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Auf einem Jahrmarkt in Portland geht Marc Parker seiner Berufung als Medium nach. Er behauptet, Kontakt zu den Toten aufnehmen zu können; in Wahrheit empfängt er jedoch mit seinen besonderen PSI-Fähigkeiten die Erinnerungen seiner Kunden. Dabei ist er so erfolgreich, dass auch andere, sehr weltliche Kräfte auf ihn aufmerksam werden, unter anderem zwei NSA-Agenten, die ein Verbrechen fingieren und dafür sorgen sollen, dass Parker von der Polizei verhaftet wird. Ihr Vorgesetzter, Jeremy McKay, hat großes Interesse an den übersinnlichen Fähigkeiten des Mannes.
Bei der Festnahme kommt es allerdings zu einem unfassbaren Zwischenfall: Plötzlich löst sich ein Polizist in einem grellen Licht auf, und nur seine Kleidung und Waffe bleiben zurück ...
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Seitenzahl: 134
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Das trojanische Pferd
Leserseite
Vorschau
Impressum
Rafael Marques
Das trojanische Pferd
Laurelhurst Park
Portland, Oregon, 07. Februar 2023, 19:22 Uhr
Während sich die erwachsenen Besucher des Jahrmarkts dem entspannten Flanieren hingaben, Kinder die Attraktionen besuchten und so mancher Schausteller ein Lächeln auf die Gesichter der Gäste zauberte, beobachteten zwei Anzugträger ungerührt die Szenerie. Sie waren nicht gekommen, um sich zu vergnügen, für sie ging es um ein höheres Ziel: die nationale Sicherheit.
Diese Männer arbeiteten in einer Regierungsorganisation, die wie kaum eine andere um absolute Geheimhaltung bemüht war: die NSA! Aber auch sie konnten den tödlichen Zwischenfall nicht verhindern ...
Sam Powell sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb acht. Wenn es auf dem Weg vom Polizeirevier hierher keine verkehrstechnischen Zwischenfälle gegeben hatte, würden die beiden Streifenwagen der East Side Police Station in wenigen Minuten eintreffen, um einen Einbrecher zu verhaften. Einen Mann, der so dreist gewesen war, eine alte Frau niederzuschlagen, zu fesseln und anschließend ihr Haus in Brand zu stecken. Nur im allerletzten Moment war ihr die Flucht gelungen.
Zumindest sollte das die Polizei von Portland glauben. Und es gab wirklich keinen Grund für sie, es nicht zu tun, immerhin war die Anweisung, den Mann zu verhaften, direkt vom Leiter ihres Präsidiums gekommen. Powell machte in solchen Angelegenheiten gerne Nägel mit Köpfen, um gar nicht erst irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen.
Sein Kollege Whitaker und er saßen in einer unauffälligen, dunklen Limousine mit getönten Scheiben und beobachteten vom Rande des Parks, wie erste Flocken auf den Jahrmarkt niedergingen. Der Schnee würde sicher sofort schmelzen, dafür war es schlichtweg zu warm. Andererseits gaben sie dem von einem Lichtermeer gesäumten Treiben etwas Magisches, das Powell für einen kurzen Moment an seine Kindheit erinnerte.
Das Aufflackern einer menschlichen Regung war nur von kurzer Dauer, unterschied ihn jedoch von seinem Vorgesetzten McKay. Powell wusste, dass dieser ihn als seinen Nachfolger auserkoren hatte, aber bis dahin musste er noch hart an sich arbeiten. Und das, obwohl er von seinen Untergebenen bereits selbst als Mann aus Beton bezeichnet wurde.
Sogar ein Riesenrad ließ seine Kabinen hinauf über die Wipfel der Platanen in den Nachthimmel wandern.
Powell nahm dies nur am Rande wahr, denn sein Blick galt einigen Menschen, die gerade durch ein Tor mit der Aufschrift FAIR in Richtung der zahlreichen Stände traten. Obwohl er wusste, wer sich dort vorne befand, nahm er sein Fernglas in die Hand und visierte eine Frau an, die für ihr Alter eigentlich viel zu jung, geradezu mädchenhaft wirkte. Das Muttermal über ihrem linken Mundwinkel trug ebenfalls zu diesem Eindruck bei, nur der Glanz in ihren Augen sprach eine völlig andere Sprache. Der NSA-Agent traute ihr nicht über den Weg, dennoch ließ er es zu, dass sie in diesem Spiel mitmischte.
Etwa zwei Minuten später begann der nächste Akt, als die beiden Streifenwagen vor dem Eingang des Jahrmarktes anhielten und insgesamt vier uniformierte Beamte ausstiegen. Powell nahm sein Smartphone in die Hand, wählte eine eingespeicherte Nummer an und sprach nur drei Worte: »Es geht los.«
Voices from the Afterworld, Laurelhurst Park
Portland, Oregon, 07. Februar 2023, 19:26 Uhr
»Ich sehe sie vor mir. Sie ist noch genauso schön wie damals, als Sie zum letzten Mal ihre Hand gedrückt und ihr gesagt haben, dass Sie für alle Ewigkeit zusammen an dem Strand in Malibu liegen und den Sonnenuntergang genießen werden. Sharons blondes Haar liegt in Wellen auf ihren Schultern, ihre blauen Augen glitzern wie die Oberfläche des Lake Grover und die sanfte Röte ihrer Wangen erinnert an jenen Blick hinaus aufs Meer, als Sie um ihre Hand angehalten haben. Sie hat diesen Moment für immer festgehalten, den glücklichsten in ihrem Leben. Wenn Sie sie eines Tages wiedersehen, können Sie gemeinsam über den Strand schreiten, so wie Sie es sich immer gewünscht haben.«
Der Mann, dem die überdramatisierten Worte galten, schluchzte, schlug die Hände vors Gesicht und wäre beinahe zusammengebrochen. Nur mit Mühe gelang es Marc, ihn noch rechtzeitig aufzufangen und zu einem der Holzstühle zu bugsieren, die vor seinem runden, mit allerlei mystischen Utensilien belegten Tisch standen.
Harmon McKenzie war ganz offensichtlich mit seinen Nerven am Ende, was angesichts der Umstände auch nicht allzu verwunderlich war. Der 47-Jährige hatte erst vor wenigen Monaten seine bildhübsche, fünfzehn Jahre jüngere Frau nach einem harten Kampf an den Krebs verloren. Es war ihm anzusehen, dass dabei auch ein Teil von ihm gestorben war, und Marc hatte gesehen, wie er seither darum kämpfte, trotz seiner Schmerzen ein geordnetes Leben für sich und seinen Sohn zu führen.
Dementsprechend empfand Marc es auch nicht als verlogen, was er hier tat. Im Gegenteil, er gab dem Mann ein Fünkchen Hoffnung, dass sich alles noch zum Guten wenden würde, trotz des schmerzlichen Verlustes. Der Gedanke, dass ein geliebter Mensch ihn im Jenseits, dem Himmel oder welchem Ort auch immer erwartete, gab seinen Kunden oft ein wenig von dem Lebensmut zurück, den sie verloren zu haben glaubten. Und weil er genau dies den Menschen vermitteln konnte, standen sie auch vor seinem Zelt Schlange.
»Danke, danke«, presste Harmon McKenzie hervor, nestelte an seinem Portemonnaie und legte die geforderten fünfzig Dollar auf den Tisch. »Gott segne Sie und Ihre Fähigkeiten. Es muss eine Gabe des Herrn sein. Niemand sonst hat davon gewusst, wie und wo ich um Sharons Hand angehalten habe.«
»Sie hat es mir gesagt, Mister McKenzie.«
Nein, Sie haben es mir gesagt, aber das sollten Sie besser nicht wissen.
Der Mann mit den schütteren, dunkelblonden Haaren nickte. »Danke noch einmal.«
»Schon gut. Alles Gute für Sie.«
»Für Sie auch.«
Marc sah dem Mann noch einige Sekunden hinterher, dann hob er die fünf Hamiltons an und ließ sie in einem Kästchen unter dem Tisch verschwinden. Lächelnd strich er die rote Decke glatt, rückte die Glaskugel, das goldene Planetenmodell und den mit falschen Diamanten besetzten Totenkopf zurecht. Keines der Utensilien benötigte er tatsächlich für seine Arbeit, ebenso wenig wie die Kerzen oder den schwarzen Umhang. Sie dienten allein der Show und um die Erwartungen seiner Kunden zu befriedigen. Niemand ging auf einen Jahrmarkt, um einen 25-Jährigen in Jeans und Pullover vor einem einfachen Holztisch zu erleben, wie er Kontakt zu ihren verstorbenen Verwandten herstellte. So absurd es klingen mochte, trugen diese Dinge doch zu seiner Glaubwürdigkeit bei.
Keiner derjenigen, die sein Zelt betraten, verstand auch nur ansatzweise, dass er gar nicht dazu in der Lage war, Kontakt zu Geistern oder dem Jenseits aufzunehmen. Marc wusste nicht einmal, ob ein derartiger Ort überhaupt existierte, und eigentlich war es ihm auch egal. Er verfügte dennoch über ein gewisses Talent, dessen Hintergründe er selbst nicht verstand. Nur ungern dachte er an jene unheimliche und auch schreckliche Nacht vor etwas mehr als zwei Jahren zurück, als es ihm eine Fügung des Schicksals ermöglichte, in die Erinnerungen derjenigen Menschen abzutauchen, die ihm direkt gegenübertraten. Eine Fähigkeit, die ihm im ersten Moment große Angst gemacht hatte, die er jedoch nach und nach zu seinem Vorteil zu nutzen vermochte. Somit war er das einzige Mitglied dieses umherziehenden Jahrmarktes, das wirklich über magische Fähigkeiten verfügte.
Natürlich gab es dadurch auch Neider, ebenso Leute, die gerne wissen wollten, wieso ein völlig unauffälliger Mann plötzlich Dinge über seine Mitmenschen wusste, die sie nicht einmal ihren engsten Freunden oder Verwandten anvertrauten. Manchmal nannte er sein Talent eine Gabe Gottes, ein anderes Mal behauptete er, ein Blitz hätte ihn getroffen, meist schwieg er einfach. Es war besser, er sagte gar nichts zu dem Thema, immerhin verstand er selbst nur sehr wenig davon.
Harmon McKenzie war deshalb wie ein offenes Buch für ihn gewesen. Kaum etwas hatte dessen Erinnerungen so sehr beherrscht wie jener Moment am Strand von Malibu, als er vor dieser wahrhaft engelsgleich schönen Frau in die Knie gegangen war und die kleine Schachtel mit dem Ring geöffnet hatte. Dieses Bild war so etwas wie die Speerspitze eines glänzenden Heeres positiver Gedanken, die einen endlosen Krieg gegen die sich in seinem Kopf ausbreitende Finsternis führten, welche von dem Anblick des leblosen, ausgemergelten Körpers seiner Frau in dem Krankenbett beherrscht wurde.
Ob dieser Kampf nun ein Ende finden würde, war Marc letztendlich egal. Er lächelte lediglich schmal, als er erneut daran dachte, eigentlich eine gute Tat begangen zu haben.
Ein leises Glockengeläut erklang, als jemand erneut in das Zelt eintrat. Samuel, sein Leibwächter, hatte die Anweisung, stets fünf Minuten zu warten, bevor er erneut einen Kunden in sein Voices from the Afterworld genanntes Domizil eintreten ließ.
Zunächst glaubte Marc, ein ungewöhnlich hochgewachsenes Mädchen vor sich zu sehen. Schulterlange, pechschwarze Haare umspielten ein Gesicht mit ebenmäßiger Haut und fein geschwungenen Wangen. Über ihren vollen Lippen, am linken Mundwinkel, prangte ein kleines Muttermal, das er jedoch nur am Rande wahrnahm. Sein Blick fixierte sich an dem geradezu magischen Funkeln in ihrer braunfarbenen Iris. Es war fast so, als würde nicht er in ihre Gedanken einzutauchen versuchen, sondern sie in seine.
»Hallo«, begrüßte ihn die junge Frau unbestimmbaren Alters und reichte ihm die Hand. »Ich bin Jenna.«
Nur mühsam fand Marc zu seiner üblichen Souveränität zurück und ergriff die ausgestreckte Hand. »Marc. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Wie kann ich dir helfen?«
Die Dunkelhaarige atmete tief durch. »Wir haben nur wenig Zeit, deshalb komme ich gleich zum Punkt: Ich möchte, dass du Kontakt zu meinem verstorbenen Bruder aufnimmst. Er starb vor elf Monaten bei einem Flugzeugabsturz. Airdust Flug 7149, falls dir das etwas sagt.«
»Das war doch in der Mojave-Wüste, oder?«, fragte Marc überrascht. »Und warum haben wir keine Zeit? Glaube mir, wir haben so viel Zeit, wie wir uns nur dafür nehmen wollen. Setz dich erst einmal, dann können wir reden und ich den Kontakt zu deinem Bruder aufbauen.«
Jenna nickte. »Also gut.«
Theatralisch wie immer hob Marc seinen Umhang an und ließ sich langsam auf seinen thronartigen Stuhl sinken, den er selbst auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Mit einem Lächeln legte er seine rechte Hand auf die kalte Oberfläche der Glaskugel, in der ein paar funkelnde Schnipsel herumschwammen. Sie sollten an Sterne aus den Tiefen des Weltalls erinnern und boten immer wieder einen geradezu mystischen Effekt. Nicht allerdings bei dieser Jenna, die ihn unentwegt anstarrte, als wollte sie ihn sezieren.
Sein Instinkt sagte ihm, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte, doch die Aussicht auf weitere fünfzig Dollar belehrte ihn eines Besseren. Er ließ Jenna reden und erfuhr so von ihrem Zwillingsbruder Carter, zu dem sie eine besonders innige Bindung besessen hatte, die weit über normale Geschwisterliebe hinausging. Noch während sie davon sprach, wie sie sich trennten und er bei dem Flugzeugabsturz starb, verschwamm Marcs Blick, während sein Geist in die Erinnerungen der jungen Frau eintauchte.
Plötzlich war es ihm, als würde er von einem gigantischen Strudel aus Worten und Bildern verschlungen werden. Normalerweise sah er sich jetzt durch vergangene Zeiten treiben, erlebte die Vergangenheit seiner Kunden mit eigenen Augen mit und empfand dabei auch deren meist herzzerreißenden Emotionen. Diesmal dagegen strömten geradezu unendlich viele Gesichter, Umgebungen und gesprochene Worte auf ihn ein, dass er bald glaubte, sein Schädel würde zerplatzen. Verzweifelt versuchte er, sich an dem Gesicht von Jennas ebenfalls sehr kindlich wirkendem Bruder festzuklammern, an eine ihrer Umarmungen oder dem seltsamen Bild, als die Geschwister Hand in Hand mit einer bunt gekleideten Indianerin vor einem lodernden Feuer saßen und seltsame Dinge in den Himmel riefen. Allein, es gelang ihm nicht, und so schwamm sein Geist langsam dahin, bis ...
Schlagartig fand er sich in der Realität wieder. Der Kontakt war abgebrochen, weil Jenna aufgestanden und bis an die Innenwand des Zeltes zurückgewichen war. Mit großen Augen stand sie im Schatten und wirkte überrascht über das, was in seinem Kopf vorgegangen war. Oder war sie selbst dafür verantwortlich.
»Was war das?«, fuhr Marc sie an, als er wieder zu sich selbst fand. »Was hast du mit mir gemacht? Wer bist du wirklich, verflucht?«
»Ich ...«
Was auch immer Jenna ihm sagen wollte, sie behielt es für sich, denn im nächsten Augenblick kam es vor dem Zelt zu einem lauten Tumult. Kurz darauf wurde die Decke im Eingangsbereich zur Seite gerissen und zwei Polizisten stürmten in sein Domizil, die sofort ihre Pistolen auf ihn richteten.
»Marc Parker, nehmen Sie die Hände hoch und stehen Sie auf!«
»Aber ...«
»Aufstehen, habe ich gesagt!«, brüllte ihn einer der Beamten an und zielte auf seinen Kopf. »Sie sind verhaftet wegen Einbruchs, Brandstiftung und versuchten Mordes. Sie haben das Recht zu schweigen, ansonsten wird jedes Wort gegen Sie verwendet. Sie haben auch das Recht auf ...«
Marc hörte dem Uniformierten nicht mehr zu, während dieser die Miranda-Rechte geradezu gebetsmühlenartig durchkaute. Sein Blick galt allein dem zweiten Beamten, der seine Handschellen hervorzog und vorsichtig auf ihn zukam. Dabei hatte Marc längst den Anweisungen des anderen Mannes Folge geleistet und war mit erhobenen Händen aufgestanden.
»Nur keine Mätzchen, Junge«, flüsterte der Mann mit den pechschwarzen Haaren.
Obwohl Marc nicht einmal ahnte, was hier gespielt wurde, war er nicht gewillt, sich so einfach verhaften zu lassen. Warum auch immer man ihm dieses Verbrechen zur Last legte, er würde niemals mehr aus dem Gefängnis freikommen, das stand für ihn fest. Wer glaubte schon einem fahrenden Künstler, einem wunderlichen Herumtreiber ohne Wurzeln oder festem Wohnsitz? Nein, einer wie er war letztendlich für die Polizei nur Freiwild.
Genau deshalb stieß er den Beamten auch von sich, als ihm dieser zu nahe kam. Es blieb bei dem Versuch, denn als seine Hände gegen die Schultern des Mannes stießen, floss ein Meer aus tausend kleinen Blitzen durch seinen Körper. Für einige Sekundenbruchteile fühlte er sich in jene Nacht zurückversetzt, als er mit diesen seltsamen Fähigkeiten gesegnet worden war, doch dieses Bild wurde von dem sich vor ihm bietenden, schrecklichen Anblick überlagert.
Der Polizist versuchte zu schreien und riss zugleich seine Augen weit auf, während unzählige kleine Blitze durch seinen Körper flossen und jede noch so kleine Faser seiner Haut erfassten. In Höhe seines Herzens entstand ein gleißendes Licht, das seine Gestalt beinahe durchsichtig erscheinen ließ. Kurz darauf entstand ein viel grellerer Blitz, der Marc nicht nur blendete, sondern ihm zugleich auch das Bewusstsein raubte.
Wie eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte, brach Marc Parker über dem Tisch zusammen.
Sergeant Clark O'Hare wollte schreien, als er sah, was mit seinem Partner geschah. Nicht einen Ton brachte er hervor, obwohl Manny gerade in einem gleißenden Blitz verschwand. Nur dessen Kleidung und Waffe blieben zurück, völlig unversehrt, während von seinem besten Freund jede Spur fehlte. Und der Mann, der dafür verantwortlich war, lag leblos über dem Tisch.
Zwei weitere Uniformierte, die gerade noch vor dem Zelt Wache und den Leibwächter des angeblichen Mediums in Schach gehalten hatten, stürmten ins Innere und konnten ebenfalls nicht fassen, was hier geschehen war.
»Was ist mit Manny?«, fragte der eine.
»Ist der Kerl tot?«, wollte der andere wissen.
»Ich ... weiß es ... nicht.«
In seinen fast zwanzig Dienstjahren war er niemals mit einem derart unglaublichen Geschehen konfrontiert worden. Clark ging ja nicht einmal in die Kirche, weil er diesen ganzen Gott- und Engels-Glauben für ausgemachten Humbug hielt, doch was da gerade vor ihm geschehen war, ließ ihn an diesem Weltbild zweifeln. Niemand konnte einfach so verschwinden, indem er von einem anderen berührt wurde. Schon gar nicht ohne seine Kleidung, die nicht einmal den Hauch einer Beschädigung aufwies. Trotzdem war es geschehen, und Manny war ... tot. Ja, so musste es sein, obwohl es keinen Beweis dafür gab.
»Er lebt«, hörte er einen dunkelhäutigen Officer rufen. Dass Officer Reynolds kurz darauf neben Clark trat, eine Hand auf seinen Waffenarm legte und ihn herunterdrückte, bekam er kaum mit.
»Es ist vorbei, Clark«, flüsterte sein Kollege ihm zu.
Clark schüttelte den Kopf und starrte mit leerem Blick auf die Stelle, auf der gerade noch Manuel ›Manny‹ Rodriguez gestanden hatte. »Nein«, murmelte er. »Es ist noch lange nicht vorbei.«
Bull Run River Reservoir Number One
Multnomah County, Oregon, 09. Februar 2023, 09:47 Uhr
»Ruth Sekada«, flüsterte Judy, wobei sie nicht wusste, ob sie lachen oder nur den Kopf schütteln sollte. »Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor.«
»Das hast du jetzt schon ein paar Mal gesagt.«
Der ehemaligen Polizeipsychologin war dieser Umstand gar nicht aufgefallen. Allerdings passte dies zu den seltsamen Erinnerungslücken, mit denen sie einige Zeit nach ihrer letzten Begegnung immer noch zu kämpfen hatte. Sie war von einem Fremden, wohl einem Grauen