Die UFO-AKTEN 70 - Rafael Marques - E-Book

Die UFO-AKTEN 70 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Nadine DuBois besucht ihre fast hundert Jahre alte Großmutter die in Cypress Tree, Mississippi, lebt und unter Demenz leidet. Deren Pflegerin hat sie kurz zuvor angerufen, weil Geraldine in letzter Zeit mit Fantasiewesen zu reden scheint, die für sie sehr real wirken. Die Enkelin ist aufgrund dieser Nachricht besorgt und ihre Angst verstärkt sich noch mehr, als sie von der Seniorin persönlich erfährt, dass sie auch mit ihrem Sohn - Nadines Vater - gesprochen habe, obwohl der bereits vor zwanzig Jahren gestorben ist. Auf diese merkwürdigen Geschehnisse werden bald auch Cliff und Judy aufmerksam, als sie ein Informant per Gedankenübertragung bittet, sich nach Cypress Tree zu begeben ...

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Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Wunderland

UFO-Archiv

Vorschau

Impressum

Rafael Marques

Wunderland

Vor dem Haus von Geraldine DuBois

Cypress Tree, Mississippi, 11. Mai 2024, 11:23 Uhr

Es war ein heißer Frühlingstag, an dem Nadine DuBois ihren Wagen vor dem einsam gelegenen Holzhaus abstellte und sich abschnallte. Sie stammte zwar aus dieser Gegend und hätte die Schwüle, die nahe der Sümpfe herrschte, eigentlich gewohnt sein müssen, dennoch lief ihre Klimaanlage auf Hochtouren. Vielleicht war sie einfach nur schon sehr lange nicht mehr hier gewesen. Jeder Besuch bei ihrer Großmutter war für sie nämlich zugleich eine Begegnung mit ihrer eigenen Vergangenheit. Erinnerungen, die sie stets erfolgreich verdrängte, kamen dann wieder an die Oberfläche. Aber über manche Dinge kam eben niemand hinweg, besonders, wenn es um Geschehnisse ging, die unabänderbar in die eigene Psyche gebrannt waren. In ihrem Fall betrafen diese ihren Vater, ihre Cousine und das Wunderland ...

Nadine zögerte lange, bis sie den Wagen verließ. Es waren nun schon einige Monate seit ihrem letzten Besuch verstrichen, was sie persönlich sehr schmerzte, da sie ihre Großmutter Geraldine über alles liebte. Außerdem war es ein Geschenk, sie noch immer am Leben zu wissen, immerhin näherte sie sich rasant ihrem hundertsten Geburtstag. Ein geradezu biblisches Alter, und allein deshalb hätte sie schon so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen sollen. Leider lief ihre Lebenslinie nicht so einfach wie bei den meisten Menschen. Es gab Gründe, warum sie Cypress Tree, ihren Heimatort, nicht häufig besuchte.

Giselle, die Pflegerin, die sich tagsüber um Geraldine kümmerte, ahnte nichts von Nadines Geheimnis. Für sie war sie lediglich eine weit entfernt wohnende Enkelin, die ihre Großmutter zwar sehr liebte, aber nur selten die Zeit für einen Besuch fand.

In diesem Fall erhielt sie einen Anruf von der Pflegerin über eine Handynummer, die nur Giselle kannte. Der Grund dafür war, dass Geraldine in letzter Zeit ein eigenartiges Verhalten an den Tag legte, über das sie gerne persönlich mit ihr sprechen wollte.

An sich gab es bei Geraldine eigentlich keine »merkwürdigen Verhaltensweisen«, immerhin litt sie an Demenz. Glücklicherweise befand sich die Krankheit noch im Anfangsstadium, und da sie ansonsten noch bei bester Gesundheit war, gelang es ihr auch, ihren Alltag halbwegs zu bewältigen, so lange sie nicht das Haus verlassen musste. Trotzdem fühlte Nadine sich besser, wenn jemand in ihrer Nähe war, der sie im Notfall unterstützen konnte.

Angesichts der sich in dem um das Haus ausbreitenden Wald haltenden Schwüle klebte Nadine schon nach wenigen Schritten die dunkelblaue Bluse am Oberkörper. Auch die ausgefranste, kurze Jeanshose war wohl nicht die beste Idee gewesen, wenngleich jeder Stoff bei diesen Temperaturen auf der Haut störte.

Schon lange, bevor sie die Tür erreichte, wurde sie von innen geöffnet. Giselle, die in den letzten Jahren deutlich gealtert war und ihr graues Lockenhaar nicht mehr durch Färbungen zu verschleiern versuchte, lächelte sie an und gab ihr freundlich die Hand. »Schön, dass Sie es so schnell geschafft haben«, sagte sie, nachdem sie sich richtig begrüßt hatten. »Ich will nicht sagen, dass ich langsam in Panik gerate, nur, ein wenig Sorgen mache ich mir schon.«

»Das kann ich verstehen.«

»Kommen Sie herein«, bat die Pflegerin. »Ich habe einen Eistee vorbereitet.«

»Danke.«

Nadine folgte der Schwarzen durch einen schmalen, kurzen Flur ins Wohnzimmer, in dem ein Deckenventilator für etwas Abkühlung sorgte. Angesichts der zahlreichen Bücher, die auf dem Couchtisch lagen, ahnte sie, bei welcher Beschäftigung sie die Pflegerin gestört hatte. Um diese Uhrzeit hielt Geraldine normalerweise ein kurzes Schläfchen, und so würde es wahrscheinlich auch heute sein.

Der übliche Duft nach Räucherkerzen und Holz lag in der Luft, so wie sie es schon seit ihrer Kindheit kannte. Es lag lange zurück, dass sie mit ihren Freundinnen und ihrer Cousine Emmy mindestens einmal die Woche zu Besuch gewesen war, um einen von Geraldines leckeren Kuchen zu naschen, den Geschichten von all ihren Reisen in ferne Länder zu lauschen oder einfach nur im Garten herumzutollen. Umso schmerzhafter, dass diese unbeschwerte Zeit irgendwann ein jähes Ende gefunden hatte.

»Hier, bitte«, riss Giselle sie aus den Erinnerungen, als sie ihr ein Glas Eistee reichte.

»Danke.«

Die Kälte des Getränks ließ Nadine innerlich aufatmen. Lange würde der Tee die vorherrschende Hitze nicht vertreiben, andererseits war er schon ein Genuss, zumal Giselle ihr Handwerk wahrlich verstand.

Gemeinsam ließen sie sich auf der Couch nieder, wo die Pflegerin zunächst einen langen Seufzer ausstieß. »Ich weiß gar nicht so genau, wo ich eigentlich anfangen soll«, ergriff sie das Wort. »Es begann vor ungefähr zwei Wochen, dass sie mir eines Morgens plötzlich sagte, wie sehr sie sich freute, nach all den Jahren wieder mit Carl gesprochen zu haben. Sie meinte, er sei gar nicht tot, sondern nur lange verreist gewesen.«

»Hm«, blieb Nadine einsilbig, während sie innerlich zu kochen begann.

Giselle nahm ihre Reaktion zum Anlass, ihren Bericht fortzusetzen: »Anschließend wollte sie unbedingt ihre Großnichte Emmy besuchen, die sich, wie Sie sicher wissen, immer noch in häuslicher Pflege befindet. Was mich daran vor allem wundert, ist, dass Ihre Großmutter Emmy normalerweise nie erwähnt und mich auch nie darum bittet, sie zu ihrem Haus zu fahren. An diesem Tag wollte sie unbedingt zu ihr – ebenso wie zu Ihrem Elternhaus. Ich habe sie sogar in den Keller führen müssen, obwohl ich mir geschworen habe, ihn nie wieder zu betreten.«

Ich auch nicht, schoss es Nadine durch den Kopf, ohne dass sie es aussprach. »Hat sie gesagt, warum sie dorthin wollte?«, fragte sie stattdessen.

»Nein, das wollte sie nicht verraten. Allerdings machte sie auf mich einen entrückten Eindruck, während sie da im Keller stand und ihren Blick schweifen ließ. Bis zu dem Moment, als sie plötzlich zu lächeln begann, einer unsichtbaren Person zuwinkte und etwas sagte wie ›Was bist du denn für einer?‹ oder ›So einen wie dich hab ich ja noch nie gesehen!‹. Zunächst dachte ich an einen vorübergehenden Aussetzer oder dass sie mal wieder heimlich Alkohol getrunken hat, aber diese Kontakte mit imaginären Menschen oder Wesen setzten sich seitdem von Tag zu Tag fort. Außerdem erzählt sie mir immer wieder mal, dass es Carl gutgeht und er sich bei ihr sehr wohlfühlt.«

»Bei ihr?«, entfuhr es Nadine überrascht.

Die Pflegerin nickte und stellte ihr leeres Glas auf den Tisch. »So ist es«, bestätigte sie. »Sie ist der festen Überzeugung, ihr Sohn würde mit ihr in ihrem Haus wohnen.«

Nadine erbleichte und griff sich an die Brust, genauer gesagt ans Herz. Sie war mehr als glücklich, dass dieser Mann nicht mehr lebte, und allein die Vorstellung, sein Geist – oder vielmehr das Produkt der Fantasie ihrer Großmutter – könnte sich in ihrer Nähe aufhalten, sorgte dafür, dass sich ihr der Magen umdrehte. Sie stellte sich vor, wie Geraldine ihr beschrieb, dass er vor ihr stand, sie anlächelte oder sogar über ihr Haar oder die Schultern streichelte. Dies brachte sie beinahe dazu, aufzuschreien. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich zusammenzureißen.

»Ms. DuBois?«, wunderte sich Giselle über ihre emotionale Reaktion.

Nervös fuhr sich Nadine durch die blonden Haare. »Entschuldigung«, beschwichtigte sie die Pflegerin. »Mir sind gerade ein paar unschöne Erinnerungen in den Sinn gekommen.«

»Dann bin ich es, die sich entschuldigen muss. Es wäre wohl besser gewesen, Ihrer Großmutter diese Wünsche abzuschlagen und sie intensiver darüber aufzuklären, dass ihr Sohn nicht mehr lebt und auch nicht mehr zurückkehren kann. Allein, ich hatte Angst, sie dadurch zu sehr aufzuregen. In ihrem Alter ist es gefährlich, sich auf ein Streitgespräch einzulassen.«

»Das verstehe ich«, zeigte sich Nadine einsichtig. »Deshalb bin ich ja hier.«

»Ja, genau. Geraldine schläft gerade noch, doch bis Sie oben sind, wird sie bestimmt aufgewacht sein.«

Daraufhin richtete sich Nadine wieder auf. »Das denke ich auch«, erklärte sie und ließ die Pflegerin zunächst allein im Wohnzimmer zurück.

Ihre Beine fühlten sich unheimlich schwer und steif an, während sie sich in Richtung der Treppe begab, deren rissige Stufen in den ersten Stock führten. Es war fast so, als würde sie den ausdruckslosen Blick ihres Vaters auf sich lasten fühlen, so sehr wühlte sie Giselles Bericht auf. Wenn ihre Großmutter tatsächlich versuchte, mit ihr über Carl zu sprechen und so tat, als stünde er neben ihr, wusste sie nicht, wie sie reagieren oder ob sie sofort die Fassung verlieren würde.

Auch ihre Verhaltensweise im Keller ihres Elternhauses gab Nadine zu denken. Sie beschlich zwar bereits eine Ahnung, wen oder was sie dort unten gesehen haben könnte, trotzdem wollte sie das noch nicht so richtig wahrhaben. Nach all den Jahren sollte ihre Großmutter sie nun auch sehen können? Unmöglich war nichts, das wusste sie nur zu gut, deshalb ging sie sehr offen in das näher rückende Gespräch hinein.

Als sie den ersten Stock erreichte und in den Flur trat, verharrte sie überrascht auf der Stelle. Direkt vor ihrem Schlafzimmer stand Geraldine DuBois, die sich – in ihren Morgenmantel gehüllt – auf ihrem hölzernen Spazierstock abstützte und ihr breitestes Lächeln zeigte.

»Oh, wie ich mich freue, dass du gekommen bist, Schatz«, stieß ihre Großmutter hervor. »Komm, lass dich drücken!«

Trotz der Gedanken an ihren Vater ließ sich Nadine den glücklichen Moment nicht nehmen, Geraldine in ihre Arme schließen zu dürfen. Sie war immer noch eine recht kräftige Person, während Nadine eher darum bemüht war, sie so vorsichtig wie nur möglich anzufassen.

»Giselle hat mir schon am Frühstückstisch erzählt, dass du heute kommen würdest«, sagte ihre Großmutter, nachdem sie sich wieder aus der Umarmung gelöst hatte. Wie immer, wenn ein Besuch anstand, trug sie ihre graue Perücke, um ihre in ihren Augen kümmerliche, wahre Haarpracht zu verschleiern. Diese machte sie mindestens zwanzig Jahre jünger, wären da nicht die spindeldürren, mit Altersflecken übersäten Hände gewesen.

»Erst heute Morgen?«, fragte sie.

»Ja, es sollte wohl eine Überraschung sein. Und die ist Giselle wirklich gelungen. Also, komm rein.«

»Danke.«

Nadine folgte ihr zurück ins Schlafzimmer, in dem sich auch ein kleiner Rundtisch mit einem normalen und einem Schaukelstuhl befanden. Ihre Großmutter ließ sich mit einem erleichterten Stöhnen in Letzteren fallen und schloss für einen Moment die Augen.

»Ich glaube, ich weiß schon, warum du gekommen bist«, stellte Geraldine fest. An diesem Tag schien ihr Geist ausgesprochen klar zu sein, während sie an manch anderen schon deutlich stärker mit ihrem Gedächtnis zu kämpfen hatte.

Nadine war sehr froh darüber, für ihren Besuch einen dieser Tage erwischt zu haben. »Es geht um Carl«, bestätigte sie, wobei es ihr unheimlich schwerfiel, den Namen ihres Vaters über die Lippen zu bekommen. Es fühlte sich irgendwie an, als würde sie Blut schmecken, während sie gequält die Zunge bewegte.

»Du sprichst seinen Namen immer noch nicht gerne aus«, erriet ihre Großmutter ihre Gefühlslage. Ihre Miene verfinsterte sich dabei merklich. »Glaub mir, ich kann das verstehen, aber du musst auch meine Lage nachvollziehen. Er ist und bleibt mein Sohn, egal, was er auch getan haben mag. Ich habe nie die Gelegenheit erhalten, mich von ihm zu verabschieden, und nun eine zweite Chance zu bekommen, ist wie ein Geschenk des Himmels und der Hölle zugleich.«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, entgegnete Nadine. »Du hast wohl vergessen, dass du es warst, der den Namen deiner Familie abgelegt und deine Kinder und angeheirateten Verwandten dafür verstoßen hast, um dir anschließend den Familiennamen deiner toten Schwiegertochter übertragen zu lassen. Wer, der so etwas tut, würde noch etwas von seinem Sohn wissen wollen?«

»Das steht auf einem völlig anderen Blatt, Kind.«

»Geraldine ...«

Schon seit Jahrzehnten sprach Nadine sie nicht mehr mit »Grandma« an, eigentlich seit dem Tag, an dem sie von Cypress Tree weggezogen war, um in Dallas ihr Philosophiestudium zu beginnen. Ja, sie war ihr dankbar dafür, dass sie sie bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr aufgezogen hatte, trotzdem bedeutete ihre Dankbarkeit nicht, dass sie sich nun für sie freute, noch ein wenig Zeit mit einer imaginären Version ihres Sohnes verbringen zu dürfen. Er hatte den Tod verdient gehabt, und wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie ihm eigenhändig den Hals umgedreht.

»Du machst dasselbe Gesicht wie die anderen, wenn ich ihnen von Carl erzähle«, meldete sich ihre Großmutter wieder zu Wort.

»Die anderen?«

Geraldine nahm das halb gefüllte Glas Wasser vom Tisch und deutete in Richtung der Fensterbank. Eine weiße Rüschengardine hing dort, ansonsten war der Blick frei auf den nahen Wald. »Ja, ihn zum Beispiel«, erklärte sie. »Emmy sagte, du würdest sie auch sehen können.«

»Emmy kann nicht sprechen«, erwiderte Nadine, in deren Brust sich erneut etwas zusammenkrampfte. »Außerdem sehe ich nichts.«

»Nicht die Emmy, die in ihrem eigenen Haus vor sich hinvegetiert ...«

Nadine wollte die Frage eigentlich nicht stellen, trotzdem musste sie die Wahrheit wissen, weshalb sie sie schlussendlich doch aussprach: »Wer steht da?«

»Na, der Troll.«

Das ist nicht möglich!

Das ist nur ein Zufall!

Das kann Emmy ihr gar nicht eingeredet haben!

Immerhin kann Emmy nicht mehr reden ...

All diese Gedanken hämmerten Nadine durch den Kopf, während sie ihren Blick eisern auf die leere Fensterbank gerichtet hielt. So sehr sie sich auch anstrengte und ihre Erinnerungen mit ihrer Fantasie zu verbinden versuchte, es gelang ihr nicht, das Wesen wahrzunehmen oder zumindest zu visualisieren. Es war und blieb das Produkt der Fantasie ihrer Großmutter.

Wenn es nur so einfach wäre!, durchzuckte es sie. Wenn ich das nur einfach hinnehmen könnte!

»Hast du ... wirklich mit Emmy gesprochen?«, fragte Nadine, die inzwischen die Hände vors Gesicht geschlagen und sich abgewandt hatte.

»Ja, und nein, würde ich sagen«, antwortete ihre Großmutter kryptisch. »Seit du sie nicht mehr besuchst, hat sie kein Wort mehr gesagt, und ehrlich gesagt war sie mir deshalb die ganze Zeit über ein wenig unheimlich. Deshalb habe ich mich auch nur selten bei ihrem Arzt nach ihrem Zustand erkundigt. Trotzdem hat sie gelächelt, als ich bei ihr war. Ich habe ihr dann übers Gesicht gestreichelt, ihre Hand genommen und mit ihr ein einziges Wort auf einen Zettel geschrieben, als hätte sie es mir mit ihrem Blick befohlen. Weißt du, was es war?«

»Sag es mir!«

»Wunderland«, bestätigte Geraldine ihre Ahnung. »Erinnerst du dich?«

»Ja ...«

»Und dennoch siehst du den Troll nicht. Das ist sehr traurig.«

»Wieso das alles?«, stieß Nadine selbst für sich unerwartet laut hervor. Die gerade verklungenen Worte ihrer Großmutter waren die letzten Tropfen gewesen, die das Fass zum Überlaufen gebracht hatten. Die Rücksicht, die sie angesichts von Geraldines hohem Alter an den Tag legen wollte, spielte für sie nun keine Rolle mehr. »Wieso jetzt, nach all den Jahren? Warum kam mein Vater plötzlich zurück? Wieso wolltest du unbedingt Emmy besuchen? Hast du ihr auch davon erzählt? Und warum, zum Teufel, bist du in dem Keller gewesen? Du hast da nichts zu suchen! Niemand hat da etwas zu suchen!«

Giselles Furcht davor, Geraldine könnte ein Streitgespräch gesundheitlich nicht überstehen, erwies sich als unbegründet. Schon seit ihrer Kindheit kannte Nadine ihre Großmutter als einen ruhigen und gelassenen Menschen. Selbst jetzt, als ihre Enkelin einen Wutausbruch hatte, blieb sie ruhig und behielt die Fassung.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte sie mit einer mütterlichen Strenge.

Mit einem lauten Stöhnen sank Nadine in sich zusammen. »Ja«, sagte sie nur und schüttelte den Kopf.

Es verging einige Zeit, bis ihre Großmutter wieder das Wort ergriff. »Du musst wissen, wenn Menschen in ein gewisses Alter kommen, beginnen sie, den Lauf der Dinge und sich selbst anders wahrzunehmen als noch in jungen Jahren«, erzählte sie. »Ich glaube fest daran, dass mein Ende naht und ich meinen hundertsten Geburtstag nicht mehr erleben werde, auch wenn ich noch so fit und wach auf dich wirken mag. Etwas braut sich zusammen, eine dunkle Wolke, die sich über meinem Kopf ballt. Deshalb – und weil Carl zurückgekehrt ist – habe ich mich entschieden, mit einigen Dingen abzuschließen und meine Augen anderen zu öffnen, vor denen ich sie zuvor sehr lange Zeit verschlossen habe. Deshalb hat mir Emmy wohl auch den Schlüssel zum Wunderland gezeigt. Ich würde mich sehr freuen, eines Tages dort für immer bleiben zu können.«

»Geraldine ...«

»Und nun möchte ich, dass du gehst, Schatz«, fügte ihre Großmutter ebenso ernst hinzu. »Du musst erst mit dir selbst ins Reine kommen, bevor du mir wieder gegenübertreten kannst. Es würde mich freuen, wenn du noch ein paar Tage bleibst, aber wenn du noch einmal hier auftauchen willst, um mich anzuschreien, kannst du auch gleich wegbleiben.«

Nadine war nicht mehr in der Lage, die Tränen zurückzuhalten, als sie sich aufrichtete und zur Tür ging. Als sie bereits die rechte Hand auf die Klinke gelegt hatte, sprach ihre Großmutter sie noch einmal an.

»Natürlich habe ich Emmy nichts von Carl gesagt«, beantwortete sie wenigstens eine ihrer Fragen. »Nur, weil ich ein Monster großgezogen habe, bedeutet das nicht, dass ich auch selbst ein solches bin.«

Ihre Worte wirkten auf Nadine wie Peitschenhiebe, unter denen sie wieder und wieder zusammenzuckte. Schließlich drehte sie sich ein letztes Mal um und kämpfte darum, ihrer Großmutter in die Augen zu sehen. »Tut mir leid«, flüsterte sie und verließ den Raum.

Auf dem Weg nach draußen war ihr noch einmal Giselle begegnet, die gut daran getan hatte, sie nicht anzusprechen. Ihr verweintes Gesicht und ihre Mimik waren sicher eine Antwort genug auf all ihre Fragen gewesen.

Nun stand sie wieder vor dem Haus und strich über die Fahrertür ihres Leihwagens. Ein Teil von ihr war kurz davor, noch einmal kehrtzumachen und ihre Großmutter erneut zur Rede zu stellen. Letztendlich siegte ihre Vernunft, die ihr sagte, dass sie Geraldine nicht dazu zwingen konnte, ihr die ganze Wahrheit zu sagen, zumal sie manches lieber gar nicht so genau wissen wollte. Ebenso bestand die Möglichkeit, dass sie inzwischen wieder in ihren leicht dementen Zustand zurückgefallen war.

Ihre letzten Worte wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf. Sie waren mehr als nur ein Vorwurf gewesen, eher eine Feststellung und eine schmerzhafte Abrechnung mit ihrer eigenen Vergangenheit, wie Nadine es bei ihrer Großmutter in all den Jahren nicht erlebt hatte. Vielleicht stimmte es ja wirklich, dass sie sich ihrem Ende näherte und die Welt um sich herum mit anderen Augen wahrnahm. Wenn sie selbst dazu in der Lage wäre, hätte sie wohl auch den Troll gesehen.