Die unvergleichliche Miss Kopp schlägt zurück - Amy Stewart - E-Book

Die unvergleichliche Miss Kopp schlägt zurück E-Book

Amy Stewart

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

New Jersey 1915: Nach ihrer Ernennung zum ersten weiblichen Sheriff stürzt sich Miss Kopp mit Verve in die Ermittlungen und hat alle Hände voll zu tun. Sie verhaftet einen Mann, der junge Mädchen in eine Falle gelockt hat, rettet eine alte Frau davor, unschuldig als Mörderin verurteilt zu werden, und heftet sich einem entflohenen Häftling an die Fersen. Schließlich muss sie verhindern, dass ihr Chef in seinem eigenen Gefängnis landet …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Amy Stewart

Miss Kopp schlägt zurück

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Hedinger

Insel Verlag

Miss Constance Kopp, die einst fünf Stunden lang nahe ihrem Haus in Wyckoff, New Jersey, hinter einem Baum wartete, um einer Bande der Schwarzen Hand Paroli zu bieten, ist heute Hilfssheriff von Bergen County, New Jersey, und ein Schrecken für alle Übeltäter.

New York Press, 20. Dezember 1915

1

Junges Mädchen gesucht – guter Lohn. Mann, wohlhabend, sucht Haushälterin; spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Kost und Logis frei. Zuschriften unter 4827.

Ich gab Mrs Headison die Zeitung zurück. »Sie haben also auf die Annonce geantwortet?«

Sie nickte energisch. »Ganz recht, und mich als ein Mädchen ausgegeben, das gerade aus Buffalo in die Stadt gekommen ist, mit einiger Erfahrung, zwar nicht im Haushalt, dafür aber im Tanz und mit Ambitionen auf eine Bühnenlaufbahn. Wir können uns wohl alle vorstellen, was er sich da gedacht hat.«

Ich mochte es mir lieber nicht vorstellen, weil nämlich ein Mädchen mit ebendiesen Ambitionen unter meinem eigenen Dach lebte, musste aber zugeben, dass der Trick funktioniert hatte. Sheriff Heath und ich lasen die Antwort des Mannes, der sie baldmöglichst zu Besuch einlud und ihr die Ehe versprach, sollte sie sich als passend erweisen.

»Zahlreiche Mädchen haben sich auf die Stelle beworben und warten immer noch auf den Heiratsantrag«, sagte Mrs Headison naserümpfend. »Ich habe sie bei ihm ein- und ausgehen sehen. Da ich nur in beratender Funktion tätig bin, muss ich dem Polizeichef Meldung machen, wenn ich etwas Verdächtiges bemerke, und der schickt dann einen seiner Männer los, um die Festnahme durchzuführen. Aber dieser Bursche wohnt hier draußen in Bergen County, also reichen wir die Sache an Sie weiter.«

Belle Headison, Patersons erste Polizistin, war eine schlanke Person mit schmalen Schultern. Ihr Haar hatte die Farbe von schwachem Tee. Ihre Augen wurden von einem kupferfarbenen Brillengestell eingerahmt, das an das Innenleben einer Standuhr denken ließ. Alles an ihr wirkte sehr gerade und gespannt.

Ich war New Jerseys erster weiblicher Hilfssheriff. Bisher hatte ich noch keine andere Frau im Polizeidienst kennengelernt. Der Sommer 1915 fühlte sich an wie der Beginn eines hehren und hellen neuen Zeitalters.

Mrs Headison hatte sich mit uns am Bahnhof in Ridgewood verabredet, der nicht weit entfernt vom Haus des Verdächtigen lag. Wir standen auf dem Bahnsteig unter dem Vordach, der einzigen Stelle, die Schatten bot. Trotz der spätsommerlichen Hitze verspürte ich einen erfrischenden Schauer bei dem Gedanken, jemanden zu stellen, der so unverfroren nach jungen Mädchen suchte.

Der Sheriff warf noch einen Blick auf den Brief. »Mr Meeker«, sagte er. »Harold Meeker. Also los, meine Damen, beehren wir den Herrn mit einem Besuch.«

Mrs Headison trat einen Schritt zurück. »Also, ich wüsste nicht, wie ich Ihnen da von Nutzen sein könnte.«

Sheriff Heath ließ sich nicht beirren. »Es ist Ihr Fall«, sagte er munter. »Sie sollten die Genugtuung haben, die Sache zu Ende zu bringen.« Kaum etwas stimmte ihn fröhlicher als die Aussicht, einen Halunken zu schnappen, und er konnte sich unmöglich vorstellen, wie man das anders sehen könnte.

»Aber normalerweise komme ich nicht mit den Polizisten mit«, erklärte sie. »Wäre es nicht besser, Sie gingen hin, während Miss Kopp und ich hier warten?«

»Ich habe Miss Kopp aus gutem Grund mitgebracht«, entgegnete der Sheriff und führte uns beide vom Bahnsteig zu seinem Automobil. Mrs Headison stieg ein, wenn auch etwas widerwillig, und schon fuhren wir durch das Städtchen.

Auf dem Weg erzählte Mrs Headison uns von ihrer Arbeit bei der Travelers' Aid Society, wo sie jungen Mädchen half, die ohne Familie oder Aussicht auf Arbeit nach Paterson kamen. »Kaum sind sie aus dem Zug gestiegen, finden sie mühelos den Weg zu den anrüchigsten Pensionen und den ordinärsten Tanzhäusern«, sagte sie. »Und wenn sie auch noch hübsch sind, bekommen sie in diesen Etablissements Essen und Getränke umsonst. Wobei natürlich nichts umsonst ist, aber das kann man diesen jungen Dingern nicht so leicht klarmachen. Wenn sie zum ersten Mal von zu Hause fort sind, vergessen sie gleich alles, was ihre Mütter ihnen beigebracht haben, falls die ihnen überhaupt etwas beigebracht haben.«

Mrs Headison war, wie sich herausstelle, seit 1914 verwitwet. Am ersten Todestag ihres Mannes, eines Constable im Ruhestand, hatte sie von New Jerseys neuem Gesetz gelesen, dem zufolge Frauen zum Polizeidienst beitreten durften. »Es war, als würde John aus dem Jenseits zu mir sprechen und mir sagen, dass ich eine neue Aufgabe hätte. Ich ging direkt zum Polizeichef von Paterson und reichte meine Bewerbung ein.«

Sheriff Heath und ich versuchten, einen Glückwunsch anzubringen, aber sie fuhr fort, ohne auch nur Luft zu holen. »Wussten Sie, dass er bis dahin nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, eine Frau in seine Reihen aufzunehmen? Ich musste gute Argumente anführen, und Sie können versichert sein, dass ich das getan habe. Haben Sie eine Ahnung, warum er so zögerte? Der Polizeichef hat mir ins Gesicht gesagt, wenn Frauen anfingen, in Uniform herumzulaufen, mit Schusswaffen und Schlagstöcken bewaffnet, würden wir uns in kleine Männer verwandeln.«

Ich warf dem Sheriff einen entsetzten Blick zu, aber er hielt die Augen nach vorne gerichtet.

»Ich habe ihm versichert, dass meine Stellung bei der Polizei genau dieselbe wäre wie die einer Mutter zu Hause. So wie sich die Mutter um ihre Kinder kümmert und auf freundliche Weise mit einer Warnung oder Ermutigung aushilft, würde ich meine Pflichten als Frau weiterführen und die Ideale einer Mutter in die Polizeibehörde einbringen. Stimmen Sie mir da nicht zu, Miss Kopp? Sind Sie im Sheriff's Department nicht auch die Glucke geworden?«

Ich sah mich in der Tat nicht als Glucke, andererseits hatte ich durchaus schon eine Henne so heftig auf ein stromerndes Küken einhacken sehen, dass Blut floss; also lag Mrs Headison vielleicht nicht ganz daneben. Die letzten beiden Monate hatte ich jeden Einsatz mitgemacht, der ein junges Mädchen oder eine Frau betraf, die in irgendeine gesetzwidrige Affäre verwickelt war. Ich hatte Scheidungspapiere an eine von ihrem Ehemann getrennt lebende Frau zugestellt, einen Fall von illegalem Zusammenleben untersucht, eine Ausreißerin noch am Bahnhof aufgegriffen, eine Dirne, die nackt und halbtot vom Opiumkonsum in einem Kartenspielzimmer über einer Schneiderei gefunden worden war, mit Kleidung versorgt und bei einer Mutter von drei Kindern gesessen, während der Sheriff und seine Männer durch den Wald liefen, um ihren Mann zu finden, auf dessen Kopf sie eine Flasche Brandy zerschmettert hatte. Der Mann wurde ihr wieder zugeführt, aber sie weigerte sich, ihn hereinzulassen, bis er in Anwesenheit des Sheriffs versprach, keinen Alkohol mehr nach Hause mitzubringen.

Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die Momente, die ich gerade beschrieben habe, zu den Höhepunkten meines Lebens gehören. Die Dirne lag in ihren Exkrementen und musste in dem schmuddeligen Waschbecken des Kartenspielraums sauber gemacht werden, und das Mädchen, das in den Zug springen wollte, biss mich in den Arm, als ich sie erwischte, aber dennoch möchte ich behaupten, dass ich nie zufriedener gewesen bin. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, hatte ich letzten Endes eine Arbeit gefunden, die zu mir passte.

Ich wusste nicht, wie ich das Mrs Headison auch nur ansatzweise erklären sollte. Zu meiner Erleichterung erreichten wir Mr Meekers Haus, bevor es dazu kommen konnte. Der Sheriff fuhr ein paar Häuser weiter, um zu parken. Mr Meeker lebte in einem schlichten schindelgedeckten Haus mit lackierten Fensterläden und einer kleinen Eingangsveranda, die den Eindruck machte, als wäre sie erst kürzlich angebaut worden. Im Wohnzimmer stand ein Fenster offen, aus dem Klaviermusik in den Vorgarten drang.

»Irgendwer ist daheim«, sagte Sheriff Heath. »Miss Kopp, Sie klopfen an der Tür und wir warten hier. Wenn gerade ein Mädchen da ist, will ich sie nicht verschrecken. Versuchen Sie, sie zum Rauskommen zu bringen. Wir werden sie nicht wegen Aufsässigkeit festnehmen, aber das kann sie ja nicht wissen.«

»Verstanden«, erwiderte ich.

Mrs Headison starrte uns beide an, als hätten wir gerade eine Safari in Afrika geplant.

»Sie werden die Dame doch wohl nicht ungeschützt zur Haustür schicken? Und wenn nun –«

Unsere Begleiterin unterbrach sich, als sie sah, wie ich meinen Revolver aus der Handtasche nahm und in die Jackentasche schob. Es war dieselbe Waffe, die der Sheriff mir im Vorjahr gegeben hatte, als meine Familie drangsaliert worden war: ein Polizeirevolver Marke Colt, dunkelblau, gerade klein genug, um ihn in den Taschen zu verbergen, die Fleurette zu diesem Zweck in all meine Jacken und Kleider genäht hatte.

»Lässt man Sie denn eine Schusswaffe tragen? Also, der Polizeichef –«

»Ich arbeite nicht für den Polizeichef.« Ich spürte die Augen des Sheriffs auf mir, als ich das sagte. Dass wir etwas taten, was der Polizeichef nicht gewagt hätte, verschaffte mir immense Befriedigung.

Mit dem griffbereiten Revolver marschierte ich auf die Haustür zu. Die beiden anderen standen knapp außer Sicht bereit, als die Klaviermusik abbrach und die Tür aufging.

Harold Meeker war ein ungefähr vierzigjähriger Mann mit teigigem Gesicht. Er erschien in Hemdsärmeln, mit Schlips, die Pfeife in der einen und die Schuhe in der anderen Hand. Er hatte eine flache Stirn, die sich runzelte, als er mich sah.

»Entschuldigen Sie, Ma'am«, sagte er und blickte auf seine bloßen Füße hinunter. »Die Putzfrau ist heute da, und ich habe versucht, ihr nicht in die Quere zu kommen.«

Er schenkte mir ein zerknirschtes Grinsen. Ich wollte keine Zeit verlieren, damit mir das Mädchen nicht durch die Hintertür entwischte.

»Aber das macht doch nichts, Mr Meeker«, sagte ich laut genug, damit der Sheriff es hören konnte. »Eigentlich bin ich ja wegen Ihrer Haushaltshilfe da. Ich glaube, ich habe etwas, das ihr gehört.«

Ich schob mich durch die Tür, bevor er mir den Weg verstellen konnte. Drinnen sah ich abgewetzte Teppiche und schäbige Möbel, die das Bild eines Junggesellen wachriefen, der nie aus dem Haus seiner Mutter ausgezogen ist. Auf jedem einzelnen Lampenschirm prangten rosa Rosen. Das Klavier war mit Zierdeckchen behängt. Es gab sogar ein Stickmustertuch an der Wand, bräunlich verfärbt und eingestaubt.

Mr Meeker hüpfte vor mir herum. Er war fast so groß wie ich, aber weniger kräftig gebaut. Er hoffte wohl, mich einzuschüchtern, aber das gelang ihm nicht.

»Lettie ist so gut wie fertig«, sagte er und sah sich nach der Tür um, hinter der ich die Küche vermutete. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, draußen zu warten, wird sie in einem Moment rauskommen. Sind Sie mit ihr verwandt, Mrs …«

Ich ignorierte ihn und steuerte direkt die Küche an. »Lettie, sind Sie das?«, rief ich und stieß die Tür auf.

An einem kleinen lackierten Holztisch saß ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit Lockenwicklern für Kinder im Haar und einer Zigarette zwischen den Fingern. Sie trug nichts weiter als ein dünnes Hemdchen aus Batist und Damast-Pantoffeln, die auch Fleurette gefallen hätten. Die Küche war alt, mit einem Eisenherd und einem Waschzuber, der als Spülbecken diente. Hier musste bald einmal gründlich geputzt werden, aber Lettie würde dafür nicht zur Verfügung stehen.

Sie sprang auf, als sie mich sah.

»Sie kommen mir nicht wie eine Haushälterin vor«, sagte ich und trat an ihre Seite, um sie beim Ellbogen zu nehmen.

»Nein, ich bin nur – ich bin zu Besuch hier, bis …«

Harold Meeker war uns nicht in die Küche gefolgt. Wahrscheinlich hatte er erkannt, dass er in Schwierigkeiten steckte, und versuchte nun, sich davonzustehlen. Aber Sheriff Heath würde ihn schnappen.

Ohne meinen Griff zu lockern, erklärte ich: »Meine Liebe, ich bin vom Sheriff's Department. Sie haben nichts zu befürchten, aber wir glauben, dass Sie von einer Annonce, die Mr Meeker aufgegeben hat, in die Irre geführt worden sind.«

Lettie trotzte. Sie schob die Unterlippe vor und stemmte ihren freien Arm in die Hüfte. »Ich hab das Recht, mir Arbeit zu suchen. Dagegen gibt's kein Gesetz.«

Aus dem Raum nebenan hörte ich Stimmen und begriff, dass Sheriff Heath seinen Mann gefasst und zurückgebracht hatte.

»Wir sind davon überzeugt, dass er junge Mädchen ausnutzt, und dagegen gibt es durchaus ein Gesetz. Wie lange sind Sie schon hier?«

Sie wirbelte herum und blickte Richtung Hintertür, aber ich zog sie mit festem Griff an mich. »Wann sind Sie hier angekommen, Lettie?«

Sie schniefte und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Ich nahm neben ihr Platz. »Erst letzte Woche.« Sie befingerte die Sardinendose, die sie als Aschenbecher benutzte. »Mit dem Zug aus Ohio. Eigentlich wollte ich nach New York, aber irgendwas hat mit meinem Fahrschein nicht gestimmt, und da steh ich nun, ohne Geld und ohne wen, der mich aufnimmt, außer Mr Meeker.«

Schon jetzt verspürte ich einen Hass auf Mr Meeker. Was musste das für ein Mann sein, der glaubte, er könne einfach in der Zeitung nach Mädchen inserieren? »Und was ist passiert, als er Ihnen klarmachte, dass er nicht nur nach einer Haushälterin sucht?«

Sie legte ihr Gesicht in die Hände, ohne zu antworten.

Ich sah mich nach etwas um, das Lettie sich überziehen konnte, und entdeckte einen alten Hauskittel an einem Haken. »Schon gut. Ich habe eine Dame mitgebracht, die Sie in eine bessere Unterkunft bringen kann.« Ich zog ihr den Kittel über den Kopf und half ihr hoch. Sie hatte die knochigen Schultern eines Kindes. »Haben Sie oben im Zimmer noch Sachen, die Sie mitnehmen möchten?«

Sie wischte sich die Augen. »Ich hab alles auf dem Bahnsteig verloren. Meine Tasche hat die eine Richtung genommen und ich die andere.«

»Mal sehen, was wir da noch tun können.« Ich brachte sie ins Wohnzimmer, wo Harold Meeker in Handschellen neben Sheriff Heath und einer verdutzten Mrs Headison stand. Als Mr Meeker uns sah, wollte er sich auf Lettie stürzen, schaffte es allerdings nur, seine Handschellen rasseln zu lassen.

»Hast du etwa den Sheriff gerufen?«, schrie er. »Du nichtsnutzige kleine Schlampe, nach allem, was ich für dich –«

Sheriff Heath riss ihn zurück, aber dabei kamen beide ins Straucheln. Mr Meeker strampelte mit Händen und Füßen und wand sich aus Sheriff Heath' Griff. Und genau diese Sekunde nutzte er für den Versuch, zwischen uns hindurch- und zur Tür hinauszurennen. Da warf ich mich auf ihn, stieß ihn in eine Ecke und hielt ihn am Kragen fest, aber er fuchtelte weiter wie wild herum und versuchte, sich an mir vorbeizudrängen. Mrs Headison schnappte nach Luft und lief quer durchs Zimmer, um Lettie festzuhalten.

Nun kam mir der Sheriff von hinten zur Hilfe. Er packte Harold Meeker am Arm, während ich noch ein bisschen stärker an seinem Kragen zog und ihn damit auf die Zehenspitzen zwang.

Für den Bruchteil einer Sekunde blickten der Sheriff und ich uns an. Keiner wollte Mr Meeker loslassen. Wir genossen beide den Moment. Der Mann begann zu japsen und schien schlappzumachen.

»Ich werde Widerstand gegen die Festnahme und tätlichen Angriff auf einen Amtsträger zu den Anklagepunkten gegen Sie hinzufügen«, sagte Sheriff Heath. »Damit bleiben Sie ein Weilchen länger im Gefängnis.«

Ich hielt ihn immer noch am Hemd. An der Stelle, wo es ihn zwickte, war sein Hals schon ganz rot angelaufen.

»Die Frau soll ihre Hände wegnehmen!«, keuchte Mr Meeker, an Sheriff Heath gewandt. »Wer ist sie denn, Ihr Kindermädchen?«

»Sie ist der Deputy, der Sie gleich festnehmen wird«, sagte der Sheriff. »Wenden Sie sich an sie, wenn Sie sich über irgendetwas beschweren wollen.«

Lettie lachte kurz auf, Mrs Headison dagegen blieb still.

Es war eine unangenehme Rückfahrt nach Paterson, bei der ich mit Lettie und Mrs Headison auf der Rückbank saß, während die beiden Männer vorn Platz nahmen. Ich mutete es einem jungen Mädchen sonst ungern zu, mit ihrem Peiniger im selben Fahrzeug zu sitzen, aber da Mrs Headison zu aufgewühlt war, um Lettie allein mit dem Zug zurückzubringen, und Sheriff Heath mich für den Fall dabeihaben wollte, dass Mr Meeker noch einen Fluchtversuch unternahm, gab es keine andere Möglichkeit.

Der Sheriff wartete mit seinem Gefangenen, während ich Lettie und Mrs Headison zurück zum Büro der Travelers' Aid brachte.

»Ich weiß, dass Sie sich gut um das Mädchen kümmern werden«, sagte ich. »Es war richtig von Ihnen, uns zu rufen.«

Patersons erste Polizistin wirkte immer noch fassungslos. »Heute Abend werde ich Mr Headison alles über Sie in meinen Gebeten erzählen, aber ich vermute, er wird mir nicht glauben. Die Dinge, die man Sie tun lässt – nun gut, das könnte ich nicht, selbst wenn man mich dafür bezahlen würde.«

Ich schaute zu ihr hinunter. Lettie beobachtete uns mit offenem Mund.

»Ja, werden Sie denn nicht bezahlt?« Ich verdiente tausend Dollar pro Jahr, genauso viel wie die anderen Deputies.

»Äh – natürlich nicht«, sagte sie langsam, weil sie meine Frage wohl erst einmal verarbeiten musste. »Der Chef erwartet, dass ich meinen Dienst aus Pflicht- und Ehrgefühl leiste und keinem Polizisten sein Gehalt wegnehme.«

Darauf fiel mir keine höfliche Antwort ein. Ich wollte nur wieder in den Sheriffswagen, zu meinem Gefangenen, und ihn hinter Schloss und Riegel bringen, wo er hingehörte.

»Rufen Sie uns unbedingt wieder an, wenn Sie uns brauchen, Mrs Headison«, rief ich und lief zurück zu Sheriff Heath.

Im Gefängnis wurde Mr Meeker an Deputy Morris übergeben, einen achtbaren älteren Mann, der voriges Jahr zu einem Freund der Familie geworden war, als er unser Haus vor Henry Kaufman geschützt hatte. Morris nickte steif und gratulierte mir zu meiner Arbeit, bevor er Meeker fortbrachte.

Aber als ich ihm ins Gebäude nach drinnen folgen wollte, rief mich der Sheriff zurück.

»Miss Kopp.«

Es war etwas Nachdrückliches an der Art, wie er meinen Namen aussprach. Er deutete mit dem Kopf in Richtung Garage, einem kleinen freistehenden Steinbau, der früher einmal ein Kutschenhaus gewesen war und immer noch über zwei mit altem Heu ausgelegte Boxen für die Pferdehaltung verfügte. Sheriff Heath nutzte diesen Ort gern für vertrauliche Gespräche, weil es nur einen Eingang gab und man sich nicht sorgen musste, dass jemand durch eine Hintertür hereinschlich.

Im düsteren Schatten unter dem Dachvorsprung warf mir Sheriff Heath einen langen, gemessenen Blick zu und sagte dann: »Es gibt ein Problem mit Ihrem Abzeichen.«

Irgendetwas in mir erstarrte, aber ich versuchte, einen Witz zu machen. »Sind etwa die Edelsteine knapp geworden?« Sheriff Heath' Stern zierte ein einzelner Rubin, und er legte Wert darauf zu betonen, dass der Stein von seinen Bürgen bezahlt worden war, nicht vom Steuerzahler.

Er trug einen großen Schnurrbart, der sich in die Breite zog, wenn er lächelte. Jetzt rührte sich nichts. Als der Sheriff wieder zu reden anhob, klang es einstudiert. »Ich wurde von einem Anwalt – einem Freund meiner Behörde, der ganz auf unserer Seite steht – darauf hingewiesen, dass ich bei der Ernennung eines weiblichen Deputy Sheriffs womöglich auf unsicherer Rechtsgrundlage stehe.«

Meine Hände fuhren nervös Richtung Herz. Ich klopfte kurz darauf, strich mir dann den Rock glatt und zupfte an einem Knopf. »Ich bin doch bereits ernannt worden? Habe ich denn nicht seit Mitte Juni meine Arbeit ausgeübt?«

Er trat einen Schritt zurück, drehte sich einmal im Kreis, nickte. »Doch, sicher. Aber das ist so lange nicht offiziell, bis der County-Verwaltungschef die nötigen Papiere aufgesetzt hat, und das Abzeichen selbst haben wir natürlich auch noch nicht. Das Problem ist, dass Mr – der befreundete Anwalt …«

»Der Bundesstaat New Jersey hat doch ein Gesetz für die Zulassung von weiblichen Polizisten erlassen? Sie haben mir doch deshalb diese Stellung angeboten?« Meine Stimme vibrierte, aber ich konnte sie nicht unter Kontrolle bringen. Noch während ich den Satz aussprach, dämmerte mir, was passiert war.

»Ja. Aber da liegt die Schwierigkeit. Das Gesetz bezieht sich nur auf Polizistinnen. Der Sheriff wird gewählt und untersteht einem anderen Abschnitt des Gesetzes. Und da werden weibliche Deputies nicht erwähnt. Tatsächlich hatte der Sheriff von New York City vor ein paar Jahren genau diese Änderung geplant und musste sie fallenlassen, weil das dortige Gesetz vorschreibt, dass Deputies das aktive und passive Wahlrecht in dem County haben müssen, in dem sie ihren Dienst leisten, was bedeutet, dass Frauen –«

Ich unterbrach ihn gereizt. »– als nicht Wahlberechtigte unmöglich in Frage kommen.«

Jetzt stand er wieder direkt vor mir, aber ich sah ihn nicht an. Er sagte: »Bei uns in New Jersey ist das Wahlrecht keine Bedingung, so steht es nicht im Gesetz. Aber wenn die Gesetzgeber in Trenton weibliche Deputies hätten haben wollen, dann hätten sie es sicher so festgelegt, und das haben sie nun einmal nicht.«

Er hatte eine höhere Meinung von den Gesetzgebern in Trenton als ich. »Könnten die das nicht übersehen haben?« Ich schrie beinahe.

»Doch, sicher. Und mir wurde geraten, alle anderen Sheriffs in New Jersey anzuschreiben und zu fragen, ob jemand von ihnen nach dem neuen Gesetz einen weiblichen Deputy eingestellt hat. Das wäre ein Präzedenzfall.«

»Und?«

»Bisher hat sich noch keiner gemeldet.«

»Und Sie wollen nicht der Erste sein.«

Er lüpfte den Hut, strich sein Haar nach hinten und setzte ihn wieder auf. »Miss Kopp. Ich kann mich mit dem County-Rat über mein Budget streiten und darüber, wie ich meinen Pflichten nachkomme, aber ich kann nicht vorsätzlich das Gesetz brechen.«

Ich wandte mich ab, bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. In mir stieg die Erinnerung an den Tag hoch, an dem ich im Alter von etwa zehn Jahren eine Liste mit dem Titel »Was eine Frau tun kann« aus der Zeitung kopiert hatte. Jedes einzelne Fachgebiet schrieb ich ordentlich und sorgfältig ab und strich dann die meisten nach reiflicher Überlegung durch. Musik als Berufsbild fiel weg, genau wie das Kolorieren von Fotografien und das Holzstechen. Haushälterin kreuzte ich so energisch durch, dass das Papier einriss. Das Schneidern erfuhr dasselbe Schicksal, das Gärtnern ebenfalls. Am Schluss hatte meine kleine Hand dank ihrer Leidenschaft das Blatt Papier beinahe zerfetzt.

Nur der Berufsstand Jura blieb übrig, zusammen mit einem Regierungsamt, Journalismus und Pflege. Jeder dieser Punkte war mit einem schwachen Häkchen versehen.

Ich versteckte die Liste in einem weißen Handschuh, der ein Loch hatte, und zeigte sie niemandem. Auf ihr standen alle Möglichkeiten dieser Welt.

Damals, 1887, hätte es niemand gewagt, weibliche Deputies vorzuschlagen.

Jetzt wurde mir mein Beruf so schnell wieder weggenommen, wie er mir gegeben worden war. Dabei hatte ich mich daran gewöhnt, eine der Ersten zu sein, die bewiesen, dass eine Frau diese Arbeit leisten konnte. Ich war nicht wie Mrs Headison. Ich war nicht bloß eine Anstandsdame für verwahrloste Mädchen. Ich trug eine Schusswaffe und Handschellen. Ich konnte eine Verhaftung durchführen, genau wie jeder andere Deputy. Ich bekam das gleiche Gehalt wie die Männer. Dass manche Leute das schockierend fanden, störte mich kein bisschen.

Hinter dem Tor der Garage hing ein blaues Stück Himmel. Sobald ich hinausging, würde ich wieder jemand ganz Gewöhnliches sein. Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst gewesen, wie schlimm ich es fand, ganz gewöhnlich zu sein.

Noch immer kehrte ich Sheriff Heath den Rücken zu. Ich hielt es für das Beste, mich zu verabschieden, ohne ihm noch einmal mein Gesicht zu zeigen. »Na, dann werde ich jetzt wohl nach Hause fahren.«

»Dafür gibt es keinen Grund«, sagte der Sheriff hastig. »Ich habe ein Angebot für Sie, wenn Sie wollen.«

Das genügte, damit ich mich zu ihm umdrehte.

»Ich werde nicht Ihre Stenografin.« Ich würde mich nicht in einen Raum setzen und aufschreiben, was andere Deputies geleistet hatten.

Nun lächelte er doch ein bisschen. »So schlimm ist es nicht. Und es wäre ja nicht für lange. Geben Sie mir einen Monat, und ich finde einen Weg.«

Jetzt endlich schaute ich ihm in die Augen, diese tief liegenden, seelenvollen Augen, um die so oft dunkle Ringe lagen. Der Mann hatte ein vertrauenerweckendes Gesicht.

»Einen Monat?«

»Einen Monat. Das ist alles.«

2

»Das bleibt doch nie bei einem Monat«, sagte Norma später an diesem Abend.

Ich lag ausgestreckt auf unserem Diwan und hörte mir an, was meine Schwester während ihrer Zeitungslektüre brummelte. Alles, was ich von ihr sehen konnte, waren ihre übereinandergelegten Füße auf der mit Troddeln verzierten ledernen Ottomane und die Spitzen ihrer kurzen, rissigen Finger, mit denen sie die Zeitung an den Rändern festhielt. Neben ihr stand eine tragbare Gaslampe, die den Duft von Limburger Käse verströmte.

»Doch, natürlich«, erwiderte ich. »Es ist nur ein juristisches Problem, und er sieht sich schon nach Abhilfe um.«

»Er sollte sich lieber mal danach umsehen, wo seine Courage abgeblieben ist.« Sie raschelte wieder mit der Zeitung, um ihre Worte zu unterstreichen. Norma war auf ihre Weise höchst theatralisch und verstand es, ihr Repertoire aus Prusten, Brummeln oder Zischen meisterhaft einzusetzen. Sie war stets bereit, mit einem Topf zu klappern oder ein Buch zuzuknallen, um ihren Standpunkt deutlich zu machen. Bei jeder Meinungsverschiedenheit konnte man sich darauf verlassen, dass sie Bleistift und Papier parat hatte, um die aberwitzigen und überzogenen Behauptungen der Gegenpartei zu notieren, auf dass diese Beweiskraft erlangten und zu einem späteren Zeitpunkt wieder verlesen werden konnten, wenn es Normas Seite zum Vorteil gereichte.

Als ich nicht antwortete, nahm sie erneut Anlauf. »Wenn er kein Vertrauen in dich hat, dann sollte er das einfach sagen. Es mag ja stimmen, dass die meisten Frauen nicht genug Temperament, Mumm und Kraft mitbringen, um das Recht zu vollstrecken, aber du hast von allen dreien mehr als genug, und Sheriff Heath hat keinen Grund, daran zu zweifeln.«

»Das tut er ja auch nicht. Er hat gesehen, was ich kann.« Das stimmte doch, oder? Norma hatte so eine Art an sich, im Brustton der Überzeugung zu sprechen, dass ich ihre Worte nie einfach abtun konnte.

»Warum wartet er dann darauf, dass zuerst ein anderer Sheriff diesen Schritt macht? Hat er etwa Angst davor, Constances Namen in der Zeitung zu lesen? Dass unsere Bürger einen solchen Hasenfuß wählen konnten …«

»Er hat Angst davor, Constances Namen in der Zeitung zu sehen«, warf Fleurette ein, die gerade in Strümpfen die Treppe herunterkam. Sie nahm die letzten paar Stufen im Hüpfschritt und wirbelte herum, so dass ihr der Kleidersaum um die Knie segelte.

Dem blau-weiß karierten Gingham-Kleid und der Milchkanne im Arm nach zu urteilen spielte sie wohl eine Farmerstochter. Sie trug ihr Haar zu zwei Zöpfen geflochten, mit dicken rosa Schleifen an den Enden, und hielt weiße Tanzschuhe aus Satin in der Hand, verziert mit feiner Perlstickerei, die auf einer Farm nicht eine einzige Stunde überstehen würde.

»Ich habe morgen ein Vorsprechen für die Herbstaufführung«, erklärte sie und kam angetänzelt, um mir bessere Sicht auf ihre Kreation zu erlauben. »Helen will meine Zwillingsschwester spielen. Wir brauchen eigentlich nicht im Kostüm zu erscheinen, aber es ist ja keine große Mühe, so ein Kleid zusammenzusticheln, und ich glaube, die werden uns nehmen müssen, meinst du nicht?«

Ich nahm den Saum in die Finger und bewunderte die Näharbeit. Norma starrte ostentativ auf ihre Zeitung.

»Ich glaube nicht, dass du Schwierigkeiten haben wirst, die Rolle zu kriegen«, sagte ich.

Dass Fleurette vor anderen Leuten auftrat – und nicht nur vor uns beiden im Salon –, war noch neu für unsere Familie. Als der Sheriff mir zwei Monate zuvor eine Stellung angeboten hatte, wäre mir nie eingefallen, außer Haus zu arbeiten, ohne Fleurette in Zukunft sinnvoll beschäftigt zu wissen. Sie wollte unbedingt nach New York gehen, aber Norma und ich schafften es, ihr klarzumachen, dass achtzehnjährige Mädchen nicht allein nach New York gingen, es sei denn, sie waren Waisen, die in Fabriken schuften mussten, oder Töchter der höheren Gesellschaft unter der strengen Aufsicht einer Anstandsdame. Wir erklärten ihr, Paterson müsse genügen, und meldeten sie bei Mrs Hansens Akademie für Musik und Tanz an. Und dort fand sie auch gleich eine Freundin: Helen Stewart, eine rothaarige Schottin, so zart und hell wie Fleurette dunkel und dramatisch war. Beide hatten den Ehrgeiz, auf der Bühne zu stehen, einen Ehrgeiz, den ich auf die Räumlichkeiten von Mrs Hansens Schule zu begrenzen hoffte.

Es tat mir weh, dass Fleurette nie zuvor eine Freundin ihres Alters gehabt hatte, eine Folge des Hausunterrichts und unseres stillen Lebens auf dem Land. Norma und mir machte die Isolation nichts aus, doch wir waren auch dem Alter entwachsen, in dem Mädchen eine Freundin brauchen, mit der sie Geheimnisse haben können. Unsere Mutter hatte keine Freundinnen gehabt, aber auch nie welche gewollt. Sie hatte Fremde nicht gemocht und sich infolgedessen nur mit wenigen Menschen umgeben, die sie nicht schon von Geburt an kannte beziehungsweise selbst geboren hatte.

Genau deshalb waren wir aus Brooklyn nach New Jersey geflohen: um uns den wenigen Menschen zu entziehen, die uns kannten und sich womöglich fragten, wie unsere Familie plötzlich zu einem Baby gekommen war. Sah sich unsere Mutter gezwungen, den Nachbarn in Wyckoff gegenüber etwas über uns preiszugeben, so beließ sie es bei dem Eindruck, dass ihr Ehemann verstorben war. Dies genügte als Erklärung für all diejenigen, die sich fragen mochten, warum eine Frau in ihren Vierzigern allein auf einer Farm lebte, mit zwei fast erwachsenen Töchtern, einem erwachsenen Sohn (unserem Bruder Francis, der mittlerweile verheiratet und nach Hawthorne gezogen war) und einer Tochter im Säuglingsalter.

Fleurette wuchs in dem Glauben auf, ich sei ihre Schwester. Die einzigen anderen, die die Wahrheit kannten, waren Francis und Norma. Es war ein Geheimnis, das in früheren Zeiten eine schreckliche Macht über mich gehabt hatte, aber in den letzten paar Jahren hatten wir den Tod meiner Mutter überstanden, die Entführungsdrohungen, denen wir die Bekanntschaft mit Sheriff Heath verdankten, und erst kürzlich Fleurettes achtzehnten Geburtstag. Zum ersten Mal fanden wir wieder einen Weg in die Welt hinaus.

Selbst Norma hatte sich auf neue Pfade begeben. Sie gab eine Annonce in den Paterson Evening News auf, in der um Mitglieder für den »Verein für den Einsatz von Brieftauben zur Unterstützung in Bürgerbelangen« geworben wurde, eine Organisation ihrer eigenen Schöpfung, deren Name, bereits fix und fertig formuliert, ihrem eher biederen, bedächtigen Geist entsprungen war. Fleurette hatte ihr zu etwas Schwungvollerem geraten, etwas wie »Patersons Taubenschwärmer«, was aus dem Grund verworfen wurde, dass wir in Wyckoff und nicht in Paterson lebten. Dann schlug sie »Geflügelte Boten« vor, was laut Norma zu mystisch klang, und schließlich meinen Favoriten »Verband intelligenter Vögel«, wozu sich Norma jeden Kommentar ersparte.

»Der Name muss nur unsere Unternehmung beschreiben«, erklärte Norma, »und soll keinesfalls Züchter und Liebhaber des Brieftaubensports anlocken. Wir haben weit wichtigere Arbeit vor uns.«

Sie hatte fast zwei Dutzend Zuschriften auf ihre Annonce bekommen. Die Zeitung druckte ihren Namen falsch – Norman statt Norma Kopp –, was zur Folge hatte, dass ein paar Männer absprangen, als sie begriffen, dass hier eine Frau den Ton angeben würde. Denn es stand nie zur Diskussion, ob Norma die volle Verantwortung für die Vereinsangelegenheiten haben würde: Sie ernannte sich sowohl zur Präsidentin als auch zur Protokollantin und sah keinerlei Notwendigkeit für irgendwelche anderen Vorstands- oder überhaupt stimmberechtigte Mitglieder.

»Eigentlich ist es gar keine richtige Vereinigung, oder?«, sagte Fleurette, als sie den Rundbrief sah, den Norma ordentlich getippt und mit ihrem Namen neben jeder Leitungsfunktion versehen hatte. »Es ist eher so was wie ein Bataillon, mit dir als Oberst.«

Nun kamen jeden Samstag bei Morgengrauen vierzehn Personen zu unserem Haus, ihre Tauben in Körbe gepackt und zum Ausflug bereit. Es gab ein halbes Dutzend Frauen in der Gruppe. (Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass so viele Frauen in Bergen County Tauben in ihren Scheunen hielten.) Einige von ihnen brachten einen Bruder oder Vater mit. Die Übrigen waren Farmer, die ihre Tauben zusammen mit Hühnern, Enten, Gänsen, Perlhühnern, Puten und sonstigem Geflügel hielten, das sich wirtschaftlich züchten und gewinnbringend verkaufen ließ.

Niemand hatte Erfahrung darin, Tauben auf das zu trainieren, was in ihrer Natur liegt, nämlich direkt nach Hause zu fliegen, nachdem sie über weite Strecken transportiert worden sind. Obwohl alle Tauben über diese Fähigkeit verfügen, war Norma in letzter Zeit dem Glauben verfallen, ein methodisches Training gleich nach dem Schlüpfen würde dazu führen, dass diese Vögel schneller und höher flögen und sich somit auf den verschiedensten Feldern als noch nützlicher erweisen würden: für Ärzte etwa oder für die Polizei und alle anderen, die nach Wegen suchten, um Nachrichten an entlegene Orte ohne Telefonleitung zu transportieren.

Ich sah mit Erleichterung, dass sich Norma wie Fleurette für ihre persönlichen Interessen engagierten. Francis hatte sich die größten Sorgen gemacht, ob wir es schaffen könnten, auf eigenen Beinen zu stehen, schien sich aber damit abgefunden zu haben, dass wir ihn in nächster Zeit nicht in die Pflicht nehmen würden. Er kam immer noch hin und wieder vorbei, um uns eine von seiner Frau Bessie gebackene Pastete zu bringen – wofür wir endlos dankbar waren –, und überprüfte bei der Gelegenheit das Gesims oder sah sich mit einem Ausdruck in der Scheune um, als hätte er hier immer noch das Sagen. Manchmal erkundigte er sich auch nach unserem Weideland, das wir an Nachbarn verpachteten, statt eigenes Vieh zu halten. Seine Fragen störten uns nicht. Wir kamen allein zurecht, und mein Gehalt reichte für Normas Taubenfutter und Fleurettes Bänder und Knöpfe.

Wenn ich uns bloß dieses Einkommen erhalten konnte.

Fleurette bewunderte sich in dem kleinen ovalen Spiegel über dem Kaminsims. »Wenn sie mir die Rolle in dem Stück geben, erwarte ich von euch beiden, dass ihr jeden Abend kommt und mir zuschaut, solange es läuft. Wir haben zwei Monate Proben; Premiere ist Ende Oktober. Also plant schon mal entsprechend.«

Norma blickte mit ungespieltem Grauen in den Augen über den Rand ihrer Zeitung. »Ich schicke dann eine Vertretung.«

»Wenn du nicht erscheinst, lasse ich dich von Constance verhaften.«

Norma schnaubte verächtlich. »Constance hat nicht mal die Vollmacht, einen streunenden Hund zu verhaften.«

Fleurette wirbelte herum und sah zu mir herab, die Hände auf den Hüften. »Wenn du keine Leute verhaften darfst, was machst du dann eigentlich genau?«

3

»Ich hatte noch nie eine Dame als Wärter«, sagte Mary Lisco.

»Gab's das denn nicht in Newark?«, fragte Martha Hicks. Martha saß wegen Diebstahls von Strumpfwaren dem Kaufhaus ein, in dem sie gearbeitet hatte.

»Nein, und auch nicht in New Brunswick oder in Yonkers.«

»Menschenskind, du warst ja schon in ganz schön vielen Knästen«, sagte Martha.

»Die behalten mich nie lange. Und wenn doch, dann find ich eben einen Weg raus.«

Mary Lisco war aus dem städtischen Gefängnis von Newark geflohen und nach Hackensack gekommen, wo sie beim Griff in die Handtasche der Frau des Bürgermeisters erwischt wurde. Sie hatte glänzendes honigblondes Haar und die Figur einer Revuetänzerin. Ich konnte mir vorstellen, auf welche Weise sie so leicht aus dem Gefängnis gelangt war, und dabei spielte bestimmt keine Wärterin eine Rolle.

Mary hatte vielleicht nicht die korrekte Bezeichnung für meine Arbeit gewählt, aber sie kam der Sache doch nahe. Ich war Gefängnisaufseherin, eine vom Gesetz her absolut zulässige Arbeit für eine Frau und die einzige Tätigkeit außer der einer Stenografin, die Sheriff Heath mir anbieten konnte, nachdem er mich meiner Aufgaben als Deputy entbunden hatte. Ich war für die Frauenabteilung im vierten Stock des Gefängnisses verantwortlich, die gewöhnlich nur drei, vier Insassinnen beherbergte. Die Frauen benahmen sich im Allgemeinen besser als die Männer und machten mir kaum Schwierigkeiten. Ich überlegte mir, womit ich sie beschäftigen konnte, beaufsichtigte sie bei ihren Pflichten und las denen vor, die es nicht gelernt hatten. Es war einfache Arbeit, die jede halbwegs tüchtige Frau hätte verrichten können – ich allerdings nun schon länger, als mir lieb war.

Ich wollte es nicht zugeben, aber Norma hatte völlig recht gehabt. Der eine Monat hatte sich zu zweien ausgedehnt. Es war Ende Oktober, und ich hatte immer noch kein Abzeichen. Ich hatte die Befugnis zu entscheiden, ob ich diese beiden jungen Diebinnen ein bisschen frische Luft schnappen lassen wollte oder nicht, aber nicht die Befugnis, sie zu verhaften, und fühlte mich deswegen herabgewürdigt.

Ich stieß die Türen von Marys und Marthas Zellen auf. Mary war erst am Vorabend festgenommen worden und kam nun zum ersten Mal heraus. »Sie können tagsüber um den Zellenblock herumspazieren und sich die Beine vertreten«, erklärte ich ihr. »Durften Sie das auch in Newark?«

Mary zog eine Augenbraue hoch, gab mir aber keine Antwort. Sie und Martha traten im selben Moment aus ihren Zellen und betrachteten einander, nachdem sie bislang nur den Klang ihrer Stimmen kannten. Martha hatte dünne Lippen, eine schmale Nase, die offenbar einmal gebrochen worden war, und die langen, gelenkigen Finger einer Klavierspielerin. Ich sah, wie Mary sie ausgiebig musterte, um zu prüfen, ob sie ihr von Nutzen sein konnte.

Das Gefängnis war mit Flügelfenstern ausgestattet, die von jedem, der den Schlüssel dafür hatte, aufgeklappt werden konnten. Ich drehte den Griff halb herum, so weit es die Gitterstäbe zuließen, und schon drang der Lärm von der Straße nach oben: das Rattern der Kraftwagen, das Bimmeln der Straßenbahnglocken, die Stimme eines Mannes, der irgendetwas Unverständliches brüllte, offenbar an sein Pferd gerichtet.

Die jungen Frauen lehnten sich ans Fenster wie zwei Hausfrauen, die sich am Gartenzaun treffen. Eine frische Herbstbrise kam hereingesegelt, und Martha atmete lange und tief ein: »Oh, das gefällt mir.«

»Es ist der Geruch der Zivilisation«, bemerkte Mary.

Die Häftlinge mochten es sehr, ein bisschen Hackensacker Luft zu schnuppern, die Duftmischung aus dem feuchtem grünen Holz von der Möbeltischlerei um die Ecke, den Brotlaiben, welche die Bäckerei hinter der Main Street am laufenden Band für die Restaurants produzierte, den Kohlehaufen und den stotternden, hustenden Automobilen.

Diese Duftmischung war auch Teil meines eigenen Lebens geworden. Seit Sheriff Heath mich eingestellt hatte, war ich für die Frauenabteilung des Gefängnisses zuständig gewesen, und es gehörte zu meiner Routine, nach den Insassinnen zu sehen, wenn ich nicht gerade im Einsatz war. Das hatte mir nie etwas ausgemacht, und ich war überzeugt von der Notwendigkeit einer Gefängnisaufseherin, damit sich ordentlich um die Frauen gekümmert wurde. Aber mittlerweile tat ich nichts anderes mehr, und da wir so wenige Frauen in Gewahrsam hatten, schleppten sich die Tage ziemlich dahin.

Allmählich hegte ich den Verdacht, dass Sheriff Heath es lieber nicht auf eine juristische Auseinandersetzung ankommen lassen wollte, falls sein Entschluss, mich zum Deputy zu ernennen, in Frage gestellt würde. Er war tagtäglich Kritik ausgesetzt, ob vonseiten der Zeitungen oder des County-Rates, zusätzlichen Ärger konnte er wirklich nicht brauchen. Außerdem fürchtete er wohl auch den Zorn seiner Frau, wenn die Presse Wind von einer Geschichte bekäme, in der die neue Frau im Sheriff's Department von Bergen County etwa einen Mann festnahm oder in irgendeine unweibliche Auseinandersetzung mit einem Gesetzesbrecher geriet. Mrs Heath hielt nichts von den fortschrittlichen Ideen ihres Mannes und mochte es genauso wenig, dass sie den Spott von Reportern auf sich zogen. Es würde ihn – zu Hause und in der Öffentlichkeit – etwas kosten, mir ein Abzeichen zu geben und mich auf die Hackensacker Öffentlichkeit loszulassen.

Oder zweifelte er vielleicht daran, dass ich die notwendige Leistung bringen konnte? Er hatte so etwas nie geäußert, aber vielleicht wollte er einfach nicht zugeben, dass er einen Fehler begangen hatte. Immer wieder war ich die Fälle durchgegangen, an denen wir zusammen gearbeitet hatten, und hatte mich gefragt, wo ich etwas falsch gemacht haben mochte. Körperlich war ich der Aufgabe gewachsen – ich war von kräftigerer Statur als einige der anderen Deputies –, und er hatte selbst mitangesehen, wie ich einen Verdächtigen in den Griff bekam. Sicher wusste er auch, dass ich nicht zu Angst oder Hysterie neigte. Ich war zwar unerfahren, aber woher sollten meine Erfahrungen kommen, wenn ich sie nicht bei der Arbeit sammeln konnte?

Von solchen Sorgen ließ mein Gemüt sich anstecken, besonders wenn so viel freie Zeit zur Verfügung stand. Hätte ich mich für das Stricken erwärmt, dann hätte ich das Rote Kreuz mit Schals für den gesamten Winter versorgen können. Stattdessen sah ich zu, wie Martha und Mary die Ellbogen aufs Fenstersims stützten und die Stirn an die Scheibe drückten, zwei Verschwörerinnen, die mit leiser Stimme etwas ausheckten, und fragte mich, welche erbauliche Tätigkeit ich mir für sie einfallen lassen könnte.

Es gab nur noch zwei weitere Insassinnen in meinem Gewahrsam: Ida Higgins, die beschuldigt wurde, wegen eines Familienstreits, den wir noch nicht aufgeklärt hatten, das Haus ihres Bruders in Brand gesteckt zu haben, und eine Großmutter, angeklagt wegen Vernachlässigung, nachdem man ihre Enkelkinder völlig verlaust in einer verriegelten Scheune aufgefunden hatte. Die Großmutter litt an Altersschwachsinn und war womöglich auch verrückt. Sie murmelte oft vor sich hin, hatte uns anderen aber nichts zu sagen. Wenn wir sie nicht bald zum Reden brachten, würde sie ziemlich sicher in die Irrenanstalt von Morris Plains eingewiesen werden und ihre Enkelkinder auf Dauer ins Waisenhaus kommen.

Sie und Ida schnarchten noch leise in ihren Zellen. Ich war selbst gefährlich nahe daran, einzunicken, als mich Sheriff Heath vom oberen Treppenabsatz rief. Neuerdings kündigte er sich an, bevor er die Frauenabteilung betrat, was ich seltsam fand, weil auf dieser Etage ja bisher immer ein Mann den Dienst verrichtet hatte. Aber dort stand er, bescheiden, den Blick auf seine Schuhe gerichtet, weshalb ich Martha und Mary zunickte und ihm entgegenging.

Er trug Mantel und Hut in der Hand. »Kommen Sie und helfen Sie mir bei einer Dame in Garfield.«

Seinem Ton war anzumerken, dass er die Sache nicht in Hörweite der Insassinnen besprechen wollte. Ich brachte die beiden jungen Frauen in ihre Zellen zurück. »Ihr könnt euch schon ans Putzen machen«, sagte ich.

»Wir putzen hier jeden Tag«, protestierte Martha. »Ich hätte gern mal 'n bisschen Staub zur Gesellschaft.«

»Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?«, rief Mary hinter mir her. Das brachte Martha zum Lachen.

»Haben Sie in Newark Zigaretten bekommen?«, fragte ich.

»Nein. Darum musste ich dort ja weg.«

Ich ließ den beiden ihren Spaß und folgte Sheriff Heath die Treppe hinunter und nach draußen zur Garage. Sein Mechaniker hatte den Wagen schon herausgeholt und fahrbereit abgestellt.

»Wir fahren nur zur Malcolm Avenue.« Er machte mir die Tür auf und lief auf die Fahrerseite. »Eine Dame hat ihren Mieter erschossen.«

»Weshalb?«

»Irgendetwas mit der Miete.«

»Sind Sie sicher, dass ich mitkommen soll?« Seit der Festnahme von Harold Meeker vor zwei Monaten war ich nicht mehr mit ihm im Einsatz gewesen.

Er ließ sich hinter dem Steuerrad nieder und blinzelte mir unter seiner Hutkrempe zu. »Meinen Sie etwa, es macht mir Spaß, mir von Anwälten sagen zu lassen, wie ich mein Amt auszuüben habe?«

»Als Sheriff sind Sie ein Vertreter des Gesetzes. Man erwartet von Ihnen, dem Gesetz treu zu sein, nicht nur, es durchzusetzen.«

»Hier geht es um einen Mord. Es ist der erste dieses Jahr mit einer Frau als Schütze. Da könnte ein weiblicher Deputy womöglich ein Geständnis erwirken, das ein Mann nicht bekäme.«

Er fragte nicht nach meiner Meinung, aber er wartete und beobachtete mich.

»Womöglich.«

»Außerdem ist sie bereits festgenommen und damit in meinem Zuständigkeitsbereich. Sie sind für die Frauen verantwortlich, also sollten Sie mitkommen und sie abholen. So sehe ich die Sache.«

Das passte mir sehr gut, deswegen sagte ich kein Wort mehr. Ich empfand diesen besonderen Schauer, der mit einem grässlichen Verbrechen einhergeht: ein Todesopfer, eine Tatverdächtige beschuldigt und Reporter, die reißerische Schlagzeilen schreiben. Es fühlte sich an wie der Moment auf dem Rücken eines Pferdes, wenn es in Galopp fällt. Ich war wieder in Bewegung, endlich.

Als wir an der Ecke Malcolm Avenue und Clark Street anlangten, wurden wir schon von zwei Polizisten erwartet, die im Vorgarten eines heruntergekommenen Backsteinhauses standen. Ein Fenster im Obergeschoss war zerbrochen und mit Brettern vernagelt. Vom Dach spross Unkraut. Es sah wie die Art von Pension aus, in der Leute wegen der Miete über den Haufen geschossen wurden.

Auf der Eingangstreppe standen Männerschuhe wie verwaist in einer Blutlache. Ein paar Büschel Klee und Löwenzahn waren ebenfalls blutverschmiert. Die Polizisten hatten die Hände in die Hüften gestützt und starrten hinab auf die eklige Pfütze, als wollten sie Teeblätter lesen. Der eine, ein gewisser Stevens, war ein Mann von etwa sechzig Jahren, der bei Hackensacks Polizei zu arbeiten begonnen hatte, als die noch nichts weiter gewesen war als eine Freiwilligen-Schutztruppe, ausgerüstet mit Jagdbüchsen und Zugpferden. Den jüngeren Kollegen kannte ich noch nicht; ich hielt ihn für einen Neuling.

»Wo ist sie?«, fragte Sheriff Heath.

»Im Souterrain, redet mit dem Detective«, antwortete Stevens. »Das Opfer ist gerade ins Krankenhaus gebracht worden.«

»Das sind vermutlich seine Schuhe«, sagte der Sheriff. »Er ist also am Leben?«

Der Polizist zuckte mit den Achseln. »Noch. Sie hat ihn an der Schulter erwischt, und er hat ordentlich geblutet. Sieht für mich aus, als würde er's nicht mehr lange machen.«

Sheriff Heath seufzte und nickte mir zu. Ich zog ein Notizbuch aus meiner Handtasche. Wir mussten auf ein mögliches Geständnis vorbereitet sein, während die Frau sich unter unserer Aufsicht befand.

»Wie lautet der Name des Opfers?«, fragte ich.

»Saverio Salino«, sagte der jüngere Polizist. »Sind Sie die neue Stenografin?«

»Das ist Miss Kopp«, erklärte Sheriff Heath. »Sie ist die Gefängnisaufseherin.«

»Eine Lady, die im Gefängnis arbeitet? Also drinnen, meine ich?«

Officer Stevens schaltete sich ein. »Es gibt jetzt auch in Paterson eine Polizistin. Kümmert sich um Tanzhäuser und so was. Der Bürgermeister mag keine Schminke auf den Wangen der jungen Mädchen, deshalb geht sie mit einem Taschentuch rum und reibt denen das Zeug ab.«

»Wenn wir jetzt zum Eigentlichen kommen könnten«, sagte Sheriff Heath.

»Salino hat mit Mrs Monafo in der Munitionsfabrik gearbeitet«, berichtete Stevens. »Sie vermietet Zimmer an einige von den jungen Malochern dort.«

»Ist das die Täterin?«, fragte ich. »Munafo?«

»Monafo«, wiederholte der jüngere Officer und buchstabierte den Namen. »Providencia mit Vornamen.«

»Spanisch?«, fragte der Sheriff.

Officer Stevens zuckte mit den Achseln. »Eher italienisch.«

»Die mögen den Krieg da drüben nicht, aber kommen hierher und fabrizieren Kugeln und Bomben«, sagte Sheriff Heath. »Was wissen wir sonst noch?«

»Sie behauptet, Salino habe seine Schwester bei sich wohnen lassen, sich aber geweigert, zusätzliche Miete zu bezahlen«, berichtete Stevens. »Sie seien in Streit darüber geraten und er habe gedroht, sie zu verprügeln. Und da hat sie auf ihn geschossen. Dann bekam sie Angst, rannte aus dem Haus und sprang in eine Straßenbahn. Letzten Endes hat sie's sich wohl anders überlegt und ist zurückgekommen.«

»Sie ist zurückgekommen?«, fragte der Sheriff. »Warum das denn?«

»Vielleicht wusste sie nicht, wohin sie sonst gehen sollte, oder vielleicht wusste sie, dass wir sie sowieso drankriegen würden. Als sie zurückkam, hatte sich Salino schon die Treppe hochgeschleppt, und da lag er, praktisch auf dem Präsentierteller. Irgendjemand hat ihn gesehen und uns antelefoniert.«

»Wo ist die Schwester?«, fragte Sheriff Heath.

»Die hat niemand gesehen.«

»Woher wissen wir, dass sie wirklich seine Schwester ist?«, fragte ich.

»Wer?«, fragte der jüngere Polizist zurück.

Stevens schlug ihm gegen den Oberarm. »Na, wer wohl? Sie will wissen, ob die Schwester wirklich seine Schwester ist oder vielleicht eine Damenbekanntschaft.«

Der Jüngere rieb sich den Arm. »Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Du hast es nicht so mit dem Denken, was?«, bemerkte Stevens.

Sheriff Heath wurde langsam unruhig. »Wir sollten jetzt mal lieber nach der Festgenommenen sehen. Wer ist da unten bei ihr?«

»John Courter.« Stevens' Miene war teilnahmsvoll, als er das sagte.

Sheriff Heath griff sich an den Hut und drehte ihn ein Stück. »Wir werden schon klarkommen. Dann also los, Miss Kopp.«

Laut einer Redensart, die besonders im Gefängnis von Hackensack kursierte, konnte kein Sheriff den Frieden erhalten, ohne ihn gleichermaßen zu stören. Sheriff Heath, der ein liebenswürdiger, wohlerzogener Zeitgenosse war, hatte Feinde im Übermaß. Seit seiner Wahl hatte er den County-Rat für den teuren, aber mangelhaften Neubau des Gefängnisses kritisiert, dessen Leitung ihm oblag, hatte sich öffentlich mit dem Amtsarzt von Bergen County über die medizinische Versorgung der Insassen gestritten und Detective John Courter pressewirksam Versäumnisse bei der Arbeit vorgeworfen.

Dieser letzte Zwist war ihn am teuersten zu stehen gekommen. Ein Sheriff brauchte Freunde bei der Staatsanwaltschaft, wenn er seine Fälle vor Gericht gebracht und abgehandelt haben wollte. Detective Courter weigerte sich jedoch, bei jeglichen Untersuchungen mitzuwirken, die mit dem Büro des Sheriffs zu tun hatten, ja, er brachte es sogar fertig, Beweismittel zu verlieren und Gerichtstermine zu versäumen, wenn er Sheriff Heath damit in ein schlechtes Licht rücken konnte.

Und ich war der Grund für den Ärger zwischen den beiden. Als Mr Courter sich geweigert hatte, den Mann zu belangen, der meine Familie bedrohte, hatte ich meine Beschwerden gegen ihn in die Zeitungen gebracht. Seitdem führte er eine beständige und beharrliche Fehde gegen den Sheriff. Ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen und freute mich nicht gerade auf das bevorstehende Wiedersehen.

Der Sheriff tat einen großen Schritt über die Schuhe des Opfers und das Blut hinweg. Dann streckte er eine Hand zu mir aus, eine Geste, die ich grundsätzlich zurückwies, weil ich bestens ohne Hilfe klarkam, aber er packte mich am Ellbogen, bevor ich etwas sagen konnte, und zog mich über die Schwelle.

Nun standen wir nebeneinander im düsteren, holzgetäfelten Eingang zur Pension. Rechter Hand führte eine Treppe in den ersten Stock und linker Hand befand sich die Tür zum Hochparterre. Über uns baumelte eine alte Gaslampe mit angelaufener Messingfassung und einem Schirm aus gelbem Glas. An der Wand war eine Reihe Ablagefächer mit den Namen der Mieter beschriftet. Saverio Salvino belegte ein Zimmer im zweiten Stock. Mr und Mrs Monafo wohnten im Souterrain.

Ich folgte Sheriff Heath bis zum Ende des Hausflurs, wo eine schmale Tür zu einer Behelfstreppe führte. Wir hörten Detective Courter, aber unten schien kein Licht zu brennen. Der Sheriff drehte sich zu mir um.

»Können Sie da genug sehen?«

»Selbstverständlich.« Ich wünschte, er ginge nicht so rücksichtsvoll mit mir um.

Plötzlich blieb er stehen und neigte den Kopf in Richtung von John Courters Stimme. »Ich denke, es ist besser, wenn ich das Reden übernehme.«

»Natürlich.« Mir fiel kein einziges höfliches Wort ein, das ich zu dem Mann hätte sagen können.

Am Fuß der Treppe klopfte der Sheriff an den Türpfosten und trat, ohne auf eine Antwort zu warten, in die schäbigste Wohnung ein, die ich je gesehen hatte. Die Betonböden waren mit sich überlappenden Teppichen bedeckt, die aussahen, als wären sie vor langer Zeit ausrangiert, dann zwecks anderweitigem Nutzen aus dem Müll gezogen und danach erneut weggeworfen worden, bevor sie von den Monafos gerettet wurden. Mäuse hatten Löcher hineingenagt, bevor Präsident Cleveland 1885 sein Amt angetreten hatte, und waren irgendwann während Teddy Roosevelts anschließender Präsidentschaft zurückgekehrt. Die Wände waren mit etwas tapeziert, das vor Urzeiten ein Muster aus roten und weißen Rosen gewesen sein mochte, aber jetzt ein Mosaik aus Fettflecken und namenlosem Dreck darstellte, überzogen mit einem nikotinfarbenen Film.

Der Raum – tatsächlich nur ein einziger großer Raum mit einem Heizkessel an der hinteren Wand – war planlos vollgestopft mit Mobiliar, wie man es bei Leuten erlebt, die sich nicht ein einziges hübsches Etwas leisten können und stattdessen jedes kaputte und morsche Stück in greifbarer Nähe aufsammeln. Es gab Holzstühle mit drei Beinen, Kissen, denen die Füllung fehlte, Tische mit Brandlöchern in der Platte und ein durchhängendes eisernes Bettgestell, dessen Pfosten nahezu durchgerostet waren. In einer Ecke standen ein alter Kohleofen und ein metallener Trog, der wohl als Spülbecken diente. Da es heftig nach sauer gewordener Milch roch, dachte ich mir, dass die Monafos keine Möglichkeit hatten, ihre Lebensmittel zu kühlen. Eine Toilette war auch nicht vorhanden, was die gemeinsame Nutzung eines WCs im Erdgeschoss mit anderen Pensionsgästen nahelegte – oder ein Aborthäuschen im Garten.

Inmitten dieses Durcheinanders stand John Courter, Hände in den Hosentaschen, und schaute auf einen Haufen aus Tüchern und Lumpen hinunter, in denen Providencia Monafo steckte. Zwischen den beiden, auf einem Stück nackten Fußbodens, befand sich ein Fleck aus geronnenem Blut. Er zog bereits die Fliegen an.

»Das wäre dann also der Tatort«, sagte ich.

Der Detective hatte vielleicht erwartet, dass Sheriff Heath kommen und Providencia Monafo abführen würde, aber mit mir hatte er nicht gerechnet. Er trat einen Schritt zurück, als er mich erkannte.

»Können Sie Ihre Damenbekanntschaften nicht zu Hause lassen, Sheriff? Dies ist eine offizielle Angelegenheit.«

»Miss Kopp ist die Gefängnisaufseherin«, sagte Sheriff Heath in scharfem Ton. »Sie kommt mit, wenn wir eine weibliche Person zu transportieren haben. Soll Mrs Monafo von mir in Gewahrsam genommen werden?«

Detective Courter konnte sich noch nicht von dem Thema losreißen. »Es geht mich nichts an, wenn Sie eine junge Dame für Nähkränzchen im Gefängnis beschäftigen, aber hier handelt es sich um einen Mordfall. Ich habe einen Deputy angefordert.«

Im vergangenen Jahr hatte ich einen Mann gegen eine Wand geknallt, weil er mich wütend gemacht hatte. Ich hatte mich bemüht, dergleichen nicht wieder zu tun. Trotzdem gab es etwas an Detective Courter, das mir große Lust machte, ihm eine Maulschelle zu verpassen. Da aber der Sheriff gar nicht auf ihn achtete, bemühte ich mich, es ihm gleichzutun.

Ich hockte mich vor der Frau hin. »Mrs Monafo, gegen Sie besteht der Verdacht, auf Saverio Salino geschossen zu haben. Wir sind hier, um Sie ins Gefängnis von Hackensack zu bringen. Haben Sie etwas zu sagen, bevor wir uns auf den Weg machen?«