Die Valentines – verdammt berühmt. Rebel Girl - Holly Smale - E-Book

Die Valentines – verdammt berühmt. Rebel Girl E-Book

Holly Smale

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Beschreibung

Die Schauspielerfamilie Valentine ist reich und berühmt, und die Schwestern Hope, Faith und Mercy sind die glücklichsten Menschen auf der Welt – oder? Mercy Valentine ist erst siebzehn Jahre alt, doch als Schauspielerin bereits ein echter Star. Seit sie rund um die Uhr im Rampenlicht steht, gibt sie sich stark und unnahbar und hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen − Angriff ist schließlich die beste Verteidigung. Wenn sie dadurch den einzigen Jungen in ihrem Leben vergrault, der es ernst mit ihr meint – so what? Doch niemand ist unverwundbar, und auch wenn Mercy noch so sehr dagegen rebelliert: Die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln. Aber soll sie auch deine Zukunft bestimmen? Der dritte und letzte Band der Trilogie über die berühmten Valentines Hope, Faith und Mercy – drei Schwestern, drei Perspektiven, aber ein gemeinsames Schicksal. Dies ist Mercys Geschichte. Alle Bände der Trilogie: Band 1: Happy Girl Band 2: Perfect Girl Band 3: Rebel Girl

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Seitenzahl: 428

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Holly Smale

Die Valentines – verdammt berühmt.

Rebel Girl Band 3

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172Danksagungen

Für meine Schwester Tara,

bedingungslos und für alle Zeit

1

Du wirst mich nicht mögen.

Ich bin nicht nett, du kannst dich nicht mit mir identifizieren, dich nur schwer in diese schnippische Tochter aus altem Hollywoodadel hineinversetzen, bla, bla, bla, vielleicht solltest du also jetzt gleich abhauen.

Es ist nicht der Lebenszweck eines Mädchens, gemocht zu werden.

Ich bin weder deine Ratgeberin noch deine Vertraute. Ich habe kein Interesse, Inspiration oder Ansporn für dich zu sein, nur damit du dich wohl und wahrgenommen fühlst. Wenn du auf zuckersüß stehst und dich nicht an einem eingeschränktem Wortschatz störst, dann geh zu meiner kleinen Schwester Hope. Es sei denn, du bevorzugst eine willensschwache Beautykönigin? Dann bist du bei meiner Schwester Faith genau richtig. Oder wie wär’s mit eigenwilligem Charme in Kombination mit Begriffsstutzigkeit? Von beidem hat mein Bruder Max mehr als genug.

Aber ich, Mercy Valentine, brauche und will deine Bestätigung nicht, also zieh Leine.

Ich bin nicht deine Heldin.

 

»Man nennt sie Eisberghäuser«, haucht Dior, während sie mich die gewundene Marmortreppe hinunterführt. »Daddy sagt, sie sind der letzte Schrei in South Kensington, also mussten wir auch eins haben.«

Sie wirft ihre blonden Haare zurück und strahlt mich an.

Genervt – und dabei bin ich erst seit sechs Minuten auf dieser Party – zupfe ich an dem Wundschorf auf meinem Fingerknöchel.

»Ich vermute«, sagt meine Freundin und steckt sich gedankenverloren eine gebleichte Strähne in den Mund, »sie heißen so, weil man Eisberge meist an exklusiven Orten wie der Arktis findet und ein Trip dorthin schweineteuer ist. Es sind sozusagen die besten Häuser, die man für Geld kriegen kann.«

Falls du es noch nicht bemerkt hast: Dior ist strohdumm.

»Du hast keine Ahnung«, sage ich zu ihr, als sie mich um die Ecke in einen Gang führt, in dem es heiß hergeht, vorbei an einem voll ausgestatteten Fitnessstudio, komplett mit echten Palmen und einer vom Boden bis zur Decke reichenden Kletterwand. »Sie heißen so, weil die Fläche im Keller größer ist als oben. Wie bei einem Eisberg.«

Vielleicht liegt es an der Bleiche, die sie alle sechs Wochen auf ihre Haare klatscht.

Und vielleicht sollte sie aufhören, darauf herumzukauen.

»Ach, du!« Dior lacht über ihre eigene Ignoranz, wie es nur die Tochter eines milliardenschweren Tech-Start-up-Gründers kann, die nie in ihrem Leben auf einen Job angewiesen sein wird. »Was bin ich nur für ein dummes Ding! Aber schau!«

Stolz deutet sie nach rechts zu einem gutbestückten Weinkeller, in dem Alkohol für eine halbe Million Pfund lagert – natürlich abgesperrt –, schwebt dann an einem abgedunkelten Minikino vorbei (Knutschraum), einem Spa (für das gepflegte Nickerchen), einem großen exotischen Indoorgarten und einer … Ich fasse es nicht …

»Dior, ist das etwa eine Bowlingbahn?«

»Na klar.« Sie nickt selbstgefällig und führt mich eine Etage tiefer, wo sich auf der linken Seite in grellem Neonlicht eine vollausgestattete Bowlingbahn erstreckt.

»Mummy spielt ab und zu gerne, also dachten wir: Warum nicht unsere eigene bauen? Dann müssen wir uns keine ekligen Schuhe ausleihen.«

Jep, ich bin im Haus einer Familie, die eine unterirdische Megabowlingbahn gebaut hat, statt sich Bowlingschuhe zu kaufen. Das ist das Problem mit den Neureichen: Echte Klasse kann man nicht mit Geld kaufen, gesunder Menschenverstand ist nicht erblich, und Reichtum ist bei den Reichen die totale Verschwendung.

»Bowling ist was für Loser«, sage ich ruhig. »Glückwunsch.«

Mercy.

Diors Gesicht fällt kurz in sich zusammen – wie ein gepiekster Luftballon –, dann entdeckt sie jemanden hinter mir und wird sofort wieder munter.

»OmeingottomeingottomeinGOTT!« Der Schrei ist durchdringend und so unangenehm wie das Kauen auf einem Wattebausch. »Cee! Ceeeeee, du bist gekommen! Na, was sagst du? Ist es nicht die beste Geburtstagsparty aller Zeiten? Bin ich nicht der größte Glückspilz?«

Ich zucke zusammen, als Amethyst – Entschuldigung, Mee – ihre dünnen gebräunten Arme um meinen Hals legt.

»Lass das«, sage ich und befreie mich aus ihrem Griff.

»Tut mir leid, Cee.« Amethyst ist die schönheitsoptimierte Tochter eines Supermodels und eines international bekannten Chirurgen. Ihre Nase wurde bereits korrigiert, als Nächstes sind die Lippen dran. »Ich bin so aufgeregt. Ab heute bin ich achtzehn! Achtzehn! Offiziell erwachsen! Es war eine tolle Idee, die Party hier zu feiern, Vee! Dees Haus ist einfach so viel cooler als meines.«

Vee – beziehungsweise Nova, Sprössling eines prominenten Musikers und einer o mein Gott, ich mach mir gar nicht erst die Mühe, den Satz zu beenden – packt sie am Arm und schüttelt sie liebevoll. »Du hast es verdient, wunderschöne beste Freundin.«

»Nein, du bist wunderschön«, zwitschert Amethyst.

»Du bist es.«

»Nein, du.«

»Ihr seid beide grottenhässliche Gnome«, sage ich trocken und nehme einem vorbeischlendernden Jungen seinen Drink aus der Hand. »Das ist meiner.«

Jep. Cee, Mee, Vee, Dee: Zusammen hören wir uns an wie ein dämliches Gesangs-Warm-up für The Sound of Music.

Missgelaunt streiche ich meine hüftlange dunkelrote Perücke glatt und schaue mich im Keller um. Es herrscht Chaos. Die Gäste klettern auf die Palmen, werfen Schuhe, grölen Songs, und irgendein Idiot hat sich ein T-Shirt über den Kopf gezogen und ein Gesicht auf seinen Bauch gemalt.

Die Mädchen benehmen sich wie aufgescheuchte Hühner, die Jungs wie eingebildete Pfauen.

»Hallooo, hallooo.« Ein Typ mit orangem Teint und schwarzen Haaren zwinkert mir zu und legt seine gebräunte Hand um meine Taille. »Ich bin Dylan Harris, bekannter TV-Star auf Netflix. Wie geht’s …«

»Ich reiß dir gleich den Arm aus«, fauche ich, ohne den Typen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Ich reiße ihn dir aus der Schulter, nage ihn mit meinen Zähnen ab und ramme ihn dir als spitzen Pfahl so fest in den Mund, dass dir die Ohren abfallen.«

»O-kay«, sagt er langsam und tritt den Rückzug an.

Was muss ein Mädchen hier tun, um in Ruhe gelassen zu werden?

Warum bist du überhaupt auf die Party gegangen?

»Cee, kommst du?«, kreischt Dior mir ins Gesicht und wackelt mit ihrem Hintern, als hätte sie Verstopfung. »Es gibt einen speziellen Dancefloor. Er ist aus Glas und leuchtet, wenn man draufsteht!«

»Oh-my-gosh-oh-my-gosh«, hyperventiliert Amethyst. »Am Geburtstag ist Tanzen ein absolutes MUSS!«

»Total.« Vee nickt und zerrt uns in einen überfüllten, in türkises Licht getauchten Raum, in dem schockierend schlechte Musik wummert. »Ist das nicht irre, Daddy hat mir diesen Song zu meinem süßen Sechzehnten geschrieben!«

Mir kommt fast mein Abendessen wieder hoch.

Die Mädchen fassen sich im Kreis an den Händen und versuchen, auch meine zu ergreifen. Ich weiche ihnen aus und stecke meine Hände in die Hosentaschen.

»Ich wünschte«, sagt Dee mit einem perfekt eingeübten traurigen Gesicht, »Tee wäre hier, um mit uns zu feiern.«

»Ich auch«, sagt Vee und zieht einen Schmollmund. »Auf Tee!«

»Auf Tee!«, ruft Mee, woraufhin alle klatschen.

Während die drei Spatzenhirne durch den Raum wirbeln wie kullernde Pennys, beobachte ich mit finsterem Blick die Partygäste. In den Gesichtern leuchtet ungetrübtes Glück, wie es nur Menschen empfinden, für die es schlicht unvorstellbar ist, dass sie irgendwann einmal nicht perfekt sein könnten. Dass ihr ganzes Leben nicht perfekt sein könnte, dass alles um sie herum nicht der Inbegriff von makelloser, unbezahlbarer Perfektion sein könnte.

Am liebsten würde ich mir die Augen ausreißen und sie in meine Nasenlöcher stecken, nur damit ich mich auf etwas anderes konzentrieren kann.

Schau auf den Boden.

Blinzelnd starre ich auf meine Füße. Der Boden ist aus massivem Glas. Er flimmert türkis, denn … Verblüfft kneife ich die Augen zusammen – darunter ist Wasser? Diese schwachsinnige Familie hat in ihrem Keller einen transparenten Boden, unter dem sich ein Pool befindet. Das heißt …

Ja! Tu es. Tu es. Tu es.

Natürlich tue ich es. Ohne dass jemand es bemerkt, bahne ich mir einen Weg in die Ecke.

Tu es!

Unauffällig lasse ich meine Hände über die Marmorwände gleiten, bis ich einen kleinen Schalter ertaste, direkt hinter einer der importierten und mit Lichterketten geschmückten Palmen. Geistesabwesend zupfe ich an der schorfigen Stelle an meinem Fingerknöchel und beobachte einige Minuten lang die anderen Gäste. Alle sind in bester Stimmung und sehr, sehr trocken.

Ich lächle, zum ersten Mal an diesem Abend.

JETZT, Mercy!

»Ja, ich tu’s«, sage ich laut.

Dann lege ich den Schalter um.

2

Siehst du? Ich bin ein ausgesprochen unangenehmer Mensch.

 

»Gib mir einen Kuss.«

»Nur wenn du mir zuerst einen Kuss gibst.«

»Ich werde dein wunderschönes Kinn küssen.« Muah. »Schau es dir an!« Muah. »Hast du schon jemals etwas Niedlicheres gesehen?« Muah. »Ich frage dich: Hat Ben nicht das hübscheste Kinn, das du je bei einem menschlichen Wesen gesehen hast?«

Das Goldfisch-Schmatzgeräusch setzt kurz aus.

Und nein, die Frage ist nicht rhetorisch: Meine kleine Schwester Hope fragt jeden nach seiner Meinung zu dem spitzen unteren Ende der dummen Visage ihres neuen Freundes. Ich bin zwar erst seit zwanzig Minuten wach, aber ich würde mich lieber von einem Kellner mit einer Käsereibe abschmirgeln lassen, als noch mehr von dieser jämmerlich aufblühenden Romanze mitzuerleben.

»Sieht aus wie ein Ellbogen«, sage ich knapp und zupfe an einer Scheibe Toast. »Und wenn du nicht aufhörst zu gurren, werde ich mein Frühstück auf den Tisch kotzen und eure beiden Gesichter hineintunken.«

»Mercy!« Bens Mutter (unsere Haushälterin) schaut mich tadelnd an.

»Sei nicht sauer, Maggie«, sage ich ungerührt. »Ich werde darauf achten, dass für dich noch was zum Wegwischen übrig bleibt.«

Zugegeben, Benjamin mag jetzt heißer sein als damals, als wir Kinder waren, aber meine kleine Schwester himmelt den Typen an, als hätte nicht unsere ganze Familie miterlebt, wie er sich den Finger ins Ohr steckt, das klebrige Ohrschmalz untersucht und es dann an seiner Jeans abwischt.

»Hör nicht auf die Teufelsgöre«, sagt Max. Er beugt sich vor und fährt mir durch die Haare. »Unsere Meerhexe ist nur schlecht gelaunt, weil sie gestern Abend eine Party nicht ruiniert, sondern versehentlich noch etwas lustiger gemacht hat.«

Ich versetze ihm einen richtig harten Schlag. »Hab ich nicht.«

»Hast du doch«, sagt mein Bruder und reibt sich grinsend den Bizeps. »Du hast dafür gesorgt, dass die Partygäste in den Swimmingpool gefallen sind, genau wie in Ist das Leben nicht schön?. Ein bisschen abgekupfert von dem Film, aber alle waren begeistert von dem unerwarteten Kick. Ging sofort viral.«

»Ein Mädchen hat geweint«, widerspreche ich grummelnd.

»Nur eins? Wo bleibt dein machiavellistischer Touch?« Lachend holt Max sein Handy hervor und richtet es auf mich. »Vielleicht hast du ja beim nächsten Mal mehr Erfolg als Unglücksengel, Sis. Irgendeinen Kommentar zu deinem kläglichen Versagen?«

Ich starre erst ihn, dann den leeren Stuhl am Tisch an.

Als ich von Dior zurückkam, war Faith schon wieder weg. Vor vier Wochen hat meine mittlere Schwester sich von ihrem langweiligen Popstarfreund getrennt, einen Nervenzusammenbruch erlitten und sich den Kopf kahl rasiert. Danach schloss sie einen Kompromiss mit unseren Eltern, und jetzt darf sie tagsüber in der schäbigen Mietwohnung ihrer Freundin Scarlett in Brixton hausen, muss aber jeden Abend in unsere Villa zurückkehren. Mein Partywochenplan ist genau gegenläufig, daher sehen wir uns nur noch selten.

Nicht dass es mir etwas ausmacht. Effies Abwesenheit ist mir so was von egal.

Ich versetze ihrem Stuhl einen Tritt.

»O mein Gott«, haucht Hope und schmachtet Ben mit hochroten Wangen an. Sie küsst ihn. Muah. »Ben-ja-mi-no, ich schwör’s, du bist«, muah, »der attraktivste Junge«, muah, »den ich pazifisch in meinem Leben gesehen habe.«

Muah, muah, muah.

Ben lacht – »Endlich hast du’s gemerkt« – und erwidert ihren Kuss. Max und ich schauen uns an. Wird einer von uns der dummen Gans sagen, dass es spezifisch und nicht pazifisch heißt? Sie fängt bald in ihrer neuen Schule an – sollen sich doch die Experten dort darum kümmern.

»Seltsam.« Ich stehe auf und verschränke die Arme. »Genau das hast du auch schon über Jamie gesagt, Hope.«

Betretenes Schweigen.

»Du erinnerst dich noch an Jamie, oder?«, frage ich mit Unschuldsmiene. »Der Kalifornier? Groß, blond, muskulös, total selbstverliebt? Du warst wahnsinnig in ihn verknallt. Angeblich war er einfach perfekt. Bist du nicht sogar nach Amerika abgehauen, um mit ihm zusammen zu sein und so weiter?«

Alle haben die Köpfe gesenkt und starren vor sich auf den Tisch. Maggie knallt mehrere Teller in die Spüle.

»Oh, ups«, sage ich seufzend und schlage die Hand vor den Mund. »Ist das Thema für uns tabu? Mein Fehler.«

Das Strahlen in Hopes Augen ist erloschen, und sofort überfallen mich Gewissensbisse.

Musste das wirklich sein, Mercy?

»Das ist nun mal Tatsache«, sage ich schulterzuckend.

»Manchmal bist du eine herzlose Kuh, Mer«, sagt Ben leise und drückt Hopes Hand. »Das ist nun mal Tatsache.«

»Ich schätze, das ist auch der Grund, warum Miss Unbarmherzig ihren neuen Job bekommen hat«, knurrt Max, der sich wie immer auf die Seite unserer kleinen Schwester schlägt. »Ein boshaftes Lästermaul zu spielen, fällt dir nicht schwer.«

»Jamie war ein Fehler«, murmelt Pudel. »Das weiß ich inzwischen.«

Wieder herrscht betretenes Schweigen.

An dieser Stelle würde Faith jetzt etwas Nettes sagen, um die angespannte Stimmung zu lockern. Meine Zwillingsschwester Charity würde einen albernen Witz machen. Dad würde laut und sehr amerikanisch sein, und Mum würde mit einer scherzhaften Bemerkung das Eis brechen.

Aber sie sind nicht hier, die ganze Familie ist in Schieflage geraten.

»Was soll’s«, sage ich seufzend und wende mich zum Gehen. »Die Liebe ist erbärmlich, und ihr seid es auch.«

Dann knalle ich die Küchentür hinter mir zu.

3

Vier Jahre zuvor

»Timing ist alles.« Charity wickelt ein Familienfoto in Silber ein. »Jetzt ist gemeinsames taktisches Vorgehen gefragt.«

»Wie in einer Schlacht«, sage ich und nicke zustimmend, während ich ein Kissen umwickle.

»Genau.« Meine Zwillingsschwester streicht mit der Hand über die jetzt silbrig glänzende Kommode. »Unsere Strategie für den ultimativen Spaßeffekt.«

Wir grinsen uns triumphierend an, dann begutachten wir unser Werk.

Jeder Gegenstand in Hopes Zimmer ist in Alufolie eingekleidet. Die Kissen, die Bücher, die geliebten Hollywoodposter, die Stifte, der Teppich, das gesamte Bett inklusive Bettpfosten. Sogar ihr Lieblingskuscheltier Rocket hat einen silbernen Miniaturanzug verpasst bekommen, nur sein Gesicht haben wir frei gelassen, wir wollen ja nicht, dass der kleine Hund erstickt. Es hat den ganzen Vormittag gedauert und buchstäblich unser gesamtes Taschengeld gekostet, aber das war es allemal wert. Das Schlafzimmer unserer kleinen Schwester sieht aus wie eine bratfertige Ofenkartoffel.

»Prank-Plan läuft«, sagt Charity und nickt zufrieden. »Zeit?«

Ich blicke auf meine Uhr. »Zwölf Uhr vierzehn.«

»Noch sechzehn Minuten.«

Wie immer ist Tee die Ideengeberin unseres Streichs. Sie strahlt, ihre Pupillen sind geweitet, ihr Atem geht schneller. Eigenartig, wie ich jedes kleinste Detail registriere. Ich kenne sie besser als mich selbst.

»Bereit?«

»Immer.«

»Wir sind die Zweier-Armee.« Charity grinst mich an.

»Die Zweier-Armee«, wiederhole ich.

Und ich erinnere mich – wie ich es manchmal tue, in überraschenden kleinen Gedankensprüngen –, dass wir, abgesehen von einer kleinen Narbe an Charitys linker Augenbraue, für den Großteil der Welt eine Person in doppelter Ausführung sind: Doubletten, kopiert von einem gigantischen genetischen Computer.

»Los!«, ruft meine Zwillingsschwester. Auf ihr Kommando hin sausen wir wie zwei Flipperkugeln durch die Valentine-Villa.

Ich fange bei Mum an. Während sie im angrenzenden Badezimmer ist, lege ich eine dicke, fette Spinne in ihren Schrank. Dann verstecke ich eine bewegungsaktivierte Furzmaschine im Rucksack von Faith, unserem Perfect Girl. In der Zwischenzeit bereitet Charity den Streich für Grandma vor (ein lebensgroßes Filmposter von ihr, direkt hinter der Haustür), für Dad (Nebelhorn unter seinem Bürostuhl) und für Max (falsche Klopapierrolle in der Toilette im Erdgeschoss).

Völlig außer Atem verziehen wir uns wieder in unser Schlafzimmer. Genau genommen sind es zwei Schlafzimmer – ihres ist gelb, meines marineblau –, aber wie alles in unserem Leben haben sie schon immer uns beiden gehört.

»Mission erfüllt?«, flüstert Charity verschwörerisch, während wir uns auf die schlüsselblumengelbe Bettdecke fallen lassen.

»Mission erfüllt«, bestätige ich gut gelaunt.

Aneinandergekuschelt hören wir, wie das Plätschern aus Mums Dusche verstummt, Effs Schlafzimmertür aufgeht, Grandma und Hope mit der Limousine vorfahren, Dad von seiner Pause im Garten zurückkehrt, Max die Toilette hinter sich zuschließt.

»Zehn«, flüstert Tee feierlich und steht auf.

»Neun«, zähle ich weiter.

»Acht.«

»Sieben.«

»Weißt du«, sagt meine Schwester und streckt ihre Zeigefinger hoch, »es ist eigentlich keine Schlacht, sondern eine Sinfonie. Die richtigen Töne an den richtigen Stellen, in einer perfekten Mischung. Eine Kakophonie des Chaos.«

Ich lache. »Du bist böse. Sechs.«

»Fünf.« Charity hält ihre Finger an ihren Kopf wie kleine Teufelshörner, schließt die Augen und lächelt selig. »Ich bevorzuge die Bezeichnung Herrin über das Chaos.«

»Vier. Das ist fraglich.«

»Drei. Nein, nachweislich.«

»Zwei. Das werden wir ja sehen.«

»Das werden wir. Eins.« Den Bruchteil einer Sekunde später holt meine Schwester tief Luft, hebt die Hände wie ein Dirigent, und im selben Moment ertönt ein lautes Hupen …

»AAAAAAAAAAAAAGGGHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!!!!«

»Himmel nochmal!«

»Was zum Teufel …«

»Das war nicht ich!« Furz. »Wirklich nicht!« Furz. Furz. »Ich schwöre es!« Furz, Furz, Furz.

»ICH DREH DIR DEN HALS UM! KOMM NUR HER, DU KLEINE …«

Wumm, wumm, wumm . . .

»Yay, Aliens!«

Zufrieden lässt Charity sich wieder neben mich aufs Bett fallen: prustend und kichernd liegen wir da, zu einem Knäuel verschlungen wie auf dem gerahmten Ultraschallbild in Mums Schlafzimmer, bei dem man nicht genau erkennen kann, wo die eine aufhört und die andere anfängt.

»Jetzt kommt der Refrain«, gluckst meine andere Hälfte.

Grinsend hebt Tee erneut ihren unsichtbaren Taktstock, und wir halten den Atem an.

Ein paar Sekunden bleibt es still.

Dann hören wir sie, von überall im Haus, vereint zu einem Chor der Entrüstung: »CHARRRIIITYYYYYY!!!«

4

»Herrin über das Chaos?« So ein Schwachsinn.

Und eine Dreizehnjährige, die mal eben so das Wort Kakophonie einwirft? Lächerlich.

Missmutig werfe ich mir ein schwarzes Gucci-Kleid über die Schulter.

»Willst du mich verarschen?«, knurre ich und lege noch eine schwarze Prada-Hose dazu, während ich weiter wütend meinen großen begehbaren Kleiderschrank durchstöbere. »Ein kleines bisschen Respekt, ist das wirklich zu viel verlangt?«

Ich werfe einen Blick auf das Etikett eines schwarzen Jumpsuits: Fehlanzeige.

»Den Anstand, meine Sachen in Ruhe zu lassen.« Noch ein Jumpsuit: wieder Fehlanzeige. »Ich möchte doch nur in meinen eigenen Kleiderschrank gehen und mich für meinen ersten Tag in meinem neuen Job fertig machen können, ohne dass mein sorgfältig zusammengestelltes Outfit anscheinend vom Erdboden verschluckt ist.«

Ich wühle mich durch einen Stapel stinkender Nachtclubklamotten auf dem Fußboden. Warum kann Maggie nicht einfach meinen Kleiderschrank betreten und meine schmutzige Wäsche selbst heraussuchen? Was für eine Haushälterin ist sie überhaupt?

»Aber nein, die hirnlose kleine Kackbirne spaziert frech in meinen Schrank« – ein schwarzes Shirt fliegt in hohem Bogen in die Ecke – »und nimmt sich, was sie will« – dann ein schwarzes Korsett-Top – »und haut einfach ab.« Ein schwarzer Schal. »Und wenn ich meinen Jumpsuit von Yves Saint Laurent brauche, ist meine diebische Schwester über alle Berge und …«

Oh. Da ist er ja.

Jetzt schaust du ziemlich dumm aus der Wäsche, was?

Ich schnaube. »Er hat ihr vermutlich nicht gepasst, aber was soll’s.«

Genervt ziehe ich den Overall an. Dann fasse ich mein geglättetes, dickes schwarzes Haar zu einem lockeren Dutt, steige in schwarze Stiefel mit Spikeabsätzen, die man notfalls auch als Waffe benutzen kann, umrande meine Augen mit schwarzem Liner und tupfe dunkelvioletten Lippenstift auf.

Ich muss schon auf den ersten Blick abweisend aussehen. Es gibt bereits genug Muppets in meinem Leben, ohne dass ich bei der Arbeit aus Versehen noch mehr davon einsammle.

Das ist sehr viel Schwarz, Mer.

»Ich mag Schwarz. Es ist meine Lieblingsfarbe.«

Nein, ist es nicht.

»Doch, ist es. Schwarz ist raffiniert und brutal und macht aus mir eine wilde Kriegsgöttin.«

Es ist trostlos und langweilig. Deine Lieblingsfarbe ist Rot.

»Pfff.« Mit meinem schwarz lackierten Fingernagel wische ich den verschmierten Lippenstift am Mundwinkel weg. »Vielleicht als ich klein war. Rot wie Blut.«

Rot wie Rosen. Wie Lippenstifte. Wie HERZEN.

»Wie Gefahr«, erwidere ich scharf. »Bleib weg von mir, das ist die Botschaft von Rot.«

Rot wie der lange, schmale Teppich. Die passende Farbe, wenn man später einmal eine berühmte Schauspielerin ist und von der ganzen Welt geliebt wird, genau wie Mummy.

»Ha!« Ich verdrehe spöttisch die Augen. »Niemand will wie dieser lebendig gewordene Albtraum sein, der hinter verschlossenen Türen haust. Sie ist eine Blamage für die Valentines.«

Und du redest mit dir selbst im Spiegel.

»Halt die Klappe.«

Nur weil es auch deine Klappe und dein Gesicht ist, hahaha.

Verärgert drehe ich den Spiegel Richtung Decke, schnappe mir die schwarze Gucci-Handtasche, stopfe mein Skript zusammen mit irgendwelchen Make-up-Utensilien hinein und schwinge sie über meine Schulter.

Nur zu deiner Information: Violett steht dir nicht besonders gut.

Und das ist mir nicht einmal eine Antwort wert.

Nachdem ich meine Schlafzimmertür doppelt abgeschlossen habe, stürme ich gefrustet die Treppe hinunter. Unten lauert meine kleine Schwester. Ihre Dreistigkeit ist fast schon beeindruckend.

»Wage es nicht«, sage ich scharf, als Pudel sich aus der Bibliothek hervorwagt.

»Hm?«

»Ich warne dich, Kleine. Ich werde ein Universum des Schmerzes entfesseln. Ich werde die Feuer der Hölle entfachen und sie über deinen Kopf gießen, bis dein Gehirn kocht.«

Hope blinzelt und legt den Kopf schief. Sie hat so ein süßes, hübsches Gesicht: herzförmig und mit großen Kulleraugen. Wer würde vermuten, dass sich dahinter eine skrupellose Kleiderpiratin verbirgt?

»Huch!«, sagt sie mit geradezu chronischer Fröhlichkeit. »Wie dramatisch! Kann ein Gehirn kochen, was meinst du? Oder brutzeln? Wie finden wir das heraus, ohne jemanden dabei zu verletzen?«

Ganz im Ernst, ich könnte genauso gut versuchen, einem Babyigel zu drohen.

»Lass die Finger von meinen Klamotten«, sage ich, obwohl es sinnlos ist.

»Okay!« Hope nickt und strahlt mich an. »Können wir kurz quatschen, Mer? Ich habe zufällig ein paar sehr interessante Informationen.«

Auch das noch …

»Nein.« Ich nehme meine Schlüssel vom Tisch, während Pudel beschwingt hinter mir hertrippelt.

»Alsooo …« Sie reckt den Hals und wirft verstohlen einen Blick nach links und rechts wie eine Spionin in einem Comic. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass unser großer Bruder ein superwichtiges Geheimnis hat.«

Sie wartet darauf, dass ihre Ankündigung Wirkung zeigt.

Ich öffne die Haustür. »Ist mir egal.«

»Und nach gründlichen Nachforschungen«, fährt sie triumphierend fort, »die beim Frühstück begannen und soeben endeten« – also insgesamt fünfzehn Minuten, mach Platz, Sherlock Holmes –, »habe ich mich vergesichert, dass …«

»Vergewissert.«

»Nein, Mercy, ich weiß es jetzt sicher.« Hope sieht mich betont geduldig an, als wäre ich eine störrische Schülerin, etwas schwierig zwar, aber doch kein ganz hoffnungsloser Fall. »Das Wort, nach dem wir suchen, ist vollsicher.«

»Das Wort, nach dem wir suchen, ist Vollpfosten.«

Die Limousine der Familie Valentine wartet in der Einfahrt auf mich, und ich muss dringend ein wichtiges Skript in der luxuriösen Stille eines Fahrzeugs überfliegen, dessen Chauffeur intelligent genug ist, den Mund zu halten. Stattdessen höre ich wehrlos dem Geschwafel meiner Schwester zu, die genau das nicht ist.

Seufzend stapfe ich die steinernen Verandastufen hinunter.

»Er hat eine geheime Freundin!«, kräht Hope hinter mir her, unfähig, die Überraschung auch nur eine Sekunde länger für sich zu behalten. »Max ist in einer Beziehung!!! Ich habe es ganz allein herausgefunden! Er verschwindet ständig und macht Selfies und Videos von sich! Es ist Liebe!«

Sag es nicht. Sag es nicht. Lass es einfach …

»Glückwunsch«, sage ich schnippisch über die Schulter hinweg. »Faith und ich haben das vor einem Monat herausgefunden. Gut gemacht, Einstein.«

Enttäuschung verdüstert für einen Moment das Gesicht meiner kleinen Schwester.

Bravo, Mercy.

»Und du hast mir nichts gesagt …« Hope schluckt und rappelt sich auf, als ich die Wagentür aufreiße. »Das ist okay! Denn ich werde herausfinden, wen Max liebt, dann weiß ich mehr als du!«

Sag was Nettes. Oder lächle. Nur ganz kurz …

»Höchst unwahrscheinlich bei einer geistigen Tieffliegerin wie dir.«

Ich steige ein, verriegle mit einem Klick die Tür, schließe die Augen und zupfe an dem schrundigen Schorf an meinem Fingerknöchel, bis das Schuldgefühl verschwunden ist.

Dann öffne ich die Augen wieder.

»Was?«, blaffe ich den Chauffeur an. »Was starren Sie mich so an? Fahren Sie los.«

5

Ich weiß, wie sich Glück anfühlt.

Wenn ich auf der Bühne oder vor einer Kamera stehe, löst sich Mercy Valentine auf, und ich werde jemand anderes: eine andere Person mit einem anderen Leben und einer anderen Vergangenheit. Plötzlich sind meine Worte nicht mehr die meinen. Gedanken und Gefühle werden ersetzt. Sogar meine Erinnerungen gehören einem anderen Menschen.

Meine Entscheidungen haben andere Konsequenzen.

Ja, ich denke, du verstehst, worauf ich mit diesem kleinen Monolog hinauswill.

Glück ist … nicht ich zu sein.

 

»Sie ist da!« Verity Ramirez blickt demonstrativ auf ihre Uhr, als ich ins Globe Theatre stürme und mit meinen rasiermesserscharfen Absätzen Aufmerksamkeit einfordere. »Pünktlich auf die Minute! Alle mal herhören, ich freue mich sehr, euch unsere neue Hauptdarstellerin Mercy Valentine vorstellen zu dürfen!«

Die gesamte Besetzung und die Crew sind in ein heruntergekommenes Hinterzimmer verbannt worden, bei dem von Theaterglamour nichts zu spüren ist. Behelfsmäßige Tische reihen sich aneinander wie bei einem kostengünstigen Hochzeitsbuffet, anstelle von Besteck liegen Skripte aus, und ungefähr zwanzig Augenpaare sind neugierig auf mich gerichtet.

Ich hebe kurz grüßend die Hand.

»Und ja«, fährt meine neue Regisseurin fort, die mit ihrem schwarzen Bob und der im flackernden Neonlicht schimmernden dickrandigen Schildpattbrille jedes Klischee erfüllt, »es ist verständlich, wenn wir als Thespisjünger große Fans der Valentine-Familie sind, aber lasst uns dennoch versuchen, das Ganze professionell zu handhaben.«

Ich knalle meine Tasche auf einen der zwei freien Stühle.

»Wollen Sie damit andeuten, dass ich den Job nur bekommen habe, weil meine Familie berühmt ist?« Ich lasse mich mit verschränkten Armen auf den anderen Stuhl plumpsen und blicke sie entrüstet an. »Sie können von Glück reden, dass Sie mich haben. Nennen Sie mir irgendeine andere Schauspielerin, die praktisch in letzter Sekunde die Hauptrolle in Viel Lärm um nichts übernehmen kann.«

Vor ein paar Tagen hat die Loserin, die den Part der Beatrice in Viel Lärm um nichts spielen sollte, voll auf retro gemacht und sich beim Rollschuhlaufen den Knöchel zertrümmert, zwei Wochen vor der Premiere. Dass sie den sprichwörtlichen Beinbruch wörtlich genommen hat, finde ich erbärmlich und zum Weinen, und genau das habe ich meiner Agentin auch gesagt.

»O Gott, nein! Hier gibt es keine Vetternwirtschaft!« Verity wendet sich dem Rest des Ensembles zu und versichert: »Mercy ist eine höchst talentierte Schauspielerin, und wir sind sehr dankbar, dass wir jemanden mit ihrer Medienpräsenz so kurzfristig engagieren konnten!« Sie lacht gepresst. »Diese Ehre haben wir uns ziemlich viel kosten lassen, hahaha!«

Ich beschließe, dass sie mein Ego gebührend gestreichelt hat, und nicke gespielt gnädig.

Umzingelt von freundlich lächelnden Gesichtern, zwinge ich mich zu einem dieser Grusellächeln, bei dem man den Mund verzieht und kurz die Augen aufreißt, so dass niemand sicher sein kann, ob das Lächeln echt oder sarkastisch ist, obwohl es ziemlich eindeutig Letzteres ist.

»Wir anderen kennen uns natürlich längst«, fährt Verity mit unechter Begeisterung fort. »Aber da die heutige Probe eigens angesetzt wurde, um Mercy in unser Team aufzunehmen, schlage ich vor, wir stellen uns zuerst einmal vor.«

Eine hübsche Rothaarige – sie spielt die Rolle der Hero, weshalb ich sie fortan Hero nenne, denn ich habe keine Lust, mir die IRL-Namen zu merken – macht den Anfang. Sie spricht von ihren Hoffnungen, Träumen, Visionen für die Zukunft oder was auch immer. Als Nächstes ist Gouverneur Leonato dran, gefolgt von der Zofe Margarethe und Don Juan, dem Bösewicht des Stücks.

Einer nach dem anderen sagt etwas, das so unbedeutend und banal ist, dass ich am Ende halb über dem Tisch liege, das Kinn auf den Arm gestützt, gelangweilt an meinen Nägeln zupfe und schwarze Nagellacksplitter quer durch den Raum schnippe. Sie sind alle nur Nebenfiguren: Wer zum Teufel interessiert sich für die Sülze ihrer banalen Lebensgeschichten?

»Ich bin Daisssyyy, aber du kannst Dayyy zu mir sagen.«

Die Worte kommen so langsam und gedehnt, dass ich gezwungen bin, durch meine Wimpern hochzuschauen, nur um zu sehen, was für eine dumme Pute ich vor mir habe. Daiiisssyyy ist ungefähr in meinem Alter und hat ein langes Gesicht, einen langen Pony, lange Augen, eine lange Nase, lange Finger und lange Arme. Sie sieht aus, als wäre sie auseinandergezogen worden wie warmes Toffee. Und überhaupt, wie schwer ist es, die Haare zu färben? Wie kommt sie darauf, die natürliche Farbe – und noch dazu diese – beizubehalten? Also, wenn du mich fragst, ist das einfach arrogant.

»Ich spiele den zweiten Wächter«, erklärt sie über einen Zeitraum von dreihundert Jahren hinweg und lächelt dabei schüchtern. »Ich weiß, es ist nur eine wiiinzige Rolle, aber es ist meine eeerste, und ich kann es kaum erwaaarten …«

»Tut mir schrecklich leid, Leute!« Ein blonder Typ, den man vermutlich attraktiv nennen könnte – vorausgesetzt, man mag Männer mit Familienwappen, was ich nicht tue –, schlendert auf uns zu, in Jeans, gestärktem weißen Hemd und einem babyrosa Pashmina-Schal. »Der Verkehr war mörderisch! Sorry, ihr Lieben!« Posh-Boy grinst mich mit seinen Porzellanverblendungen an, die so groß sind, dass er aussieht wie ein pastellfarbenes Zebra. »Hallo erst mal! Du bist wohl meine neue Gespielin!«

Natürlich kenne ich Eli Bickford-Goggins, der seine blonde Gardine im Sonnenschein schwingt wie die Mähne eines reinrassigen Ponys, sobald sich auch nur irgendwo Paparazzi blickenlassen.

Ich habe für ihn nur meinen speziellen nichtssagenden Blick übrig und verdrehe ganz leicht die Augen. Das Mädchen, das die Margarethe spielt, ist neonpink angelaufen und starrt tödlich verlegen zu Boden. Offensichtlich haben die beiden bereits ihre kleine gescheiterte Romanze am Set hinter sich.

Was für armselige Amateure.

»Und hier ist er, unser Held!« Verity winkt Eli zu dem noch einzigen leeren Stuhl. Widerwillig nehme ich meine Tasche hoch und lege sie auf den Tapeziertisch. »Immer wieder eine Freude, Elijah! Aber – und denk jetzt bitte nicht, dass ich nur dich allein herauspicke – wir müssen unbedingt pünktlich zu den Proben erscheinen. In Zukunft werde ich die Tür abschließen!«

Alle außer mir kichern nervös.

»Nein, wirklich, ich habe genug.« Sie lächelt bis zum Anschlag. »Ich werde abschließen und niemanden reinlassen. Und jetzt lasst uns loslegen, ja?«

Innerhalb von Sekunden rattert Eli Bilbo-Baggins seine komplette Biographie herunter, einschließlich des Krankenhauses, in dem er geboren wurde. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und starre zur Decke eines der bedeutendsten Theater der Welt. Gleich nebenan, auf der anderen Seite der Wand, befindet sich die berühmteste Bühne, die je ein Schauspieler betreten hat. Hier begann auch Mums Karriere, vor zwanzig Jahren. Oder wie auch immer man es nennt, nachdem es vorbei ist.

Ein leichtes Klopfgeräusch dringt durch die Wand eines Hinterzimmers.

Ich kneife die Augen zusammen.

»Das ist sie also, kurz und knackig«, schließt Eli Dingo-Daggins in einem so vornehmen Tonfall, dass selbst Affen Juckreiz davon bekommen. »Die Geschichte meines kometenhaften …«

Tapp, tapp, tapp, TAPP.

»… Aufstiegs, die Quintessenz meines bisherigen Lebens, ein Soupçon meiner Vergangenheit, könnte man sagen …«

TAPP, TAPP, TAPP, TAPP, TAPP.

»Ähm, sorry.« Posh-Boy schwenkt seinen Pashmina in die Richtung, aus der das Klopfen kommt. »Störe ich jemanden?« Alle drehen sich zu dem hartnäckigen Lärm um, der jetzt zum lauten DRRRRRRRRRR einer elektrischen Bohrmaschine anschwillt und dann plötzlich verstummt.

»Oh, hahaha!« Veritys Lachen klingt kein bisschen wie Lachen. »Kümmere dich nicht um Finneas! Er wohnt praktisch hier! Offiziell ist er Bühnenarbeiter, aber für einen Schokoladenkeks würde er so ziemlich alles tun!«

Stille, dann …

Tapp.

Ich starre auf mein Skript und versuche, nicht hämisch zu grinsen.

»Okay, wo war ich stehengeblieben?« Eli Dunkin-Donut räuspert sich irritiert und setzt dann seinen Monolog fort. »Ah ja, als ich noch ein Grünschnabel war, habe ich …«

Ich stoße einen gelangweilten Seufzer aus, laut genug, dass alle ihn hören können.

Von der anderen Seite unseres Kreises lächelt Hero zu mir herüber und zieht eine Augenbraue hoch. Schnell schaue ich weg und lasse mich wieder auf den Tisch fallen. Ich spüre, wie alle aus meinem neuen Ensemble mich gespannt beobachten und auf die erstbeste Gelegenheit warten, mich mit offenen Armen in dieses aufregende Gemeinschaftserlebnis aufzunehmen.

Wie sagt Don Juan so treffend? Ich kann mich nicht verstellen.

Aber warum zum Teufel sollte ich das überhaupt wollen?

6

Außerdem ist dieses Theaterstück als Komödie gedacht.

Offensichtlich hat sich niemand die Mühe gemacht, diese Info an das Ensemble weiterzugeben.

 

»Brach er in Tränen aus?«, fragt Leonato, als wir endlich etwas holprig mit der Leseprobe beginnen.

»Über alle Maßen«, antwortet ein Bote und nickt.

»Ein Übermaß an Zärtlichkeit.« Der alte Mann lächelt herzlich. »Kein Gesicht ist ehrlicher als ein so gewaschenes. Wie viel besser sind Tränen der Freude als Freude an Tränen!«

Alle schauen mich gespannt an und warten auf meine ersten Sätze.

»Verflixt«, murmle ich vor mich hin. »Ich fange gleich an zu weinen, wenn du dein lahmes Gebrabbel nicht endlich aufpeppst.«

»Wie bitte?« Verity sieht mich stirnrunzelnd an. »Mercy, kannst du etwas lauter sprechen?«

»SAGEN SIE«, blöke ich, »IST SIGNOR HAU VON STECHER MIT HEILER HAUT DAVONGEKOMMEN ODER NICHT?«

»Ähm, sehr schön!« Die Regisseurin räuspert sich und fragt sich schon jetzt, was sie mit mir anfangen soll. »Nur eine kleine Anmerkung: Denk daran, dass Beatrice hier nach Benedikt fragt, weil sie schon vor Beginn des Stücks verrückt nach ihm ist. Versuch also, deinem Text etwas mehr Nuancen zu verleihen, wenn du kannst.«

Ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu.

»Beim Arsch einer Fledermaus – wer ist Benedikt?«

»Ah.« Verity hüstelt. »Wir mussten seinen Namen ändern, damit er zu unserer jungen Besetzung und einem jungen Publikum passt. Mit der Zeit gehen, angemessen bleiben und so weiter.«

»Schade.« Ich schaue zu Eli, der gerade einen losen Faden am Ende seines Pashminas mit dem Ausdruck echter Hingabe untersucht. »Benedick hätte perfekt zu ihm gepasst.«

Irgendjemand aus dem Ensemble kichert.

Ehrlich, ich freue mich wirklich sehr, im Globe arbeiten zu dürfen, aber musste es für meinen großen Durchbruch ausgerechnet eine Romanze sein? Eine Tragödie wäre mir lieber gewesen. Ich wäre eine fabelhafte Goneril oder eine coole, wenn auch sehr junge Lady Macbeth. Stattdessen muss ich mich mit schnulzigen Dialogen von Hero und Claudio herumschlagen, die sich ineinander verlieben, ohne je auch nur ein einziges vernünftiges Gespräch zu führen, und Benedikt und Beatrice, die sich gegenseitig hassen, bis ihre Freunde ihnen einreden, sie seien ineinander verliebt, woraufhin sie prompt heiraten.

Bei Shakespeare bedeutet Romanze entweder, sich emotional an jemanden zu binden, den man kaum kennt, oder den Rest des Lebens mit jemandem zu verbringen, den man nicht ausstehen kann.

Wenigstens hat Beatrice am Anfang ihr Hirn eingeschaltet.

»Ich wundere mich, was Sie immer reden, Signor Benedikt«, sage ich seufzend zu Eli. »Kein Mensch hört Ihnen zu.«

»Was?« Er lacht. »Fräulein Zicke von Hochmut! Sie leben auch noch?«

»Wie soll einem der Hochmut vergehen …«

Ich blicke abrupt hoch: Daiiisssyyy flüstert meinen Text mit. Weiß der Himmel, warum das langsamste Mädchen der Welt sich so in dieses Stück hineinsteigert. Der zweite Wächter könnte mittendrin zur Mani- und Pediküre gehen, und niemand würde es bemerken.

»Wie soll einem der Hochmut vergehen«, wiederhole ich überdeutlich, »wenn er mit solchen Verächtlichkeiten wie Signor Benedikt fettgefüttert wird? Sogar die Höflichkeit wird zu Hochmut, wenn Sie sich blickenlassen.«

»Ich wollte, mein Herz würde mir sagen, dass ich nicht ganz herzlos bin.« Eli grinst mit seinen unfassbar riesigen Zähnen. »Denn ich liebe keine …«

Und schließlich meine Lieblingszeile. »Lieber höre ich meinen Hund nach einer Krähe bellen, als einen Mann um Liebe winseln …«

Aber mit einem Mal fühle ich mich irgendwie … kribbelig.

»Mercy?«, fragt die Regisseurin.

»Ähm.« Ich starre auf mein Skript und kratze mich im Nacken. »Lieber höre ich meinen Hund nach einer Krähe bellen, als einen Mann um Liebe winseln.«

Ich schaue auf meine Arme: Alle Härchen haben sich aufgestellt. Stirnrunzelnd blicke ich in die Runde, aber die anderen sind alle auf das Skript konzentriert.

Und dann ist das Kribbeln weg, einfach so.

Ich blinzle.

»Ja nun, Sie hätten Sprachlehrerin an der Papageienschule werden sollen«, schnaubt Eli Poopy-Piggins. Mir graut schon vor unseren Liebesszenen. Er ist verstörend glatt und porenlos – es wird sein, als würde man mit einem haarlosen Kater rummachen.

Für die restliche Szene wird Beatrice nicht mehr gebraucht, also hole ich mein Handy hervor. Dior hat ein Foto von uns auf der gestrigen Party gepostet. Sie sieht perfekt aus; ich habe ein Auge halb geschlossen und ein Doppelkinn.

Schlecht gelaunt schreibe ich darunter:

Partyzeiten sind gute Zeiten. <3 <3

Dann schreibe ich ihr:

LÖSCH ES SOFORT, ODER ICH LÖSCHE DICH

Mein Handy macht Pling.

Aber ich sehe so hübsch aus :(

Mit zusammengebissenen Zähnen schreibe ich eine Antwort:

Nicht mehr lange, wenn du es nicht SOFORT löschst.

Im nächsten Moment ist das Foto verschwunden. Das ist genau der Grund, warum ich bei Grandma darum gekämpft habe, die Kontrolle über meine sozialen Medien zu behalten.

Dann tippe ich:

SUP.

 

Pling.

Stand-up-Paddleboarding? X

Meine Nasenflügel zucken.

Ja, ich schreibe über den langweiligsten Wassersport der Welt.

Pling.

Eigentlich macht es richtig Spaß. Gutes Core-Training, stärkt die Kernmuskulatur. X

Schnell haue ich eine Antwort raus:

Ich bin kein Apfel.

Ich lächle, weil ich weiß, dass Effie jetzt auch lächelt, dann schreibe ich rasch:

Ist alles in Ordnung? Ich mache mir Sorgen. Ich habe dich schon ewig nicht mehr gesehen.

Pling.

Ja! Mir geht’s wirklich gut! Xx

Ich runzle die Stirn, nicht restlos überzeugt.

Sicher? Ich habe die Schlagzeilen über Noah und seine neue Fr

»Mercy?« Ich blicke kurz hoch: Das Gesicht unserer Regisseurin sieht aus wie das einer Plastik-Legofigur mit aufgemaltem Lächeln. »Ich weiß, du hast in dieser Szene momentan eine Pause, aber vielleicht könntest du deine Handykommunikation erst dann wieder fortsetzen, wenn nicht alle hier im Raum eine zusätzliche Leseprobe extra für dich machen?«

Alle Ensemblemitglieder starren mich mit leicht geöffneten Mündern an.

Toller erster Eindruck, Mer.

»Familiärer Notfall«, sage ich knapp und stecke mein Handy zurück in meine Handtasche. »Aber gut. Dann lasse ich eben meine jüngere Schwester mit ihrem emotionalen Zusammenbruch alleine, wenn euch das glücklich macht.«

Mercy!

Was?! Ich mache mir Sorgen um Faith! Sie als Ausrede für einen unhöflichen Seitenhieb zu benutzen, ist ein willkommener Nebeneffekt.

»Oh.« Eli Buzzard-Bullock beugt sich vor und interessiert sich heute zum ersten Mal für jemand anderen außer sich selbst. »Und mit Schwester meinst du nicht zufällig den exquisiten Engel Faith Valentine?«

Ich blicke ihn aus schmalen Augen an. »Vielleicht.«

»Könntest du mich ihr vorstellen, ich meine, mir ein Intro verschaffen? Kleine Gefälligkeit unter Kollegen und so?« Diesmal gewährt er mir sogar einen Blick auf sein Zahnfleisch. »Wie ich gelesen habe, ist sie vor kurzem sitzengelassen worden, wirklich sehr traurig, und dabei bin ich ganz vernarrt in sie, das kannst du mir glauben.«

»Ich würde dir ja gerne weiterhelfen« – ich ziehe eine Grimasse und hebe scheinbar ratlos die Hände –, »aber wir haben sie zur Strafe ins Kloster gesteckt, weil sie es nicht geschafft hat, ihren Mann zu halten.«

Da ist wieder dieses Kribbeln. Hat gerade jemand … gelacht?

Verity knallt ihr Skript unnötig hart auf den Tisch. »Gut, fangen wir an, ja?« Und dann hangeln wir uns scheinbar endlos weiter bis zum Schluss, volle zwei Stunden länger als geplant.

»Spielt, ihr Musikanten!«, beendet Benedikt die letzte Szene. Kaum hat er das gesagt, schiebe ich meinen Stuhl zurück, stehe auf und werfe mir meine Tasche über die Schulter.

Hero springt gleichzeitig auf und folgt mir nach draußen.

»Hey!« Sie tippt mir auf die Schulter. Es scheint ihr nichts auszumachen, dass ich sie geflissentlich ignoriere. »Mercy?«

Ich nicke und schaue demonstrativ auf meine Uhr, obwohl ich genau weiß, wie spät es ist.

»Ein paar von uns gehen nach der Probe noch schnell einen Burger essen, wenn es wieder mal spät geworden ist.« Sie lächelt mit beunruhigend ernsten blauen Augen. »Wir haben uns gefragt, ob du vielleicht Lust hast mitzukommen?«

Hinter ihr lauern mehrere Leute aus dem Ensemble. Sie haben ihre Jacken in der Hand und schauen mich freundlich, hoffnungsvoll und ein bisschen ehrfürchtig an. Ich starre ein paar Sekunden lang zurück, ehe ich loslache.

»Wie kommt ihr denn auf die Idee?«, frage ich glucksend und stoße die Tür weit auf. »Ich bin Mercy Valentine. Glaubt ihr ernsthaft, ich habe nichts Besseres zu tun?«

Es ist mein bester Satz des ganzen Tages.

7

RIDE OR DIE GANG

Dior

Mercy, du kommst zu spät!

Nova

DU bist spät dran, Dee.

Dior

Bin ich nicht, ich stehe direkt neben dir!

Nova

*augenroll*

Amethyst

Was MACHST du da, Cee? Diese Party ist LIT, es gibt vegane Minihotdogs! Steckst du immer noch bei diesem kleinen Theaterstück fest?

Mercy

Bin eben zur Tür raus. Und nenn es nicht kleines Theaterstück.

Dior

Viel Lärm um NICHTS, oder? hahahahaha

Amethyst

LOL

Nova

Yessssss

Mercy

So lautet der Titel, und genau darum geht’s.

Ich stelle mich in Positur, streiche über meine schulterlange blaue Perücke und strecke möglichst gebieterisch das Kinn vor. Ich bereue schon jetzt, dass ich mich für den Bauch-rein-Body entschieden habe. Er schien eine gute Idee zu sein, aber jetzt fühlt es sich an, als trüge ich den einengenden Badeanzug einer prüden viktorianischen Lady, für die Atmen zweitrangig ist.

»Mercy!« Flash. »Mercy Valentine! Hier drüben!«

»Mercy!« Flash. Flash. »Schau hierher!«

»Mercy!«

Mit einem wilden Blick fixiere ich die Paparazzi, und sie starren zurück. Die allgemeine Aufmerksamkeit streicht warm und süchtig machend über meine Haut.

»Mercy!« Einer der Paparazzi hält seine Kamera höher. »Mercy Valentine! Wie ist die neue Rolle?«

Ich erlaube mir einen kleinen Anflug von Stolz.

»Wundervoll.« Ich wechsle die Pose, lege eine Hand auf die Hüfte und schiebe meine Schlüsselbeine vor, so dass ich highfashion aussehe. »Ich fühle mich geehrt, in die Fußstapfen meiner Mutter treten und Shakespeares berühmte Beatrice im Globe spielen zu dürfen.« Ich mache eine kurze Pause, des Effekts wegen. »Obwohl ich ihr hoffentlich nicht den ganzen Weg bis in die Reha folgen werde.«

Kollektives Schocklachen der Paparazzi.

Alles für eine Schlagzeile, was?

Darauf kannst du wetten, Baby.

»Irgendwelche Neuigkeiten von Faith?« Flash. »Geht es ihr gut? Sie wurde seit Wochen nicht mehr gesehen!«

Es versetzt mir einen Stich. Denn da fragen sie die Falsche. Sie wissen wahrscheinlich genau so viel wie ich.

»Es steht mir nicht zu, über persönliche Angelegenheiten meiner Familie zu sprechen«, antworte ich entschieden und drehe mich in eine andere Richtung. »Ich kann nur für mich selbst sprechen.«

Kurzes enttäuschtes Schweigen.

»Obwohl«, füge ich hinzu und wechsle meinen Ausdruck zu tränenreich-aber-tapfer, »ich hoffe, die jüngsten emotionalen Schwierigkeiten meiner Schwester tragen zur Entstigmatisierung der psychischen Probleme bei, unter denen selbst die Erfolgreichsten und Schönsten leiden.«

Mercy! Hör auf, Faith für deine Publicity-Gier zu benutzen!

Effie selbst will den Ruhm nicht, also warum kann ich ihn nicht einheimsen?

»Und, Mercy, wie geht es …?«

»Hallo in die Runde!« Eine spärlich gekleidete Dee gesellt sich zu mir und umklammert meinen Arm – in einem Outfit, das für einen kleinen Hund gemacht zu sein scheint. »Ich bin Dior Nguyen, die beste Freundin von Partygirl Mercy Valentine!«

Irritiert – das war’s dann wohl mit meinem großen Solointerview – lächle ich in die Kameras: fünf, vier, drei, zwei …

Dann schüttle ich den Arm der dummen Gans ab.

»Weißt du«, flüstert Dior, als wir zum Aufzug des berühmten Gebäudes mit dem lächerlichen Namen Gherkin gehen. (Gewürzgurke? Im Ernst? Was kommt als Nächstes? Der Cracker-Tower? Das Mixed-Pickles-Building?) »Mummy und Daddy waren nach unserer Party stinksauer, weil alle durchs Haus getrampelt sind und Wasserspuren hinterlassen haben! Sie meinten: Diese Mercy ist ein schlimmes Früchtchen, was? Das kommt davon, wenn die Eltern nie da sind. Und ich so: Unser Haus ist jetzt berühmt, ihr solltet euch freuen! Haha!«

Die Fahrstuhltüren öffnen sich auf halber Höhe, und ich sehe mich einem knutschenden Pärchen mit sichtbar großem Altersunterschied gegenüber. Ah, ein Beispiel für den gesellschaftlich akzeptierten Deal von Aussehen und Jugend gegen Macht und Geld.

Vielleicht sind ihre Gefühle ja echt.

»Süß«, sage ich laut. »Babysitten kann so lohnend sein, was?«

Abrupt lösen sie sich voneinander.

Musst du immer so zynisch sein?

»Du meinst wohl realistisch.«

»Hm?« Dior runzelt die Stirn, als sich die Türen wieder schließen. »Was hast du gesagt?«

»Nichts.«

Mit verschränkten Armen lehne ich mich an die Wand des Aufzugs, bis die Türen erneut zur Seite gleiten und den Blick auf den gewölbten, lila beleuchteten vierzigsten Stock freigeben. Der Raum ist proppenvoll bis hinauf zur frei liegenden Stahlkonstruktion. Jeder hier hat entweder bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad oder bemüht sich sehr, ihn zu erlangen.

Dior drückt schon wieder meinen Arm. Wenn sie so weitermacht, könnte es sein, dass sie sehr bald ihre Hand verliert.

Ich schüttle sie ab und sehe mich nach den anderen beiden um.

»Babes!!!« Wie aufs Stichwort tauchen Amethyst und Nova auf, deren aufeinander abgestimmte Fummel im duftigen Mehrlagenstil krampfhaft gewollt aussehen. »Na endlich! So ein Pech, du hast ein Riesendrama verpasst! Er« – sie deuten mit einem Nicken auf einen A-Promi der Schauspielzunft – »hat sich gerade an sie rangemacht« – sie nicken zu einem Model hin –, »obwohl jeder weiß, dass sie sich heimlich mit …«

»Hört auf«, unterbreche ich die beiden und zupfe an meinem Fingerknöchel. »Ihr langweilt mich.«

Dee, Mee und Vee schauen sich an.

»Weißt du«, sagt Nova und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor. »Du kannst manchmal echt verletzend sein, Cee.« Sie hebt ihr Kinn. »Tee hätte nie so mit uns gesprochen.«

»Tja, Tee ist nicht hier«, blaffe ich sie an, als ich im selben Moment Faiths erbärmlichen Exfreund erspähe, der in einer Ecke Hof hält. »Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Schon vergessen?«

Entschlossen straffe ich die Schultern und marschiere durch den Raum auf ihn zu. Noah tut so, als würde er mich nicht sehen. Ich überwinde meine innere Abscheu, bleibe gaaanz nah bei ihm stehen und atme tief durch die Nase, bis er meine in Szene gesetzte, Gänsehaut hervorrufende Anwesenheit nicht länger ignorieren kann.

Okay, du bist superseltsam.

Es ist eine Party. Ich darf mich doch wohl amüsieren, oder?

»Mercy«, schnauzt er mich an. »Ich will nicht mit dir reden.«

»Wie schade.« Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein neugieriger Journalist mit geschärftem Blick für potenzielle Schlagzeilen auf uns zusteuert. »Dass ich nicht in den Genuss deines berühmt-berüchtigten Konversationstalents komme, ist ein echter Tiefschlag. Na, du drittklassiger Popstar, kommst du gut über meine schöne Schwester hinweg?«

Noah läuft pink an. »Zu deiner Information, ich treffe mich mit einer sehr netten …«

»Ja, ich habe das Foto gesehen. Ein echtes Downgrade!«

»Du kannst mich mal!« Noah sieht den Journalisten und zwingt sich zu einem heuchlerischen Lächeln. Inzwischen weiß er, dass ich heimlich und mit einer Perücke getarnt zu seiner After-Show-Party gegangen bin und ihn abgeknutscht habe, obwohl er damals mit meiner Schwester zusammen war, um danach eindeutige Fotos von uns an die Presse zu schicken, damit Faith es herausfindet. »Das geht dich gar nichts an«, zischt er und legt dann für ein Foto mit charmantem Lächeln den Arm um mich, während ich versuche, nicht zurückzuzucken.

»O doch.« Ich lächle strahlend. Flash. »Eff ist meine Schwester.«

»Du bist eine schlechte Schwester und ein schlechter Mensch«, zischt Noah und küsst mich auf die Wange. Igitt. Flash. »Du hast unsere Beziehung zerstört, weil du es nicht erträgst, jemanden glücklich zu sehen. Weißt du überhaupt, was Liebe ist?«

»Weiß das überhaupt jemand?« Ich schubse seinen Arm weg, wir stoßen mit den Gläsern an und strahlen dabei von einem Ohr bis zum andern. Flash. »Und Faith war nicht glücklich, du Vollidiot, deshalb ist sie nicht mehr mit dir zusammen.«

Noah wird rot und schaut weg. »Ich frage mich, wie du nachts schläfst.«

»Auf dem Rücken«, fauche ich. »Wie ein Vampir.«

Ein schnelles letztes gemeinsames Grinsen für die Kamera, Flash, dann lasse ich ihn einfach stehen, fürs Erste zufriedengestellt. Es ist ein Gefühl, wie wenn man sich an einer juckenden Stelle kratzt, die man bis dahin nicht erreichen konnte.

Hat das Spaß gemacht?

»Und wie!«, sage ich fröhlich, während ich zwei Gläser vom Tablett eines Kellners nehme und mich umschaue. »Zehn von zehn Punkten, sehr empfehlenswert, jederzeit gerne wieder. Wer ist der Nächste?«

Da ist ein gescheiterter Fernsehmoderator mit einem notorischen Wutproblem. Ich könnte ihn reizen und sehen, was passiert. Oder ein Typ, der sich so viel Gel ins Haar geschmiert hat, dass ich ihn allein deswegen fertigmachen –

»Ceeeeee!« Die Spatzenhirne sind zurück. »Du glaubst nicht, wer gerade Dee gegrüßt hat! Der Typ, der das Werbegesicht von –«

Sind die echt so langweilig geworden?

Jep.

Wie ist das passiert?

Ich weiß nicht. Vielleicht kam das mit den Boobs?

Hahaha.

Geistesabwesend lasse ich den Blick schweifen, auf der Suche nach einer weiteren Schwachstelle: ein Footballspieler, seine Freundin, ein Radio-DJ …

»Also sagte Mee –«

»Und dann sagte Vee –«

»Daraufhin sagte Dee –«

Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich weiter und erspähe ein verloren wirkendes rothaariges Teeniemodel. Ich ziehe meine Schultern zurück, lecke meine Eckzähne und bereite mich darauf vor zuzuschlagen. Eine vertraute Vorfreude auf die bevorstehende Gemeinheit durchströmt mich. Höchste Zeit, die Party in Schwung zu bringen.

Ein kleines Ping hinter mir bringt mich dazu, mich umzudrehen, gerade als die Fahrstuhltüren aufgleiten. Eine Frau mittleren Alters schlurft in den Saal. Sie ist abgemagert, blass, hat wirre Haare und trägt einen viel zu großen, bodenlangen schäbigen Pelzmantel, in dem sie fast verschwindet.

Meine Kehle wird immer enger, bis ich keine Luft mehr kriege.

MUM?

8

Gut zwei Jahre zuvor

Der Sweetie scrollt durch sein Handy.

»Hey, Schmuseköterchen.« Charity beugt sich über ihn und streift seine Wange mit ihrem flauschigen weißen Mantelärmel. »Was hast du da? Sieht echt dufte aus.«

Meine Nasenflügel blähen sich; sie ist bereits vom Text abgewichen.

»Hey, Honigbär«, flüstert meine Schwester und steckt dem armen Blake ihren Geisterfinger ins Ohr, während er versucht, in seiner Rolle zu bleiben. »Weißt du, dass ich eine Taube habe, die Pingpong spielen kann?«

»CUT! CUT! CUT! CUT!«

»Sor-reeeeee!«, sagt Charity kichernd zu unserem Regisseur. »Hab ich was falsch gemacht?«

»Ja.« Er seufzt. »Und das weißt du, weil du es vierzehn Takes hintereinander falsch gemacht hast.«

Meine Zwillingsschwester zuckt mit den Schultern und zwinkert mir zu.

Erschrocken rutsche ich in meinem Stuhl nach unten und verberge mich in der Dunkelheit ganz hinten am Set. Ich will nicht, dass irgendjemand denkt, ich würde Charity bei ihren verrückten Aktionen auch noch ermutigen oder dass sie das alles nur macht, um mich zu beeindrucken. Ausnahmsweise bin nicht ich das Zielpublikum.

»Aber ich bin ein Geist!«, erklärt Tee gespielt unschuldig. »Er kann mich nicht sehen!«

»Das gibt dir nicht das Recht, deine Finger überall reinzustecken«, sagt der Regisseur frustriert. »Und der Slang der 1920er Jahre muss historisch korrekt sein; du kannst nicht einfach spontan irgendwas dazuerfinden.«

»Oh, mir fällt noch einer ein: Warum trauen Wissenschaftler den Atomen nicht über den Weg?« Meine Schwester wackelt mit den Augenbrauen und reckt die Hände. »Weil sie sich immer zusammenrotten.«

Blake lacht und bumm! – Ziel erreicht. Meine Schwester ist seit Ewigkeiten in unseren süßen Co-Star verknallt. Wenn sie ihn irgendwie zum Lachen bringen kann, wird sie es tun, und sei es auf Kosten ihrer Karriere.

Ich korrigiere. Unserer Karriere.