Die Tretmühlen des Glücks - Mathias Binswanger - E-Book

Die Tretmühlen des Glücks E-Book

Mathias Binswanger

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Beschreibung

Macht ein Sportwagen oder eine Luxusyacht glücklich? Forschungsergebnisse sagen: Nein! Mathias Binswanger macht deutlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Glück geradezu verhindert. Wie entgehen wir den Tretmühlen der Glücksverheißung: mehr Einkommen, Status, immer neue Chancen, immer noch mehr Zeitersparnis ...? Aus der Sicht eines Ökonomen: ein Buch über die wirklichen Voraussetzungen des Glücks.

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Mathias Binswanger

Die Tretmühlendes Glücks

Wir haben immer mehrund werden nicht glücklicher.Was können wir tun?

Aktualisierte Neuausgabe 2019

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2006

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design

Umschlagmotiv: © Tatyana Markusheva/dreamstime

Satz: Dtp-Satzservice Peter Huber, Freiburg

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-451-81623-9

ISBN (Buch) 978-3-451-60079-1

Inhalt

Vorwort

Einleitung Das merkwürdige Verhältnis zwischen Geld und Glück

Teil I:Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück – Was die empirische Forschung sagt

1. Was ist Glück und wie kann man es messen?

2. Sind die Menschen in reichen Ländern glücklicher als in armen Ländern?

3. Sind die Menschen mit dem Wirtschaftswachstum glücklicher geworden?

4. Sind reiche Menschen glücklicher als arme Menschen?

5. Können reichere Menschen mehr Dinge tun, die glücklich machen?

6. Mehr Geld, weniger Zeit – Menschen im Stress

Teil II:Tretmühlen, die Glück versprechen, es aber verhindern

7. Die Statustretmühle

8. Die Anspruchstretmühle

9. Die Multioptionstretmühle

10. Die Zeitspartretmühle

11. Das Dilemma moderner Wirtschaften:kein Wachstum ohne Tretmühlen

Teil III:Raus aus den Tretmühlen!

12. Sitzen wir alle in der Falle?

13. Strategie 1: Wahl des richtigen Teiches!

14. Strategie 2: Attraktives Sozialleben statt Anhäufung materieller Güter!

15. Strategie 3: Nicht immer nach dem Besten suchen!

16. Strategie 4: Vermeidung von stressigen Formen des Familienlebens!

17. Strategie 5: Nutzung der Potenziale für räumliche und zeitliche Flexibilisierung!

18. Strategie 6: Keine Verherrlichung von Effizienz, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Reformen!

19. Strategie 7: Einführung von verpflichtenden Beschränkungen!

20. Strategie 8: Kampf der Ranking-Manie!

21. Strategie 9: Beschränkung der Spitzengehälter statt mehr staatlicher Umverteilung!

22. Strategie 10: Üben Sie sich in der Lebenskunst!

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch geht zurück auf eine Konferenz an der Universität Bicocca in Mailand im Jahre 2003. Diese stand unter dem Titel „Die Paradoxien des Glücks“ und vereinigte Philosophen, Psychologen, Soziologen und Ökonomen. Sie präsentierten Forschungsarbeiten zum Glücksparadox, welches die Tatsache beschreibt, dass wir zwar immer reicher, aber nicht glücklicher werden. Ich war einer der an der Konferenz beteiligten Ökonomen und mein Vortrag trug den Titel „Warum macht uns der steigende Wohlstand nicht glücklicher? – Die Tretmühlen hinter den Glücksparadoxien“. Die vier verschiedenen Tretmühleneffekte, die ich dort als eine Ursache für die Stagnation des Glücks vorgestellt habe, bilden nun die Grundlage des vorliegenden Buches.

Ein Buch zum Thema Glück zu schreiben, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie. Denn unzählige Stunden allein vor dem Computer zu sitzen und Satz für Satz in die Tastatur zu hämmern, ist sicher keine Tätigkeit, die für besonders glückliche Momente sorgt. Zwei Tatsachen haben allerdings dazu beigetragen, dass mein persönliches Glücksempfinden unter dem Buch nicht allzu stark gelitten hat. Zum einen habe ich dem monotonen Schreibprozess durch mehrfache geografische Veränderung entgegengewirkt. Teile dieses Buches sind in so exotischen Ländern wie Äthiopien, Kenia oder Madagaskar entstanden, wo einfache Hotelzimmer zu meiner Schreibstube mutierten. Und zum andern war ich gezwungen, das Schreiben immer wieder für längere Zeit zu unterbrechen, da dieses Buch neben meiner Tätigkeit als Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten entstand. Auf diese Weise wurden allzu intensive und lange Schreibphasen auf ganz natürliche Weise verhindert – allerdings auch eine schnelle Fertigstellung des Buches.

Eine intensive Schreibphase gab es jedoch. Aufgrund eines mir von der Fachhochschule Nordwestschweiz genehmigten Freisemesters konnte ich während des Jahres 2004 mehrere Monate ohne Lehrverpflichtung an diesem Buch arbeiten. Ich hoffe deshalb, mit dem nun vorliegenden Resultat auch einen Beweis für den Nutzen von Freisemestern zu liefern, denn ohne dieses wären die Tretmühlen des Glücks wohl für immer in der Planung geblieben. Eine weitere Institution, die für das Entstehen dieses Buches eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist der Club of Vienna, dem ich seit Jahren als Mitglied angehöre. Dieser Club wurde vom im Jahre 2005 verstorbenen Evolutionsbiologen Rupert Riedl in Wien gegründet und vereinigt Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Verschiedene Teile dieses Buches (vor allem Kapitel 11) sind aus Projekten des Clubs hervorgegangen, die sich mit der Zukunft unserer Wirtschaft und ihren Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt auseinandersetzen.

Bis hierher entspricht das Vorwort dem Originalvorwort aus dem Jahr 2006. Inzwischen sind 12 Jahre vergangen, doch die Grunderkenntnis ist geblieben: Wir werden immer reicher, aber nicht glücklicher. Zwar haben einige Ökonomen in der Zwischenzeit zu beweisen versucht, dass das durchschnittliche Glücksempfinden selbst in wohlhabenden Ländern mit dem Wirtschaftswachstum weiter zunimmt. Doch die empirischen „Beweise“ ließen sich nur mit statistischer Gewalt aus den Daten herauspressen und blieben wenig überzeugend. Und auch die seither über uns hereingebrochene digitale Transformation hat keinen neuen Glücksschub ausgelöst. Es gibt somit keine grundlegend neuen empirischen Erkenntnisse, welche die 2006 gezogenen Schlussfolgerungen in Frage stellen würden. Ich habe nur einige Aktualisierungen vorgenommen und die Literatur ergänzt.

Geblieben ist auch das im Buch angesprochene Dilemma moderner Volkswirtschaften. Einerseits macht weiteres Wachstum die Menschen in wohlhabenden Ländern im Durchschnitt nicht glücklicher. Andererseits leben wir in Wirtschaften, die ohne Wachstum nicht funktionieren. Zu diesem Thema erscheint ebenfalls 2019 ein Buch von mir unter dem Titel Der Wachstumszwang – warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben. Dort werden die ökonomischen Hintergründe dieses Dilemmas genauer ausgeleuchtet und es wird erklärt, wie der Wachstumszwang tatsächlich zustande kommt. Wer sich für diese Fragestellung interessiert, sei deshalb an mein neues Buch verwiesen.

Auch mein persönliches Glück hat durch die Publikation von Die Tretmühlen des Glücks einen entscheidenden Schub erhalten. Erstmals richtete ich mich mit diesem Buch an eine breite Öffentlichkeit und nicht mehr an ein paar Fachkollegen, wie das der Fall ist, wenn man rein wissenschaftliche Artikel schreibt. So konnte ich endlich etwas Humor in meine Texte einfließen lassen und mich der Monotonie des Fachjargons entziehen. Dadurch kehrte auch die Freude an der wissenschaftlichen Tätigkeit zurück, die mir immer mehr abhandenzukommen drohte. Ich hatte das Gefühl, mich wieder mit interessanten und relevanten Themen zu beschäftigen, ohne Sachverhalte möglichst kompliziert in formalen Modellen darstellen zu müssen. So war dieses Buch auch der Startschuss für ein zweites wissenschaftliches Leben als „populärer Ökonom“, der sich bemüht, Bücher und Artikel zu schreiben, die unterhaltend und allgemeinverständlich sind, und gerne Vorträge vor Nichtökonomen hält.

Olten, Dezember 2018

Einleitung

Das merkwürdige Verhältnis zwischen Geld und Glück

„Glücklich möchten alle Menschen werden.

Wenn sie reich wären, würden sie auch glücklich sein,

meinen die meisten, meinen, Glück und Geld verhielten

sich zusammen wie die Kartoffel zur Kartoffelstaude,

die Wurzel zur Pflanze. Wie irren sie doch gröblich!“

(JEREMIAS GOTTHELF)

Das durchschnittliche Glücksempfinden bzw. die Zufriedenheit der Menschen in entwickelten Ländern nimmt schon lange nicht mehr zu, obwohl die durchschnittlichen Einkommen sich mit dem Wirtschaftswachstum stets weiter erhöhen. Das belegen die empirischen Studien, auf die ich mich in Teil I dieses Buches beziehe. Aber das ist noch nicht alles. Umfragen zeigen auch, dass sich immer mehr Menschen gestresst fühlen. Daraus lässt sich eine eindeutige Schlussfolgerung ziehen: Offenbar leben Menschen nicht so, wie es für sie selbst am besten wäre.

Es ginge ihnen insgesamt besser, wenn sie mehr Zeit hätten und dafür auf zusätzliches Einkommen verzichten würden. So zeigt etwa eine Untersuchung, dass Menschen, die Überstunden machen und deshalb mehr verdienen, dadurch nicht glücklicher werden.1 Trotzdem machen aber viele Menschen freiwillig Überstunden und streben generell nach einem immer noch höheren Einkommen. Die interessante Frage lautet deshalb: Wenn die Menschen ein anderes Verhalten glücklicher machen würde, warum ändern sie es dann nicht?

Der Grund liegt in den sogenannten Tretmühleneffekten, welche im Zentrum von Teil II dieses Buches stehen. Auf einer Tretmühle kann man immer schneller laufen und diese immer schneller bewegen, doch man bleibt immer am selben Ort. Genau gleich verhält es sich mit dem menschlichen Streben, durch mehr Einkommen glücklicher zu werden. Die Menschen werden dadurch zwar immer reicher, aber was ihr Glücksempfinden betrifft, treten sie auf der Stelle. Die Hoffnung auf mehr Glück wird ständig enttäuscht, dennoch wird an diesem irrationalen Glauben festgehalten.

Dass Geld nicht glücklich macht, ist keine neue Erkenntnis. Wir alle kennen diese Redewendung seit früher Kindheit. Aber es gibt einen neuen Gedanken, der die alte Volksweisheit wieder in Frage stellt. Er lautet: „Menschen, die behaupten, dass Geld nicht glücklich macht, wissen nicht, wo einkaufen.“ Was ist nun richtig? Die überraschende Antwort lautet: Beide Aussagen treffen heute zu. Die Glücksforschung zeigt uns deutlich, dass mehr Einkommen die Menschen in entwickelten Ländern im Durchschnitt nicht glücklicher macht.2 Doch es stimmt auch, dass wir nur selten wissen, was und wo wir einkaufen sollen, um tatsächlich glücklicher zu werden.

Dies ist aber ein viel tieferes Problem, als es die obige Aussage suggeriert. Mit der Entwicklung hin zu einer Multioptionsgesellschaft wird es immer schwieriger, die Produkte, Dienstleistungen oder Freizeitbeschäftigungen zu finden, die wir tatsächlich bräuchten, um glücklicher zu sein. Wir ertrinken in der Fülle von Möglichkeiten und haben nur mehr selten die Zeit, eine vernünftige Auswahl zu treffen. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz hat dieses Phänomen in seinem Buch „The Tyranny of Choice“ (dt.: Anleitung zur Unzufriedenheit) eindringlich beschrieben. Er zeigt, wie die wachsende Zahl an Produkten und Dienstleistungen und die immer zahlreicher werdenden Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, also die Auswahl zunehmend zur Tyrannei wird. Und diese Tyrannei ist bereits ein Teil der Erklärung, warum Menschen mit steigendem Einkommen nicht glücklicher werden (siehe Kapitel 9).

Dazu kommt, dass es zwar immer mehr Produkte und Dienstleistungen gibt, aber Dinge wie Liebe, Erfolg, Gesundheit oder Schönheit, die wirklich glücklich machen würden, sind nach wie vor nur selten käuflich erwerbbar. Zwar zeigt die Werbung ständig Menschen, die dank neuer Produkte, Seminare, Kurse oder Diäten liebesfähiger, erfolgreicher, schöner und gesünder geworden sind. Doch wenn man es dann selbst versucht, scheitert man oft kläglich. Das „Nicht-Wissen, wo einkaufen“ ist für den modernen Menschen zu einem existenziellen Zustand geworden, der ihn auf unangenehme Weise an seine eigenen Grenzen in einer Gesellschaft der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten erinnert. Mehr Einkommen in mehr Glück zu verwandeln, wird somit zunehmend zur Sisyphusarbeit.

Wir sind aber nicht dazu verdammt, einfach weiter in den Tretmühlen zu verharren und uns weiter vergeblich abzurackern. In Teil III dieses Buchers wird aufgezeigt, wie wir aus den Tretmühlen ausbrechen können, die unmerklich zu einem Teil unseres wirtschaftlichen und sozialen Alltags geworden sind. Wir sollten uns wieder auf den eigentlichen Daseinszweck der Wirtschaft besinnen, den George Bernhard Shaw folgendermaßen beschrieben hat: „Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus unserem Leben zu machen.“ Mit anderen Worten: Es geht nicht um Einkommensmaximierung, sondern Ziel der wirtschaftlichen Tätigkeit sind letztlich Glück, Zufriedenheit, Lebensqualität, oder noch wissenschaftlicher ausgedrückt, subjektives Wohlbefinden. Wozu sonst verdient man schließlich sein Geld, das man ja bekanntlich am Ende des Lebens nicht mitnehmen kann?

Der Ausbruch aus den Tretmühlen ist allerdings kein einfacher Prozess, denn diese sind gleichzeitig auch treibende Kräfte des Wirtschaftswachstums. Einerseits ermöglichen sie unseren Wohlstand, aber auf der anderen Seite hindern sie uns an einem glücklicheren Leben. Mit anderen Worten: Ohne Tretmühlen gibt es kein Wirtschaftswachstum und ohne Wachstum geraten moderne Volkswirtschaften in ernsthafte Schwierigkeiten. Dahinter steckt ein grundsätzliches Dilemma moderner Wirtschaften, dem wir in diesem Buch ebenfalls auf die Spur kommen wollen (siehe Kapitel 11).

Aus ökonomischer Sicht geht es bei der Suche nach der Verwirklichung eines glücklichen Lebens um einen zweistufigen Prozess. Erstens müssen wir ein Einkommen erzielen, damit wir uns die Dinge überhaupt leisten können, die wir für ein glückliches Leben brauchen. In dieser Hinsicht sind wir in den Industrieländern im Allgemeinen Profis. Von klein auf lernen wir die Fähigkeiten, die es braucht, um in der Arbeitswelt Karriere zu machen und viel Geld zu verdienen. Leider reicht das aber nicht aus, wie viele Menschen in ihrem späteren Leben schmerzlich erfahren müssen. Man muss auch in der Lage sein, das verdiente Einkommen so zu verwenden, dass es tatsächlich glücklich macht. Das ist die zweite und noch schwierigere Stufe bei der Verwirklichung eines glücklichen Lebens. Und in dieser Beziehung sind wir oft grauenhafte Amateure.

So gut wir beim Geldverdienen sein mögen, so schlecht sind wir bei der Umsetzung des Einkommens in Glück oder Zufriedenheit. Die dafür erforderlichen Fähigkeiten, die sich mit dem französischen Begriff „Savoirvivre“ oder dem deutschen Wort „Lebenskunst“ umschreiben lassen, werden uns in der Schule nicht beigebracht.

Ein Mensch, der nur ans Geldverdienen und Karrieremachen denkt, handelt in Wirklichkeit unökonomisch, weil er damit sein Glück nicht maximiert. Er verhält sich ineffizient, und zwar in dem Sinn, dass er seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht optimal nutzt. Die wesentlichen Ressourcen für den einzelnen Menschen sind Zeit und Geld. Das Ziel muss sein, den optimalen Mix von Zeit und Geld zu finden, der zu einem möglichst glücklichen Leben führt.

Bei der Frage nach dem Glück des Einzelnen trifft sich somit die ökonomische Betrachtungsweise mit der Psychologie bzw. der Philosophie. Es geht um eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, der nicht in der Einkommensmaximierung, sondern in der Glücksmaximierung, bzw., wie es die Ökonomen ausdrücken, in der Nutzenmaximierung besteht.

Die in diesem Buch vertretene ökonomische Perspektive deckt sich wesentlich mit der Auffassung des Philosophen Jeremy Bentham (1789), der vor mehr als zweihundert Jahren in England lebte. Bentham ging davon aus, dass die Menschen nach einem glücklichen Leben streben und die beste Gesellschaft demzufolge diejenige ist, in der die Menschen insgesamt am glücklichsten sind. In der Folge erwies sich dieser zunächst einleuchtende Gedanke allerdings als problematisch. Wie sollte man feststellen, wie glücklich die Menschen insgesamt in einem Land sind? Dieser Frage fühlten sich die Ökonomen bald nicht mehr gewachsen, und so strichen sie den Begriff des Glücks aus ihrer Theorie und ersetzten ihn durch den harmloseren Begriff des Nutzens. Harmlos ist dieser Begriff insofern, als er vorsichtshalber so definiert wurde, dass er gar nicht messbar ist. Der Nutzen, so wie er heute in der ökonomischen Theorie verwendet wird, ist eine sogenannte ordinale Größe. Es lassen sich nur Aussagen darüber machen, ob der Nutzen eines Individuums durch bestimmte Handlungen zu- oder abnimmt, aber nicht, um wie viel er zu- oder abnimmt. Aus diesem Grund lässt sich der Nutzen verschiedener Güter nicht einfach addieren, und auch der Nutzen für verschiedene Menschen lässt sich nicht quantitativ vergleichen. Beobachten können wir gemäß der Annahmen der heutigen Standardökonomie nur die Folgen der Nutzenmaximierung der Individuen. Diese führt dazu, dass die Menschen, wenn sie rational handeln, das tun, was für sie am besten ist. Und tun sie das nicht, dann verhalten sie sich irrational, womit die meisten Ökonomen bis vor kurzem nichts zu tun haben wollten. Erst in neuester Zeit erkennt auch die ökonomische Forschung, dass man das Verhalten der Menschen nur verstehen kann, wenn man ihnen eine gehörige Portion Irrationalität zugesteht.

In der wirtschaftlichen und politischen Praxis konnte man mit dem nicht messbaren und blutleeren Nutzenbegriff der Ökonomie allerdings nie viel anfangen. Dort steht bis heute das Wachstum des Bruttoinlandproduktes im Mittelpunkt des Interesses und nicht, wie sich dies Bentham vorgestellt hatte, das Glück der Menschen. Doch wenn Wachstum nicht glücklicher macht, dann macht die einseitige Ausrichtung der wirtschaftlichen Tätigkeit am Wachstum auch keinen Sinn. In der ökonomischen Theorie ist Wachstum ein Mittel und nicht ein Zweck. In der Realität ist dieses Mittel aber längst zum Zweck geworden, und kaum jemand spricht heute mehr von einem glücklichen Leben, wenn es um wirtschaftliche Fragestellungen geht. Jede Zeit produziert ihre eigenen Verrücktheiten, die dann später kaum mehr nachvollziehbar sind.3 Schon heute fragen wir uns, wie es möglich war, dass sich die Menschen in Russland und anderen osteuropäischen Ländern ihr Leben über fast 100 Jahre mit dem Kommunismus vermiesen ließen. Und unser Verständnis hört ganz auf, wenn es um Inquisition oder Hexenverbrennungen geht, womit Kirche und staatliche Justiz über lange Zeit Angst und Schrecken verbreiteten. Doch wir sollten vorsichtig sein. Spätere Generationen werden sich wahrscheinlich auch einmal fragen, warum sich die Menschen in der heutigen Gesellschaft trotz eines zuvor nie dagewesenen Wohlstands ständig noch mehr stressen ließen, statt diesen Wohlstand zu genießen. Vor fast 2000 Jahren degenerierte das damals reiche Rom, weil sich seine Bürger buchstäblich zu Tode amüsierten. Im Vomitorium steckten sie sich einen Finger in den Hals, um die gerade genossenen Leckerbissen wieder herauszukotzen, damit sie noch mehr Köstlichkeiten zu sich nehmen konnten. So erfanden die alten Römer ständig noch perversere und raffiniertere Methoden, um ihren Wohlstand zu verprassen. Doch dieser Degenerationsprozess war immerhin unterhaltsam und mit einem – wenn auch fragwürdigen – Genuss verbunden. In den Industrieländern laufen wir heute jedoch Gefahr, auf eine viel unattraktivere Art zu degenerieren. Es lohnt sich, dagegen etwas zu unternehmen.

Teil I:Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück – Was die empirische Forschung sagt

Wohlstand ist das Durchgangsstadium

von der Armut zur Unzufriedenheit.

(HELMAR NAHR)

1.Was ist Glück und wie kann man es messen?

Wenn man etwas über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glücksempfinden der Menschen aussagen will, dann sollte man erstens eine Vorstellung davon haben, was mit dem Begriff Glück gemeint ist, und zweitens sollte man dieses Glück auch noch irgendwie messen können.

Über die erste Frage wollen wir uns hier nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen. Je mehr man sich fragt, was denn Glück genau bedeutet, umso unklarer und vielschichtiger wird der Glücksbegriff. Der Psychiater Thomas Szasz hat dies einmal folgendermaßen ausgedrückt4: „Glück ist ein imaginärer Zustand, den früher die Lebenden bei den Toten vermutet haben, und heute im Allgemeinen Erwachsene den Kindern und diese den Erwachsenen zuschreiben.“ Das wirkliche Glück vermutet man also immer bei anderen oder an einem anderen Ort, wie schon der romantische Dichter Georg Philipp Schmidt in seinem von Franz Schubert vertonten Gedicht Der Wanderer feststellte: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“

Auch viele Philosophen, die sich vorgenommen hatten, das Glück dingfest zu machen, wurden darüber selbst wenig glücklich. Einer davon war John Stuart Mill, der Patensohn des bereits erwähnten Jeremy Bentham, der sich später vor allem als Ökonom einen Namen machte. Die Frage nach dem Glück trieb ihn fast zur Verzweiflung, da er glaubte, verschiedene Formen des Glücks auch noch moralisch werten zu müssen. Schließlich kam er zur Erkenntnis, es sei besser, „ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedenes Schwein zu sein“. Nach Mill wäre also eine Gesellschaft, die aus unzufriedenen und damit unglücklichen Philosophen besteht, einer Gesellschaft von glücklichen Schweinen vorzuziehen. Letztere tragen schließlich nur wenig zur Entwicklung und damit zum langfristigen Glück der Menschheit bei. Allerdings ist dem entgegenzuhalten, dass eine Horde unzufriedener Philosophen für ihre Mitbürger auf die Dauer wohl kaum genießbar wäre. Griesgrämige Philosophen sind im Alltag eine Zumutung, und nicht selten werden sie unausstehlich. Da nimmt man doch lieber mit den zufriedenen Schweinen vorlieb, auch wenn diese die menschliche Geistesgeschichte kaum voranbringen!

Aber die Frage nach dem „richtigen Glück“ ist nur eine der vielen offenen Fragen rund um diesen Begriff. So kann man sich auch überlegen, wie sich denn der allgemeine Glückszustand eines manisch Depressiven mit dem Glückszustand eines permanent gleichmütigen, gefühlsneutralen Menschen vergleichen lässt. Für den einen gilt: „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“. Extreme Glückszustände wechseln sich ab mit tiefsten Depressionen. Der andere hingegen hat kaum Gefühlsschwankungen. Er erlebt keine ekstatischen Momente, doch andererseits wird er auch nie depressiv. Welcher dieser beiden Menschen ist nun glücklicher? Auch hier gibt es keine eindeutige Antwort. Die alten Epikuräer (etwa 300 vor Christus) waren der Ansicht, dass die Vermeidung von Schmerz und Depressionen der Königsweg zu einer zufriedenen Existenz sei, was nichts anderes heißt, als dass der gefühlsneutrale Mensch besser dran ist. Doch etwa zwei Jahrtausende später meinte Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra, dass die Suche nach extremen Glückszuständen das wichtigste Ziel des Menschen sein sollte.

Lassen wir die Philosophen sich weiter die Köpfe über solche Probleme zerbrechen! Im Rahmen dieses Buches geht es nur um die Frage, inwiefern und warum Einkommen das Glück der Menschen beeinflusst, ganz egal, ob diese Gesellschaft nun mehrheitlich aus manisch Depressiven, Gefühlsneutralen, unzufriedenen Philosophen oder zufriedenen Schweinen besteht. Wir gehen somit pragmatisch davon aus, dass Menschen, die sich glücklich fühlen, einfach glücklich sind,5 ohne diesen Zustand weiter zu interpretieren. Zwar hat die moderne Psychologie das Glück mittlerweile in zwei Komponenten zerlegt, doch auch das soll uns hier nicht weiter beunruhigen. Da gibt es einerseits die langfristig angelegte allgemeine Zufriedenheit mit der eigenen Existenz (baseline happiness), die mit der generellen Einschätzung des Lebens zusammenhängt. Und auf der anderen Seite gibt es das momentan empfundene Glück oder Unglück, welches von den gerade gegebenen Umständen abhängt (affective states).6 Bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen spielen aber beide dieser Glückskomponenten eine Rolle. Mehr Einkommen sollte sowohl zu mehr Lebenszufriedenheit als auch zu vermehrten Glücksmomenten führen. Sprechen wir deshalb im folgenden von Glück, dann schließt dies immer beide Komponenten mit ein.

Bleibt jedoch die Frage, wie denn das Glück überhaupt gemessen werden kann. Am einfachsten wäre das mit einem technischen Messgerät, welches den Glückszustand eines Menschen objektiv feststellt, so wie etwa ein Thermometer die Temperatur misst. Ein solches Messgerät würde dann zum Beispiel die elektrische Hirnaktivität, die Konzentration gewisser Substanzen im Gehirn, den Pulsschlag des Herzens und die Hautfeuchtigkeit messen und daraus mittels eines Computerprogramms einen objektiven Glückswert berechnen. Der britische Ökonom Francis Ysidoro Edgeworth träumte bereits im Jahre 1881 von einem solchen Gerät und nannte es Hedonometer. Leider hat uns der technische Fortschritt in dieser Hinsicht im Stich gelassen – bis heute gibt es keine Hedonometer. Also bleibt den Glücksforschern nichts anderes übrig, als die Menschen nach ihrem jeweiligen Glückszustand zu befragen, wobei die Antwort dann zwangsläufig von der subjektiven Selbsteinschätzung der Befragten abhängt.

Eine Einschätzung des eigenen Glückszustandes ist aber gar nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, Sie werden plötzlich von jemandem auf der Straße angesprochen, der Ihnen folgende Frage stellt: „Alles in allem, wie würden Sie Ihren Zustand in letzter Zeit beschreiben – Würden Sie sagen, dass Sie a) sehr glücklich, b) ziemlich glücklich, oder c) nicht so glücklich sind?“ Diese Frage wird den Menschen im General Social Survey gestellt, welches das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in mehreren Ländern über die Jahre hinweg erfasst. Oder nehmen Sie an, Sie werden mit folgender Frage belästigt: „Wie zufrieden sind Sie zur Zeit insgesamt mit Ihrem Leben auf einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden)?“. Das ist die Frage, die im World Values Survey gestellt wird, welches das Glücksempfinden der Menschen in verschiedenen Ländern vergleicht. Ehrlich gesagt, wenn man mich das fragen würde, wäre ich ziemlich überfordert.

Häufig wissen wir selbst nicht, ob wir eigentlich glücklich sind oder nicht. Kommt jemand gerade vom Arzt und hat dieser festgestellt, dass sich der Verdacht auf Krebs nicht bestätigt hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Mensch glücklich fühlt. Ist das Resultat aber umgekehrt und wurde der Verdacht auf Krebs bestätigt, dann wird er seinen Zustand hingegen kaum als glücklich bezeichnen. Obwohl es sich um dieselbe Person handelt, wird ihre Antwort je nach Situation unterschiedlich ausfallen. Solche Antworten sind immer durch die gegenwärtigen Umstände bestimmt und deshalb durch diese geprägt (statistisch verzerrt). Es gibt keine Möglichkeit, den Glückszustand eines einzelnen Menschen mittels Befragung objektiv festzustellen.

Allerdings ist die Unmöglichkeit, das Glück eines einzelnen Menschen objektiv festzustellen, für die Glücksforschung weniger schlimm, als man zunächst annehmen könnte. Zwar muss man die Antworten einzelner Menschen in Bezug auf ihren Glückszustand mit Vorsicht genießen. Befragt man aber eine ausreichend große Menge von Personen, dann erhält man trotzdem ein adäquates Bild ihres durchschnittlichen Glücksempfindens.7 Der Grund liegt darin, dass die meisten „Fehler“ bei der Angabe des eigenen Glückszustandes bei der Befragung einer genügend großen Menge von Menschen wieder aufgehoben werden. In Bezug auf unser Beispiel hieße dies, dass sich die Zahl derjenigen mit einem positiven Untersuchungsergebnis und derjenigen mit einem negativen Untersuchungsergebnis nach einem Arztbesuch in etwa die Waage halten. Und damit haben die Untersuchungsergebnisse auf das mittels Befragung ermittelte durchschnittliche Glücksempfinden keinen Einfluss mehr. Wenn wir das Beispiel des manisch Depressiven nochmals aufgreifen wollen, hieße das: Bei der Befragung einer großen Menge von Menschen wird man etwa gleich viele manisch Depressive in einer manischen Phase wie in einer depressiven Phase antreffen, so dass sich auch diese Gefühlsschwankungen wieder ausgleichen.

Etwas gilt es bei Glücksbefragungen allerdings zu beachten. Menschen neigen dazu, ihren Glückszustand höher anzugeben, als er tatsächlich ist. „People err on the bright side“, wie es der Psychologe David Myers formulierte. Zum Beispiel ergab eine neuere Umfrage in der Schweiz, dass 43 Prozent der Bevölkerung mit ihrem Leben hoch zufrieden sind. Und nur gerade 15 Prozent waren unzufrieden. Aufgrund dieser Ergebnisse könnte man somit meinen, die Schweiz sei ein von speziell fröhlichen Menschen bewohntes Land, in dem einem fast nur zufriedene Gesichter begegnen. Doch haben Sie schon einmal morgens an einem Schweizer Bahnhof die Menschen beobachtet, wenn sie zur Arbeit oder in Richtung Ausbildungsstätte unterwegs sind? Falls ja, dann werden Sie bereits Zweifel an den obigen Umfrageresultaten haben. Da werden Sie nämlich kaum ein Gesicht entdecken, welches Zufriedenheit, geschweige denn Glück, ausstrahlt. Die Gesichter erinnern viel eher an Menschen, die gerade von der Beerdigung eines Verwandten kommen und dabei noch erfahren haben, dass sie nichts geerbt haben. Auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, und immer weitere Bahnhöfe besucht, die hochzufriedenen 43 Prozent der Schweizer Bevölkerung wird man einfach nicht finden.

Die Schweizer sind ein Volk, welches eine speziell ausgeprägte Neigung besitzt, seinen Glückszustand bei Umfragen zu übertreiben. Gemäß dem jährlich publizierten World Happiness Report sind die Schweizer in internationalen Vergleichen eines der glücklichsten Völker der Erde (siehe Kapitel 2). Doch niemand, der die Schweiz kennt, käme auf die Idee, die Bewohner dieses Landes als besonders fröhliche und lebenslustige Menschen zu beschreiben. Mit anderen Worten, die durch Glücksumfragen ermittelten Werte sind systematisch nach oben verzerrt, worauf mehrere führende Glücksforscher immer wieder hingewiesen haben.8 Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich. Erstens sagen Menschen, dass sie glücklich sind, weil man das von ihnen erwartet und weil sie es auch selbst von sich erwarten. Schließlich hat man ja häufig alles, was es zu einem glücklichen Leben braucht: einen guten Job, ein ansprechendes Einfamilienhaus oder eine Wohnung, ein Auto der oberen Mittelklasse, Kinder ohne Lernschwierigkeiten in der Schule und sogar die Ehe funktioniert einigermaßen. Da kann man doch nicht angeben, dass man nur mäßig oder gar nicht zufrieden ist. Schon gar nicht in einer Gesellschaft, die zunehmend nur noch aus erfolgreichen, souveränen, selbstbestimmten und demzufolge natürlich auch glücklichen Männern und Frauen zu bestehen scheint.

Der zweite Grund für die Überschätzung liegt an der Art der Befragung selbst. Wenn man wählen kann, ob man „sehr glücklich“, „ziemlich glücklich“, oder „nicht so glücklich“ ist, dann wählen die meisten den Zustand „ziemlich glücklich“. Und kann man die Zufriedenheit in einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 4 (sehr zufrieden) einordnen, dann wählen die meisten Menschen den Wert 3. Die Menschen besitzen die Tendenz, immer einen Wert etwas unterhalb des höchst möglichen Wertes anzugeben. Man möchte im positiven Bereich (glücklich, zufrieden) sein, aber dabei nicht übertreiben und gleich den höchsten Wert wählen. Diese Wahl treffen die Befragten oftmals ziemlich unabhängig von ihrem tatsächlichen Befinden, da sie den gewählten Wert als den richtigen Sollwert (und nicht Istwert) betrachten.9

Allerdings stellt auch die generelle Überschätzung des eigenen Glückszustandes kein Problem dar, wenn wir durchschnittliche Glückswerte eines Landes in verschiedenen Jahren miteinander vergleichen. Solange nämlich die Menschen den Glückszustand immer gleich viel überschätzen, können wir trotzdem erkennen, ob die Menschen insgesamt glücklicher oder unglücklicher geworden sind. Vorsicht ist aber geboten, wenn wir die Glückszustände der Bevölkerung zwischen verschiedenen Ländern vergleichen (siehe Kapitel 2).

Folgendes lässt sich festhalten: In Bezug auf einen einzelnen Menschen sagen in Umfragen ermittelte Glückswerte nur wenig aus. Befragt man jedoch eine größere Menge an Personen, dann erhält man trotzdem ein einigermaßen adäquates Bild des Glücksempfindens der Bevölkerung, auch wenn dieses insgesamt nach oben verzerrt ist. Das ist allerdings nicht weiter tragisch, wenn wir an der Veränderung des Glücks im Zeitablauf interessiert sind. In diesem Fall geht es nicht um den absoluten Wert des Glückszustandes in einem bestimmten Jahr, sondern um dessen relative Veränderung über die Jahre hinweg. Dieses Buch stützt sich im Wesentlichen auf empirische Forschungen, die solche relativen Veränderungen des Glückszustandes untersuchen.

2.Sind die Menschen in reichen Ländern glücklicher als in armen Ländern?

Wie glücklich sind die Menschen in verschiedenen Ländern? Die am besten bekannten empirischen Untersuchungen zum Glück stammen von Befragungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Eine führende Rolle spielt dabei der so genannte World Values Survey10, der Daten zu mittlerweile 82 Ländern enthält. Abbildung 1 zeigt die Beziehung zwischen dem durchschnittlichen Jahreseinkommen pro Kopf in den einzelnen Ländern (unter Berücksichtigung der Kaufkraftparitäten) und dem Glücksempfinden der Menschen dieser Länder. Dieses ist hier gemessen als die Prozentzahl der Menschen, die mit ihren Leben glücklich oder zufrieden sind.

Abbildung 1: Glück und Einkommen im Ländervergleich

Auf den ersten Blick spricht Abbildung 1 eine deutliche Sprache. Solange ein Land arm ist, steigt das durchschnittliche Glücksempfinden bei einer Erhöhung des Einkommens sehr schnell an. Ist aber einmal der Schwellenwert von etwa 15 000 Dollar pro Kopf erreicht, dann führt eine weitere Zunahme des Einkommens zu keinem weiteren Anstieg des Glücksempfindens mehr. So sind die Menschen in den USA mit einem durchschnittlichen Einkommen von 30 000 Dollar viel glücklicher als die Menschen in der Ukraine oder in Peru, wo das Durchschnittseinkommen unter 5000 Dollar liegt. Aber sie sind nicht glücklicher als die Menschen in Taiwan oder Südkorea, wo das Einkommen 15 000 Dollar beträgt.

Die Daten des World Values Survey verführen den oberflächlichen Betrachter schnell einmal zu folgender Schlussfolgerung: Einkommen macht glücklich, solange die Menschen eines Landes arm sind. Wenn aber der Schwellenwert von 15 000 Dollar Durchschnittseinkommen pro Kopf erreicht ist, gilt das nicht mehr. Mehr Einkommen trägt also nicht mehr zum durchschnittlichen Glücksempfinden bei. Der Soziologe Ronald Inglehart, der den World Values Survey betreut, stützt diese Interpretation und liefert auch eine Erklärung. In armen Ländern geht es zunächst einmal um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse. Solange man nicht genug zu essen hat und in einer armseligen Hütte dahinvegetiert, trägt mehr Einkommen entscheidend zum Lebensglück bei. Ist aber der Schwellenwert erreicht, bei dem die Grundbedürfnisse gedeckt sind, dann geht es um andere Dinge, die Inglehart mit „Lifestyle Issues“ umschreibt. Nicht „satt werden“, ist jetzt gefragt, sondern Nouvelle Cuisine oder Reformkost. Und mit dem Erreichen des Schwellenwertes machen sich auch die Tretmühleneffekte bemerkbar, die in Teil II dieses Buches ausführlich beschrieben sind.

Diese Erklärung hat sicher etwas für sich, doch ist sie mit einigen Fragezeichen zu versehen. Wäre es nämlich so einfach, dann könnten wir diesen Teil des Buches bereits abschließen und uns direkt den Tretmühlen zuwenden. Die Wirklichkeit ist allerdings etwas komplexer. Erstens lassen sich deutliche geografische Einflüsse feststellen. Die Menschen in lateinamerikanischen Ländern sind bei gleichem Einkommen viel glücklicher als Menschen in Ländern des ehemaligen Ostblocks. Es gibt also so etwas wie einen Latino-Glücksfaktor und einen Ostblock-Melancholiefaktor. Für die Menschen, die schon einmal in Lateinamerika oder in der Karibik waren, sind die relativ hohen Glückswerte in diesen Ländern kaum überraschend. So sind etwa Kolumbianer im Durchschnitt glücklicher als die Menschen in Deutschland oder Österreich, obwohl ihr durchschnittliches Einkommen viel geringer ist. Heißes Klima, Salsa, Samba und eine lockere Lebenseinstellung haben hier sicher einen positiven Einfluss. Und bei den besonders tiefen Werten der Länder des ehemaligen Ostblocks spielen wohl das kalte Klima, jahrzehntelange Frustration durch Kommunismus und vielleicht auch übermäßiger Wodkakonsum eine Rolle. Mit anderen Worten: Die Menschen in den ehemaligen Ostblockländern werden selbst bei stark steigendem Einkommen Mühe haben, sich so glücklich zu fühlen wie die Latinos. Einkommen erklärt nur einen Teil der Variation des Glücksempfindens zwischen verschiedenen Ländern. Außerdem ist Glück nicht zwingend gleich Glück in allen Ländern. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Vorstellungen vom Glück entwickelt, und es ist nicht klar, ob Glück in Zimbabwe genau dasselbe bedeutet wie in den USA.

Zweitens gibt es, wie so oft bei empirischer Forschung, auch noch ein grundlegendes methodisches Problem beim Vergleich von Einkommen und Glück in verschiedenen Ländern. Wenn Sie sich die Abbildung 1 nochmals anschauen, dann werden Sie erkennen, dass sich das Glücksempfinden bei den reichen Ländern immer mehr einem Grenzwert nährt, der bei etwa 90 Prozent glücklichen bzw. zufriedenen Menschen liegt. Das ist aber keineswegs überraschend. Im Grunde wird in dieser Grafik nämlich ein unzulässiger Vergleich durchgeführt. Wir vergleichen eine nach oben offene Größe (das Einkommen pro Kopf), die unbeschränkt wachsen kann, mit einer nach oben begrenzten Größe, nämlich der Prozentzahl der zufriedenen und glücklichen Menschen, die maximal den Wert 100 annehmen kann. Wenn man einmal sehr zufrieden oder glücklich ist, dann kann dieser Zustand nicht mehr gesteigert werden, denn es gibt keine Kategorien megaglücklich oder supermegaglücklich. Für Länder, deren Glückswert bereits nahe des Schwellenwertes von etwa 90 Prozent liegt, sagt der Ländervergleich zwischen Einkommen und Glück, so wie er in Abbildung 1 dargestellt ist, kaum mehr etwas aus.

Wir sollten uns deshalb davor hüten, aus den kleinen Unterschieden des Glücksempfindens zwischen den reichen Ländern noch etwas herauszulesen. Aus den hohen Glückswerten für die Schweiz kann man beispielsweise nicht einfach schließen, dass die Schweizer glücklicher sind als etwa die Menschen in Deutschland oder Frankreich. Weitere Forschungen zu diesem Thema haben ergeben, dass die Schweiz nicht nur ein politisch neutrales Land ist, sondern die Menschen auch gefühlsmäßig neutral sind.11 Die Schweizer Bevölkerung zeigt im internationalen Vergleich besonders wenige Emotionen (gleich wie die Japaner), egal ob es sich um Freude, Schmerz, Wut oder Angst handelt. Dem wirklichen Glücksempfinden der Schweizer auf die Spur zu kommen, erfordert somit sehr viel mehr psychologische Detektivarbeit, als in einer Glücksumfrage zum Ausdruck kommt.

3.Sind die Menschen mit dem Wirtschaftswachstum glücklicher geworden?

Neben Ländervergleichen gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in den einzelnen Ländern im Zeitablauf erfassen.12 Die längsten Datenreihen liegen für die USA und Japan vor, wo Glücksbefragungen bereits seit dem 2. Weltkrieg durchgeführt wurden. Und das Ergebnis ist in beiden Ländern genau dasselbe: In den USA hat sich das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf seit dem 2. Weltkrieg mehr als verdreifacht, aber das Glücksempfinden der Bevölkerung der Menschen ist genau gleich geblieben.

Abbildung 2 zeigt den Zusammenhang zwischen dem BIP pro Kopf und dem durchschnittlichen Glücksempfinden der Menschen seit 1972 in den USA. In Abbildung 3 ist der Zusammenhang zwischen BIP pro Kopf und der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit der Menschen in Deutschland seit 1991 dargestellt.

Noch extremer ist der Fall in Japan, wo sich das Bruttoinlandprodukt seit dem 2. Weltkrieg sogar versechsfacht, aber das Glücksempfinden ebenfalls konstant geblieben ist. Und in den Europäischen Ländern, wo man auf Daten seit Beginn der 70er Jahre zurückgreifen kann, zeigt sich dasselbe Bild: steigende durchschnittliche Einkommen, konstantes Glück. Mehr Einkommen hilft nicht, um glücklicher zuwerden, obwohl der materielle Wohlstand seit dem 2.Weltkrieg enorm angestiegen ist.

Abbildung 2: Einkommen und durchschnittliches Glücksempfinden in den USA seit 1972 (Quelle: World Happiness Report, 2018, S.147)13

Abbildung 3: Einkommen und Lebenszufriedenheit in Deutschland (Quelle: Socio Economic Panel)

Der britische Ökonom Richard Easterlin14, einer der Pioniere der ökonomischen Glücksforschung, kann sogar noch mehr zeigen. Seine Untersuchungen zu den USA deuten an, dass nicht nur das durchschnittliche Glücksempfinden, sondern auch das Glücksempfinden der verschiedenen Generationen über ihren Lebenszyklus stagniert. Obwohl die Menschen insbesondere in den 50er und 60er Jahren viel reicher wurden, wurden die gleichen Menschen, die etwa zu Beginn der 50er Jahren noch arm waren, durch den erworbenen Reichtum in den 50er und 60er Jahren nicht glücklicher, sondern traten, was ihr Glücksempfinden betrifft, an Ort und Stelle. Die Stagnation des Glücksempfindens lässt sich auch bei sämtlichen Schichten der Gesellschaft beobachten. Die Daten zu den USA zeigen, dass es sowohl für Männer wie Frauen, Schwarze und Weiße und auch für hohe und tiefe Bildungsschichten gilt.15 Das durchschnittliche Glücksempfinden lässt sich in Industrieländern durch Wirtschaftswachstum nicht erhöhen. Weder Auto noch Einfamilienhaus, weder Fernsehen noch Kühlschrank, weder Ferien in der Karibik noch Internet haben daran etwas geändert.

4.Sind reiche Menschen glücklicher als arme Menschen?

Aufgrund dieser Resultate könnte man jetzt vorschnell die Schlussfolgerung ziehen, dass Geld tatsächlich nicht glücklich macht. Doch so allgemein kann man das nicht sagen. Es gibt nämlich empirische Forschungen, die nicht das durchschnittliche Glücksempfinden der Bevölkerung untersuchen, sondern der Frage nachgehen, ob denn zu einem bestimmten Zeitpunkt die Reichen eines Landes glücklicher sind als die Armen.16 Und, siehe da, sie sind es tatsächlich!