumindest die vielen Vereinsmitglieder.

Zeller stellte sich vor und zeigte seinen Dienstausweis. Elli machte es ihm nach. Frau Kurz schaute nur flüchtig zu ihnen hoch und danach gleich wieder auf ihr Smartphone. Zeller zog einen Stuhl heran und bedeutete Jones, sich zu setzen und die Befragung zu übernehmen. Er würde später wieder dazustoßen, nachdem er sich einen Überblick über das Museumsgelände verschafft hatte. Das konnte er am besten allein.

Er verließ die Baracke. Ein paar Meter entfernt befand sich ein verwaister Spielplatz, dahinter stand ein Bohrhaus mit einem beträchtlichen, gut zwölf Meter hohen Bohrturm, in dessen Boden sich ein stillgelegtes Solebecken befand. Nachdenklich stand Zeller am Fuß des Turms und schaute nach oben. Hier wäre es viel einfacher gewesen, die Tat zu begehen. Man konnte seitlich ohne große Anstrengung auf einer Holztreppe nach oben steigen, sich ans Seil hängen und einfach herunterfallen lassen. Einfacher ging es kaum. Doch für Zeller bestand kein Zweifel daran, dass Fremdverschulden vorliegen musste. Wieso aber ausgerechnet im Rundbau und nicht hier? Hatte der Täter Elke Schatz gezielt dorthin gelockt? Oder war es Zufall gewesen? Er würde schon noch dahinterkommen.

Als er das Fachwerkgebäude verließ, bog er scharf nach links ab. Hinter dem Haus war ihm ein schmaler Durchgang aufgefallen. Ein tolles Versteck für jeden, der ungesehen bleiben wollte. Auf der rechten Seite des Ganges befand sich eine Tür, die zu einem Keller oder Abstellraum gehören musste, der in den Grashügel eingegraben war. Wie tief er war, konnte Zeller nicht abschätzen. Er drückte die Klinke hinunter und rüttelte an der Tür. Sie war stabil und verschlossen. Der Boden davor war fest. Fußabdrücke waren keine zu sehen. Dem Keller gegenüber stand und lag, kreuz und quer, allerlei Gerümpel herum. Auf dem Boden dazwischen entdeckte er den Stummel einer Zigarillo. Der Kommissar angelte sich einen Asservatenbeutel aus seiner Manteltasche und schob den Stummel mithilfe eines Stöckchens hinein. Dann nahm er sein Smartphone zur Hand und erzählte Ulli von dem Keller. Sie sollten ihn sich mal anschauen, er könne interessant sein.

Einen kurzen Augenblick blieb er noch vor einer kleinen Ziegenherde stehen, die hinter dem anderen, fast identisch aussehenden Bohrhaus friedlich graste. Ab und an meckerte ein Tier von ihnen. Beneidenswert, dachte der Kommissar, sie ahnen nicht, was sich ganz in der Nähe Schreckliches abgespielt hat. Einem plötzlichen Impuls folgend, griff Zeller in die Innentasche seines Mantels, holte den Flachmann heraus und genehmigte sich einen tiefen Schluck. Anschließend ließ er ihn rasch wieder in der Tasche verschwinden.

Er riss sich los vom Anblick ländlicher Idylle, vergrub seine Hände tief in seinen Manteltaschen und lief zurück in das Vereinshaus, wo Jones der Frau vom Förderverein gerade die Frage stellte, ob denn bei dem Fest gestern die Tote ebenfalls dabei gewesen sei. Inge Kurz zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete: »Ich bin mir nicht ganz sicher. Es war so viel los hier. Sich an jeden Einzelnen zu erinnern, ist schwer. Allerdings die roten Schuhe … Eine Frau mit solchen Schuhen meine ich gesehen zu haben, aber wie schon gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Verein ist sie jedenfalls nicht, sonst würde ich sie kennen. Am besten, Frau Kommissarin, Sie fragen Tina Merkle, meine Stellvertreterin. Vielleicht kann sie sich besser an die Besucher von gestern erinnern.«

»Haben Sie das Museumsgelände als Letzte verlassen?«, fragte Jones weiter.

»Nein. Dieter Gerke und Dörte Klein hatten Dienst. Sie waren dafür verantwortlich, alles noch einmal zu überprüfen und die Türen abzuschließen. Wir sind vielleicht eine halbe Stunde früher weg als die beiden.«

Jones ließ sich die Kontaktdaten der Stellvertreterin und der beiden Vereinsmitglieder aufs Smartphone schicken. Zeller telefonierte indes mit Carla Zimmermann. Die Kriminalkommissarin und IT-Expertin der Polizeidirektion Rottweil meldete sich prompt. Zeller bat nach der Adresse von Elke Schatz.

»Von der Turmmanagerin des TK Elevator Teststurms? Ist das die Leiche im Salinenmuseum? Da gab es bereits Probleme. Die neue Staatsanwältin wollte nicht gleich eine Obduktion gestatten, habe ich mitbekommen. Allein der Verdacht auf einen Suizid reiche ihr schon für eine Ablehnung aus. Die Kosten müssten runter. Aber Ulli hat ihr wohl ganz schön eingeheizt, jedenfalls willigte sie schließlich ein. Ihr Argument, dass laut Statistik jeder zweite Todesfall nicht als Tötungsdelikt erkannt wird, zieht anscheinend immer.«

»Gut so, alles andere wäre auch noch schöner! Aus Kostengründen auf eine Obduktion verzichten, wo kommen wir denn da hin? Im vorliegenden Fall deutet vieles auf ein Tötungsdelikt hin, das muss untersucht werden. Und dies geht nur über eine ordentliche Leichenbeschauung und Obduktion. Wie heißt denn die neue Kollegin?«

»Sonja Beinhard. Der Name ist anscheinend Programm.«

»Ach, du lieber Himmel! Das kann ja heiter werden. Was ist nun mit der Adresse von Frau Schatz?«

»Habe ich dir bereits aufs Handy gesendet. Ihre Wohnung befindet sich in der Römerstraße, gar nicht weit weg vom Museum.«

»Bestell schon mal den Hausmeister hin, und wenn der nicht erreichbar ist, den Schlüsseldienst. Ich muss dort rein.«

Carla versprach, alles zu erledigen, und legte auf.

Zeller und Jones verließen das Museumsgelände. Sie würden getrennt fahren, Zeller mit dem Rad und Jones mit dem Dienstauto. Gerade als Zeller losradeln wollte, erschien vor dem Eingang des Museums ein schwarzer Pick-up. Als er auf Höhe des Kommissars war, hielt der Wagen an und die Fensterscheibe glitt hinunter.

»Was ist denn hier schon wieder los? Sogar die Polizei ist da. Da muss ja was Schlimmes passiert sein«, erkundigte sich der etwa 50-jährige Mann hinter dem Steuer. Er trug Arbeitsklamotten und eine olivenfarbene Arbeitsmütze aus alten Armeebeständen. Wütendes Hundegebell ertönte aus dem Fond. »Aus, Dieter«, befahl der Fahrer. Das Gebell verstummte augenblicklich. »Hier ist schon wieder Remmidemmi, was? Ist doch immer wieder das Gleiche.«

»Wer bitte sind Sie?«, fragte Zeller zurück und zog seinen Dienstausweis aus der Tasche.

»Sander, Bodo«, erwiderte der Mann. Er warf einen Blick auf Zellers Ausweis. »Angenehm, Herr Hauptkommissar.«

»Wieso haben Sie die Absperrung missachtet?«

»Weil ich dahinten wohne.« Er machte eine unbestimmte Kopfbewegung in Richtung des alten Viadukts, welches sich gut hundert Meter hinter dem Museum befand. »Ich fahre doch nicht wegen euch einen Riesenumweg bei den hohen Spritkosten. So weit kommt es noch.«

»Wenn Sie hier in der Nähe wohnen, sind Sie sicherlich oft hier unterwegs. Kennen Sie das Museum?«

»Ja, natürlich. Fast jeden Tag schaue ich hier nach dem Rechten. Ist doch sicherer so. Die Anlage liegt so abgeschieden.«

»Wo waren Sie gestern Abend, Herr Sander?«

»Zu Hause. Auf das Fest im Museum hatte ich keine Lust, wenn Sie das meinen.«

Zeller musterte den Mann skeptisch. Spielte er sich nur auf oder fühlte er sich tatsächlich der Anlage verpflichtet? Auf jeden Fall musste er den Mann eingehender befragen. Vielleicht konnte er ihm einiges erzählen. Aber nicht jetzt, er hatte es eilig. Er wollte zu Frau Schatz’ Wohnadresse in die Römerstraße. »Herr Sander, können Sie heute gegen 15 Uhr in meine Dienststelle in der Kaiserstraße kommen?«

»Wieso denn das? Weil ich nicht auf diesem Fest gewesen bin?« Der Mann schaute Zeller entgeistert an.

Der lachte. »Wie kommen Sie denn auf diesen Unsinn? Ich möchte mich nur mit Ihnen unterhalten. Natürlich kann ich auch zu Ihnen nach Hause kommen, wenn Sie keine Möglichkeit haben, bei uns zu erscheinen. Die Zeit nehme ich mir gern. Wo, sagten Sie, wohnen Sie?«

Die letzte Variante schien ihm nicht besonders zuzusagen. Sander lenkte ein. »15 Uhr, sagten Sie, Herr Kommissar? Das klappt super. Ich komme vorbei. Adele!«

Kaum war der Mann weitergefahren, griff Zeller nach seinem Flachmann und nahm einen Schluck daraus. Danach radelte er los. Die körperliche Bewegung tat ihm gut. Außerdem konnte er damit seinem Umweltbewusstsein Ausdruck verleihen. Seine Tochter würde sich ebenfalls freuen. Gleichwohl wusste er, dass es komisch aussah, wenn er mit wehendem Mantel auf seinem alten, aus den 50er-Jahren stammenden Drahtesel durch die Straßen preschte. Das Fahrrad war ein Überbleibsel aus Annes Wohnungsauflösung, ein Kellerfund bei seiner vor gut einem Jahr so tragisch verstorbenen Lebensgefährtin. Er hatte es behalten. Jetzt war immer ein Stück von seiner Anne mit ihm unterwegs. Wenigstens das.

Zellers Weg führte die lange Primtalstraße entlang, an dem kleinen Kapellchen im Ösch und an der Firma Mahle vorbei, direkt auf die Römerstraße. Dort bog er nach links ab. Es war nicht mehr weit. Den Dienstwagen sah er schon von Weitem an der Straße parken, von der Kollegin allerdings weit und breit keine Spur. Er lehnte sein Fahrrad an einen Holzzaun und suchte die Eingangstür zu dem zweigeschossigen Vierfamilienhaus. Die Tür war verschlossen. Doch wo war Jones? Suchend schaute er sich auf der Straße um. In der Annahme, dass die Kollegin mit dem Hausmeister bereits in der Wohnung war, drückte er die Klingel neben dem Namen »Schatz«. Nichts tat sich. Er klingelte sicherheitshalber noch einmal.

Eine urplötzliche, ohrenbetäubende Detonation erschütterte die Umgebung. Zeller wurde rücklings auf die Straße geschleudert. Fensterscheiben gingen zu Bruch und ein Glasregen, vermischt mit zerborstenen Steinstückchen, prasselte auf den Kommissar nieder. Schützend hielt er die Hände vors Gesicht und rollte sich zur Seite.

Zeller brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Vorsichtig tastete er seinen Körper ab, aber außer seinen blutigen Händen konnte er keine Verletzungen ausmachen. Mühsam raffte er sich auf und starrte auf das Wohnhaus von Elke Schatz. In der Außenwand klaffte ein riesiges Loch im Mauerwerk. Als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, wandte er sich um. Elli Jones kam aus dem gegenüberliegenden Haus gerannt, dicht gefolgt von einem Mann in blauem Arbeitskittel. Auch in diesem Gebäude war ein Teil der Fensterscheiben zerborsten. Kurze Zeit später heulten Sirenen auf, das Martinshorn ertönte. Die Feuerwehr kam angerauscht, kurz dahinter der Rettungsdienst und die Polizei. Befehle ertönten. Die Straße wurde gesperrt. Die Eingangstür, oder besser gesagt der klägliche Rest davon, baumelte noch an einem einzigen Scharnier. Feuerwehrleute stürmten ins Haus und suchten nach Bewohnern.

Zeller hatte sich zu einem Baum geschleppt und saß an dessen Stamm gelehnt. Er hielt sich das rechte Ohr. Es schmerzte. Um ihn herum war es seltsam leise, obwohl die Rettungsmaßnahmen in vollem Gange waren. Alles drang nur verzerrt zu ihm durch. Mühsam angelte er sich den Flachmann aus der Innentasche. Wenigstens der war heil geblieben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht trank er einen Schluck des scharfen Destillats und schüttelte sich. Jemand fasste ihm an die Schulter. Er blickte auf. Es war Elli. Sie kniete vor ihm nieder und redete auf ihn ein. Er hörte nicht, was sie sagte. Ungläubig schaute er auf ihre Lippen. Sie hatte seinen Hut von der Straße aufgesammelt, den Staub abgeklopft und ihm in die Hand gedrückt. Er hielt ihn krampfhaft fest. Lothar Paschke, der Notarzt, kam zu Zeller gerannt. Mit einer Taschenlampe leuchtete er in Zellers Pupillen und rief den Rettungssanitäter zu sich. Dann gab er Zeller eine Spritze. Noch ein Rettungswagen traf heulend ein. Dazu zwei weitere Polizeistreifen. Es herrschte ein Riesenaufruhr auf der alten Römerstraße. Zeller wurde auf eine Trage gelegt. Doch dies bekam er nur noch am Rande mit.

»Zeller, du besitzt mehr Leben als eine Katze. So viel Schwein muss man erst mal haben! Mensch, Paul, das war richtig knapp. Es hätte dich zerfetzen oder erschlagen können – du hast so was von Glück gehabt!«, sprach Elli Jones erleichtert zu ihm. Sie und Ulli Brenner standen zu seiner Linken an seinem Krankenhausbett und redeten auf ihn ein. Auf der anderen Seite stand Karl Riechle mit verschränkten Armen und schaute lächelnd auf den Kommissar herab. Zeller hätte sich am liebsten die Bettdecke über den Kopf gezogen und diesen wohlgemeinten Besuch beendet. Es strengte ihn an, all dem zu folgen, was sie von sich gaben. Doch er kannte sein Team und wusste, dass es nichts genützt hätte. Sie hätten die Bettdecke einfach wieder zurückgeschlagen, hätten ihm das Kopfkissen aufgeschüttelt und etwas zu trinken gereicht. So waren sie nun mal. Hart in der Sache, aber absolut fürsorglich einem Kollegen gegenüber. Erst recht, wenn der sich im Dienst verletzt hatte. Zeller schloss die Augen. Das Ohr schmerzte noch immer, wenn auch nicht mehr so sehr wie unmittelbar nach der Explosion. Immerhin hörte er wieder ganz gut. Erstaunlich. Und sehr beruhigend für ihn.

»Dein Trommelfell war eingerissen. Nicht an beiden Ohren, zum Glück. Nur am rechten. Es wurde gleich operiert. Die Ärzte konnten es retten. Sei froh. Du hast noch eine Tamponade drin, nach drei Wochen kannst du sie herausnehmen. Vorher auf keinen Fall! Dass das klar ist. Keine Experimente, Chef, wir kennen dich.« Ulli ließ ihre geballten medizinischen Kenntnisse auf ihn los.

»Gab es noch mehr Verletzte? Tote? In dem Haus waren doch mehrere Wohnungen«, versuchte Zeller, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

»Nein. Zum Glück nicht.«

»Keine Verletzten? Bei dieser riesigen Detonation?«

»Ich weiß, es ist erstaunlich, aber alle waren ausgeflogen. Was für ein Zufall. Es ist kaum zu glauben«, antwortete die Leiterin der K8 ihm achselzuckend.

Zeller schaute kritisch zu seinen Kollegen. Neben Riechle standen jetzt auch Carla Zimmermann und Lisa Brecht. Letztere hielt einen Blumenstrauß in den Händen, wohl wissend, dass Zeller nicht gerade als großer Blumenfreund bekannt war. Trotzdem hatte sie auf den Strauß bestanden.

Die Tür des Krankenzimmers wurde aufgerissen. »Ja, Paul, was machst du denn für Sachen? Kaum lässt man dich mal ein paar Stunden allein, fliegt gleich eine ganze Wohnung in die Luft! Aber dafür siehst du doch noch recht gut aus. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, als mir Ulli von dieser fürchterlichen Explosion erzählt hat. Schlimm, schlimm! Ein Alain Delon wird sowieso nicht mehr aus dir. Eher ein Belmondo. Die Boxernase von ihm hast du schon.« Alois Bastian lachte. Der Polizeipräsident vom Polizeipräsidium Konstanz hatte es sich nicht nehmen lassen, Zeller persönlich zu besuchen. »Wir sollten hier in der Rottweiler Helios Klinik gleich dauerhaft ein Zimmer für die Mitarbeiter der Kriminalinspektion 1 reservieren, vielleicht bekommen wir es dann günstiger.« Er lachte laut auf und boxte Zeller auf den Oberarm. Der stöhnte und verzerrte das Gesicht, als bereite ihm das fürchterliche Schmerzen. Bastian reagierte erschrocken: »Oh, Paul, entschuldige. Das wollte ich nicht.«

Jetzt war es an Zeller, zu lachen. Als Bastian seinen Irrtum erkannte, stimmte er erleichtert mit ein.

»Wieso waren alle weiteren Bewohner des Hauses ausgeflogen?«, wurde Zeller wieder ernst. »Das will mir nicht in den Kopf. Könntet ihr da mal nachhaken? Es muss einen Grund dafür geben. Eine Einladung beispielsweise, die allen gegolten hat und der sie ohne Zögern gefolgt sind.« Er schaute auffordernd in die Runde.

»Ich komme gerade von der Befragung des letzten Anwohners. Wir haben mit allen vor Ort gesprochen, natürlich mit den Bewohnern des Hauses und den Leuten aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Es war eine Heidenarbeit, und ohne Elli, Karl und einige weitere Kollegen vom Kriminaldauerdienst, dem Streifendienst und der Schutzpolizei hätten wir das nie so schnell bewerkstelligt. Aber bevor ich davon berichte, brauche ich erst mal eine Vase. Die Blumen werden in meinen Händen nicht besser.«