Die Unsterblichkeit der Zeit - Paul Davies - E-Book

Die Unsterblichkeit der Zeit E-Book

Paul Davies

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von der Zeit wissen wir nicht viel – wir verstehen sie nicht wirklich. Zwar können wir sie auf die Tausendstelsekunde messen, wenn man uns aber in einen dunklen Raum sperrt, verlieren wir das Zeitgefühl sehr bald. Was also ist die Zeit? Wo kommt sie her? Wo geht sie hin? Hat sie einen Anfang oder ein Ende? Der berühmte Physiker Paul Davies schildert, was die moderne Wissenschaft seit Einstein über die Zeit gedacht und gefunden hat. Er ergründet und erklärt auf umfassende und packende Weise die geheimnisvollen Tiefen der Zeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 557

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Paul Davies

Die Unsterblichkeit der Zeit

Die moderne Physik zwischen Rationalität und Gott

Aus dem Englischen von Wolfgang Rhiel

FISCHER Digital

Inhalt

Die Originalausgabe erschien unter [...]Ich widme dieses Buch [...]VorwortEinführung1 Eine ganz kurze Geschichte der ZeitWessen Zeit ist das überhaupt?Die Suche nach der EwigkeitDer Zeit entfliehenZyklische Welten und die ewige WiederkehrNewtons Zeit und das Uhrwerk UniversumEinsteins ZeitStirbt das Universum?Die Wiederkehr der ewigen WiederkehrWie alles anfingEs geschieht, wenn es geschieht2 Zeit für einen WechselEin Geschenk des HimmelsAbschied vom ÄtherEine Lösung zur ZeitZwischenspielDie Zeit dehnenDas Rätsel der ZwillingeAbschied für die GegenwartZeit ist GeldZeitbild3 ZeitmaschinenDie LichtbarriereDas Perpetuum mobile und der mühsame KampfWarum die Zeit im Weltraum schneller vergehtDie Uhr im KastenDie beste Uhr im UniversumDas verspätete EchoAufwärts4 Schwarze Löcher: Tore zum Ende der ZeitKrümmungsfaktor unendlichEin dunkles GeheimnisDer Vorstoß in den magischen KreisEin singuläres ProblemJenseits des Endes der ZeitSind sie wirklich da draußen?5 Der Anfang der Zeit: Wann genau war das?Die große Uhr am HimmelDer Urknall, und was davor geschahÄlter als das Universum?Einsteins größter FehlerDen Kosmos überlisten6 Einsteins größter Triumph?Die Handschrift GottesHat es den Urknall überhaupt gegeben?Was sind unter Freunden schon ein paar Milliarden Jahre?Ein unangenehmes ProblemDas bummelnde Universum7 QuantenzeitZeit zum «Tunneln»Der Teekessel-EffektDie Vergangenheit auslöschenGeistersignale und übersinnliche TeilchenSchneller als Licht?Die Zeit verschwindet!8 Imaginäre ZeitStephen HawkingWie die Zeit begannDie Hartle-Hawking-TheorieImaginäre Uhren9 Der ZeitpfeilDie Welle erwischenSignale aus der ZukunftEine Frage der ZeitumkehrDas Teilchen, das die Zeit anzeigen kannDas Universum mit Schlagseite10 Rückwärts in der ZeitRückwärtsRückwärts denkenAntiweltenDie Uhr zurückstellenHawkings größter FehlerEine Zeit für jedermann11 Zeitreisen: Fakt oder Phantasie?Signale in die VergangenheitBesuch in der VergangenheitSchwarze Löcher als ZeitmaschinenWurmlöcher und StringsWiderspruch12 Aber welche Zeit haben wir denn nun?Kann die Zeit wirklich fließen?Das Märchen vom VergehenFliegt der Zeitpfeil?Warum jetzt?13 Experimente mit der ZeitWie lange dauert die Gegenwart?Jetzt sehen Sie es, jetzt nichtZeit einsetzenSubjektive ZeitDie Hintertür zu unserem Geist14 Die unvollendete RevolutionNachwortAnmerkungenLiteraturhinweisePersonen- und Sachregister

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «About Time. Einstein’s Unfinished Revolution» bei Simon & Schuster, New York.

Ich widme dieses Buch meiner Familie,

die lange gelitten hat.

Die Zeit, die ich aufgewendet habe,

es zu schreiben, gehört ihr.

Vorwort

Dies ist das zweite Buch, das ich über die Zeit schreibe. Das erste, das 1974 herauskam, war speziell für Physiker gedacht. Ich hatte immer vor, ein zweites Buch über dieses Thema für einen größeren Leserkreis zu schreiben, aber irgendwie fand ich nie die Zeit dazu. Nun bin ich doch am Ziel.

Das Rätsel Zeit fasziniert die Menschen seit jeher. Die ersten schriftlichen Zeugnisse verraten Verwirrung und Angst über das Wesen der Zeit. Viele griechische Philosophen versuchten, den Begriffen Ewigkeit und Vergänglichkeit Sinn zu geben. Die Zeit steht im Mittelpunkt aller Weltreligionen und war jahrhundertelang Ursprung zahlloser Auseinandersetzungen zwischen den Lehren.

Obwohl die Zeit mit Galilei und Newton als meßbare Größe in die Wissenschaft trat, wurde sie doch erst in diesem Jahrhundert ein eigenständiges Fachgebiet. Vor allem Albert Einstein zeichnet dafür verantwortlich. Die Geschichte der Zeit im 20. Jahrhundert ist ganz überwiegend die Geschichte der Einsteinschen Zeit. Auch wenn ich einige biographische Details angeführt habe, wo dies angebracht war, ist dieses Buch doch keine Biographie von Einstein, denn davon sind schon mehrere seit seinem hundertsten Geburtstag im Jahr 1979 erschienen. Ich hatte auch nicht vor, eine systematische und umfassende Abhandlung über die Zeit zu schreiben. Ich habe vielmehr einige Themen ausgewählt, die ich persönlich besonders aufregend oder geheimnisvoll finde, und sie dazu benutzt, die allgemeinen Grundlagen der Zeit darzustellen, wie wir sie heute verstehen.

Obwohl Einsteins Relativitätstheorie inzwischen fast einhundert Jahre alt ist, sind ihre ungewöhnlichen Voraussagen immer noch weitgehend unbekannt. Der größte Teil des Buchs behandelt zwar die direkteren Folgen der Theorie, ich komme jedoch zu dem allgemeinen Schluß, daß wir die Zeit noch längst nicht restlos begreifen. Einstein hat mit seiner Arbeit unser Verständnis von der Zeit revolutioniert, doch die Folgen sind noch lange nicht ganz aufgearbeitet. Die Relativitätstheorie ist in weiten Bereichen noch ein weißer Fleck auf der Landkarte, und wichtige Fragen, wie die Möglichkeit einer Zeitreise, haben erst in jüngster Zeit Beachtung gefunden. Es gibt auch einige Schwierigkeiten, die auf grundlegende Grenzen der Theorie schließen lassen. Differenzen über das Alter des Universums und Hindernisse, die Einsteinsche Zeit mit der Quantenphysik in Einklang zu bringen, sind zwei der hartnäckigeren Probleme. Noch bedenklicher ist vielleicht, daß die Einsteinsche Zeit ernstlich über Kreuz mit der Zeit ist, wie wir Menschen sie erleben. All das bringt mich zu der Vermutung, daß es an der Zeit ist, Einsteins Gedanken aufzugreifen, aber weiterzugehen. Die herkömmliche Darstellung der Zeit überläßt uns hilflos einem Chaos aus Rätseln und Widersprüchen. Nach meinem Dafürhalten eignet sich die Einsteinsche Zeit nicht, das Universum und unsere Vorstellung von ihm restlos zu erklären.

Ich habe dieses Buch für den wissenschaftlich oder mathematisch nicht vorgebildeten Leser geschrieben. Die Fachsprache ist auf ein Minimum reduziert, desgleichen die Angaben von Zahlen. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß das Thema kompliziert ist und einige Anforderungen an den Geist stellt. Um die Bürde ein wenig zu erleichtern, habe ich die Figur eines friedlichen fiktiven Skeptikers eingeführt, der von Zeit zu Zeit mögliche Einwände oder Fragen des Lesers äußert.

Viele Menschen haben mir im Lauf der Jahre beim Formulieren meiner Gedanken geholfen. Besonders profitiert habe ich von Gesprächen und Diskussionen mit John Barrow, George Efstathiou, Murray Gell-Mann, Ian Moss, James Hartle, Stephen Hawking, Don Page, Roger Penrose, Frank Tipler, William Unruh und John Wheeler. Andere, deren Arbeiten mich beeinflußt haben, werden im Text erwähnt. Danken muß ich auch meinen Kollegen und Freunden, die viele nützliche Gedanken und Einsichten beigesteuert haben. Zu ihnen gehören Diane Addie, Philip Davies, Susan Davies, Murray Hamilton, Angas Hurst, Andrew Matacz, James McCarthy, Jesper Munch, Graham Nerlich, Stephen Poletti, Peter Szekeres, Jason Twamley und David Wiltshire. Als letzte, aber keineswegs zuletzt, sei Anne-Marie Grisogone genannt, deren kritische Lektüre des Manuskripts und Anregungen zu Diskussionen über das Thema sich als äußerst wertvoll erwiesen haben.

Einführung

Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur eine Täuschung, wenn auch eine hartnäckige.

Albert Einstein

 

 

 

Jeder Mensch hat Helden gern. Von der griechischen Mythologie bis zur Neuzeit mit ihren Popstars und Sportidolen waren die spektakulären Leistungen einiger immer weit attraktiver als die der Gemeinschaft insgesamt. Die Wissenschaft macht da keine Ausnahme: Aristoteles, Galileo Galilei, Isaac Newton, Charles Darwin … diese Namen ragen heraus aus der Menge und stehen für Männer, die die Wissenschaft revolutioniert haben. In dieser Auflistung genialer Wissenschaftler verkörpert insbesondere ein Name geistige Brillanz und den Anstoß zum dramatischen Wandel unserer Weltsicht: Albert Einstein. Schon zu Lebzeiten eine Legende, steht Einstein für all das, was die Öffentlichkeit mit wissenschaftlicher Genialität verbindet. Er hatte ein exzentrisches, leicht schlampiges Äußeres, sprach Englisch mit deutschem Akzent, drückte seine Theorien in schwerverständlichen mathematischen Formeln aus und brachte seine revolutionärsten Ideen offenbar fast im Alleingang hervor, indem er ungewöhnliche neue Vorstellungen aus irgendeinem rein theoretischen Bereich nahm und feststellte, daß die Natur sich ihnen entgegenkommenderweise fügte.

Wie alle Legenden enthält auch die vom Wissenschaftler Einstein einiges Wahres. Er war ein Genie, er hat die Wissenschaft revolutioniert, und ein Großteil seiner Arbeit war weitgehend das Ergebnis eigener Bemühungen.

Einstein war vor allem ein Mensch seiner Zeit. Die Physik war um die Jahrhundertwende an einem Scheideweg angelangt. Die Methoden dieser bereits bewährten Disziplin waren erprobt und ihre Leistungen beeindruckend. Nach Meinung einiger begeisterter Physiker näherte sich das ganze Fach einem Zustand der Vollendung. Man konnte glauben, daß Newtons Bewegungsgesetze und sein Gravitationsgesetz, Maxwells Theorie vom Elektromagnetismus, die Hauptsätze der Thermodynamik und eine Handvoll weiterer Grundsätze alle physikalischen Erscheinungen angemessen erklärten. In dieser Hinsicht ähnelte die Physik am Ende des 19. Jahrhunderts der am Ende des 20. Eine alles umfassende, endgültige Theorie – eine einheitliche Feldtheorie – schien im Bereich des Möglichen zu liegen. Dummerweise trübten dann, damals wie heute, einige unerklärliche Geheimnisse die ansonsten glänzende Erfolgsbilanz. Im experimentellen Bereich deutete die Entdeckung der Radioaktivität auf eine energetische Welt innerhalb des Atoms hin, die außerhalb der Gravitation oder des Elektromagnetismus lag. Das gewaltige Alter der Erde, das aus fossilen Funden abgeleitet wurde, war mit keinem der bekannten physikalischen Prozesse in Einklang zu bringen, die zum Beispiel die Sonne scheinen lassen. Und die scharfen Linien in den Gasspektren widersetzten sich allen Erklärungen mittels anschaulicher Atommodelle.

Noch schwerwiegender war, daß Widersprüche in den grundlegenden Theorien selbst wie unsichtbare Riffe nur darauf zu warten schienen, das stolze Schiff der «klassischen» Physik zu versenken. Eine komplette Welttheorie kann nicht aus Teilen entstehen, die nicht richtig zusammenpassen. In dieser Hinsicht irritierten vor allem zwei seltsame Phänomene, und sie erkämpften sich dann auch einen Platz auf der Tagesordnung der Physiker. Das erste betraf die Verschmelzung der Theorie der elektromagnetischen Strahlung mit der Thermodynamik. Beide Bereiche waren für sich genommen äußerst erfolgreich. Maxwells elektromagnetische Gleichungen erklärten sehr elegant, wie elektrische und magnetische Felder ineinandergreifen, und bildeten die theoretische Grundlage für praktische Vorrichtungen wie Elektromotoren und Dynamos. Sie führten außerdem zur richtigen Vorhersage elektromagnetischer Wellen und lieferten eine überzeugende Erklärung der Eigenschaften des Lichts als elektromagnetische Welle. Die Hauptsätze der Thermodynamik waren genauso beeindruckend, erklärten sie doch nicht nur die Wirkungsweise von Wärmekraftmaschinen, Dampfmaschinen und Kühlschränken, sondern auch die Eigenschaften von Gasen und chemischen Reaktionen. Aber sobald man diese beiden großartigen theoretischen Systeme zusammenbrachte, ergab sich ein verheerender Widerspruch. Nach der gängigen Vorstellung war der freie Raum mit einem unsichtbaren Stoff erfüllt, dem sogenannten Äther. Elektromagnetische Felder wurden als Spannungen oder Verformungen in diesem Medium angesehen. Das Problem bestand nun darin, daß der angenommene Äther eine unbegrenzte thermische Kapazität zu haben schien, einen unersättlichen Appetit auf Wärme. Nichts konnte anscheinend die gewöhnliche Materie davon abhalten, in zunehmendem Maße ihre gesamte Wärme in Form elektromagnetischer Wellen mit beliebig hoher Frequenz an den Äther abzugeben. Diese anscheinend unausweichliche Instabilität bedeutete, daß materielle Körper nicht in der Lage wären, Wärme zu speichern oder im thermischen Gleichgewicht mit ihrer Umgebung zu bleiben, was in krassem Widerspruch zum normalen Menschenverstand und auch zu den experimentellen Beweisen stand.

Die zweite rätselhafte Erscheinung hatte ebenfalls mit dem Elektromagnetismus zu tun, in diesem Fall mit der Beschreibung bewegter elektrischer Ladungen. Zwischen Maxwells Theorie vom Elektromagnetismus und den Bewegungsgesetzen Newtons gab es eine feine, aber wesentliche mathematische Abweichung. Newtons Gesetze galten als die Gründungsaussage der Physik und hatten lange als ein Modell für jede wissenschaftliche Beschreibung von Veränderung gedient. Formuliert im 17. Jahrhundert, hatten sie Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitprobe hervorragend bestanden. Und doch gerieten sie nicht nur wegen eines technischen Details in Konflikt mit der elektromagnetischen Theorie, sondern grundsätzlich auch darüber, wie sie den Gedanken der Bewegung darstellten.

Beide Widersprüche betrafen, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, das Wesen der Zeit. Der erste – der Konflikt zwischen der elektromagnetischen Theorie und der Thermodynamik – erwuchs aus dem Versuch, den sogenannten Zeitpfeil zu verstehen, also die Tatsache, daß die meisten physikalischen Prozesse eine eingebaute Richtung aufweisen, die sich insbesondere in der Richtung des Wärmeflusses zeigt – von warm nach kalt. Der zweite hatte mit einem Konflikt zwischen Newtons Vorstellung von einer absoluten Zeit und der Relativität der Bewegung zu tun, die auf elektrisch geladene Teilchen angewandt wird.

Diese beiden theoretischen Probleme hatten noch vor dem Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts die traditionelle oder klassische Physik einfach gesprengt und nicht nur eine, sondern zwei wissenschaftliche Revolutionen ausgelöst. Aus dem ersten Rätsel entwickelte sich die Quantenmechanik, eine völlig neue und höchst eigenartige Theorie der Materie – die tatsächlich so eigenartig war, daß viele sie selbst heute noch nicht recht glauben können: Einstein hat sich ein Leben lang geweigert, ihre verblüffenden Konsequenzen zu akzeptieren. Das zweite Rätsel ließ die Relativitätstheorie entstehen. Einstein spielte in beiden Fällen eine Schlüsselrolle, wird jedoch überwiegend mit der Relativitätstheorie in Verbindung gebracht.

Das Wort «Relativität» bezieht sich hier auf die Tatsache, daß die Erscheinungsform der Welt ringsum von unserem Zustand der Bewegung abhängt: die Bewegung ist «relativ». Das wird an einigen einfachen Beispielen sogar im täglichen Leben erkennbar. Wenn ich auf einem Bahnsteig stehe, scheint sich der vorbeirasende Zug sehr schnell zu bewegen; sitze ich jedoch im Zug, sieht es so aus, als husche der Bahnhof vorbei. Diese offensichtliche und unstrittige Relativität der Bewegung war schon Galilei bekannt und tauchte bereits im 17. Jahrhundert in Newtons Mechanik auf. Einstein entdeckte dagegen später, daß nicht nur die Bewegung relativ ist, sondern Raum und Zeit ebenfalls. Das war eine weit aufregendere und sinnverwirrendere Feststellung. Wie wir noch sehen werden, ist die Einsteinsche Zeit eine höchst beunruhigende Herausforderung an unsere normale Vorstellung von der Wirklichkeit.

Für Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts war es möglich zu glauben, die Physik wäre vollständig, wenn sie die Kräfte erklären könnte, die zwischen den Materieteilchen wirken, und die Art und Weise, wie diese Teilchen sich unter der Einwirkung der Kräfte bewegen. Darauf lief alles hinaus: Kräfte und Bewegung. Die Teilchen selbst und der Raum und die Zeit, in denen sie sich bewegten, wurden einfach angenommen. Sie waren gottgegeben. Wenn die Natur mit einem großen kosmischen Drama verglichen werden kann, in dem der Inhalt des Universums – die Atome – die Besetzung war und Raum und Zeit die Bühne, dann hielten die Wissenschaftler es lediglich für ihre Aufgabe, die Handlung auszuarbeiten.

Heute würden Physiker ihre Aufgabe erst dann als erfüllt betrachten, wenn sie das Ganze gut erklärt hätten: Besetzung, Bühne und Stück. Sie würden nichts weniger als eine vollständige Erklärung für die Existenz und Eigenschaften aller Materieteilchen erwarten, die die Welt bilden, für das Wesen von Raum und Zeit und sämtliche Aktivitäten, zu denen diese Systeme in der Lage sind. Einsteins größter Beitrag war der, zu zeigen, daß die Trennung zwischen Besetzung und Bühne künstlich war. Raum und Zeit sind selbst Teil der Besetzung, sie spielen eine eigenständige und aktive Rolle im großen Drama der Natur. Raum und Zeit sind nicht, wie sich herausstellt, einfach als ein unveränderlicher Hintergrund der Natur da; sie sind materielle Dinge, veränderlich und formbar und dem Gesetz der Physik genauso unterworfen wie die Materie.

Es bedurfte der Jugend, des Genies und des Wagemuts eines Einstein, nicht nur die technische Richtigkeit der gesamten begrifflichen Grundlage der Newtonschen Physik in Frage zu stellen. Nachdem Newtons Vorstellungen von Raum, Zeit und Bewegung sich über zweihundert Jahre bewährt hatten, waren sie nicht ohne weiteres abzutun. Es ist ein Beweis für die Größe Einsteins, daß sein Frontalangriff auf das Gebäude der Newtonschen Physik innerhalb nur einer Generation die neue Lehre brachte.

Aber obwohl Einstein sein ganzes Leben der Aufgabe widmete, gelang es ihm doch nicht, eine umfassende physikalische Theorie aufzustellen. Er befreite Zeit und Raum zwar von den unnötig strengen Beschränkungen Newtonschen Denkens, war jedoch nicht in der Lage, die jetzt befreiten Begriffe eines flexiblen Raums und einer flexiblen Zeit zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufügen. Die Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie oder Theory of Everything, wie sie im Englischen auch genannt wird, steht bei den Wissenschaftlern immer noch ganz oben auf der Tagesordnung, aber das Ziel ist nach wie vor schwer faßbar. Selbst beim Thema Zeit ließ Einstein die Dinge in einem seltsam unfertigen Zustand. Seit Menschengedenken hat sich das Wesen der Zeit als äußerst rätselhaft und widerspruchsvoll erwiesen. Sie ist in mancher Hinsicht der grundlegendste Aspekt dessen, wie wir die Welt erleben. Schließlich hängt gerade der Gedanke der Individualität von der Bewahrung der persönlichen Identität in der Zeit ab. Als Newton die Zeit in die wissenschaftliche Untersuchung einführte, erwies sich das als brauchbare Methode zur Analyse physikalischer Prozesse, aber es sagte uns wenig über die Zeit selbst.

Das wissenschaftliche, sterile Bild der Zeit schiebt verächtlich das angehäufte Wissen der traditionellen Kulturen beiseite, in denen die Zeit intuitiv erlebt wird, Zyklen und Rhythmus das Messen beherrschen und Zeit und Ewigkeit komplementäre Begriffe sind. Die Uhr, ein Kennzeichen unserer wissenschaftlichen Welt, ist auch das Symbol einer geistigen Zwangsjacke. Vor Galilei und Newton war die Zeit etwas Organisches, Subjektives, keine veränderliche Größe, die mit mathematischer Präzision gemessen wurde. Die Zeit war wesentlicher Bestandteil der Natur. Newton entriß der Natur die Zeit, gab ihr ein abstraktes, unabhängiges Dasein und raubte ihr damit ihre alte Bedeutung. Sie existierte in Newtons Darstellung der Welt lediglich als Mittel, Bewegungen mathematisch zu verfolgen; sie tat selbst nichts. Einstein gab der Zeit ihren angestammten Platz im Herzen der Natur als wesentlicher Bestandteil der physikalischen Welt zurück. Im Grunde ist Einsteins «Raumzeit» in vieler Hinsicht nur ein anderes Feld, das neben die elektromagnetischen und die Kernkraftfelder gestellt werden kann. Es war ein gewaltiger erster Schritt zur Wiederentdeckung der Zeit.

Wie wichtig sich die Einsteinsche Zeit auch erwies, löste sie doch noch nicht «das Rätsel der Zeit». Die Menschen fragen oft: Was ist Zeit eigentlich? Vor vielen Jahrhunderten gab Augustinus von Hippo, einer der einflußreichsten Denker über das Wesen der Zeit, eine scharfsinnige, wenn auch rätselhafte Antwort auf diese Frage. Er sagte: «Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären soll, weiß ich es nicht.»[1] Die Zeit, die in der theoretischen Physik behandelt wird, auch die Einsteinsche Zeit, hat nur entfernt Ähnlichkeit mit der subjektiv empfundenen Zeit des einzelnen, der Zeit, die wir zwar kennen, aber nicht erklären können. Einsteins Zeit hat zum Beispiel keinen Pfeil, sie ist blind für die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ganz sicher fließt sie nicht wie die Zeit von Shakespeare oder James Joyce oder auch wie die von Newton. Daraus läßt sich leicht schließen, daß etwas Entscheidendes fehlt, eine zusätzliche Eigenschaft der Zeit nicht in den Gleichungen enthalten ist, oder aber daß es mehr als eine Art von Zeit gibt. Die von Einstein eingeleitete Revolution bleibt enttäuschend unvollendet.

Dennoch kam Einstein mit einer uralten Seite der Zeit in Berührung, der traditionellen Verbindung zwischen Zeit und Schöpfung. Das ehrgeizigste Unterfangen, das aus der Arbeit Einsteins hervorgegangen ist, ist die moderne wissenschaftliche Kosmologie. Als die Wissenschaftler anfingen, die Auswirkungen der Einsteinschen Zeit für das gesamte Universum zu erkunden, machten sie eine der größten Entdeckungen in der Geschichte des menschlichen Denkens: daß die Zeit und damit die ganze materielle Wirklichkeit einen eindeutigen Ursprung in der Vergangenheit gehabt haben muß. Wenn die Zeit flexibel und veränderlich ist, wie Einstein gezeigt hat, ist es ihr auch möglich zu entstehen – und ebenso, wieder zu verschwinden. Die Zeit kann einen Anfang und ein Ende haben. Der Ursprung der Zeit wird heute «Urknall» oder «Big Bang» genannt. Religiöse Menschen sprechen in diesem Zusammenhang von der «Schöpfung».

Doch Einstein blieb so im Newtonschen Denken gefangen, daß er diesen bedeutenden Schluß selbst nicht zog. Er klammerte sich an den Glauben, daß das Universum ewig und im wesentlichen unveränderlich sei, und trat für eine statische Kosmologie ein, bis die immer schwerer wiegenden Beweise ihn zum Umdenken zwangen. Doch hier begegnen wir der größten Ironie. Um sein Universum einzufrieren, führte Einstein eine neuartige Kraft in die Physik ein, eine Art Antigravitationskraft. Als nachgewiesen wurde, daß sich das Universum ausdehnt, ließ Einstein diese kosmische Kraft mit schlechtverhülltem Verdruß fallen und nannte sie später den größten Fehlschlag seines Lebens. Widerstrebend räumte er ein, daß das Universum vielleicht doch nicht seit ewigen Zeiten besteht, sondern möglicherweise vor mehreren Milliarden Jahren bei einem Urknall entstanden ist.

Heute ist die Urknalltheorie die anerkannte Theorie zur Entstehung und Entwicklung des Weltalls. Trotzdem fällt es ihr noch ziemlich schwer, überzeugend darzulegen, wie das Universum als Folge eines physikalischen Prozesses aus dem Nichts entstehen konnte. Für den größten Erklärungsnotstand sorgt dabei die Frage, wie die Zeit selbst auf natürliche Weise entstehen konnte. Wird die Wissenschaft den Beginn der Zeit überhaupt jemals innerhalb ihres Rahmens abhandeln können? Diese Herausforderung wurde in den achtziger Jahren von einigen Theoretikern, insbesondere Stephen Hawking, im großen Stil angenommen und der Öffentlichkeit in einer Flut populärwissenschaftlicher Bücher nähergebracht. Die aktuellen Bemühungen kreisen um die Quantenphysik – die inzwischen von einer Theorie der Materie zu einer Theorie des gesamten Universums erweitert wurde. Doch die Zeit hat immer außerhalb der Quantenphysik gestanden, und die Versuche, sie einzubeziehen, enden paradoxerweise damit, daß sie eliminiert wird. Die Zeit verschwindet! Wie ich noch zeigen werde, gibt es bei der Quantenzeit noch vieles, was wir nicht verstehen.

Trotz ihrer Popularität ist die Urknalltheorie nicht ohne Kritiker geblieben. Gleich zu Beginn bekamen die Astronomen mit ihrem Versuch, die Schöpfung zeitlich festzulegen, Ärger. Das errechnete Alter erwies sich als falsch. Es blieb nicht genug Zeit für die Entstehung der Sterne und Planeten. Noch schlimmer war, daß einige astronomische Objekte anscheinend älter als das Universum waren – offensichtlich ein Unding. Konnte es sein, daß Einsteins Zeit und die kosmische Zeit nicht identisch sind? Ist Einsteins flexible Zeit einfach nicht so flexibel, daß sie bis zur Schöpfung zurückreicht?

Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Alter des Kosmos waren unangenehm und wurden, wenn möglich, unter den Teppich gekehrt. Im Verlauf der Jahrzehnte traten sie jedoch immer wieder störend zutage. In den Anfangsjahren konnten die Kosmologen immer noch die Schultern zucken und sich damit herausreden, ihre Daten seien noch sehr ungenau und ein Faktor von zwei oder drei sei unter Freunden noch kein Grund für einen Grundsatzstreit. In den letzten Jahren, da die Teleskopie und Satellitendaten immer besser wurden, ist die Kosmologie jedoch beinahe zu einer exakten Wissenschaft geworden. 1992 lieferte der Satellit zur Erforschung der kosmischen Hintergrundstrahlung (COBE) jedoch das für die meisten Kosmologen entscheidende Material, an dem die Feinheiten der Urknalltheorie festgemacht werden konnten. Durch die Messung leichter Kräuselungen in der Hintergrundstrahlung des Universums konnte COBE für das kosmologische Modell ein neues Präzisionsniveau schaffen. Der Haken daran ist nur, daß die COBE-Daten zusammen mit anderen neueren Beobachtungen das Problem des Alters des Universums nur mit neuer Schärfe haben wiederaufleben lassen.

Die Schwierigkeiten werden, während ich diese Zeilen schreibe, hitzig debattiert. Einige Astronomen meinen, man könnte die Zeitmaßstäbe schon in den Griff bekommen, wenn man ein wenig nachhelfen würde. Andere sind ganz und gar nicht dieser Meinung und verwerfen das ganze Urknallszenario. Aber immer mehr Kosmologen vermuten, daß Einstein selbst vielleicht die Antwort geliefert hat. Seine unrühmliche Antigravitationskraft, die er erfand, um einer Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Zeit aus dem Weg zu gehen, lieferte vielleicht gerade den Mechanismus, den man braucht, um Übereinstimmung mit dem extremen Alter bestimmter astronomischer Objekte herzustellen. Sein größter Fehlschlag könnte sich am Ende als sein größter Triumph erweisen.

1 Eine ganz kurze Geschichte der Zeit

Die Zeit ist im Innersten all dessen, was dem Menschen wichtig ist.

Bernard d’Espagnat

Wessen Zeit ist das überhaupt?

In einem Labor in Bonn befindet sich ein U-Boot-förmiger Metallzylinder. Er ist etwa drei Meter lang und liegt fest in einem von Drähten, Rohren und Meßgeräten umgebenen Gestell. In Wirklichkeit ist es eine Uhr – oder besser gesagt die Uhr. Der Apparat in Bonn stellt, zusammen mit einigen ähnlichen, über die ganze Welt verteilten Instrumenten, «die Standarduhr» dar. Diese Instrumente, von denen das in Deutschland das genaueste ist, sind Cäsiumuhren. Sie werden mittels Radiosignalen von Satelliten und Fernsehstationen überwacht, verglichen und nachgestellt, damit sie möglichst gleich gehen. Im Internationalen Büro für Maße und Gewichte in Sèvres bei Paris werden die Daten gesammelt, analysiert und in die Welt ausgestrahlt. So entstehen die berühmten Pieptöne bei der Zeitansage im Radio, nach denen wir unsere Uhren stellen.

Wenn wir also unserer täglichen Arbeit nachgehen, nimmt die Bonner Cäsiumuhr die Zeit. Sie ist gewissermaßen ein Wächter der Zeit auf Erden. Das Dumme ist, daß die Erde selbst die Zeit nicht immer gut einhält. Unsere Uhren, die alle vermeintlich wie eine Schar gehorsamer Sklaven mit dem Zentralsystem in Frankreich verbunden sind, müssen hin und wieder um eine Sekunde korrigiert werden, um Abweichungen von der Erdrotation zu berücksichtigen. Die letzte derartige «Schaltsekunde» wurde am 30. Juni 1994 eingefügt. Die Umdrehung des Planeten, die genau genug war, um für Tausende von Generationen als perfekte Uhr zu fungieren, reicht heute als zuverlässiger Zeitmesser nicht mehr aus. Im Zeitalter der hochpräzisen Zeitmessung ist die gute alte Erde nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Nur die Atomuhr, von Menschenhand geschaffen und geheimnisvoll, liefert jenes so wichtige Ticktack mit der Präzision, die von Navigatoren, Astronomen und Piloten verlangt wird. Eine Sekunde wird nicht mehr definiert als der 86400. Teil eines Tages, sondern entspricht 9192631770 Schlägen eines Cäsiumatoms.

Aber wessen Zeit zeigt die Bonner Uhr eigentlich an? Ihre Zeit? Meine Zeit? Gottes Zeit? Sind die Wissenschaftler in jenem vollgestopften Labor, die den Pulsschlag des Universums überwachen, unermüdlich irgendeiner kosmischen Zeit auf der Spur? Gibt es womöglich eine andere Uhr, vielleicht auf einem anderen Planeten irgendwo, die sehr zur Freude ihrer Schöpfer treu und brav eine völlig andere Zeit angibt?

Wir wissen, daß Uhren nicht übereinstimmen müssen: Die Erduhr geht anders als die Uhr in Bonn. Welche geht richtig? Wahrscheinlich die Uhr in Bonn, weil sie genauer geht. Aber relativ zu was genauer? Zu uns? Schließlich wurde die Uhr deshalb erfunden, um die Zeit für Zwecke des Menschen anzugeben. Aber erleben alle Menschen die gleiche Zeit? Der Patient beim Arzt und die Menschen, die eine Sinfonie von Beethoven hören, erleben die gleiche, atomar markierte Zeitdauer ganz verschieden.

Vieles von dem, was wir von der Zeit halten, ist also das Ergebnis kultureller Konditionierung. Ich habe in Bombay einmal einen Mystiker kennengelernt, der behauptete, durch Meditation seinen Bewußtseinszustand ändern und so den Ablauf der Zeit verzögern zu können; Atomuhren beeindruckten ihn überhaupt nicht. Bei einem Vortrag in London vor einigen Jahren saß ich zu meiner Überraschung zusammen mit dem Dalai Lama auf dem Podium. Wir hatten die Aufgabe, die Zeit im wissenschaftlichen Denken des Westens und in der Philosophie des Ostens zu vergleichen und einander gegenüberzustellen. Der Lama sprach mit ruhiger Gewißheit, aber leider auf tibetisch. Ich bemühte mich, der Übersetzung zu folgen, um zur Erleuchtung zu gelangen, aber bedauerlicherweise ohne großen Erfolg. Kulturelle Unterschiede, vermute ich.

Nach meinem Vortrag gab es eine kurze Pause, der Dalai Lama nahm meine Hand, und wir gingen aus dem Saal hinaus in die Sonne. Irgend jemand kniete vor ihm nieder und überreichte Seiner Heiligkeit eine Narzisse, die der Lama dankend entgegennahm. Ich hatte den Eindruck, mit einem liebenswerten und intelligenten Mann zusammenzusein, der Erkenntnisse besaß, die für uns alle wertvoll waren, aber durch sein Amt daran gehindert wurde, sie den versammelten westlichen Wissenschaftlern zu vermitteln. Ich hatte das Gefühl, eine Gelegenheit verpaßt zu haben.

Die Suche nach der Ewigkeit

In der überdrehten Welt der modernen westlichen Gesellschaft ist alles dem Diktat der Uhr unterworfen. Unser hektisches Leben ist fest in die Tretmühle der Zeit eingespannt. Aber war das immer so? Wie ein roter Faden zieht sich der Glaube durch die Geschichte des menschlichen Denkens in Ost und West, Nord und Süd, daß das gesamte Muster des Zeitlichen in irgendeiner gewaltigen Täuschung wurzelt und nichts als eine Ausgeburt des menschlichen Geistes ist:

«Auch ist die Zeit kein Ding an sich, nein, unsere Sinne nehmen erst ab

von den Dingen, was in der Vergangenheit vorging, …

Niemand kann ja die Zeit an sich mit den Sinnen erfassen,

Wenn man die Ruhe der Dinge und ihre Bewegung nicht abmißt.»[1]

Das schrieb der römische Schriftsteller und Philosoph Lukrez im ersten Jahrhundert in seinem Lehrgedicht Die Natur der Dinge. Von diesen beunruhigenden Gedanken ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem Glauben, daß der Ablauf der Zeit durch Geisteskraft gesteuert oder gar aufgehoben werden kann, wie wir in der betörenden Worten des mystischen Dichters Angelus Silesius aus dem 16. Jahrhundert entdecken:

«Du selbst machst die Zeit, das Uhrwerk sind die Sinnen;

Hemmst du die Unruh nur, so ist die Zeit von hinnen.»[2]

Für diese zeitlichen Relativisten liegt die wahre Wirklichkeit in einem Reich, das die Zeit überwindet, im Land jenseits der Zeit. Die Europäer nennen es «Ewigkeit», die Hindus bezeichnen es als «Moksha» und die Buddhisten als «Nirvana». Für die Ureinwohner Australiens ist es die «Traumzeit».

Bei unserem Bemühen, die geistige und physische Wirklichkeit zu bewältigen, irritiert uns nichts stärker als das Wesen der Zeit. Die widersprüchliche Verbindung von Zeitlichkeit und Ewigkeit stellt den Menschen seit jeher vor die schwierigsten Fragen. Plato kam zu dem Schluß, daß die flüchtige Welt des täglichen Erlebens nur halb real sei, ein vergängliches Spiegelbild aus einem zeitlosen Reich reiner und perfekter Formen, die das Reich der Ewigkeit bevölkern. Die Zeit selbst ist nur ein unvollkommenes «bewegliches Bild der Unvergänglichkeit … der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit», die wir Menschen jedoch unverbesserlicherweise vergegenständlichen: «… das ‹war› und ‹wird sein› sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst unbewußt, unrichtig auf das unvergängliche Sein übertragen.»[3]

Die ständige Spannung zwischen dem Zeitlichen und Ewigen durchdringt die großen Religionen der Welt und hat immer wieder zu erhitzten und manchmal erregten theologischen Debatten geführt. Ist Gott innerhalb oder außerhalb der Zeit? Zeitlich oder ewig? Verlauf oder Sein? Nach Plotin, einem nichtchristlichen Philosophen aus dem 3. Jahrhundert, bedeutet in der Zeit leben, unvollkommen zu leben. Das reine Sein (d.h.Gott) muß folglich gekennzeichnet sein durch das völlige Fehlen jedes zeitlichen Bezugs. Für Plotin ist die Zeit ein Gefängnis für den Menschen, das uns vom göttlichen Reich trennt – der wahren, absoluten Wirklichkeit.

Der Glaube, daß Gott außerhalb der Zeit steht, wurde auch bei vielen frühen christlichen Denkern zur beherrschenden Lehre, so bei Augustinus, Boethius und Anselm, und leitete eine Tradition ein, die sich bis heute gehalten hat. Augustinus verweist Gott, wie schon Plato und Plotin vor ihm, in das Reich der Ewigkeit, die über der Zeit steht, weil sie eine nie endende Gegenwart ist. In dieser Daseinsform vergeht die Zeit nicht; Gott nimmt vielmehr alle Zeiten gleichzeitig wahr:

«Deine Jahre stehen alle und sind zugleich. Weil sie stehen, verdrängen nicht die kommenden die gehenden, denn sie vergehen nicht … Heute ist deine Ewigkeit.»[4]

Der Gott des klassischen Christentums existiert also nicht nur außerhalb der Zeit, er kennt auch die Zukunft genauso wie die Vergangenheit und Gegenwart. Diese weitreichenden Gedanken sind von der Kirche im Mittelalter, aber auch von Theologen und Philosophen der Neuzeit eingehend analysiert und zum Teil heftig kritisiert worden. Bei der Auseinandersetzung geht es im Kern um das gewaltige Problem, eine Brücke zu schlagen zwischen der angenommenen Ewigkeit Gottes einerseits und der offenkundigen Zeitlichkeit des physischen Universums andererseits. Kann ein Gott, der vollkommen zeitlos ist, überhaupt in irgendeiner Form in Beziehung zu einer sich wandelnden Welt, zur menschlichen Zeit stehen? Es ist doch bestimmt unmöglich, daß Gott sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Zeit existiert. Nachdem man sich jahrhundertelang gestritten hat, besteht unter den Theologen noch immer keine Einigkeit über die Lösung dieser grundsätzlichen Frage.

Der Zeit entfliehen

Während Theologen und Philosophen noch um Einzelheiten der logischen Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit ringen, glauben viele religiöse Menschen, daß nicht akademische Debatten, sondern direkte Offenbarungen die tiefsten Einsichten in diese Frage gewähren:

«Ich weiß noch, wie ich zum Baden an ein Uferstück aus Kies ging, das die wenigen Menschen, die im Dorf blieben, selten aufsuchten. Plötzlich war das Summen der Insekten verstummt. Die Zeit schien stillzustehen. Ein Gefühl unendlicher Kraft und Ruhe überkam mich. Ich kann diese Verbindung von Zeitlosigkeit und erstaunlicher Daseinsfülle am besten mit dem Gefühl vergleichen, das man hat, wenn man den Rand eines großen, stillen Schwungrades oder die unbewegliche Oberfläche eines tiefen, schnell fließenden Flusses betrachtet. Nichts geschah: Doch das Dasein war ganz erfüllt. Alles war klar.»[5]

Diese ganz persönliche Geschichte, die der Physiker und anglikanische Bischof Earnest Barnes 1929 bei einem Vortrag erzählte, erfaßt sehr beredt die Verbindung von Zeitlosigkeit und Klarheit, die so oft mit mystischen oder religiösen Erfahrungen assoziiert wird. Kann ein Mensch der Zeit wirklich entfliehen und die Ewigkeit schauen? Bei Barnes kam das Ereignis aus heiterem Himmel, wie es in Berichten von Menschen der westlichen Welt sehr oft geschieht. Östliche Mystiker haben dagegen besondere Techniken entwickelt, die ein solches Entrücken in die Zeitlosigkeit angeblich herbeiführen können. Der Mönch Lama Govinda beschreibt seine Erfahrungen wie folgt:

«Der zeitliche Ablauf wird verwandelt in eine gleichzeitige Ko-Existenz, das Nebeneinanderbestehen von Dingen in einem Zustand gegenseitigen Durchdringens … eine lebende Kontinuität, in der Zeit und Raum zusammenfallen.»[6]

Es gibt viele ähnliche Schilderungen von tiefer Meditation, in denen das menschliche Bewußtsein den Beschränkungen der Zeit entflieht und die Wirklichkeit wie ein zeitliches Kontinuum erscheint.

Die indische Philosophin Ruth Reyna glaubt, daß die wedischen Weisen «kosmische Erkenntisse besaßen, die dem heutigen Menschen fehlen. Sie konnten nicht nur die Gegenwart sehen, sondern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig, und die Nicht-Zeit.»[7] Shankara, der Vertreter des Advaita-Vedanta aus dem 8. Jahrhundert, lehrte, daß Brahman – das Absolute – vollkommen und ewig im Sinne absoluter Zeitlosigkeit ist und das Zeitliche zwar in der Welt des menschlichen Erlebens wirklich ist, aber dennoch keine letzte Wirklichkeit besitzt. Wenn man dem Pfad der Selbstverwirklichung durch Advaita folgt, kann man eine wahrhaft zeitlose Wirklichkeit erlangen: «Zeitlos nicht im Sinn endloser Dauer, sondern im Sinn von Vollendung, die weder ein Vorher noch ein Nachher braucht», wie Reyna schreibt. «Es ist diese erstaunliche Wahrheit, daß die Zeit sich in Unwirklichkeit verflüchtigt und Zeitlosigkeit als das Wirkliche gesehen werden kann …»[8]

Die Sehnsucht nach einer Flucht aus der Zeit ist nicht auf ausgefeilte meditative Praktiken angewiesen. In vielen Kulturen ist sie lediglich ein durchdringender, aber unbewußter Einfluß, ein «Terror der Geschichte», wie der Anthropologe Mircea Eliade es nennt, der sich in einer zwanghaften Suche nach dem Land jenseits der Zeit ausdrückt. Tatsächlich ist diese Suche der Gründungsmythos fast aller Kulturen der Menschheit. Das tiefe menschliche Bedürfnis, den Ursprung der Dinge zu erklären, zieht uns unwiderstehlich zurück in eine Zeit vor der Zeit, in ein mythisches Reich zeitloser Zeitlichkeit, in einen Garten Eden, ein Urparadies, und seine starke Kreativität erwächst gerade aus diesen zeitlichen Widersprüchen. Ob es Athene ist, die dem Haupt des Zeus entsprang, oder Mithras, der den Urstier tötete, überall treffen wir auf die gleiche berauschende Symbolik eines verlorenen, zeitlosen, vollkommenen Reichs, das irgendwie – paradox und zeitlos – in schöpferischer Beziehung zur jetzigen Welt des Zeitlichen und Sterblichen steht.

Diese widersprüchliche Verbindung ist in ihrer fortgeschrittensten Form eingefangen in der «Traum»-Vorstellung der australischen Ureinwohner, die manchmal auch als die «ewige Traumzeit» bezeichnet wird. Der Anthropologe W.E.H. Stanner schreibt:

«Eine zentrale Bedeutung des Träumens ist tatsächlich die einer heiligen, heldenhaften, längst vergangenen Zeit, als der Mensch und die Natur so wurden wie sie sind; diese Bedeutung umfaßt aber weder die ‹Zeit› noch die ‹Geschichte›, wie wir sie verstehen. Ich bin bei den Ureinwohnern nie auf ein Wort für Zeit als abstrakten Begriff gestoßen. Und der Sinn für ‹Geschichte› ist hier vollkommen fremd. Wir werden das Träumen immer nur als eine Gesamtheit von Bedeutungen verstehen können.»[9]

Auch wenn die Traumzeit Anklänge an eine heroische Vergangenheit hat, wäre es doch falsch, sich diese Zeit als inzwischen vergangen vorzustellen. «Man kann das Träumen zeitlich nicht ‹fixieren›», schreibt Stanner. «Es war und ist zu allen Zeiten.» Das Träumen behält also einen Bezug zu den aktuellen Angelegenheiten der Ureinwohner, weil es Teil der gegenwärtigen Wirklichkeit ist; die «Schöpfer» sind auch heute noch tätig. Was die Europäer «die Vergangenheit» nennen, ist für viele Ureinwohner Vergangenheit und Gegenwart. Schöpfungsgeschichten spielen oft in der jüngsten Vergangenheit, wie die Europäer sagen würden, was sogar noch die Zeit der Besiedlung durch die Weißen umfassen kann. Ein Gefühl der Unvereinbarkeit kommt nicht auf, weil Ereignisse für die australischen Ureinwohner wichtiger sind als Daten. Dieses Differenzierungsvermögen ist den meisten Europäern verlorengegangen, weil wir besessen davon sind, die Zeit in unserem Alltagsleben rational zu erfassen und zu messen. Stanner zitiert einen alten australischen Schwarzen, der diese kulturelle Kluft in Gedichtform faßte:

«Weißer Mann hat keinen Traum.

Er geht einen anderen Weg.

Weißer Mann geht anders,

Er hat eine eigene Straße.»

Die Vorstellung von der «Zeit des weißen Mannes» als einer «Straße», der er folgt, ist, wie ich meine, eine besonders gelungene Beschreibung der linearen Zeit im Westen. Es ist eine Straße, die vielleicht zum Fortschritt führt, aber der psychologische Preis, den wir dafür zahlen, daß wir auf ihr gehen, ist hoch. Die Angst vor dem Tod liegt so vielem, was wir tun und denken, zugrunde, und damit auch das verzweifelte Bestreben, die kostbare Zeit, die uns zugeteilt wurde, optimal zu nutzen, das Leben voll auszukosten und etwas von bleibendem Wert zu leisten. Der moderne Mensch, schrieb J.B. Priestley,

«… fühlt sich an ein Seil gebunden, das ihn unerbittlich zum Schweigen und zur Dunkelheit des Grabes zieht … Doch kein Gedanke an eine ‹ewige Traumzeit›, in der Götter und Helden (von denen er nicht auf immer getrennt ist) ihr Dasein haben, bricht sich Bahn, der den modernen Menschen seine Kalender und Uhren vergessen ließe, seine Tage sind gezählt.»

Aber selbst diejenigen von uns, die in der Falle der westlichen Kultur sitzen und denen kein magischer, mystischer Fluchtweg aus der Zeit offensteht können doch die mächtigen alten Symbole wahrnehmen, die in der Kunst und Literatur wirken und durch die Jahrhunderte widerhallen. Von Das verlorene Paradies bis Narnia, von König Arthurs Avalon bis zu jener weit entfernten und längst vergangenen Galaxie, wo der Krieg der Sterne ausgetragen und gewonnen wurde, lag das Reich der Ewigkeit nie sehr weit unter der Oberfläche. Die beziehungsreichen Ewigkeitssymbole liegen schattenhaft und undeutlich in unserer Zivilisation und dienen lediglich als verlockende Ablenkung von der normalen «Wirklichkeit» der unbarmherzig verrinnenden Zeit. Doch Priestley versichert uns, daß sie weiterleben:

«Unter den Vorstellungen, die uns verfolgen – Vorstellungen, über die wir vielleicht lachen, die uns jedoch keine Ruhe geben, Vorstellungen, die oft ein geheimnisvolles Glück versprechen, wenn alles andere uns zu verlassen scheint –, ist auch die von der Großen Zeit, der mythologischen Traumzeit, die hinter und über der normalen Zeit und qualitativ ganz anders als sie ist. Wir erschaffen kein großartiges zentrales System mehr aus ihr. Wir lassen unser Leben nicht mehr von ihr prägen und lenken. Sie ist geschrumpft und sieht jetzt klein und schäbig aus, ziemlich lächerlich; aber sie läßt sich nicht fortlachen, sie weigert sich abzutreten.»[10]

Zyklische Welten und die ewige Wiederkehr

Im Altertum wurde die Verbindung zur Ewigkeit dadurch lebendig gehalten, daß man den Zyklus in die Welt einführte. In seinem klassischen Buch Der Mythos der ewigen Wiederkehr beschreibt Mircea Eliade, wie traditionelle Gesellschaften ständig gegen den geschichtlichen Begriff der Zeit rebellieren und sich statt dessen sehnen «nach einer periodischen Rückkehr zur mythischen Zeit der Uranfänge, zur ‹Großen Zeit›».[11] Er behauptet, daß die Symbole und Rituale der alten Kulturen den Versuch darstellen, der geschichtlichen, linearen, «profanen» Zeit zu entfliehen, hin zu einer mythischen oder heiligen Epoche, und glaubt, daß die Aufhebung der weltlichen Zeit «einem tiefen Bedürfnis des archaischen Menschen entspricht».[12] Auch Walter Ong, ein Experte für zeitliche Symbolik, findet in der Mythologie und Folklore Beweise für den Wunsch, die Fesseln der Zeit abzuwerfen:

«Die Zeit stellt den Menschen vor viele Probleme, von denen die Unwiderstehlichkeit und Unumkehrbarkeit nicht die geringsten sind: Der Mensch wird in der Zeit getrieben, ob er will oder nicht, und kann nicht einen Augenblick der Vergangenheit zurückholen. Er ist gefangen, wird wider Willen weitergetragen … Der Rückzug in die Mythologie, die zeitliche Ereignisse mit dem Zeitlosen verbindet, entwaffnet die Zeit und mildert deren Bedrohung ab. Diese Flucht vor den Auswirkungen der Zeit kann zu einem späteren Zeitpunkt eventuell durch verschiedene zyklische Theorien rationalisiert werden, die den Menschen und seine Philosophien vom Altertum bis heute verfolgt haben.»[13]

Befreiung von der geschichtlichen Zeit sucht man vielleicht in religiösen Riten wie der rituellen Wiederholung von Sätzen oder Gesten, die die ursprünglichen Ereignisse symbolisch neu erschaffen. Berührung mit geheiligter Zeit wird oft gleichgesetzt mit Regeneration und Erneuerung. Die alte Neujahrsfeier, die traditionellen und modernen Kulturen gemeinsam ist, verkörpert die periodische Erneuerung oder Wiedergeburt der Natur. In einigen Fällen stellt sie eine Wiederholung der Schöpfung selbst dar – den mythischen Übergang vom Chaos zum Kosmos.

Die Symbolik, die diesen weitverbreiteten Volksbräuchen zugrunde liegt, kommt aus dem alten Glauben an die Zeitzyklen. Viele Jahresrituale der westlichen Welt haben vorchristlichen Ursprung, wurden jedoch von der Kirche jahrhundertelang geduldet. Tatsächlich spielen periodisch wiederkehrende Rituale auch in der Kirche eine wichtige Rolle, auch wenn die Kirche sich der zyklischen Zeit hartnäckig widersetzt.

Obwohl westliche Kunst, Dichtung und Literatur stark von der Vorherrschaft der linearen Zeit geprägt sind, verraten sie doch in vielem eine verborgene und gelegentlich auch eine ganz offene Bindung an das Zyklische. In einigen extremen Beispielen ist der Text selbst zeitlich verzerrt strukturiert, wie in James Joyces Finnegans Wake, wo die letzten Worte des Buches wieder in dessen Anfang münden, oder in Martin Amis’ The Arrow of Time, in dem die ganze Erzählung rückwärts läuft.

Das Zyklische zieht einige Menschen magisch an, andere schreckt es ab. Wie wir noch sehen werden, gibt es eine moderne Variante der Einsteinschen Kosmologie, die ein zyklisches Universum annimmt, und jedesmal, wenn ich einen Vortrag über Kosmologie halte und vergesse, sie zu erwähnen, fragt garantiert jemand danach. Vielleicht liegt der Reiz des Modells in der Aussicht auf Auferstehung in späteren Zyklen. Es besteht jedoch ein gewaltiger Unterschied zwischen einer allgemeinen kosmischen Erneuerung und einem Universum, das sich endlos bis ins kleinste Detail wiederholt. Platos Annahme einer kosmischen Zyklizität übte einen starken Einfluß auf das griechische und später das römische Denken aus. Bis zum logischen Extrem wurde sie von den Stoikern getrieben, die an die Palingenese glaubten – das buchstäbliche Wiedererscheinen derselben Menschen und Ereignisse in immer neuen Zyklen, eine Vorstellung, die den Menschen heute sehr steril und abschreckend vorkommt.

Newtons Zeit und das Uhrwerk Universum

Die Verbindung der Zeit mit dem Mystischen, dem Geistigen und dem Organischen hat, so faszinierend und unwiderstehlich sie auch sein mag, zweifellos jahrhundertelang eine angemessene wissenschaftliche Erforschung der Zeit behindert. Für die griechischen Philosophen, die eine systematische Geometrie entwickelten und diese zu einer philosophischen Weltsicht erhoben, ist die Zeit immer etwas Vages und Geheimnisvolles geblieben, eher eine Sache der Mythologie als der Mathematik. In den meisten alten Kulturen trat der Gedanke der Zeiterfassung nur in wenigen Zusammenhängen in Erscheinung: in der Musik, in der rhythmischen Wiederkehr der Jahreszeiten, in den Bewegungen der Himmelskörper sowie im Menstruationszyklus. All diese Dinge hatten einen starken mystischen und okkulten Einschlag, wie ihn Masse, Geschwindigkeit und Raum nicht hatten.

Die Erforschung der Bewegung von Körpern brachte Aristoteles dazu, die grundlegende Bedeutung der Zeit richtig einzuschätzen. Doch er schaffte es nicht, den Zeitbegriff als einen abstrakten mathematischen Parameter einzuführen. Für Aristoteles war Zeit Bewegung. Das ist nichts sonderlich Revolutionäres, denn wir nehmen die Zeit durch Bewegungen wahr, ob sich nun die Sonne am Himmel bewegt oder die Zeiger auf einem Zifferblatt. Die Vorstellung von der Zeit als einem eigenständig existierenden Ding, einer Sache für sich, kam erst im europäischen Mittelalter auf. Das Vorhandensein einer Ordnung in der Natur ist von allen Kulturen anerkannt worden, doch erst mit dem Vormarsch der modernen Wissenschaft konnte dieser Ordnung eine genaue und objektive Bedeutung gegeben werden. Bei dieser quantitativen Festlegung erwies sich die Rolle der Zeit als ganz entscheidend.

Am 8. Juli 1714 beschied die Regierung der Königin Anna, «daß vom Parlament eine Belohnung ausgesetzt werde für diejenige Person oder Personen, die eine genauere und praktischere Methode zur Bestimmung der Längengrade finden, als bisher angewendet wird».[14] Ausgelobt wurde die stattliche Summe von 20000 £, die für den Bau eines Zeitmessers vergeben werden sollte, der in der Lage war, nach einer sechswöchigen Fahrt auf See den Längengrad mit einer Genauigkeit von mindestens 30 Meilen anzugeben. Nichts verdeutlicht besser den Übergang von der organischen, rhythmischen Zeit des traditionellen Volkstums zum modernen Begriff der Zeit als einem funktionalen Parameter von wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Wert.

Die Herausforderung wurde von einem Mann namens John Harrison aus Yorkshire angenommen, der mehrere Uhren baute, die auch auf See funktionierten. Harrisons viertes Instrument mit einer Weiterentwicklung, die Temperaturschwankungen ausglich, wurde 1759 fertiggestellt und zwei Jahre später erprobt. Es kam auf die Deptford, die nach Jamaika segelte, wo man etwa zwei Monate später feststellte, daß die Abweichung insgesamt nur fünf Sekunden betragen hatte.

Die Geschichte belegt, daß vor allem Galilei die Zeit als eine fundamentale Größe im gesetzesgleichen Wirken des Kosmos etablierte. Als er einmal in der Kirche saß, maß er die Schwingungen einer Lampe mit Hilfe des Pulsschlags und entdeckte so das grundlegende Pendelgesetz – daß die Schwingungsdauer des Pendels unabhängig von der Schwingungsamplitude ist. Bald darauf brach in Europa die Zeit der Präzisionsuhren an, in der die Handwerker immer genauere Zeitmesser bauten. Der Antrieb zu größerer Genauigkeit bei der Zeitmessung ging nicht von hochfliegenden philosophischen oder wissenschaftlichen Überlegungen aus, sondern von ganz handfesten Belangen der Navigation und des Handels. Die Seeleute müssen die genaue Zeit wissen, damit sie aus der Stellung der Sterne ihren Längengrad berechnen können. Die Entdeckung Amerikas, die eine mehrwöchige Fahrt von Ost nach West erforderlich machte, beflügelte die Entwicklung von Borduhren.

Wie entscheidend die Stellung ist, die die Zeit in den Gesetzen des Universums einnimmt, wurde erst durch die Arbeit Newtons im späten 17. Jahrhundert deutlich. Newton schickte seiner Darstellung eine berühmte Definition voraus: «Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.»[15] Wesentlich für das gesamte System Newtons war die Hypothese, daß materielle Körper sich auf berechenbaren Bahnen durch den Raum bewegen, und zwar aufgrund von Kräften, die sie nach genauen mathematischen Gesetzen beschleunigen. Nachdem Newton diese Gesetze entdeckt hatte, konnte er die Bewegung des Mondes und der Planeten berechnen und auch die Bahnen von Geschossen und anderen irdischen Körpern. Dies war ein gewaltiger Fortschritt im menschlichen Verständnis von der materiellen Welt und der Anfang der wissenschaftlichen Theorie, wie wir sie heute verstehen.

Die Mechanikgesetze Newtons erwiesen sich als so erfolgreich, daß viele meinten, sie wären auf buchstäblich alle physikalischen Prozesse im Universum anwendbar. Aus diesem Glauben entstand das Bild vom Kosmos als einem riesigen Uhrwerk, dessen Mechanismus in allen Details berechenbar sei. Das Uhrwerk Universum schloß die Zeit als fundamentalen Parameter im Wirken der materiellen Welt ein. Es war diese universelle, absolute und vollkommen abhängige Zeit, die in die Mechanikgesetze einging. Es war die Zeit, die die kosmische Uhr angab, die Zeit, mit der jede Bewegung gemessen und alle Ereignisse bestimmt werden sollten. Sie verkörperte die Vernunft des Kosmos. Und sie schenkte der Welt das eindrucksvolle Bild von Gott als Uhrmacher.

Der große französische Physiker Pierre de Laplace, der Napoleon erklärte, er «brauche diese Hypothese nicht», als sie über Gottes Handeln im Universum Newtons diskutierten, erkannte, daß, wenn jede Bewegung genau vorgegeben ist, dann der gegenwärtige Bewegungszustand des Universums genügt, seine Zukunft (und Vergangenheit) für alle Zeiten festzulegen. In diesem Fall wird die Zeit praktisch überflüssig, denn die Zukunft ist bereits in dem Sinn in der Gegenwart enthalten, als die Informationen, die man braucht, um die künftigen Zustände des Universums zu schaffen, im gegenwärtigen Zustand liegen. Der belgische Chemiker Ilya Prigogine machte dazu einmal die poetische Bemerkung, Gott der Uhrmacher sei zu einem bloßen Archivar geschrumpft, der die Seiten eines kosmischen Geschichtsbuchs umblättert, das schon geschrieben ist.[16] Während die meisten alten Kulturen den Kosmos als einen launischen lebenden Organismus betrachteten, der feinen Zyklen und Rhythmen unterliegt, bescherte Newton uns einen rigiden Determinismus, eine Welt träger Körper und Kräfte, die in unendlich genauen, gesetzesgleichen Prinzipien gefangen sind.

Die Newtonsche Zeit ist ihrem ganzen Wesen nach mathematisch. Ausgehend von dem Gedanken eines universellen Zeitflusses entwickelte Newton tatsächlich seine «Fluxionentheorie» – Differentialrechnung sagt man heute. Unsere Fixierung auf die präzise Zeiterfassung läßt sich auf die Newtonsche Vorstellung von einem mathematisch genauen, ständigen Zeitfluß zurückführen. Nach Newton wurde das Verrinnen der Zeit mehr als nur unser Bewußtseinsstrom; es spielte eine immer größere Rolle bei unserer Darstellung der materiellen Welt, etwas, das mit unendlicher Genauigkeit analysiert werden konnte. Newton machte mit der Zeit das, was die Griechen mit dem Raum machten: Er idealisierte sie zu einer exakt meßbaren Größe. Man konnte nicht länger überzeugend behaupten, die Zeit sei eine Illusion, eine geistige Konstruktion, die übriggeblieben ist von dem gescheiterten Versuch sterblicher Menschen, die Ewigkeit zu begreifen, weil die Zeit gerade in die Gesetze des Kosmos ganz weit eindringt, den Urgrund der physikalischen Wirklichkeit.

Einsteins Zeit

In diese Welt starrer Zeitlichkeit wurde Albert Einstein hineingeboren. Die Newtonsche Zeit hatte zwei Jahrhunderte überdauert und wurde im Westen kaum in Frage gestellt, wenngleich sie immer etwas unbehaglich neben dem östlichen Denken stand und den Ureinwohnern in Amerika, Afrika und Australien gänzlich fremd ist. Aber die Newtonsche Zeit ist die Zeit des «gesunden Menschenverstands» (der westlichen Welt). Sie ist außerdem leicht zu verstehen. Für Newton gab es nur eine einzige, alles umfassende, universelle Zeit, die einfach da ist. Die Zeit kann durch nichts beeinflußt werden, sie geht einfach weiter und verrinnt mit gleichbleibender Geschwindigkeit. Jede Vorstellung von einer Veränderung der Geschwindigkeit der Zeit wird als falsche Wahrnehmung angesehen. Wo immer man ist und wann, wie immer man sich fortbewegt, was immer man tut, die Zeit läuft einfach weiter, zuverlässig und für jeden gleich schnell, und bezeichnet unbeirrt die aufeinanderfolgenden Augenblicke der Wirklichkeit im gesamten Kosmos.

Die Newtonsche Vorstellung von der Zeit animiert uns unter anderem dazu, die Zeit absolut und universell in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzuteilen. Weil das ganze Universum eine gemeinsame Zeit und ein gemeinsames «Jetzt» hat, würde jeder Beobachter überall, auch jedes grüne Männchen auf dem Mars oder sonstwo, das, was dazu bestimmt ist, vergangen zu sein, und das, was noch kommen wird, gleich auffassen. Dieses hübsche Bild von der Zeit als einer Abfolge universeller gegenwärtiger Augenblicke hat bedeutende Auswirkungen auf das Wesen der Wirklichkeit, denn nach der Newtonschen Weltsicht kann nur das, was jetzt geschieht, als wirklich bezeichnet werden. So nehmen viele wissenschaftliche Laien fraglos die Wirklichkeit wahr. Die Zukunft wird als «noch nicht existent», vielleicht noch nicht einmal als entschieden betrachtet, während die Vergangenheit in einen schattenhaften Zustand von Halbwirklichkeit abgedriftet ist, an den man sich vielleicht erinnert, der aber für immer vorbei ist. «Handle, handle in der lebendigen Gegenwart!» schrieb Longfellow, denn nur der Zustand der Welt jetzt scheint ganz konkret wirklich zu sein.

Doch diese einfache Sicht der Zeit als unveränderlich und absolut hat, so mächtig und allgemeinverständlich sie sein mag, grundlegende Mängel. Um die Wende zum 20. Jahrhundert führte die Newtonsche Vorstellung von der universellen Zeit zu absurden oder widersprüchlichen Schlußfolgerungen im Zusammenhang mit dem Verhalten von Lichtsignalen und der Bewegung von Körpern. Binnen weniger Jahre brach die Newtonsche Weltsicht zusammen. Dieser grundlegende und folgenreiche Wandel ging vor allem auf die Arbeit Einsteins zurück.

Einsteins Relativitätstheorie führte den Begriff einer an sich flexiblen Zeit in die Physik ein. Er stellte zwar nicht ganz die alten mystischen Vorstellungen von der Zeit als im wesentlichen persönlich und subjektiv wieder her, verband das Erleben der Zeit jedoch fest mit dem einzelnen Beobachter. Es war nicht mehr möglich, von der Zeit zu sprechen, nur noch von meiner Zeit und deiner Zeit, je nachdem, wie man sich bewegt. Das Schlagwort lautete: Zeit ist relativ.

Obwohl die Einsteinsche Zeit weiterhin den strengen Gesetzen der Physik und den Regeln der Mathematik unterlag, hatte die Abschaffung der universellen Zeit doch enorme psychologische Auswirkungen. In den Jahrzehnten nach Einstein drangen die Wissenschaftler immer tiefer in die Geheimnisse der Zeit ein. Konnten unterschiedliche Uhren unterschiedliche Zeiten messen? Gibt es eine natürliche Uhr oder Zeitmessung für das Universum als Ganzes? Hatte die Zeit einen Anfang, und wird sie ein Ende haben? Was prägt der Zeit eine eindeutige Richtung auf, eine Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft? Woher kommt unser Gefühl für das Fließen der Zeit? Sind Zeitreisen möglich, und wenn ja, wie können die Widersprüche hinsichtlich einer Reise in die Vergangenheit aufgehoben werden? Bemerkenswerterweise sind trotz fast einhundertjähriger Erforschung viele dieser Fragen immer noch nicht zufriedenstellend beantwortet: Die von Einstein eingeleitete Revolution bleibt unvollendet. Wir warten immer noch auf ein vollständiges Verständnis des Wesens der Zeit.

Stirbt das Universum?

Es ist unmöglich, die wissenschaftlichen Bilder von der Zeit vom kulturellen Hintergrund zu trennen, der Europa in der Renaissance und der Neuzeit prägte. Die europäische Kultur ist wesentlich von der griechischen Philosophie und den religiösen Systemen des Judaismus, des Islam und des Christentums beeinflußt. Das griechische Erbe bestand in der Annahme, daß die Welt geordnet und rational ist und durch menschliches Denken begriffen werden kann; und wenn das so ist, kann ein Sterblicher das Wesen der Zeit im Prinzip erfassen. Aus dem Judaismus kam die westliche Vorstellung der Zeit, die für die wissenschaftliche Weltsicht so wichtig ist. Im Gegensatz zur vorherrschenden Vorstellung der Zeit als zyklisch glaubten die Juden an eine lineare Zeit. Ein zentraler Lehrsatz des jüdischen Glaubens, der sowohl vom Christentum als auch vom Islam übernommen wurde, war der vom geschichtlichen Prozeß, wonach Gottes Plan für das Universum einem festgelegten zeitlichen Ablauf folgt. Nach diesem Glaubenssystem wurde das Universum von Gott in einem bestimmten Augenblick der Vergangenheit erschaffen, und zwar in einem ganz anderen Zustand als heute. Die theologische Reihenfolge der Ereignisse – Erschaffung, Sündenfall, Erlösung, Tag des Jüngsten Gerichts, Auferstehung – läuft parallel zu einer göttlich gelenkten Abfolge naturwissenschaftlicher Ereignisse – Ordnung nach dem Urchaos, Ursprung der Erde, Ursprung des Lebens, Ursprung des Menschen, Zerstörung und Zerfall.

Die Vorstellung einer linearen Zeit bezieht einen Zeitpfeil mit ein, der von der Vergangenheit in die Zukunft weist und die Richtung der Ereignisabfolge anzeigt. Der Ursprung des Zeitpfeils als physikalisches Prinzip ist noch ein eigenartig umstrittenes wissenschaftliches Geheimnis, auf das ich in Kapitel 9 zurückkomme. Wissenschaftler und Philosophen sind sich über die Bedeutung des Zeitpfeils absolut uneins. Die Streitfrage lautet, grob gesprochen: Wird das Universum besser oder schlechter? Die Bibel erzählt von einer Welt, die im Zustand der Vollkommenheit beginnt – im Garten Eden – und aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen untergeht. Ein wesentlicher Bestandteil von Judaismus, Christentum und Islam ist jedoch eine Botschaft der Hoffnung und des Glaubens an eine persönliche Besserung und die endgültige Erlösung der Menschheit.

Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten Physiker die drei Hauptsätze der Thermodynamik, und man erkannte bald, daß sie einen universellen Grundsatz der Entartung enthielten. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik wird häufig so wiedergegeben, daß jedes geschlossene System einem Zustand völliger Unordnung oder einem Chaos zustrebt. Im täglichen Leben stoßen wir in vielen vertrauten Zusammenhängen immer wieder auf den zweiten Hauptsatz, was beispielsweise auch in alltäglichen Redensarten zum Ausdruck kommt («Zerbrechen ist einfacher als machen») oder uns aus Murphys Gesetz, Parkinsons Gesetz etc. geläufig ist. Auf das Universum als Ganzes angewandt, besagt der zweite Hauptsatz, daß der gesamte Kosmos wie auf einer Rutsche einem Endzustand totaler Entartung zustrebt, also der maximalen Unordnung, die identisch mit dem Zustand eines thermodynamischen Gleichgewichts ist.

Eine Möglichkeit, den unerbittlichen Anstieg des Chaos zu messen, bietet die sogenannte «Entropie», die, grob gesprochen, definiert ist als das Maß der Unordnung in einem System. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt nun, daß in einem geschlossenen System die Entropie insgesamt niemals abnehmen kann; sie bleibt bestenfalls unverändert. Fast alle natürlichen Veränderungen tendieren dahin, die Entropie zu erhöhen, und wir stoßen in der Natur immer wieder auf das Wirken des zweiten Hauptsatzes. Eines der bemerkenswertesten Beispiele ist, wie die Sonne allmählich ihren Kernbrennstoff verbraucht, unwiederbringlich Wärme und Licht in die Weite des Alls schleudert und die Entropie des Kosmos mit jedem freigesetzten Photon erhöht. Irgendwann wird der Sonne der Brennstoff ausgehen, und sie wird nicht mehr scheinen. Die gleiche schleichende Entartung trifft alle Sterne des Universums. Mitte des 19. Jahrhunderts bekam dieses mißliche Schicksal den Namen «kosmischer Wärmetod». Der thermodynamische Niedergang des Kosmos stellte einen eindeutigen Bruch mit der Vorstellung vom Newtonschen Uhrwerk Universum dar. Statt das Universum als perfekte Maschine zu betrachten, sahen die Physiker es jetzt als einen riesigen Wärmemotor an, dem allmählich der Treibstoff ausgeht. Man stellte fest, daß Perpetuum mobiles wirklichkeitsfremde Idealisierungen waren, und zog den beunruhigenden Schluß, daß das Universum langsam sterbe. Die Wissenschaft hatte eine pessimistische Zeit entdeckt, und eine neue Generation atheistischer Philosophen unter Führung von Bertrand Russell klagte von der schrecklichen Unausweichlichkeit des kosmischen Untergangs.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik führt einen Zeitpfeil in die Welt ein, weil die Zunahme der Entropie ein unumkehrbarer Prozeß «abwärts» zu sein scheint. Es war ein seltsames Zusammentreffen, daß, gerade als die schlechte Nachricht vom sterbenden Universum bei den Physikern die Runde machte, Charles Darwin sein berühmtes Buch Über die Entstehung der Arten herausbrachte. Die Evolutionstheorie schockierte die Menschen zwar weit mehr als die Vorhersage eines kosmischen Wärmetodes, doch die Hauptbotschaft von Darwins Buch war grundsätzlich optimistisch. Die biologische Evolution führt ebenfalls einen Zeitpfeil in die Natur ein, der jedoch in die entgegengesetzte Richtung wie der des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik zeigt, d.h. die Evolution scheint ein Prozeß «aufwärts» zu sein. Das Leben auf der Erde begann mit primitiven Mikroorganismen, machte jedoch im Verlauf der Zeit Fortschritte und brachte eine Biosphäre von unglaublicher organisatorischer Vielfalt mit Millionen kompliziert gebauter Organismen hervor, die hervorragend an ihre ökologischen Nischen angepaßt waren. Während die Thermodynamik Entartung und Chaos vorhersagt, scheinen die biologischen Prozesse progressiv zu verlaufen und aus dem Chaos Ordnung zu schaffen. Das war eine optimistische Zeit, die in der Wissenschaft gerade dann aufkam, als die pessimistische Zeit im Begriff war, ihre Saat der Hoffnungslosigkeit zu säen.

Darwin glaubte fest daran, daß es in der Natur einen angeborenen Trieb zur Verbesserung gibt. «Und da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für den Vorteil der Geschöpfe wirkt, so werden alle körperlichen Fähigkeiten und geistigen Gaben immer mehr nach Vervollkommnung streben», schrieb er.[17] Die Biologen sprachen bald von einer «Leiter des Fortschritts», an deren Fuß sich die Mikroben befanden und der Mensch an der Spitze. Obwohl also die Evolutionstheorie den Gedanken verwarf, daß Gott jede einzelne Art sorgfältig geplant und erschaffen habe, ließ sie doch Raum für einen planenden Gott, der differenzierter handelte, indem er den Verlauf der Evolution über Milliarden Jahre aufwärts hin zum Menschen lenkte oder führte, und vielleicht noch darüber hinaus.

Diese progressive Lebensanschauung wurde von einigen führenden europäischen Denkern wie Henri Bergson, Herbert Spencer, Friedrich Engels, Teilhard de Chardin und Alfred North Whitehead begeistert begrüßt. Sie alle sahen im Universum als Ganzem, nicht nur in der Biosphäre der Erde, Beweise für eine innere Fähigkeit der Natur, aus dem Chaos Ordnung zu schaffen. Die lineare Zeit dieser Philosophen und Wissenschaftler war eine Zeit eines schwankenden, jedoch letztlich zuversichtlichen Fortschritts.

Leider vertrug sich die Entwicklung in der Natur weder mit dem blinden thermodynamischen Chaos noch mit dem ziellosen Chaos, das der Darwinschen Evolution zugrunde liegen soll. Spannungen zwischen der Vorstellung von einer progressiven Biosphäre einerseits und einem zum Wärmetod bestimmten Universum andererseits führten zu verrrückten Reaktionen. Einige Biologen, vor allem in Frankreich, spielten Darwins zentrale These von den Zufallsmutationen zugunsten einer Eigenschaft herunter, die sie élan vital, Lebenskraft, nannten, die dafür sorge, daß die Organismen sich in eine progressive Richtung und gegen die chaotischen Tendenzen der unbelebten Vorgänge entwickeln. Der Glaube an eine solche Lebenskraft existiert in bestimmten nichtwissenschaftlichen Kreisen noch heute. Einige Philosophen und Wissenschaftler, die sich um das Schicksal des Universums Sorgen machten, erklärten, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik könne unter bestimmten Umständen umgangen werden oder sollte nicht auf das Universum als Ganzes angewandt werden.

Der Streit tobt noch immer. Die Biologen haben die Lebenskraft längst abgeschrieben und viele erklären mit Nachdruck, daß jeder Eindruck eines Fortschritts in der biologischen Evolution einfach das Ergebnis von Wunschdenken und kultureller Konditionierung sei. Der Weg evolutionärer Veränderungen, behaupten sie, beruht im wesentlichen auf dem Zufall – «im Flug erhaschter Zufall», um Jacques Monods anregende Formulierung zu gebrauchen. Andere Wissenschaftler, von denen viele durch die Arbeit Ilya Prigogines beeinflußt wurden, glauben an die Existenz selbstorganisierender Prozesse in der Natur und erklären, die Entwicklung zu größerer organisatorischer Vielfalt sei eine universelle, gesetzmäßige Tendenz. Spontane Selbstorganisation muß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht widersprechen. Diese Prozesse erzeugen nebenher immer Entropie, und es muß somit ein Preis dafür gezahlt werden, daß aus dem Chaos Ordnung entsteht. Was das endgültige Schicksal des Universums angeht, so hängt die Entscheidung, welche dieser gegenläufigen Tendenzen – fortschreitende Komplexität oder zunehmende Entropie – am Ende die Oberhand behält, maßgeblich von der Wahl des kosmologischen Modells ab.

Die Wiederkehr der ewigen Wiederkehr