1,99 €
Eine wunderbare Kurzgeschichte über die Kraft des Hier und Jetzt – von der Autorin des Bestsellers Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry Binny hat noch genau fünf Stunden Zeit, um alles für die Festtage vorzubereiten. Sie fühlt sich ganz und gar nicht weihnachtlich: Es regnet Bindfäden, ihr Haus fällt auseinander, und die Stadt ist völlig überfüllt. Und das ist alles, alles nur Olivers Schuld. Um nicht auch noch Smalltalk mit einer Bekannten machen zu müssen, flieht Binny in einen Laden, den sie normalerweise nie betreten würde. Und findet dort einen ganz unerwarteten Ort voll Frieden, Trost und Freundlichkeit – eingehüllt in einen Hauch von Zitronenduft.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 42
Veröffentlichungsjahr: 2014
Rachel Joyce
Ein ferner Duft wie von Zitronen
Eine Weihnachtserzählung
FISCHER E-Books
Eine wunderbare Kurzgeschichte über die Kraft des Hier und Jetzt.
Binny hat noch genau fünf Stunden Zeit, um alles für die Festtage vorzubereiten. Sie fühlt sich ganz und gar nicht weihnachtlich: Es regnet Bindfäden, ihr Haus fällt auseinander, und die Stadt ist völlig überfüllt. Und das ist alles, alles nur Olivers Schuld. Um nicht auch noch Smalltalk mit einer Bekannten machen zu müssen, flieht Binny in einen Laden, den sie normalerweise nie betreten würde. Und findet dort einen ganz unerwarteten Ort voll Frieden, Trost und Freundlichkeit – eingehüllt in einen Hauch von Zitronenduft.
Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. Ihr erster Roman, ›Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry‹, wurde für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award für das beste Debüt prämiert, eroberte in über 30 Ländern die Bestsellerlisten und wird verfilmt. Auch ihre Romane ›Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte‹ und ›Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry – Das Geheimnis der Queenie Hennessy‹ sind internationale Bestseller. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.
Es ist halb zehn, und bestimmt löffelt Oliver gerade Porridge aus seinem Asterix-Schälchen. Das ist die einzige feste Gewohnheit, die Oliver mit seinen dreiunddreißig Jahren entwickelt hat, und er hält geradezu inbrünstig daran fest.
»Ach, du kannst mich mal«, schnaubt Binny. Sie tritt auf die High Street hinaus, auf der sich der Heiligabendverkehr dahinwälzt. Autos, voll beladen mit Familien und festlich verpackten Geschenken. Sofort hupt es Binny aggressiv entgegen, von wegen Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, wie es Plakate und blinkende Leuchtschriften allen ans Herz legen. »Leck mich«, wiederholt sie. Sie wird wegen niemandem stehen bleiben. Und heulen wird sie auch nicht. Unter dem schweren Dezemberhimmel glänzt nass der Asphalt.
Binny lastet Oliver alles an, was in ihrem Leben schiefläuft. Früher hatte sie nie von ihm erwartet, dass er im Kopf behielt, was zu erledigen war, oder dass er es auch nur bemerkte; jetzt schiebt sie ihm die volle Verantwortung zu. Die gesprungene Glasscheibe in der Haustür: seine Schuld. Die kaputte Dusche: seine Schuld. Die frischen Schnittwunden an ihren Händen, die Scherben auf dem Küchenboden. Die nicht besorgten Weihnachtskarten. Alles, alles seine Schuld.
Eben hat sie die Kinder an der Schule abgeliefert, zur Generalprobe für das Krippenspiel, und hat nun genau fünf Stunden, um Weihnachten geregelt zu kriegen. Bisher hat sie dafür keinen Finger gerührt. Erst heute früh hat Coco zwei große Wollsocken für sich und Luke über den Kaminsims gehängt. (»Bloß, damit wir’s nicht vergessen«, meinte sie.) Wenn diese Lokomotive namens Weihnachten doch nur ohne Binny ein- und wieder abfahren würde. Zu ihrem Entsetzen entdeckt sie eine der anderen Mütter, die den Gehweg entlangspringt wie ein Plüschreh aus der Spielzeugabteilung, direkt auf Binny zu. Binny bleibt wie angewurzelt stehen und sucht die High Street in alle Richtungen ab. Aber sie ist kein Mensch, der sich leicht verstecken kann.
Groß und stämmig, überragt Binny alle anderen, sogar wenn sie den Kopf einzieht. Der Spiegel wirft ihr das Bild einer Riesin mit wilder Haarmähne zurück, mit Schulterpolstern, die schon im Bauplan enthalten waren. »Grobknochig« nannte ihre Mutter sie, »gesund« ihr Vater, der als »gesund« freilich auch eine reiche Kartoffelernte, einen Anstieg der Aktienkurse oder eine zweite Portion Nachspeise bezeichnete. Von ihrem Vater hat Binny die Augen und die Intelligenz geerbt, aber leider auch die Körpergröße und die Schuhgröße. Wie immer trägt sie eins ihrer langen Schlabberkleider, das sich heute früh, als sie ins Bad stolperte, um ihren Fuß gewickelt hatte.
Die Frau, die auf sie zukommt, trägt einen festlichen Jogginganzug mit Glitzerborten. Dazu festlich rote Plüschohrwärmer samt passenden Handschuhen. Sie hat etwas mit dem Elternbeirat zu tun, aber was genau, kann sich Binny beim besten Willen nicht erinnern, weil sie weder die Briefe oder E-Mails liest noch jemals an Schulveranstaltungen teilnimmt. Wenn sie völlig reglos verharrt – sozusagen so tut, als wäre sie nicht da -, bleibt sie vielleicht unbemerkt.
»Binny!«, ruft der fröhliche Jogginganzug. »Hi!« Vielleicht auch noch etwas vom Krippenspiel, aber ein wenig keuchend und aus gut zehn Metern Entfernung.