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Eigentlich wollte er nur zum Briefkasten. Dann geht Harold Fry 1000 Kilometer zu Fuss. Rachel Joyce' unvergesslicher Selbstfindungs-Roman über eine ungewöhnliche Pilgerreise hat die ganze Welt erobert. »Ich bin auf dem Weg. Du musst nur durchhalten. Ich werde Dich retten, Du wirst schon sehen. Ich werde laufen, und Du wirst leben.« Harold Fry will nur kurz einen Brief einwerfen an seine frühere Kollegin Queenie Hennessy, die im Sterben liegt. Doch dann läuft er am Briefkasten vorbei und auch am Postamt, aus der Stadt hinaus und immer weiter, 87 Tage, 1000 Kilometer. Zu Fuß von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnen muss. Für Queenie. Für seine Frau Maureen. Für seinen Sohn David. Für sich selbst. Und für uns alle. Der preisgekrönte Roman von Rachel Joyce über Geheimnisse und lebensverändernde Momente, Tapferkeit und Betrug, Liebe und Loyalität und ein ganz unscheinbares Paar Segelschuhe. Die Reihenfolge der Trilogie: Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry (Band 1) Das Geheimnis der Queenie Hennessy (Band 2) Die erstaunliche Entdeckungsreise der Maureen Fry (Band 3)
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Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2012
Rachel Joyce
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Roman
Aus dem Englischen von Maria Andreas
FISCHER E-Books
Für Paul, der mit mir geht, und für meinen Vater,
Martin Joyce (1936–2005)
Wer wahre Stärke sucht
wird sie hier finden:
Einer trotzt standhaft
dem Wetter, den Winden.
Sein Mut treibt ihn voran,
dass niemals wanken kann,
was einst als Schwur begann:
Pilger zu sein.
John Bunyan, ›Pilgerreise‹
Der Brief, der alles verändern sollte, kam an einem Dienstag. An einem ganz gewöhnlichen Vormittag Mitte April, der nach frisch gewaschener Wäsche und Grasschnitt roch. Harold saß glattrasiert und im sauberen Hemd mit Krawatte am Frühstückstisch vor einer Scheibe Toast, die er nicht aß. Er sah aus dem Küchenfenster auf den kurzgeschorenen Rasen hinaus, der an drei Seiten von den blickdichten Bretterzäunen der Nachbarn eingeschlossen war. Mittendrin steckte Maureens Teleskopwäschespinne.
»Harold!«, rief Maureen über den Staubsaugerlärm hinweg. »Post!«
Eigentlich wäre er gern hinausgegangen, aber das Einzige, was es draußen zu tun gab, war Rasenmähen, und das hatte er gestern schon erledigt. Der Staubsauger verstummte, und seine Frau erschien mit dem Brief und einem säuerlichen Gesicht. Sie setzte sich Harold gegenüber.
Maureen war eine zierliche Frau mit silbergrauem Bob und flinken Schritten. Als sie sich kennenlernten, war es Harolds größte Freude, sie zum Lachen zu bringen. Zuzusehen, wie sie ihre straffe Haltung verlor und ausgelassen zu zucken begann. »Für dich«, sagte sie. Er wusste nicht, was sie meinte, bis sie einen Umschlag über den Tisch schob und bei seinem Ellbogen liegen ließ. Beide betrachteten ihn, als hätten sie noch nie einen Brief gesehen. Er war rosa. »Abgestempelt in Berwick upon Tweed.«
Er kannte niemanden in Berwick. Er kannte nirgendwo viele Leute. »Vielleicht ist er falsch abgestempelt.«
»Ich glaube nicht. Bei so was wie Poststempeln passieren keine Fehler.« Sie nahm sich Toast aus dem Ständer. Sie mochte ihn kalt und knusprig.
Harold studierte den geheimnisvollen Umschlag. Sein Rosa war nicht wie das Rosa im Bad, das sich in den Handtüchern und dem plüschigen Toilettenbezug wiederholte. Das grelle Pink weckte in Harold immer das Gefühl, er gehöre nicht hierher. Das Umschlagrosa dagegen war zart, ein Rosa wie Erdbeermilch. Name und Adresse waren ein einziges Gekrakel, die ungelenken Buchstaben purzelten durcheinander wie von einem Kind hingekritzelt: Mr. H. Fry, Fossebridge Road 13, Kingsbridge, South Hams. Die Handschrift sagte ihm nichts.
»Und?«, fragte Maureen. Sie reichte ihm ein Messer. Er setzte es an einer Umschlagecke an und stieß es in den Falz. »Vorsichtig«, mahnte sie.
Unter ihrem bohrenden Blick zog er den Brief heraus und schob seine Lesebrille zurecht. Das Blatt war mit Schreibmaschine getippt, die Absenderadresse kannte er nicht: Bernardino-Hospiz. Lieber Harold, dieser Brief wird Sie vielleicht überraschen. Sein Blick sprang nach unten zur Unterschrift.
»Und?«, fragte Maureen wieder.
»Du liebe Güte. Er ist von Queenie Hennessy.«
Maureen spießte ein Stück Butter auf und verstrich es bis in alle Ecken ihres Toasts. »Queenie wer?«
»Sie hat in der Brauerei gearbeitet. Vor Jahren. Erinnerst du dich nicht?«
Maureen zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, wieso. Ich wüsste nicht, warum ich mich an jemanden erinnern sollte, den du vor Jahren mal gekannt hast. Reichst du mir die Erdbeermarmelade, bitte?«
»Sie war in der Buchhaltung. Sehr tüchtig.«
»Das ist die Orangenmarmelade, Harold. Erdbeermarmelade ist rot. Es hilft übrigens, wenn du die Dinge ansiehst, bevor du sie in die Hand nimmst.«
Harold reichte ihr das Gewünschte und wandte sich wieder seinem Brief zu. Perfekt in der Form natürlich, ganz das Gegenteil des Gekrakels auf dem Umschlag. Lächelnd erinnerte er sich, dass Queenie immer so gewesen war: Alles wurde gewissenhaft und tipptopp erledigt. »Sie erinnert sich an dich. Lässt dich grüßen.«
Maureen spitzte die Lippen. »Im Radio hab ich gehört, dass die Franzosen ganz wild auf unser Brot sind. Ihr eigenes lässt sich nicht richtig in Scheiben schneiden. Die kommen rüber und kaufen alles auf. Es hieß, das Brot könnte bis zum Sommer knapp werden.« Sie hielt inne. »Harold? Ist was?«
Er sagte nichts. Er richtete sich auf, ganz blass im Gesicht, öffnete halb den Mund. Als er die Stimme wiederfand, klang sie leise und wie aus weiter Ferne. »Sie hat – sie hat Krebs. Queenie schreibt, um sich zu verabschieden.« Er suchte nach weiteren Worten, fand aber keine. Da zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. »Ich … ähem. Oje.« Seine Augen drohten überzufließen.
Augenblicke verstrichen, vielleicht Minuten. Maureen schluckte schwer, laut hörbar in der Stille. »Das tut mir leid«, sagte sie.
Er nickte. Er hätte aufblicken sollen, konnte aber nicht.
»Es ist ein schöner Vormittag«, setzte sie wieder an. »Du könntest doch die Terrassenstühle rausholen?« Aber Harold blieb reglos, wortlos sitzen, bis sie die Teller abräumte. Kurz darauf heulte in der Diele der Staubsauger wieder auf.
Harold fühlte sich, als bekäme er keine Luft. Als würde, wenn er auch nur einen Finger, einen Muskel rührte, ein Sturm von Gefühlen losbrechen, die er unbedingt unter Verschluss halten wollte. Warum hatte er zwanzig Jahre verstreichen lassen, ohne nach Queenie Hennessy zu forschen? Vor ihm stieg das Bild der kleinen, dunkelhaarigen Frau auf, mit der er vor langer Zeit zusammengearbeitet hatte; unvorstellbar, dass sie nun – wie alt? – sechzig sein sollte. Und in Berwick an Krebs starb. Warum ausgerechnet Berwick, dachte er; so weit nach Norden war er nie gereist. Er blickte wieder in den Garten hinaus und sah einen Plastikstreifen, der sich in der Lorbeerhecke verfangen hatte, hartnäckig herumflatterte und sich doch nicht löste. Er steckte Queenies Brief in die Tasche, klopfte zur Sicherheit zweimal darauf und stand auf.
Oben schloss Maureen leise die Tür von Davids Zimmer, stand kurz da und atmete Davids Gegenwart ein. Sie zog die blauen Vorhänge auf, die sie jeden Abend schloss, und vergewisserte sich, dass kein Staub am Gardinensaum hing, wo er ans Fensterbrett stieß. Sie polierte den Silberrahmen des Fotos, das ihn als Student in Cambridge zeigte, und das kleine schwarzweiße Babyfoto daneben. Sie hielt den Raum sauber, denn sie wartete darauf, dass David zurückkehrte – wann er kommen würde, wusste sie nicht. Eigentlich war sie ständig am Warten. Männer hatten keine Ahnung, was es bedeutet, Mutter zu sein. Schmerzlich ein Kind zu lieben, auch wenn es sich längst entfernt hat. Sie dachte an Harold unten mit seinem rosaroten Brief und wünschte, sie könnte mit ihrem Sohn darüber reden. Maureen verließ das Zimmer genauso leise, wie sie es betreten hatte, und ging die Betten abziehen.
Harold Fry nahm mehrere Blatt Briefpapier und einen von Maureens Tintenrollern aus der Schublade. Was sagt man zu einer an Krebs sterbenden Frau? Sie sollte wissen, wie leid es ihm tat, aber mein Beileid konnte er schlecht schreiben, das stand auf den Karten, die man fertig kaufen konnte, sozusagen für hinterher, und klang auch formelhaft, als nähme er keinen großen Anteil. Er machte einen Versuch: Liebe Miss Hennessy, ich hoffe aufrichtig, Ihr Zustand wird sich bessern, aber als er den Stift hinlegte und den Satz noch einmal überdachte, kam er ihm ebenso steif wie unglaubwürdig vor. Er knüllte das Blatt zusammen und versuchte es noch einmal. Er hatte sich noch nie gut ausdrücken können. Was er empfand, war so übermächtig, dass er es schwer in Worte fassen konnte, und selbst wenn es ihm gelänge, schickte es sich nicht, so an jemanden zu schreiben, mit dem er zwanzig Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte. Wäre die Lage andersherum, wüsste Queenie genau, was zu tun wäre.
»Harold?« Maureens Stimme überraschte ihn. Er dachte, sie sei oben und poliere etwas oder spreche mit David. Sie hatte ihre gelben Gummihandschuhe an.
»Ich schreibe Queenie einen kurzen Brief.«
»Einen Brief?« Sie wiederholte oft, was er sagte.
»Ja. Möchtest du unterschreiben?«
»Ich denke, nein. Es wäre kaum passend, einen Brief an jemanden zu unterschreiben, den ich nicht kenne.«
Er konnte jetzt nicht länger um formvollendeten Ausdruck ringen, sondern musste einfach niederschreiben, was von selbst kam: Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir sehr leid. Alles Gute – Harold (Fry).
Das war zwar schwach, aber immerhin. Er steckte den Brief in einen Umschlag, klebte ihn rasch zu und schrieb die Hospizadresse darauf. »Ich geh mal schnell zum Briefkasten.«
Es war kurz nach elf. Er nahm seine regendichte Jacke von dem Haken, den Maureen dafür vorgesehen hatte. An der Tür wehte ihm ein Schwall Wärme und Salzgeruch in die Nase, aber bevor er den Fuß über die Schwelle setzen konnte, stand seine Frau schon neben ihm.
»Bist du länger weg?«
»Ich geh nur die Straße runter.«
Sie sah mit ihren moosgrünen Augen zu ihm hoch, hob ihm ihr zierliches Kinn entgegen. Er wünschte, ihm würde etwas einfallen, was er zu ihr sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein, was der Rede wert gewesen wäre. Er sehnte sich danach, wie in alten Zeiten den Arm um sie zu legen, den Kopf auf ihre Schulter sinken und dort liegen zu lassen. »Tschüss dann, Maureen.« Er schloss zwischen sich und ihr die Tür, behutsam und leise.
Die Fossebridge Road zog sich an einem Hang oberhalb von Kingsbridge entlang, und so genossen die Anwohner, was Immobilienmakler gern eine unverbaubare Panoramalage nennen, mit einer weiten Aussicht über die Stadt und die Landschaft. Allerdings neigten sich die Vorgärten gewagt steil zum Gehweg hinunter, die Pflanzen klammerten sich an Bambusstäbe, als fürchteten sie um ihr Leben. Harold ging den abschüssigen, betonierten Gartenweg etwas schneller hinunter, als ihm lieb war; dabei stachen ihm fünf neue Löwenzahnpflanzen ins Auge. Vielleicht würde er heute Nachmittag den Unkrautvernichter herausholen. Dann hätte er etwas zu tun.
Harold blieb nicht unentdeckt: Der Nachbar nebenan winkte ihm und steuerte auf den gemeinsamen Zaun zu. Rex war nicht sehr groß, hatte kleine Füße, einen kleinen Kopf und dazwischen einen sehr rundlichen Körper, so dass Harold manchmal befürchtete, falls er stürzte, gäbe es kein Halten mehr: Wie ein Fass würde er den Hügel hinunterkullern. Rex hatte vor sechs Monaten seine Frau verloren, etwa zur gleichen Zeit, als Harold in Pension ging. Seit Elizabeths Tod redete er gern darüber, wie schwer das Leben war. Er redete gern sehr ausführlich darüber. »Zuhören ist das Mindeste, was man tun kann«, sagte Maureen. Harold war nicht sicher, ob das eine allgemeine Bemerkung war oder speziell auf ihn gemünzt.
»Na? Machst du dich zu einem Spaziergang auf?«, fragte Rex.
Harold versuchte es mit einem scherzhaft-munteren Ton, hoffentlich Andeutung genug, dass er sich jetzt nicht aufhalten lassen wollte. »Hast du Post zum Einwerfen, alter Junge?«
»Niemand schreibt mir. Seit Elizabeth nicht mehr ist, krieg ich nur noch Werbung.«
Rex starrte in unbestimmte Fernen, und Harold erkannte sofort die Richtung, die das Gespräch nehmen wollte. Er warf einen Blick nach oben: Wattewölkchen segelten an einem Seidenpapierhimmel. »Richtig schöner Tag.«
»Richtig schön«, bestätigte Rex. Er seufzte in die entstehende Pause hinein. »Elizabeth mochte die Sonne so gern.« Wieder Pause.
»Guter Tag zum Mähen, Rex.«
»Sehr guter Tag dafür, Harold. Kompostierst du deinen Grasschnitt? Oder nimmst du ihn zum Mulchen?«
»Ich finde, das Mulchen mit Grasschnitt macht eine ziemliche Sauerei, ständig klebt was an den Füßen. Maureen mag es nicht, wenn ich das Zeug ins Haus schleppe.« Harold blickte flüchtig zu seinen Segelschuhen hinunter und fragte sich, warum so viele Leute Segelschuhe tragen, wenn sie mit Segeln nichts im Sinn haben. »Ich muss jetzt los, damit ich die Mittagsleerung noch erwische.« Er wedelte mit seinem Brief und ging weiter, zum Gehweg hinunter.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Harold enttäuscht, dass der Briefkasten so schnell erreicht war. Am liebsten hätte er die Straße überquert und sich daran vorbeigemogelt, aber der Kasten stand nun einmal da, am Ende der Fossebridge Road, und wartete auf ihn. Harold hob den Brief an Queenie zum Schlitz und stockte. Er blickte auf die kurze Strecke zurück, die er gelaufen war.
Die freistehenden Häuser waren mit Stuck verziert und in unterschiedlichen Gelb-, Lachs- und Blautönen gestrichen. Manche hatten noch ihre spitzen Dächer aus den Fünfzigerjahren und wie Strahlen im Halbkreis angeordnete Zierbalken; bei anderen war das Dachgeschoss ausgebaut und mit Schieferplatten verkleidet. Ein Haus war ganz im Stil eines Schweizer Chalets umgebaut worden. Harold und Maureen waren vor fünfundvierzig Jahren hergezogen, gleich nachdem sie geheiratet hatten. Die Finanzierung hatte Harolds ganze Ersparnisse aufgezehrt; es gab kein Geld mehr für Vorhänge oder Möbel. Sie hielten Distanz zu den Nachbarn, und mit der Zeit zogen die alten Nachbarn weg und neue kamen, nur Harold und Maureen blieben. Sie hatten einmal Gemüsebeete gehabt und einen Zierteich. Maureen hatte jeden Sommer Chutneys gekocht, und David hatte Goldfische gehalten. Hinter dem Haus hatte ein Gartenschuppen gestanden, in dem es nach Dünger roch; an hohen Haken hingen Werkzeuge, aufgerollte Schnur und Seile. Aber das war alles längst verschwunden. Sogar die Schule ihres Sohnes, die einmal einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt gestanden hatte, war abgerissen und durch fünfzig erschwingliche Häuschen in hellen Primärfarben ersetzt worden, mit einer Straßenbeleuchtung im Stil alter Gaslaternen.
Harold dachte an die paar Worte, die er Queenie geschrieben hatte, und schämte sich für ihre Dürftigkeit. Er stellte sich vor, wie er nach Hause zurückkehrte, wie Maureen David anrief, wie das Leben genauso weiterging wie bisher, außer dass Queenie in Berwick im Sterben lag. Das setzte ihm schwer zu. Er ließ den Brief auf dem Rand des dunklen Briefkastenschlunds ruhen. Er schaffte es nicht, ihn hineinzuschubsen.
»Eigentlich ist es ein schöner Tag«, sagte er laut, obwohl niemand da war. Er hatte ja sonst nichts zu tun, da konnte er genauso gut zum nächsten Briefkasten laufen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, bog er um die Ecke.
Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht. Das war ihm durchaus bewusst. Seit seiner Pensionierung vergingen die Tage in immer gleicher Einförmigkeit, außer dass sein Bauch dicker und sein Haar dünner wurde. Nachts schlief er schlecht oder manchmal überhaupt nicht. Schneller als gedacht gelangte er zum nächsten Briefkasten, und wieder hielt er inne. Er hatte etwas begonnen, was er selbst nicht durchschaute, war aber nicht bereit, mittendrin aufzuhören. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, sein Blut pochte ahnungsvoll. Wenn er seinen Brief zur Post in der Fore Street brächte, dann käme er garantiert morgen an.
Als er durch die Straßen des Neubaugebiets abwärts schlenderte, schien ihm die Sonne drückend auf den Hinterkopf und die Schultern. Verstohlen sah er in die Fenster; meist waren sie leer, manchmal erwiderte jemand seinen Blick, und Harold fühlte sich genötigt, hastig weiterzugehen. Aber manchmal entdeckte er unverhofft einen Gegenstand, eine Porzellanfigur, eine Vase, einmal sogar eine Tuba. Ausdruck der Persönlichkeit ihrer Besitzer und dazu geeignet, sich gegen die Außenwelt abzugrenzen. Harold stellte sich vor, was ein Passant aus den Fenstern der Fossebridge Road 13 über ihn und Maureen ablesen konnte – nicht sehr viel, der Gardinen wegen. Er schlug die Richtung zum Hafen ein, in seinen Oberschenkeln zuckten schon die Muskeln.
Es war Ebbe, und die Jollen, die alle einen Anstrich brauchten, lagen schief in einer Mondlandschaft aus schwarzem Schlamm. Harold hinkte zu einer freien Bank und faltete den Brief auseinander, den Queenie ihm geschrieben hatte.
Sie erinnerte sich. Nach all den Jahren. Und er hatte ganz normal weitergelebt, als ginge ihn, was sie getan hatte, überhaupt nichts an. Er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Er war ihr nicht gefolgt. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Neue Tränen traten ihm in die Augen, und der Himmel und der Gehweg verschwammen in eins. Dann schoben sich die wässrigen Umrisse einer Mutter mit einem Kind davor. Beide hielten Eiswaffeln in den Händen, die sie wie Fackeln vor sich hertrugen. Die Frau hob den Jungen hoch und setzte ihn auf das andere Ende der Bank.
»Schöner Tag«, sagte Harold. Er wollte nicht wie ein alter Mann erscheinen, der vor sich hin weinte. Die Frau blickte weder auf, noch stimmte sie ihm zu. Sie beugte sich über die Faust ihres Kindes und leckte seine Eiskugel glatt, damit sie nicht tropfte. Der Junge sah zu und hielt ganz still, das Gesichtchen so dicht an dem seiner Mutter, dass es fast damit verschmolz.
Harold fragte sich, ob er je mit David am Kai gesessen und Eis gegessen hatte. Hatte er bestimmt, auch wenn die Erinnerung verschüttet blieb. Er musste weiter. Er musste seinen Brief aufgeben.
Vor dem Old Creek Inn lachten Büroangestellte bei ihrem Mittagsbier, aber Harold bemerkte sie kaum. Als er die steile Fore Street hinaufzusteigen begann, dachte er an die Mutter, die so mit ihrem Sohn beschäftigt war, dass sie niemand anderen sah. Ihm fiel auf, dass immer nur Maureen mit David redete, ihm berichtete, was es Neues gab. Maureen hatte alle Briefe und Postkarten an David für Harold mit unterschrieben (Dad). Sogar das Pflegeheim für seinen Vater hatte Maureen gefunden. Harold drückte auf den Knopf der Fußgängerampel. Wenn Maureen seine Stelle einnahm, stellte sich doch die Frage: »Wer bin dann eigentlich ich?«
Er ging an der Post vorbei, ohne haltzumachen.
Harold Fry war nun fast am oberen Ende der Fore Street angelangt. Er war an dem wegen Geschäftsaufgabe geschlossenen Woolworth vorbeigegangen, am bösen Metzger (»Der schlägt seine Frau«, sagte Maureen), am guten Metzger (»Seine Frau hat ihn verlassen«), am Uhrturm, an den Shambles-Arkaden und am Sitz der South Hams Gazette, und erreichte nun den letzten Laden.
Bei jedem Schritt spürte er ein Ziehen in den Wadenmuskeln. Die tiefeingeschnittene Meeresbucht hinter ihm glänzte in der Sonne wie eine Blechplatte; die Segelboote waren nur noch winzige weiße Flecke. Harold blieb beim Reisebüro stehen, und weil er sich ausruhen wollte, ohne dass es jemand bemerkte, tat er, als läse er die Schnäppchen-Angebote. Bali, Neapel, Istanbul, Dubai. Seine Mutter hatte früher so verträumt erzählt, sie würde am liebsten in Länder mit tropischen Bäumen und Frauen mit Blumen im Haar entfliehen, dass er als Junge dieser unbekannten Welt instinktiv misstraute. Das änderte sich auch nicht, als er Maureen heiratete und David geboren wurde. Sie verbrachten jedes Jahr zwei Wochen in derselben Ferienanlage in Eastbourne. Harold holte ein paarmal tief Luft, bis sich sein Atem beruhigte, und ging weiter in Richtung Norden.
Die Läden wichen Wohnhäusern, manche aus dem unverputzten rosagrauen Stein, der hier in Devon vorkam, andere farbig gestrichen, wieder andere mit Schieferplatten verkleidet; dann folgten die Stichstraßen zu Neubausiedlungen. Magnolien begannen zu blühen, üppige weiße Sterne auf Ästen, die so kahl waren, dass sie aussahen wie nackt. Es war schon ein Uhr; Harold hatte die Mittagsleerung verpasst. Er würde sich eine Kleinigkeit zu essen kaufen, die ihm über den Hunger hinweghalf, und dann den nächsten Briefkasten suchen. Harold wartete eine Lücke im Verkehr ab und überquerte die Straße zu einer Tankstelle, an der die Häuser aufhörten und die Felder anfingen.
Ein junges Mädchen gähnte an der Kasse. Über T-Shirt und Hose trug sie eine Weste mit einem Button, auf dem zu lesen war: Was kann ich für Sie tun? Zwischen ihren fettigen Haarsträhnen standen ihre Ohren hervor, ihre akne- narbige Haut war blass, als wäre sie lange nicht an die frische Luft gekommen. Sie wusste nicht, wovon Harold redete, als er nach einem »kleinen Imbiss« fragte. Sie machte den Mund auf und schloss ihn nicht wieder, als klemmte er, dass Harold fürchtete, Stunden später würde sie immer noch so dastehen. »Einen Snack?«, verdeutlichte er. »Eine kleine Stärkung?«
Schließlich flatterten ihre Augenlider. »Ach, Sie meinen einen Burger«, sagte sie, trottete zur Kühlung und zeigte ihm, wie er sich in der Mikrowelle einen BBQ-Riesen-Cheesie mit Pommes warmmachen konnte.
»Du meine Güte!«, sagte Harold, als sie zusahen, wie sich der Burger in seiner Schachtel hinter der Glasscheibe drehte. »Ich hatte keine Ahnung, dass man an der Tankstelle eine richtige Mahlzeit bekommt.«
Das Mädchen nahm den Burger aus der Mikrowelle und stellte Harold eine Schale mit Ketchup- und Grillsauce-Tütchen hin. »Haben Sie auch getankt?«, fragte sie und wischte sich langsam die Hände ab. Sie waren klein wie Kinderhände.
»Nein, nein, ich bin nur so vorbeigekommen. Zu Fuß übrigens.«
»Ach ja?«, sagte sie.
»Ich möchte einen Brief an eine Frau einwerfen, die ich mal gut kannte. Leider hat sie Krebs.« Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er, bevor er das bewusste Wort aussprach, eine Pause machte und die Stimme dämpfte. Er ertappte sich auch dabei, dass er mit den Fingern eine kleine Nuss formte.
Das Mädchen nickte. »Meine Tante hatte auch Krebs«, sagte sie. »Der ist wirklich überall.« Sie ließ den Blick die Regale hinauf- und hinunterwandern, als verberge sich der Krebs womöglich sogar hinter den Straßenkarten und der Autopolitur. »Aber man muss trotzdem positiv denken.«
Harold hörte auf zu kauen und tupfte den Mund mit einer Papierserviette ab. »Positiv?«
»Man muss glauben. Meine ich jedenfalls. Es geht gar nicht um Medizin und das ganze Zeug. Man muss daran glauben, dass ein Mensch wieder gesund werden kann. Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen. Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen.«
Harold sah die junge Frau ehrfürchtig an. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber auf einmal schien sie von Licht übergossen, als wäre die Sonne gewandert; ihre Haare und ihre Haut hatten etwas Schimmerndes, Transparentes. Vielleicht starrte er sie zu aufdringlich an, denn sie zuckte mit den Schultern und sog an ihrer Unterlippe. »Rede ich Mist?«
»Aber nein! Gar nicht! Das ist sehr interessant. Ich fürchte, ich habe zur Religion nie den rechten Draht gefunden.«
»Ich meine das auch nicht, äh, religiös. Ich meine, wir müssen dem Unbekannten vertrauen, müssen sogar darauf setzen. Daran glauben, dass wir etwas bewegen können.« Sie zwirbelte eine Haarsträhne um den Finger.
Harold war noch nie einer so schlichten Sicherheit begegnet, schon gar nicht bei einem so jungen Menschen. Wie sie es sagte, klang es völlig einleuchtend. »Und sie ist ge- sund geworden, ja? Ihre Tante? Weil Sie daran geglaubt haben?«
Der Finger war so fest mit der Strähne umwickelt, dass Harold befürchtete, er würde sich nie wieder daraus lösen lassen. »Sie hat gesagt, es lässt sie hoffen, nachdem alles andere weggebrochen ist …«
»Arbeitet hier jemand?«, rief ein Mann im Nadelstreifenanzug von der Theke. Er klopfte mit den Autoschlüsseln auf der harten Platte herum, machte die Zeit, die er hier verschwendete, als Getrommel hörbar.
Das Mädchen schlängelte sich durch die Regale zur Kasse zurück, wo der Nadelgestreifte demonstrativ auf seine Armbanduhr schaute. Er hielt das Handgelenk hoch und deutete auf das Zifferblatt. »Ich muss in dreißig Minuten in Exeter sein.«
»Benzin?«, fragte das Mädchen und nahm wieder ihren üblichen Platz vor Zigaretten und Lotterielosen ein. Harold versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen, aber sie reagierte nicht. Sie war in die träge, geistlose Person von vorhin zurückgeschlüpft, als hätte das Gespräch über ihre Tante nie stattgefunden.
Harold ließ das Geld für den Burger auf der Theke liegen und ging zur Tür. Glaube? Hatte sie nicht dieses Wort benutzt? Es begegnete ihm nicht oft und berührte ihn seltsam. Auch wenn er nicht sicher war, was sie mit Glauben meinte oder woran er selbst noch glaubte, hallte das Wort verblüffend hartnäckig in ihm nach. Mit fünfundsechzig hatte er sich auf Schwierigkeiten eingerichtet. Die Gelenke wurden steif, ein dumpfer Dauerton summte in seinen Ohren, seine Augen tränten beim leisesten Windzug, ein spitzer Brustschmerz kündigte Unheilvolles an. Aber was stieg da für ein Gefühl in ihm hoch, dass sein Körper brummte vor Energie? Er lief in Richtung A381 los und nahm sich wieder fest vor, beim nächsten Briefkasten stehen zu bleiben.
So verließ er Kingsbridge. Die Straße wurde erst einspurig, dann verschwanden auch die Gehwege. Die Bäume über ihm schlossen ihre Äste zu einem Tunneldach zusammen, in dem sich Blütenwolken und spitze Blattknospen nur so verhedderten. Mehr als einmal musste er sich in einen Weißdornstrauch drücken, um dem Verkehr auszuweichen. Viele Fahrer saßen allein im Auto, vermutlich Büroangestellte, weil ihre Gesichter so starr wirkten, als wäre alle Freude herausgepresst. Es gab einige Frauen, die Kinder herumkutschierten, und auch sie sahen müde aus. Sogar die älteren Paare wie er selbst und Maureen hatten etwas Steifes. Harold spürte den Drang zu winken, verzichtete aber lieber darauf. Er atmete schwer, weil ihn das Gehen anstrengte, und wollte niemanden beunruhigen.
Das Meer lag hinter ihm; vor ihm dehnte sich eine bewegte Hügellandschaft aus, an ihrem Ende die blauen Umrisse des Granitmassivs von Dartmoor. Und dahinter? Die Blackdown Hills, die Mendips, die Malverns, die Pennines, die Yorkshire Dales, die Cheviot Hills und Berwick upon Tweed.
Aber gleich hier, auf der anderen Straßenseite, standen ein Briefkasten und ein Stück weiter eine Telefonzelle. Harolds Weg war zu Ende.
Sein Gang wurde schleppend. Er war an so vielen Briefkästen vorbeigelaufen, dass er gar nicht mehr mitgezählt hatte, außerdem hatten ihn zwei Postautos und ein Motorradkurier überholt. Wieder dachte er an alles, was er hatte davonziehen lassen. Lächelnde Gesichter. Angebote, zusammen ein Bier trinken zu gehen. Menschen auf dem Parkplatz der Brauerei, an denen er immer wieder vorbeigegangen war, ohne den Kopf zu heben. Nachbarn, deren Nachsendeadressen er nie aufgehoben hatte. Schlimmer noch: seinen Sohn, der nicht mit ihm redete, und seine Frau, die er im Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich an seinen Vater im Pflegeheim und an den Koffer seiner Mutter neben der Tür. Und jetzt hatte sich diese Frau gemeldet, die ihm vor zwanzig Jahren ihre Freundschaft bewiesen hatte. War das der Lauf der Dinge? Dass er immer, wenn er etwas tun wollte, genau einen Augenblick zu spät kam? Alle Bruchstücke eines Lebens letztlich loslassen musste, als ergäben sie keinen Sinn? Das Bewusstsein seiner Hilflosigkeit drückte Harold so nieder, dass ihm ganz schwach wurde. Ein Brief genügte nicht. Es musste doch eine Möglichkeit geben, etwas zu bewirken. Er tastete in der Jackentasche nach seinem Handy, um festzustellen, dass er es zu Hause hatte liegen lassen. In seinem tiefen Kummer wankte er auf die Straße hinaus.
Ein Lieferwagen bremste quietschend und streifte ihn fast im Vorbeifahren. »Pass doch auf, du Idiot!«, schrie der Fahrer.
Harold hörte es kaum. Auch den Briefkasten nahm er kaum wahr. Noch bevor sich die Tür der Telefonzelle hinter ihm schloss, hielt er den Brief, den Queenie ihm geschrieben hatte, in der Hand.
Er fand die Absenderadresse und Telefonnummer, aber seine Finger zitterten so sehr, dass er die Tasten kaum drücken konnte. In der reglosen, drückenden Luft wartete er auf den Klingelton. Er spürte, wie ihm zwischen den Schulterblättern der Schweiß herunterrann.
Nach zehnmal Klingeln klickte es endlich, und eine Stimme meldete sich in breitem schottischen Dialekt: »Bernardino-Hospiz. Guten Tag.«
»Ich würde gern mit einer Patientin sprechen, bitte. Ihr Name ist Queenie Hennessy.«
Aus dem Hörer kam Schweigen.
Er fügte hinzu: »Es ist sehr dringend. Ich muss wissen, wie es ihr geht.«
Es hörte sich an, als atmete die Frau mit einem langen Seufzer aus. Eine Gänsehaut lief Harold über den Rücken. Queenie war tot; er kam zu spät. Wieder einmal. Er presste die Fingerknöchel auf den Mund.
Die Stimme sagte: »Ich fürchte, Miss Hennessy schläft gerade. Kann ich etwas ausrichten?«
Kleine Wolken jagten ihre Schatten über das Land. Das Licht über den fernen Hügeln war rauchgrau, nicht, weil es schon dämmerte, sondern weil so riesige Landmassen davorlagen. Er hatte das Bild vor Augen, wie Queenie am einen Ende Englands schlummerte und er selbst am anderen Ende in der Telefonzelle stand, dazwischen zahllose unbekannte Dinge, die er sich nur vorstellen konnte: Straßen, Felder, Flüsse, Wälder, Moor und Heide, Berge und Täler, und Menschen über Menschen. Ihnen allen würde er begegnen und weiterziehen. Es brauchte kein Überlegen, kein Abwägen. Die Entscheidung kam zugleich mit der Idee. Er lachte, wie einfach es war.
»Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg. Sie braucht nur durchzuhalten. Denn ich werde sie retten, wissen Sie. Ich werde laufen, und sie muss weiterleben. Werden Sie ihr das sagen?«
Die Stimme versicherte es ihm. Ob es sonst noch etwas gebe? Kannte er zum Beispiel die Besuchszeiten? Die Parkbeschränkungen?
Er wiederholte: »Ich komme nicht mit dem Auto. Ich will, dass sie lebt.«
»Entschuldigung. Haben Sie etwas von Ihrem Auto gesagt?«
»Ich bin zu Fuß unterwegs, von Südengland aus. Von Devon den ganzen Weg bis nach Berwick upon Tweed.«
Die Stimme seufzte verärgert. »Die Verbindung ist furchtbar. Was machen Sie?«
»Ich komme zu Fuß«, rief er.
»Ach so«, sagte die Stimme langsam, als hätte die Frau zu einem Stift gegriffen und würde seine Nachricht mitnotieren. »Sie kommen zu Fuß. Das werde ich ihr sagen. Soll ich ihr sonst noch etwas ausrichten?«
»Ich breche jetzt auf. Solange ich gehe, muss sie leben. Bitte sagen Sie ihr, dass ich sie dieses Mal nicht im Stich lassen werde.«
Als Harold auflegte und aus der Telefonzelle trat, klopfte sein Herz so schnell, dass er das Gefühl hatte, es wäre für seine Brust zu groß und würde sie sprengen. Mit zitternden Fingern zog er die Umschlagklappe seines eigenen Briefs vorsichtig wieder auf und nahm seine Antwort heraus. Er drückte das Blatt gegen die Glasscheibe und kritzelte ein PS dazu: Warten Sie auf mich. H. Dann warf er den Brief ein und spürte es kaum, dass er ihn nun nicht mehr hatte.
Harold starrte auf das Band der Straße, das vor ihm lag, auf die finstere Mauer des Dartmoor-Massivs und auf die Segelschuhe an seinen Füßen. Er fragte sich, worauf er sich um Himmels willen gerade eingelassen hatte.
Über ihm flog mit knatternden Schwingen eine Möwe und lachte.
Das Nützliche an einem Sonnentag war, dass man den Staub gut sah und die Wäsche fast schneller trocknete als im Trockner. Maureen hatte sämtliche lebenden Organismen auf den Arbeitsflächen bespritzt, mit Bleichmittel vergiftet, weggeschrubbt, vernichtet. Sie hatte die Decken gelüftet, die Bettwäsche gewaschen und gemangelt und die Betten für sich und Harold frisch bezogen. Dabei empfand sie es fraglos als Entlastung, dass er aus dem Weg war; in den sechs Monaten seit seiner Pensionierung war er kaum einen Schritt aus dem Haus gegangen. Aber jetzt, als nichts mehr zu tun blieb, machte sie sich plötzlich Sorgen um ihn und wurde ungeduldig. Sie rief ihn auf dem Handy an, worauf oben im Haus eine Marimbamelodie losdudelte. Maureen hörte seine stockende Nachricht: »Sie haben das Mobiltelefon von Harold Fry erreicht. Es tut mir sehr leid, aber – er ist nicht da.« Bei der langen Pause in der Mitte drängte sich der Eindruck auf, dass er sich tatsächlich umsah, wo er wohl abgeblieben war.
Es war schon fünf Uhr vorbei. Harolds Verhalten fiel sonst nie aus dem Rahmen. Die üblichen Geräusche, das Ticken der Dielenuhr, das Brummen des Kühlschranks, waren lauter, als sie sein sollten. Wo steckte er bloß?
Maureen wollte sich mit dem Kreuzworträtsel im Telegraph ablenken, musste aber feststellen, dass Harold bereits alle leichten Felder ausgefüllt hatte. Ein schrecklicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie sah ihn mit offenem Mund auf der Straße liegen. So etwas kam vor. Leute hatten einen Infarkt und wurden tagelang nicht gefunden. Oder wurden ihre geheimen Ängste wahr? Endete er vielleicht mit Alzheimer wie sein Vater? Der Mann war keine sechzig gewesen, als er starb. Maureen lief die Autoschlüssel und die bequemen Schuhe holen, mit denen sie immer fuhr.
Dann fiel ihr ein, dass er wahrscheinlich bei Rex drüben war. Wahrscheinlich redeten sie übers Rasenmähen und das Wetter. Lächerlich, der Mann. Sie stellte ihre Schuhe wieder neben die Haustür und hängte die Autoschlüssel an ihren Haken.
Maureen schlich ins Wohnzimmer, das sie schon seit Jahren insgeheim das »Schonzimmer« nannte. Immer wenn sie es betrat, hatte sie das Bedürfnis, eine Strickjacke überzuziehen. Früher hatte hier ein Mahagoni-Esstisch mit vier Polsterstühlen gestanden; sie hatten jeden Abend hier gegessen und ein Glas Wein getrunken. Aber das war zwanzig Jahre her. Jetzt war der Tisch fort, und in den Bücherregalen standen Fotoalben, die nie jemand aufschlug.
»Wo bist du?«, fragte sie. Zwischen ihr und der Außenwelt hingen Gardinen, die alle Farben und Feinheiten verschluckten; Maureen war froh darüber. Die Sonne begann schon zu sinken. Bald würden die Straßenlampen angehen.
Als das Telefon klingelte, rannte Maureen in die Diele und riss den Hörer hoch. »Harold?«
Nach einer bedeutungsschweren Stille hörte sie: »Ich bin’s, Maureen. Rex von nebenan.«
Sie sah sich hilflos um. Bei ihrem Galopp zum Telefon hatte sie sich den Fuß an etwas Kantigem angestoßen, das Harold auf dem Boden hatte liegen lassen. »Alles in Ordnung, Rex? Ist dir wieder die Milch ausgegangen?«
»Ist Harold zu Hause?«
»Harold?« Maureens Stimme schraubte sich höher. Wenn er nicht bei Rex war, wo denn dann? »Ja. Selbstverständlich ist er zu Hause.« Sie hatte einen völlig unnatürlichen Ton angenommen, halb hoheitsvoll, halb abgekämpft. Sie klang genau wie ihre Mutter.
»Ich hab mir nur Sorgen gemacht, dass etwas passiert ist. Hab ihn nicht von seinem Spaziergang zurückkommen sehen. Er wollte einen Brief einwerfen.«
Schon schossen ihr entsetzliche Bilder durch den Kopf, Bilder von Rettungswagen und Polizisten und wie sie Harolds reglose Hand hielt. Vielleicht war es furchtbar albern von ihr, aber sie spielte innerlich schon einmal die schlimmsten Möglichkeiten durch, wie um sich gegen den Schock zu wappnen. Sie wiederholte, dass Harold zu Hause sei, und bevor Rex weiter nachfragen konnte, legte sie auf. Sofort fühlte sie sich wie ein Scheusal. Rex war vierundsiebzig und einsam. Er wollte ja nur helfen. Sie war drauf und dran, ihn zurückzurufen, als er ihr zuvorkam; das Telefon klingelte in ihren Händen. Maureen rappelte sich zusammen. »Guten Abend, Rex«, sagte sie gelassen in den Hörer.
»Ich bin’s.«
Da schoss Maureens gelassene Stimme wie eine Rakete in die Höhe. »Harold? Wo bist du denn?«
»Auf der B3196. Draußen vor dem Pub in Loddiswell.« Er klang recht vergnügt.
Zwischen der Haustür und Loddiswell lagen fast acht Kilometer. Er hatte also keinen Infarkt erlitten. Er war nicht auf die Straße gestürzt und hatte nicht vergessen, wer er war. Mehr noch als erleichtert war Maureen entrüstet. Dann beschlich sie ein neuer, fürchterlicher Gedanke: »Du hast doch nicht etwa getrunken?«
»Ich habe eine Limonade getrunken, fühle mich aber zum Bäume Ausreißen. Besser als seit Jahren. Ich habe einen netten Mann kennengelernt, der Satellitenschüsseln verkauft.« Er machte eine Pause, als nähme er Anlauf, ihr gleich etwas Ungeheuerliches zu verkünden. »Ich habe ein Versprechen abgelegt, Maureen. Ich werde laufen. Den ganzen Weg nach Berwick.«
Sie dachte, sie hätte sich verhört. »Laufen? Zu Fuß? Nach Berwick upon Tweed? Du?«
Das schien er sehr komisch zu finden. »Ja! Genau!«, prustete er.
Maureen schluckte. Sie spürte, wie ihre Beine schwach wurden und ihre Stimme sie verlassen wollte. »Verstehe ich richtig: Du gehst zu Queenie Hennessy?«
»Ich werde dorthin laufen, und sie wird leben. Ich werde sie retten.«
Ihre Knie gaben nach. Sie streckte die Hand rasch zur Wand aus, um sich abzustützen. »Das glaube ich nicht. Du kannst niemanden vor Krebs retten, Harold. Außer, du wärst Chirurg. Dabei kannst du nicht einmal eine Scheibe Weißbrot abschneiden, ohne ein Gemetzel daraus zu machen. Das ist doch lächerlich.«
Wieder lachte Harold, als unterhielten sie sich über einen Fremden und nicht über ihn. »Ich habe mich mit dem Mädchen von der Tankstelle unterhalten, und sie hat mich auf die Idee gebracht. Sie hat ihre Tante vor Krebs gerettet, weil sie daran glaubte. Sie hat mir auch gezeigt, wie man einen Burger warmmacht. Da waren sogar saure Gurken drauf.«
Er hörte sich so selbstsicher an. Das warf sie völlig aus der Bahn. Maureen spürte einen Funken in sich aufglimmen. »Harold, du bist fünfundsechzig. Du bist nie weiter gelaufen als bis zum Auto. Und falls du es nicht bemerkt hast: Du hast dein Handy liegen lassen.« Er setzte zu einer Entgegnung an, aber sie walzte über ihn hinweg. »Und wo, glaubst du, wirst du heute Nacht schlafen?«
»Ich weiß nicht.« Sein Lachen war verstummt, seine Stimme klang ernüchtert. »Aber ein Brief reicht nicht. Bitte. Ich muss das machen, Maureen.«
Wie er sie so eindringlich bat und zum Schluss ihren Namen hinzusetzte, als wäre er ein Kind und die Entscheidung läge bei ihr, wo er doch eindeutig schon entschieden hatte, brachte den Funken zum Explodieren. Sie sagte: »Na, dann mach dich eben auf den Weg nach Berwick, Harold. Wenn du unbedingt willst. Ich bin gespannt, ob du weiter kommst als Dartmoor …« Ein Stakkato von Pieptönen störte die Verbindung. Sie schloss die Finger fester um den Hörer, als wäre er ein Stück von Harold, an das sie sich klammern könnte. »Harold? Bist du noch im Pub?«
»Nein, in einer Telefonzelle davor. Hier stinkt es ziemlich. Ich glaube, jemand hat reinge…« Seine Stimme brach ab. Er war weg.
Maureen schleppte sich zu dem Stuhl in der Diele. Die Stille war nun lauter, als hätte er gar nicht angerufen, schluckte alles andere, das Ticken der Dielenuhr, das Brummen des Kühlschranks, das Vogelgezwitscher im Garten. Die Worte Harold, Burger, laufen dröhnten Maureen im Kopf, und zwischendurch immer wieder zwei andere: Queenie Hennessy. Nach all den Jahren. Tief in ihr rumorte die Erinnerung an etwas längst Begrabenes.
Maureen saß einsam da, während es dunkel wurde, während auf den Hügeln die Neonlampen angingen und die Nacht mit bernsteinfarbenen Lichtklecksen sprenkelten.
Harold Fry war ein Mensch von großer Statur, der ein wenig gebückt durchs Leben ging, als erwarte er, dass er jederzeit gegen einen niedrigen Balken prallen oder von einem zusammengeknüllten Papiergeschoss bombardiert werden könnte. Als er geboren wurde, sah seine Mutter entsetzt auf das Bündel in ihren Armen. Sie war jung, hatte einen Mund wie eine Pfingstrosenknospe und einen Mann, der vor dem Krieg ganz brauchbar schien, dann aber nicht mehr. Ein Kind war das Letzte, was sie wollte oder brauchen konnte. Der Junge lernte rasch, dass er am besten durchs Leben kam, wenn er möglichst unsichtbar im Hintergrund blieb. Er spielte mit den Nachbarskindern oder beobachtete sie zumindest vom Rand aus. In der Schule tat er sich so wenig hervor, dass er als beschränkt galt. Mit sechzehn verließ er sein Elternhaus und schlug sich allein durch, bis ihn eines Abends quer über die Tanzfläche Maureens Blick traf und er sich Hals über Kopf in sie verliebte. Nach Kingsbridge kam das jung verheiratete Paar der Brauerei wegen.
Harold war dort fünfundvierzig Jahre als Handelsvertreter beschäftigt. Er hielt sich stets abseits und arbeitete ebenso bescheiden wie tüchtig, ohne sich um Beachtung oder Beförderung zu bemühen. Andere reisten weit herum und stiegen in Führungspositionen auf, aber Harold wollte keines von beiden. Er schloss weder Freundschaften, noch machte er sich Feinde. Auf seine Bitte hin gab es bei seiner Pensionierung keine Abschiedsfeier. Eine der Sekretärinnen in der Verwaltung hatte noch schnell für ihn gesammelt, doch im Vertriebsteam wusste man wenig über ihn. Jemand glaubte gehört zu haben, dass Harold sein Päckchen zu tragen hatte, wusste aber auch nichts Genaueres. Harold hörte an einem Freitag auf, und als er nach Hause zurückkehrte, hatte er als Anerkennung für seine Lebensleistung nicht mehr vorzuweisen als einen durchgehend illustrierten Auto-Atlas Großbritannien und einen Gutschein für einen Einkauf in einem Spirituosengeschäft. Das Buch kam ins Wohnzimmer, zu allen anderen Dingen, die niemand ansah. Der Gutschein blieb in seinem Umschlag. Harold war Abstinenzler.
Nagender Hunger ließ Harold morgens aus dem Schlaf hochfahren. Die Matratze war über Nacht sowohl härter geworden als auch gewandert; auf den Teppich fiel ein unvertrauter Lichtstreifen. Was hatte Maureen mit dem Schlafzimmer angestellt, dass das Fenster auf der falschen Seite war? Was hatte sie mit den Wänden gemacht – seit wann hatte die Tapete Streublümchen? Da erinnerte er sich; er befand sich in einem kleinen Hotel ein wenig außerhalb von Loddiswell, auf dem Weg nach Norden. Er ging zu Fuß nach Berwick, weil Queenie Hennessy nicht sterben durfte.
Harold würde als Erster zugeben, dass einige Punkte seiner Reiseplanung nicht ganz ausgefeilt waren. Er hatte keine Wanderschuhe, keinen Kompass, von einer Landkarte oder Kleidung zum Wechseln ganz zu schweigen. Der am wenigsten ausgefeilte Teil der Planung war jedoch die Reise selbst. Er hatte erst gewusst, dass er nach Berwick laufen würde, nachdem er bereits aufgebrochen war. Von wegen ausgefeilte Planung – es gab überhaupt keinen Plan. Nun ja, er kannte die Straßen in Devon gut genug; danach würde er sich einfach nach Norden halten.
Harold schüttelte seine beiden Kissen zu einem Rückenpolster auf und setzte sich langsam auf. Seine linke Schulter schmerzte, sonst fühlte er sich erfrischt. Er hatte so gut geschlafen wie seit vielen Jahren nicht mehr, ohne die Bilder, die ihn regelmäßig im Dunkeln heimsuchten. Der Bettbezug passte zu dem Blumenstoff der Vorhänge, und seine Segelschuhe standen unter einem abgeschliffenen alten Holzschrank. In der Ecke gab es ein kleines Waschbecken mit einem Spiegel. Hemd, Krawatte und Hose lagen auf einem Sessel mit verblichenem blauen Samtbezug, klein zusammengefaltet, als wolle Harold sich für sie entschuldigen.
Ein Bild stieg in Harold auf: die Kleider seiner Mutter, die im Haus seiner Kindheit überall verstreut lagen. Er wusste nicht, woher das Bild kam. Um es wegzuwischen, sah er zum Fenster hinüber und versuchte, an etwas anderes zu denken. Er fragte sich, ob Queenie wusste, dass er zu Fuß zu ihr unterwegs war. Vielleicht dachte sie sogar in diesem Moment an ihn.
Nach dem Anruf im Hospiz war er auf der B3196 weitergelaufen, die anstieg und einen Bogen machte. Die Richtung war ihm klar; er hatte Felder, Häuser, Bäume, die Brücke über den Fluss Avon hinter sich gelassen, und zahllose Autos hatten ihn überholt. Nichts davon machte auf Harold großen Eindruck; es bedeutete für ihn lediglich, dass es nicht mehr zwischen ihm und Berwick lag. Er hatte regelmäßige Verschnaufpausen gemacht. Mehrmals musste er sich die Segelschuhe neu binden und die Stirn abwischen. In Loddiswell kehrte er in das Gasthaus ein, um seinen Durst zu stillen; dort unterhielt er sich auch mit dem Satellitenschüsselvertreter. Harold vertraute ihm seine Absicht an, und der Mann war so platt, dass er Harold auf den Rücken klopfte und alle im Raum aufforderte, gut zuzuhören. Als Harold sein Vorhaben kurz und knapp bekanntgab (»ich laufe durch England bis nach Berwick«), dröhnte der Vertreter: »Bravo!« Mit diesem Wort im Kopf war Harold hinausgestürzt, um seine Frau anzurufen.
Er wünschte, sie hätte dasselbe gesagt.
»Das glaube ich nicht.« Damit fuhr sie ihm manchmal über den Mund, bevor er ihn überhaupt aufmachen konnte.
Nach dem Gespräch mit Maureen waren seine Schritte schwerer geworden. Er konnte ihr ihre Meinung über ihn als Ehemann nicht verübeln, und doch wünschte er, sie dächte anders. Er war zu einem kleinen Hotel gelangt, vor dem schiefe Palmen wuchsen, als duckten sie sich vor dem Küstenwind, und hatte sich nach einem Zimmer erkundigt. Er war es natürlich gewöhnt, allein zu schlafen, aber in einem Hotel zu übernachten war neu für ihn; als er für die Brauerei arbeitete, war er immer vor Anbruch der Nacht zu Hause gewesen. Sobald er sich hingelegt und die Augen geschlossen hatte, war er fast augenblicklich in einen bewusstlosen Schlaf gefallen.
Harold lehnte sich an das weichgepolsterte Brett am Kopfende, stellte das linke Bein auf, umfasste den Knöchel und zog ihn so nahe zu sich heran, wie er konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und umzukippen. Zur näheren Inspektion setzte er die Lesebrille auf. Die Zehen waren weich und blass, etwas empfindlich an den Nägeln und am knotigen Mittelgelenk; oben an der Ferse bildete sich möglicherweise eine Blase. Aber wenn er sein Alter und seine mangelnde Kondition berücksichtigte, empfand Harold einen stillen Stolz. Den rechten Fuß unterzog er derselben langsamen und gründlichen Inspektion.
»Nicht schlecht«, sagte er.
Ein paar Pflaster. Ein gutes Frühstück. Dann wäre er bereit. Er stellte sich vor, wie die Krankenschwester Queenie über seinen Fußmarsch informierte, und dass sie nichts weiter zu tun bräuchte, als weiterzuleben. Er konnte ihre Gesichtszüge sehen, als säße sie vor ihm, ihre dunklen Augen, den kleinen Mund, die dichten schwarzen Locken. Das Bild war so lebhaft, dass er nicht verstehen konnte, warum er überhaupt noch im Bett war. Er musste nach Berwick. Er schob die Beine zum Matratzenrand und streckte die Fersen zum Boden.
Da kam der Krampf. Der Schmerz schoss ihm in die rechte Wade, als wäre er auf ein Stromkabel getreten. Er versuchte das Bein unter die Decke zurückzuschieben, aber davon wurde es noch schlimmer. Was machte man da am besten? Die Zehen wegstrecken? Oder anziehen? Er humpelte aus dem Bett und hüpfte, gekrümmt und jaulend vor Schmerz, den Teppich entlang. Maureen hatte schon recht; er könnte von Glück reden, wenn er bis Dartmoor käme.
Harold Fry klammerte sich an das Fensterbrett und spähte auf die Straße hinunter. Es war schon Stoßzeit, der Verkehr rauschte in Richtung Kingsbridge. Er dachte an seine Frau, die jetzt in der Fossebridge Road Nummer 13 Frühstück machte, und fragte sich, ob er nicht zurückkehren sollte. Er könnte sein Handy holen und ein paar Sachen einpacken. Er könnte sich die Straßenkarte im Internet ansehen und das Wichtigste an Wanderausrüstung bestellen. Vielleicht hätte der Auto-Atlas, den er zur Pensionierung bekommen und nie aufgeschlagen hatte, ein paar nützliche Tipps? Doch um seine Route so vorzubereiten, wären sowohl ernsthafte Überlegungen als auch tagelanges Warten erforderlich, und für beides hatte er keine Zeit. Außerdem würde Maureen mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg halten, dass er sein Bestes tat, um sich zu drücken. Die Tage, als er von ihr Hilfe, Ermutigung oder sonstige Unterstützung erwarten konnte, waren längst vorbei. Der Himmel hinter dem Fenster war von einem zarten, fast zerbrechlichen, mit Wolkenfetzen getupften Blau, die Baumwipfel badeten in einem warmen, goldenen Licht. Die Äste schwankten im Wind und winkten ihn weiter.
Wenn er jetzt nach Hause ginge oder sich auch nur eine Landkarte ansähe, dann würde er nie nach Berwick laufen. Das wusste er. Er wusch sich, zog sich an und band die Krawatte um, dann folgte er dem Duft von gebratenem Speck.
Harold zögerte vor dem Frühstücksraum und hoffte, er wäre leer. Er und Maureen konnten Stunden verbringen, ohne ein Wort zu reden, aber Maureens Gegenwart war wie eine Wand, mit deren Vorhandensein man rechnete, auch wenn man nicht oft hinsah. Harold nahm die Klinke in die Hand. Er schämte sich, dass er nach all den Jahren in der Brauerei immer noch Schüchternheit empfand, wenn er einen Raum voller Fremder betreten sollte.
Er drückte die Tür auf, und so viele Köpfe drehten sich und richteten ihren Blick auf ihn, dass seine Hand auf der Klinke kleben blieb. Da waren eine junge Familie in Urlaubskleidung, zwei ältere Damen in Grau und ein Geschäftsmann mit Zeitung. Von den zwei verbleibenden freien Tischen stand der eine in der Mitte des Raums, der andere in der hinteren Ecke, neben einem Zimmerfarn auf einem Blumenständer. Harold hüstelte.
»Grüß Gott zum wunderschönen Morgen, allerseits«, sagte er. Warum, wusste er nicht; schließlich floss in seinen Adern kein einziger Tropfen irisches Blut. So hätte sein alter Chef, Mr Napier, daherschwätzen können. Auch in dessen Adern floss kein Tropfen irischen Bluts, aber er machte sich gerne über andere Leute lustig.
Die Hotelgäste stimmten ihm zu, es sei in der Tat ein sehr schöner Morgen, und widmeten sich dann wieder ihrem Frühstück. Wie Harold so dastand, fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller, hielt es aber für unhöflich, sich ungefragt zu setzen.
Eine Frau in schwarzem Rock und schwarzer Bluse eilte aus einer Schwingtür hervor, über der ein laminiertes Schild hing: KÜCHE. KEIN ZUTRITT. Sie hatte ihr rötlichbraunes Haar irgendwie aufgeplustert, wie Frauen das so können. Maureen hatte sich die Haare nie zurechtgefönt. »Keine Zeit zum Hübschmachen«, knurrte sie ab und zu vor sich hin. Die Frau servierte den beiden dünnen Damen pochierte Eier und fragte dann: »Frühstück mit allem, Mr Fry?«
Harold schämte sich schrecklich, als er sich erinnerte. Das war dieselbe Frau, die ihm gestern Abend sein Zimmer gezeigt hatte. Die Frau, der er in einem Anfall euphorischer Erschöpfung erzählt hatte, dass er zu Fuß nach Berwick ging. Hoffentlich hatte sie es vergessen. »Ja, bitte«, versuchte er zu sagen, brachte es aber nicht fertig, sie dabei anzusehen, und die Worte kamen eher zittrig heraus.
Sie deutete auf den Tisch in der Mitte des Raums, genau auf den Tisch, den er gern gemieden hätte, und als er sich in Bewegung setzte, merkte er, dass der strenge Geruch, der ihn die ganze Treppe hinunter verfolgt hatte, von ihm selbst ausging. Er wäre am liebsten in sein Zimmer hochgerannt, um sich noch einmal gründlich zu waschen, aber das wäre unhöflich gewesen, zumal die Bedienung ihn schon aufgefordert hatte, sich zu setzen, und er ihrer Aufforderung gefolgt war. »Tee? Kaffee?«, fragte sie.
»Ja, bitte.«
»Beides?« Die Bedienung sah ihn geduldig an. Jetzt quälten ihn schon drei Dinge: Selbst wenn sie seinen Geruch nicht bemerkte, selbst wenn sie vergessen hatte, dass er zu Fuß unterwegs war, könnte sie ihn immer noch für senil halten.
»Tee wäre schön«, sagte Harold.
Zu seiner Erleichterung nickte die Bedienung nur und verschwand durch ihre Schwingtür, und es herrschte kurz Ruhe im Raum. Harold rückte seine Krawatte zurecht und legte die Hände in den Schoß. Wenn er ganz still dasaß, würde sich vielleicht alles von selbst geben.
Die beiden grauhaarigen Damen begannen, über das Wetter zu reden, aber Harold wusste nicht, ob sie sich nur untereinander unterhielten oder an die Allgemeinheit wandten. Er wollte nicht unhöflich erscheinen, aber auch nicht den Eindruck erwecken, dass er lauschte, deshalb tat er beschäftigt. Er studierte das Schild auf seinem Tisch, Bitte nicht rauchen, dann las er das Schild am Fenster: Wir bitten unsere Gäste, im Frühstücksraum von der Benutzung ihrer Handys abzusehen. Er fragte sich, was in der Vergangenheit wohl alles passiert war, dass sich die Hotelbesitzer zu so vielen Verboten genötigt sahen.
Die Bedienung erschien mit einem Teekännchen und Milch. Er ließ sich von ihr einschenken.
»Wenigstens haben Sie einen guten Tag dafür erwischt«, sagte sie.
Sie hatte es also nicht vergessen. Er trank einen Schluck Tee und verbrühte sich den Mund. Die Bedienung stand immer noch neben ihm.
»Machen Sie so was öfter?«, erkundigte sie sich.
Ihm wurde das angespannte Schweigen im Raum bewusst, das gewissermaßen einen Verstärkereffekt hatte. Er ließ einen kurzen Blick über die anderen Gäste schweifen; keiner regte sich. Sogar der Zimmerfarn schien den Atem anzuhalten. Harold schüttelte kaum merklich den Kopf. Er wünschte, die Bedienung würde sich einem anderen Gast zuwenden, aber niemand wollte etwas von ihr, alle wollten nur Harold anstarren. Als kleiner Junge hatte er so viel Angst davor gehabt, Aufmerksamkeit zu erregen, dass er sich bewegte wie ein Schatten. Er verstand sich darauf, seine Mutter beim Schminken oder beim Lesen ihrer Reisezeitschriften zu beobachten, ohne dass sie seine Anwesenheit bemerkte.
Die Bedienung sagte: »Wenn wir nicht ab und zu was Verrücktes tun, können wir uns gleich begraben lassen.« Sie klopfte ihm kurz auf die Schulter und kehrte endlich durch die verbotene Schwingtür in ihr Reich zurück.
Harold spürte, dass er in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt war, obwohl ihn niemand direkt ansprechen wollte. Wie von außen sah er sich seine Tasse absetzen und schrak zusammen, als sie auf dem Unterteller klirrte. Der Geruch wurde immer schlimmer. Harold haderte mit sich, weil er seine Socken am Abend nicht unter dem Wasserhahn ausgespült hatte. Maureen hätte das getan.
»Ich hoffe, Sie finden es nicht aufdringlich, wenn ich frage«, meldete sich eine der alten Damen zu Wort. Sie drehte sich zu ihm und suchte seinen Blick. »Meine Freundin und ich, wir haben uns gefragt, was Sie wohl Spannendes vorhaben.«
Die große, elegante Dame, die älter war als er, trug eine weichfallende Bluse und hatte ihr weißes, aus dem Gesicht frisiertes Haar am Hinterkopf zu einer Rolle festgesteckt. Harold fragte sich, ob auch Queenies Haar seine Farbe verloren hatte. Ob sie es lang trug wie diese Frau, oder kurz geschnitten wie Maureen. »Bin ich furchtbar unhöflich?«, fragte sie.
Harold beteuerte, das sei sie keineswegs, aber zu seinem Schrecken war der Raum wieder verstummt.
Die Freundin war molliger und trug um den Hals eine Perlenkette. »Wir haben die schreckliche Angewohnheit, die Gespräche anderer Leute mitzuhören«, sagte sie und lachte.
»Das ist wirklich ungehörig«, sagten beide zur Allgemeinheit. Sie sprachen laut und mit derselben Upperclass-Schärfe wie Maureens Mutter. Harold ertappte sich dabei, dass er die Augen zukniff, um alles richtig zu verstehen.
»Ich tippe auf einen Flug mit dem Heißluftballon«, sagte die eine.
»Ich glaube eher, dass Sie einen Schwimmrekord aufstellen wollen«, sagte die andere.
Alle sahen Harold erwartungsvoll an. Er holte tief Luft. Wenn er die Worte oft genug aus seinem eigenen Mund hörte, würde er sich vielleicht imstande fühlen, aufzustehen und sie in die Tat umzusetzen.
»Ich bin zu Fuß unterwegs«, sagte Harold. »Ich laufe nach Berwick.«
»Berwick upon Tweed?«, fragte die hochgewachsene Dame.
»Das müssen an die achthundert Kilometer sein«, sagte ihre Begleiterin.
Harold hatte keine Ahnung. Er hatte noch nicht den Mut gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. »Ja«, stimmte er zu, »wahrscheinlich sogar mehr, wenn man der Autobahn ausweichen will.« Er griff nach seiner Teetasse, griff ins Leere.
Der Familienvater in der Ecke warf dem Geschäftsmann einen kurzen Blick zu und zog die Lippen zu einem Grinsen auseinander. Harold wünschte, er hätte es nicht gesehen. Aber natürlich hatten sie recht. Sein Plan war lächerlich. Alte Leute sollten sich nicht so aufspielen, sondern brav zu Hause bleiben.
»Haben Sie lange trainiert?«, fragte die Hochgewachsene.
Der Geschäftsmann faltete seine Zeitung zusammen, beugte sich vor und wartete auf eine Antwort. Harold überlegte, ob er wohl lügen könnte, fühlte sich dem aber tief im Innersten nicht gewachsen. Er spürte, dass ihn die alten Damen mit ihrer Freundlichkeit nicht unterstützten, sondern nur noch mehr bloßstellten. Scham stieg in ihm hoch.
»Ich habe nicht trainiert. Es war mehr eine Bauchentscheidung. Ich mache das für eine alte Freundin. Sie hat Krebs.«
Die jüngeren Pensionsgäste starrten ihn an, als hätte er in eine Fremdsprache gewechselt.
»Sie meinen etwas Religiöses? Eine Wallfahrt?«, fragte die Rundliche wohlmeinend. »Sie sind ein Pilger?«
Die andere Dame begann leise zu singen: »Wer wahre Stärke sucht …« Ihre Stimme erhob sich rein und selbstsicher, ihr schmales Gesicht rötete sich. Wieder wusste Harold nicht recht, ob sie für den ganzen Raum oder nur für ihre Freundin sang; sie zu unterbrechen schien jedenfalls unhöflich. Schließlich verstummte sie und lächelte. Auch Harold lächelte, aber nur, weil er keine Ahnung hatte, was er nun sagen sollte.
»Dann weiß sie also, dass Sie zu ihr laufen?«, fragte der Familienvater in der Ecke. Er trug ein kurzärmliges Hawaiihemd; auf seinen Armen und seiner Brust kräuselten sich dunkle Locken. Er lehnte sich weit zurück und schaukelte auf den hinteren Stuhlbeinen, wofür Maureen David immer getadelt hatte. Seine Skepsis war quer durch das ganze Frühstückszimmer zu spüren.
»Ich habe es ihr telefonisch ausrichten lassen. Und einen Brief geschrieben.«
»Sonst nichts?«
»Für alles andere blieb keine Zeit.«
Der Geschäftsmann heftete seinen zynischen Blick auf Harold. Es war klar, dass auch er ihn durchschaute.
»In Indien haben sich einmal zwei junge Buddhisten auf den Weg gemacht«, erzählte die Mollige. »Zu einem Friedensmarsch; das war 1968. Sie sind zu allen Atommächten der Welt gewandert. Sie hatten Tee im Gepäck und forderten die Staatsoberhäupter auf, wenn sie jemals im Begriff wären, auf den roten Knopf zu drücken, sollten sie sich erst eine Kanne Tee aufbrühen und noch einmal gründlich nachdenken.« Ihre Freundin nickte heftig dazu.
Der Raum kam Harold eng und stickig vor; er sehnte sich nach frischer Luft. Er strich über seine Krawatte, wie um sich seiner selbst zu vergewissern, fühlte sich aber irgendwie unförmig. »Er ist schrecklich groß«, hatte Tante May einmal von ihm gesagt, als wäre das ein Mangel, der sich beheben ließe, etwas wie ein tropfender Wasserhahn. Harold wünschte, er hätte den anderen Hotelgästen nichts von seinem Fußmarsch erzählt. Er wünschte, das Wort Religion wäre nicht gefallen. Er hatte nichts dagegen, wenn andere an Gott glaubten, aber für ihn war das wie ein Ort, wo alle die Regeln kannten, nur er nicht. Er hatte es ein einziges Mal mit Gott probiert, vergeblich. Und jetzt redeten die beiden netten grauhaarigen Damen von Buddhisten und Weltfrieden, dabei hatte er gar nichts damit zu tun. Er war einfach ein Rentner, der mit einem Brief losgezogen war.
Er sagte: »Vor langer Zeit haben die Freundin und ich in derselben Brauerei gearbeitet. Ich musste die Pubs kontrollieren. Sie war in der Buchhaltung. Manchmal besuchten wir die Pubs gemeinsam; dann habe ich sie im Auto mitgenommen.« Sein Herz klopfte so schnell, dass ihm schlecht wurde. »Sie hat mir einmal sehr geholfen, und jetzt liegt sie im Sterben. Ich möchte nicht, dass sie stirbt. Ich möchte, dass sie am Leben bleibt.«