Die verborgene Schwester - Cordula Hamann - E-Book

Die verborgene Schwester E-Book

Cordula Hamann

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Beschreibung

Wie weit gehst du, um deine heile Welt zu verteidigen?

Marie ist ein Babyklappen-Kind. Eine Wolldecke, ein kurzer Brief ihrer Mutter - aber keine Erklärung, mit der sie etwas anfangen könnte. Bis sich die wenigen Hinweise ihrer Herkunft eines Tages zu einer Spur verdichten. Marie setzt alles aufs Spiel, stiehlt heimlich das Material für einen Gentest. Und was sie erfährt, erschüttert sie mächtig: Ihre leiblichen Eltern leben glücklich und zufrieden - mit einer anderen Tochter. Marie lernt ihre Familie kennen, will ehrlich sein und einen Neuanfang wagen. Doch sie ahnt nicht, dass sie mit der trauten Einheit dieser Menschen etwas zu zerstören droht, das sich erbittert zu wehren weiß …

Ein packender Familienroman um Täuschung, Schuld und die verzweifelte Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen.

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Seitenzahl: 379

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IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, [email protected]

Geschäftsleitung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke

Copyright © 2016 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Umschlagmotiv: ThinkstockPhotos_RuprechJudit Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel

Veröffentlicht im ePub Format im 03/2016

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733785666

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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1. KAPITEL

Die U-Bahn fuhr in den Tunnel ein, und Marie erschrak vor ihrem Spiegelbild. Die Haare streng zu einem Pferdeschwanz gebunden, dazu ein dunkles Kostüm. Sie war nicht sie selbst. Und niemand bemerkte es. Der Bereichsleiter der Krankenkasse nicht, der ihr den Teilzeitjob als Empfangsdame gegeben hatte. Auch nicht die Lehrerin Ulrike, über die sie mit klopfendem Herzen den Kontakt zur restlichen Familie Roth herstellen konnte. Erst, als die automatische Ansage Maries Zielstation ankündigte, und der Zug kurz danach in den Bahnhof rollte, verschwand ihr Spiegelbild. Und mit ihm der Gedanke, dass ihr Plan womöglich nur ein großes Hirngespinst war.

Sie hängte sich die Tennistasche, die sie zwischen ihre Beine gestellt hatte, über die Schulter. Der Zug hielt. Marie stieg aus, fuhr fünf Stationen mit dem Bus und erreichte die Tennisanlage, wo Alessia Roth, Ulrikes sechzehnjährige Tochter, jeden Mittwochnachmittag in einer Gruppe trainierte.

Der Tennislehrer war nicht mehr der Jüngste, aber er kam jugendlich und dynamisch auf sie zu. „Ich bin Henry und du sicherlich Marie Kleinschmidt? Wir haben telefoniert. Herzlich willkommen in unserer Truppe.“

Er zeigte auf zwei Mädchen im Alter von circa fünfzehn oder sechzehn Jahren und einem etwa gleichaltrigen Jungen. „Das sind Kathrin, Alessia und Ben“, stellte er sie vor und klang dabei so stolz, als seien die drei seine eigenen Kinder.

Marie nickte freundlich und stellte verwundert fest, dass Alessia äußerlich das Gegenteil der blonden kurzhaarigen Ulrike war. Das Mädchen hatte schulterlange, fast schwarze Haare und ausdrucksstarke braune Augen. Auch die Nasen von Mutter und Tochter hätten kaum unterschiedlicher sein können.

Mit aller Kraft lächelte Marie gegen die skeptischen Gesichter der Jugendlichen an. Sie hätte in dem Alter auch wenig Lust gehabt, mit einer 32-jährigen in einer Gruppe zu spielen.

„Danke noch mal, dass ich so kurzfristig mit euch trainieren darf. Es war wirklich unmöglich, einen Kurs für Fortgeschrittene in meinem Alter zu finden. Ich hoffe nur, ich kann mit euch mithalten“, sagte sie.

„Um noch Profis zu werden, sind wir hier alle zu alt. Was nicht heißen soll, dass wir uns nicht mächtig anstrengen“, erwiderte Henry und lachte.

Ben streckte den Schläger mit beiden Armen über den Kopf. „Na denn“, sagte er. Für den smarten Jungen schien die Vorstellung damit beendet. Ohne den Schläger herunterzunehmen, drehte er sich um und lief zur Grundlinie. Marie und die Mädchen folgten ihm.

Marie beobachtete die Gesichter und überlegte, was jetzt bei ihnen besser ankam: Eine gut trainierte Frau, die sie an die Wand spielen konnte, oder die zurückhaltende Ältere, die selbstredend nicht so schnell nach dem Ball rennen konnte wie die drei.

Nimm den goldenen Mittelweg. So trocken dieser Spruch sich auch anhörte, Marie hatte ihn als Andenken an ihre Mutter fest in ihrem Sprachgebrauch verankert. Also gut. Sie war schnell am Ball, schlug kraftvoll und präzise und setzte hin und wieder absichtlich ein paar Bälle grottenschlecht ins Netz oder ins Aus. Nach einer halben Stunde wusste sie, dass sie sowohl Kathrin als auch Alessia, die bessere der beiden Mädchen, in Grund und Boden spielen könnte, wenn sie wollte. Ein Hoch auf die kostenlose Ausbildung zur Tennistrainerin im Aldiana-Club auf Djerba. Bei Ben war es schwieriger. Seine Schläge waren extrem hart und schnell, um den Ball wirklich gut platziert zurückspielen zu können. Ihn würde sie in einem Match nur besiegen, wenn sie ihn ans Netz locken könnte, wo er schlecht war.

Nach Henrys zufriedener Miene zu urteilen, lief der Unterricht heute gut. Wahrscheinlich nahmen die drei Jugendlichen ihre Anwesenheit als Ansporn, sich besonders anzustrengen. Zum Abschluss des zweistündigen Trainings zog sich Henry auf den Schiedsrichterstuhl zurück. „Na, dann spielen wir mal die letzten fünfzehn Minuten ein Doppel. Marie und Alessia gegen Kathrin und Ben. Und: Ich will Einsatz sehen, Leute.“

Marie freute sich, dass ihr Alessia nicht als Gegnerin zugeteilt worden war und konzentrierte sich darauf, die Fehler ihrer Partnerin auszubügeln, um das Match mit ihr zu gewinnen. Aus dem anfänglich formalen „Danke“ des Mädchens wurde ein breites Lächeln, und in den letzten fünf Minuten kurz vor ihrem Sieg klatschten sie jeden gewonnenen Punkt mit den Händen ab, als würden sie seit Jahren im gleichen Team spielen. Besser konnte es für Maries Plan nicht laufen.

Verschwitzt und gut gelaunt verabschiedeten sich die Schüler vom Trainer, und Marie und die Mädchen betraten nacheinander den Umkleideraum. Marie erwartete, dass Kathrin und Alessia sie nun links liegen ließen. Das taten sie auch, aber ihre verstohlenen Seitenblicke konnten sie dennoch nicht verbergen. Marie war als erste ausgezogen und ging in Badelatschen, mit Handtuch, Shampoo und Duschgel in den Waschraum. Hinter sich hörte sie die Mädchen tuscheln und kichern, bevor sie kurz danach ebenfalls den Duschraum betraten. Marie schloss die Augen und ließ das Wasser über ihren Kopf laufen.

„Es wird bald dunkel. Holt euch jemand ab?“, fragte sie zurück im Umkleideraum.

„Ja, unsere Mütter wechseln sich ab“, antwortete Alessia und führte leider nicht weiter aus, welche der Mütter heute an der Reihe war. Trotzdem schlug Maries Herz plötzlich schneller. Wie schön wäre es, gleich heute Alessias Mutter in einer anderen Umgebung als der Schule wiederzusehen.

Normalerweise brauchte Marie kaum mehr als fünf Minuten: Anziehen, Haare kopfüber mit dem Handtuch trocken rubbeln, mit einer Spange hochstecken. So, wie die Mädchen es taten. Und obwohl sie sich die Haare heute föhnte, um Zeit zu gewinnen, war sie noch vor ihnen fertig. Möglichst auffällig kramte sie in ihrer Tasche, als suche sie etwas, bis die Mädchen ebenfalls zum Gehen bereit waren.

„Ah hier.“ Triumphierend hielt sie ihr Handy in die Höhe und lächelte die beiden an.

„Das kenn ich“, antwortete Kathrin und grinste.

„Tschüss. Bis zum nächsten Mal“, grüßte Marie.

„Ciao. Hat Spaß gemacht“, antwortete Alessia und Maries Puls beschleunigte sich abermals vor Freude.

Sie folgte den beiden sofort, hielt aber einigen Abstand. Als die Mädchen aus dem Gebäude traten, drehte sich Kathrin unerwartet um.

„Können wir dich irgendwohin mitnehmen?“

„Danke. Nett von euch, aber die Bushaltestelle ist ja gleich vor der Tür“, sagte Marie und hätte sich im gleichen Moment ohrfeigen können. Wie dämlich war das denn? Sie hätte die Chance gehabt, Mutter und Tochter gleich heute wissen zu lassen, dass sie Marie beide scheinbar zufällig kannten. Und sie lehnte ab.

Hatte sie etwa Angst vor ihrem eigenen Plan?

Ihr Ärger verflog, als sie erkannte, dass es nicht Ulrike war, die auf die Mädchen wartete. Kathrins Mutter war eine kleine mollige Frau, die aussah, als würde sie jedes Kind der gesamten Nachbarschaft von überall her abholen oder irgendwo hinbringen und das ausgesprochen gerne. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Marie und lief in Richtung Bushaltestelle.

Vor dem Hauseigang kramte Marie ihren Schlüssel aus der Sporttasche. Der Schläger war zu lang für die Tasche. Marie stopfte ihn diagonal hinein und schloss mühsam den Reißverschluss. Schließlich konnte sie ihren Mitbewohnern schwer erklären, warum sie es sich leisten konnte, Tennis zu spielen, nachdem sie ihnen erfolgreich die Miete des WG-Zimmers heruntergejammert hatte.

Zum Glück gab es von ihren Mitbewohnern, ein Informatikstudent und eine Studentin der Filmakademie, keine Spur. Marie ging in die Küche und schmierte sich zwei Leberwurstbrote. Sie liebte Leberwurst und musste augenblicklich an ihre Arbeit im Club auf Djerba in Tunesien denken. Einige Stammgäste wussten, dass sie dort nur schwer zu bekommen war. Deshalb brachten sie für die Animateure ein Glas Leberwurst und auch das ebenso seltene Schwarzbrot mit. Wehe, man hatte frei an diesem Tag. Dann bekam man nur noch die begeisterten Erzählungen der Kollegen ab, die diese Köstlichkeiten längst verspeist hatten.

Sie betrat Denises Zimmer, räumte die Tasche aus und setzte sich auf die ocker-braun gestreifte Bettwäsche. Darin zu schlafen war eine Strafe. Sie saß still und musterte das Zimmer der Frau, die sie nicht kannte, aber der sie hatte versprechen müssen, bis zu ihrer Rückkehr aus Australien nichts zu verändern und alles zu pflegen, als seien es ihre eigenen Dinge.

Ein Gefühl von Verlorenheit machte sich im Raum breit und Marie schaltete den Flachbild-Fernseher ein. Schierer Luxus für sie, die seit Jahren nur mit einem großen Koffer von Club zu Club reiste, in denen es in der Regel nur in den Gemeinschaftsräumen Fernseher gab. Sie zappte durch die Kanäle und blieb bei der Wiederholung eines Tatorts hängen. Mit Genuss aß sie ihre Brote und trank ein Bier dazu. Kurz vor der Auflösung des Mordes schlief sie ein und träumte von bunt verpackten Geschenken, einer Torte mit sieben Kerzen und dem lachenden Gesicht ihrer Mutter.

Am nächsten Tag traf sie Ulrike Roth wie verabredet im Lehrerzimmer der Schule in Frohnau, einem Berliner Randbezirk. Seit kurzem gaben sie zweimal in der Woche gemeinsam und ehrenamtlich Deutschkurse für Flüchtlingskinder. Marie verfügte über ein entsprechendes Zertifikat des Goetheinstituts.

„Ich bin total groggy, aber ich freue mich auf den Kurs. Der Unterschied ist unglaublich, oder?“, sagte die Lehrerin. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Während sie den Inhalt ihrer Umhängetasche neu sortierte und dabei kurz hochsah, leuchteten ihre Augen. Neben ihren Unterrichtsfächern Deutsch und Geschichte führte sie, wie Marie bereits herausgefunden hatte, ehrenamtlich einen Mutter-Kind-Kreis der evangelischen Kirchengemeinde und organisierte Lesepatenschaften in Schulen der sozial schwächeren Bezirke.

Heute glänzte Ulrikes schlanke Nase ein wenig, und die Falten um ihre Augen herum traten deutlicher hervor als bei ihrem ersten Treffen. Trotzdem war sie eine schöne Frau in den besten Jahren, Ehefrau und Mutter, mit Einfamilienhaus, Garten und Hund. Damit gehörte Ulrike zu einer Spezies, mit der Marie sonst eher selten zu tun hatte. Jedenfalls nicht außerhalb der Ferien, und in denen waren selbst Lehrer relativ entspannt.

In Ulrikes direkter Nähe spürte Marie das gleiche schlechte Gewissen in sich aufsteigen wie schon in den Wochen zuvor. Eine ganze Familie heimlich zu beobachten, ihre Arbeitgeber und ihren Wohnort herauszufinden, damit tat sie niemandem weh. Aber trotzdem fühlte es sich schlecht an. Wie ein Treuebruch in einer Beziehung, die es noch gar nicht gab.

„Sehen Sie sich die Kinder an. Sie benehmen sich vorbildlich, sind stolz darauf, hier etwas lernen zu dürfen, geradezu begierig darauf“, fuhr Ulrike fort.

Marie dachte an Berichte anderer Deutschlehrer aus den Kursen mit älteren Kindern und Jugendlichen der Flüchtlingsfamilien, die auch anderes zu berichten wussten, aber sie nickte.

„Bildung ist eben das Einzige, das hilft.“ Und hier musste Marie ihr nun uneingeschränkt Recht geben. Wäre sie damals an der Schule geblieben, stünden ihr heute mehr Möglichkeiten offen, als nur die einer Animateurin, Tennislehrerin, Kellnerin oder jetzt Empfangsdame. Dabei machte ihr all das mehr Spaß als den meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen. Und doch gab noch so viel Anderes. Sie könnte ein Buch schreiben, an einer Expedition ins ewige Eis teilnehmen oder als Umweltaktivistin in einem Schlauchboot den Walfang bekämpfen. Aber diese Möglichkeiten wahrzunehmen, ohne sich in der Zeit selbst finanzieren zu müssen, das war ohne Ausbildung oder Studium fast unmöglich.

„Woran denken Sie?“, fragte Ulrike.

Marie schüttelte den Kopf und lächelte. „An etwas ganz anderes.“

Ulrike war fertig mit Packen, und sie machten sich auf den Weg zum Klassenraum fünfzehn, aus dem eine Lautstärke drang, mit der es jede deutsche Schulklasse aufnehmen konnte. Aber als Marie die Klinke herunterdrückte, wurde es still, noch bevor sie die Tür vollständig geöffnet hatte. Sie erinnerte sich an ihre eigene Schulzeit, und mit welcher Methode sich mancher Lehrer Ruhe verschaffen musste. Die einen schrien, andere klopften mit einem Buch auf den Lehrertisch, oder sie klatschen in die Hände. Es hatte auch Lehrer gegeben, die einfach nur schweigend dastanden und warteten. Ulrike hatte Recht. Es machte sehr viel mehr Spaß, Kindern etwas beizubringen, die das auch wollten.

Sie ergänzten sich gut. Da nicht ausreichend Lehrkräfte zur Verfügung standen, die arabisch sprechen konnten, mussten sie ohne Übersetzung auskommen. Ihre Erfahrungen als Animateurin machten es Marie leicht, sich mit Gesten und Grimassen zu verständigen.

„Sie machen das hervorragend“, lobte Ulrike sie nach Ende des Kurses.

„Na wenigstens lachen die Kinder bei uns am meisten.“ Marie zuckte mit den Schultern. „Glaube ich wenigstens.“

Gemeinsam räumten sie den Raum auf, und Marie hatte das Gefühl, Ulrike beobachtete sie dabei. Anschließend liefen sie schweigend zum Ausgang.

Marie nahm allen Mut zusammen. „Darf ich Sie etwas fragen?“

„Aber natürlich.“

„Heißt Ihr Mann Holger und fährt ab und zu Rallye?“ Ulrike blieb auf dem Parkplatz stehen und sah sie überrascht an. „Ja. Kennen Sie ihn? Woher?“

Marie schüttelte den Kopf. „Nein ich kenne ihn nicht. Aber ich bin selbst schon einmal eine Rallye gefahren und bin in einigen Foren und in einer entsprechenden Facebook-Gruppe. Mir fiel nur der Name auf, und da dachte ich, ich frage mal.“

Ulrike lachte. „Na, das werde ich ihm gleich heute erzählen. Sind Sie dort unter Ihrem Klarnamen? Ich dachte, in diesen Foren haben die Leute alle total abgefahrene Pseudonyme. So etwas wie Feuersturm oder Stahlblitz.“ Wieder lachte sie. „Ich habe ihn schon öfter damit aufgezogen. Wie langweilig, sich einfach nur Holger zu nennen. Allerdings wusste ich nicht, dass sein Nachname dort auch erscheint. Wissen Sie, ich predige meinen Schülern immer, sie sollen bloß vorsichtig sein. Das Internet vergisst nie. Man weiß nicht, wer sich da so alles tummelt, und dann kommt das böse Erwachen.“ Ihre Stirnfalten vertieften sich.

Marie lächelte. „Keine Sorge. Er heißt nur Holger. Aber er hat einen Artikel über sich in einer Rallyefachzeitschrift verlinkt. Da stand H. Roth.“

„Sehen Sie. Ich sage es ja.“

Ulrike blieb neben einem silbernen Golf GTI stehen, doch Marie bezweifelte, dass Ulrike schon jemals das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten hat.

„Kann ich Sie mitnehmen? Müssen Sie zur U- oder S-Bahn?“, fragte Ulrike.

Marie schüttelte den Kopf und zeigte auf die Haltestelle, die sich unmittelbar vor dem Schulgebäude befand.

„Der Bus kommt in drei Minuten.“

Das war gelogen. Aber sie konnte jetzt nicht bei ihr mitfahren. Zuerst musste sich ihr Herzschlag wieder normalisieren, nachdem sie diesen Vorstoß in Richtung des letzten Familienmitglieds Holger Roth gewagt hatte.

„Mein Mann ist im Moment beruflich viel unterwegs, aber vielleicht kommen Sie mal auf einen Kaffee zu uns? So von Rallyefahrerin zu Rallyefahrer.“ Ulrike hob noch einmal grüßend die Hand, stieg ein und fuhr davon.

Marie setzte sich auf die Bank im Wartehäuschen. Der Klang von Ulrikes Stimme hallte in ihrem Kopf nach. Vielleicht kommen Sie mal auf einen Kaffee zu uns.

Ja vielleicht. Das wäre schön.

Die Krankenkasse hatte ihr nur einen Teilzeitjob von drei Tagen in der Woche anbieten können. Heute hatte sie frei, war allein und nutzte den Tag, um sich in der WG nützlich zu machen. Beim Putzen konnte sie am besten nachdenken. Und der erste Gedanke, der ihr kam, war eine ärgerliche Erinnerung an den Vorabend. Serina, ihre Mitbewohnerin, hatte beim gemeinsamen Pasta-Essen nur lauthals gelacht über Maries Idee, ihr eigenes Leben in einem Drehbuch umzusetzen.

„Du, da sind schon ein paar Szenen, die ungewöhnlich sind, aber wo bleibt die Geschichte? Verstehst du? Es müsste eine Geschichte geben. Mit unerwarteten Wendepunkten, Konflikten, die sich zuspitzen, auflösen und neuen Konflikten Platz machen. Und dann muss es auch irgendeinen Showdown und danach eine befriedigende Auflösung geben. Dein Leben läuft einfach zu linear.“

Noch immer war Marie wütend und bedauerte, dass Carsten nicht anwesend gewesen war. Der hätte wenigstens etwas mehr Interesse gezeigt. Schließlich hatte es durchaus Wendepunkte in ihrem Leben gegeben, und der nächste stand sogar unmittelbar bevor. Dramen und Konflikte? Ihr Leben war reich gesegnet damit. Zumindest ihr Liebesleben, das jetzt allerdings völlig konfliktlos war, da sie keines mehr hatte.

Auf den Knien rutschend wienerte Marie den Fliesenboden. Sie würde heute Abend keine Pasta kochen. Und sie würde sich niemals einen Film von Serina ansehen. Sie war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, gesund, sportlich und trotz fehlender Ausbildung ganz sicher nicht dumm. Mit ihr konnte ein Mann Pferde stehlen gehen, und trotzdem bekam sie auch einen ansehnlichen Striptease hin. Jedenfalls bei Kerzenschein. Gut, sie war ein wenig verkorkst. Aß Käse mit Marmelade und freute sich über Brausepulver in ihrem Bauchnabel mehr als über Champagner und Kaviar. Drückte lieber mit Turnschuhen auf das Gaspedal schneller Autos und hielt dann an einem Imbissstand, anstatt mit Stöckelschuhen in ein Sterne-Restaurant zu stolzieren. Zwei vielversprechende Beziehungen hatte sie das schon gekostet. Eine davon mit einem plastischen Chirurgen. Wenigstens waren sie in Freundschaft auseinandergegangen und er hatte ihr sogar eine Mini-Schönheits-OP spendiert, als Abschiedsgeschenk sozusagen. Aber ansonsten kreuzten sich ihre Wege eher mit denen unsteter Typen, und die hatten wie sie selbst alle das gleiche Problem: Es zog sie urplötzlich fort. Noch eben die große Liebe, waren mit einem Mal andere Dinge so unendlich wichtiger. Wahrscheinlich hatten sich ihre Verflossenen das Leben ebenso anders vorgestellt wie sie selbst. Sie war davon ausgegangen, vermutlich irgendwann zu heiraten, Kinder zu kriegen und sesshaft zu werden. Wenn sie das noch vorhatte, wurde es langsam Zeit.

Der Fußboden war sauber. Wahrscheinlich so sauber wie nie zuvor in dieser Wohngemeinschaft. Während sie Putzeimer und Wischlappen beiseite räumte, summte Marie eine Melodie.

Über eine Woche verging, und leider schien Ulrike vergessen zu haben, ihrem Mann Holger ein gemeinsames Kaffeetrinken im Hause Roth vorzuschlagen. Bis jetzt wussten Alessia und Ulrike noch nicht einmal, dass sie beide mit Marie die gleiche neue Bekanntschaft gemacht hatten.

Zeit für einen nächsten Schritt.

„Heute ist irgendwo Pendelverkehr“, log Marie nach dem Tennistraining. „Vielleicht könnt ihr mich ausnahmsweise an der S-Bahn-Station absetzen?“

„Klar, kein Problem“, antwortete Alessia und stopfte ihre Kleidung in ihren Rucksack und die vom Belag rot gefärbten Schuhe hinterher. Marie war sich sicher, dass es Ulrike war, die die Sachen regelmäßig auspackte. Da hätte sie mal auf Frau Burmann treffen müssen, deren Ordnung schlimmer gewesen war als bei der Bundeswehr. Klar, kein Problem. Wahrscheinlich gab es für Alessia überhaupt keine Probleme. Sie schien keine Verpflichtungen zu haben, die Probleme verursachen könnten.

Alessia blickte auf, und Marie bildete sich ein, in ihren Augen so etwas wie Freude darüber zu sehen, dass Marie mit ihnen fahren wollte. Ganz sicher war Alessia verwöhnt, aber vielleicht auch ein wenig einsam.

Gemeinsam verließen sie das Gebäude. Ulrikes silberner Golf stand am Straßenrand, und Marie blieb ein paar Schritte hinter den Mädchen zurück, bemüht, zuerst den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Alessia öffnete die Beifahrertür und beugte sich in das Wageninnere. Kurz danach tauchte auch schon Ulrikes überraschtes Gesicht in Höhe des Fahrzeugdaches auf. Freudig überrascht.

Was hatte Marie erwartet? Sie waren sich in den Deutschkursen sympathisch. Warum also nicht außerhalb der gemeinsamen Arbeit?

„Frau Kleinschmidt. Welch ein Zufall. Kommen Sie.“ Ulrike kam auf sie zu und streckte Marie die Hand entgegen. Der Händedruck fühlte sich kraftlos an.

„Ihr kennt euch?“ Alessias Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„Von der Schule. Wir geben zusammen Unterricht“, antwortete Ulrike, ohne den Blick von Marie abzuwenden. Alessias Mutter trug eine Jeans, Turnschuhe und einen grauen weiten Wollpulli. Ihre sonst eher energischen Züge wirkten sanft. Die kurzen, modisch geschnittenen Haare waren zerzaust. Warum sah Ulrike nicht immer so aus? Als sie ins Auto einstieg, Alessia und Kathrin hatten sich bereits auf die Rückbank gesetzt, erkannte sie den Grund für Ulrikes sportliches Aussehen. Ein schwarzer Cockerspaniel saß im Fußraum des Beifahrersitzes und sah sie aus kugelrunden Augen an. In seinem Fell steckten Grashalme. Offensichtlich hatten Frauchen und Hund gerade einen Spaziergang hinter sich.

„Die Welt ist wirklich klein. Vielen Dank fürs Mitnehmen“, sagte Marie und platzierte vorsichtig ihre Beine im Fußraum, um dem Hund nicht auf die Pfoten zu treten.

„Das ist Idefix“, stellte Ulrike mit Fingerzeig den Cocker vor.

„Ist ja witzig“, sagte Alessia an Marie gewandt. „Ich habe meiner Mutter von dir erzählt; dass du die Neue beim Training bist.“

„Und ich habe dir von meiner Hilfslehrerin in den Deutschkursen erzählt, mein Schatz“, antwortete Ulrike. Sie lachten alle vier, und Marie streichelte den Hund, der sich vertrauensvoll an ihre Beine lehnte. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

„Das Beste kommt noch. Frau Kleinschmidt kennt auch Papa. Also nicht direkt. Aber aus dem Rallye-Forum.“

„Echt jetzt? Du bist Rallye gefahren?“ Kathrin beugte sich zwischen den Sitzen weiter nach vorne.

„Schnall dich bitte an, Kathrin“, forderte Ulrike mit Blick in den Rückspiegel.

„Nur ein einziges Mal. In Spanien. Das Hobby ist zu teuer für mich.“

„So durch die Wüste und alles?“, fragte Alessia.

„Schatz, in Südspanien gibt es keine Wüste.“ Ulrike schüttelte den Kopf. „Manchmal habe ich wirklich Zweifel, ob du im Unterricht jemals aufpasst.“ Sie stöhnte vernehmlich auf.

„Egal. Cool ist es trotzdem. Hast du gewonnen?“, fragte Kathrin.

Marie drehte sich zu den Mädchen um. „Was glaubst du denn?“, antwortete sie, blieb einen Moment ernst, bis sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. „Ich habe darin gewonnen, die meisten Rückleuchten der übrigen Teilnehmer zu sehen.“

Die Mädchen grinsten.

„Man muss nicht immer gewinnen. Dabei sein ist alles“, warf Ulrike ein. Sie meinte es wahrscheinlich so ernst, wie ihre Stimme klang.

„Alles klar, Mama.“ Alessia zog die Augenbrauen hoch und warf Marie einen verschwörerischen Blick zu.

Sie hatten die S-Bahnstation erreicht. Selten war Marie so ungern aus einem Auto ausgestiegen.

„Vielen Dank und grüßen Sie Ihren Mann von mir“, bat sie und hoffte, mit diesem letzten Satz ein Samenkorn in Ulrikes Gedächtnis zu pflanzen.

2. KAPITEL

Eine weitere Woche hielt es Marie aus, dann half sie dem Schicksal etwas nach. „Meinst du, du könntest mir morgen Nachmittag dein Auto leihen? Nur für ein paar Stunden. Wäre wirklich wichtig“, fragte sie Carsten beim Abendessen in der WG-Küche.

„Hmm.“ Carsten kaute genüsslich zu Ende. „Eigentlich bin ich schon verabredet. Aber gar keine schlechte Idee. Mein Kumpel soll fahren. Dann kann ich auch mal ein Bier mehr trinken.“

„Super. Du hast was gut bei mir.“

„Was denn? Eine Tennisstunde?“ Er lachte, und Marie wurde es heiß im Gesicht. Betreten sah sie auf ihren Teller.

„Hab deinen Schläger gesehen. Du musst kein Geheimnis daraus machen. Wofür man sein Geld ausgibt, ist jedem seine Sache, oder?“

Marie nickte dankbar und war froh, dass Serina nicht zu Hause war, die bestimmt zickiger reagiert hätte. Carsten und Serina mussten fünfzig Euro aus eigener Tasche zuzahlen, weil sie Denise versprochen hatten, sich selbst um einen Ersatz zu kümmern, damit sie während ihres Aufenthaltes in Australien keine Kosten haben würde. Aber dann war es doch nicht so einfach gewesen, für nur drei Monate jemanden zu finden. Und bevor das Zimmer einen ganzen Monat leer stand und gar kein Geld brachte, hatten die beiden Maries geringeres Mietangebot angenommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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