Die Verdammten - Astrid Korten - E-Book
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Die Verdammten E-Book

Astrid Korten

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Beschreibung

Verdammt ist jede Schuld schon vor der Tat. Drei Menschen glauben, dass sie zu den Verdammten dieser Welt gehören, denn verdammt ist, was die Seele stört. Sebastian ist geschieden, darf seine Kinder nicht sehen und hat einen finanziellen Engpass. Da kommt das lukrative Angebot seiner Kundin Tina, ihre Enkelin zu unterrichten, wie gerufen. Er ahnt nicht, worauf er sich einlässt. In der Klinik trifft er zufällig auf die attraktive Krankenschwester Cherry, die er unbedingt kennenlernen möchte. Cherry hat jedoch eine verhängnisvolle Affäre, die ihr Leben zu einer Farce werden lässt. Sie sehnt sich nach einer Vertrauten und freundet sich mit ihrer liebenswürdigen, übergewichtigen Kollegin Karo an. Karo, die selbst ein Geheimnis in sich trägt, kann sich das urplötzliche Interesse ihrer Kollegin nicht erklären und wird zunehmend misstrauisch. Eines Tages führt ein Missverständnis sie zusammen. Kurz darauf wird eine Grenze überschritten… Die Verdammten ist ein spannender Psychothriller über Lügen, Versagen und das Überschreiten von Grenzen, der wie ein Roman beginnt und sich wie ein tosender Sturm entlädt.

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Astrid Korten

Die Verdammten

Inhaltsverzeichnis

Wölfe

Über das Buch

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Teil 2

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Teil 3

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Nachwort

Impressum

Wölfe

Man muss Fuchs sein, um die Schlingen zu wittern und Löwe, um die Wölfe zu schrecken.

(Niccolo Macchiavelli)

Über das Buch

Verdammt ist jede Schuld schon vor der Tat.

Sebastian ist geschieden, darf seine Kinder nicht sehen und hat einen finanziellen Engpass. Da kommt das lukrative Angebot seiner Kundin Tina, ihre Enkelin zu unterrichten, wie gerufen. Er ahnt nicht, worauf er sich einlässt. Im Krankenhaus trifft er zufällig auf die attraktive Krankenschwester Cherry, die er unbedingt kennenlernen möchte.

Cherry hat aber eine verhängnisvolle Affäre, die ihr Leben zu einer Farce werden lässt. Sie sehnt sich nach einer Vertrauten und freundet sich mit ihrer liebenswürdigen, übergewichtigen Kollegin Karo an.

Karo, die selbst ein Geheimnis in sich trägt, kann sich das urplötzliche Interesse ihrer Kollegin nicht erklären und wird zunehmend misstrauisch.

Sebastian, Cherry und Karo glauben, dass sie zu den Verdammten dieser Welt gehören, denn verdammt ist, was die Seele stört. Eines Tages führt ein Missverständnis sie zusammen. Kurz darauf wird eine Grenze überschritten. Nichts ist mehr wie es war…

DIE VERDAMMTEN ist ein spannender Psychothriller über die Folgen einer quälenden Vergangenheit, über Lügen, Versagen und das Überschreiten von Grenzen.

Teil 1

Winter

In Gedanken riss ich den Verdammten die Fingernägel aus,

ritzte Wunden in ihre Körper,

brach ihnen die Beine,

zog ihnen büschelweise die Haare aus.

In meinen Träumen tat ich es jede Nacht.

Wachte danach in einer klammen Kälte auf,

gefangen in schweißgetränkten Laken.

Seit heute sind die Verdammten wieder frei wie die Vögel.

Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.

Außer meine Träume weichen einer grausamen Realität.

Kapitel 1

Sebastian

Sie ist eine schöne Frau, dachte er. Da war nichts an ihr, was ein Mann nicht ansehen wollte. Ihr Gang war geschmeidig, unbeschwert und gleichwohl selbstbewusst. Der Pferdeschwanz am Hinterkopf schwang bei jedem Schritt mit. Sie hatte wunderschönes, langes blondes Haar, das nach Apfelshampoo roch, sie sollte es offen tragen.

Er wollte ihr Haar berühren, den Pferdeschwanz um seine Hand wickeln oder in ihre Haarpracht eintauchen. Es wurde auch Zeit, dass sie sich die toten Spitzen schneiden ließ. Als Friseur kannte er sich damit aus.

Ihre Blicke kreuzten sich, die blonde Venus lächelte ihn an. Er senkte den Blick, sein Herz raste. Fast hätte er geseufzt, dazu ein blasses Lächeln. Bravo!

Hat sie mich wirklich angesehen?, fragt er sich. Sicher war er sich nur, dass sie ihn angelächelt hatte. Als sie das Zimmer verließ, konnte er seine Augen nicht von ihrem perfekten Hintern lassen.

„Glotz dem Mädchen nicht so auf den Arsch!“, zischte sein Vater und warf ihm einen finsteren Blick zu. „Du bist wegen deiner Mutter hier, schenke ihr gefälligst deine Aufmerksamkeit!“

„Lass den Jungen doch“, flüsterte seine Mutter. Mit einer Hand auf der Bettkante beobachtete er sie beim Essen, suchte nach Zeichen in jedem Zucken ihrer Züge, in ihrem stillen Kauen, in ihren Pausen. Trotz ihres unordentlichen graumelierten Haares hatte sie selbst hier in der Klinik nichts von ihrer Präsenz verloren. Weder die Jahre noch die überstandene Operation hatten ihren scharfen Blick als ehemalige Lehrerin beeinträchtigt, obwohl ihre Stimme noch nicht besonders kraftvoll war. Er hingegen war immer noch ein kleiner Junge, der von der Autorität seines Vaters eingeschüchtert wurde.

Seine Mutter lächelte ihn an. „Sie ist wirklich wunderschön“, flüsterte sie und tätschelte seine Hand.

„Viel zu schön für einen Penner wie den da“, erwiderte sein Vater.

Sebastian spürte, dass er seine Wut auf seinen Vater kaum noch bändigen konnte. In diesem Moment wollte er dem Mann einen Kinnhaken verpassen und ihm den Kiefer zerschmettern, wie er es schon so oft in der Vergangenheit in Gedanken getan hatte.

Sie schob das Tablett beiseite und richtete sich grinsend auf. „Gütiger Himmel, die wollen mich hier mit dem Abendbrot einschläfern, aber wieso so kompliziert ? An Möglichkeiten mangelt es hier doch nicht. Schau dich um: Kissen, Spritzen, Tabletten, Infusionen…“

Sie war in letzter Zeit so schwach, dachte Sebastian. Wenn er aber sah, wie sie ihre Stacheln wieder auspackte, wurde ihm warm ums Herz.

Sein Erzeuger stand auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich werde draußen noch eine rauchen. Wir fahren um Viertel nach sieben nach Hause. Keine Minute später. Kapiert?!“

Sebastian ignorierte den barschen Tonfall, er wollte seine wunderbare, tapfere Mutter nicht auch noch mit seiner Verstimmung betrüben. Sie meinte es immer gut mit ihm, aber jetzt war sie krank. Er wollte Rücksicht nehmen, schließlich war eine Unterleibsoperation keine einfache Sache, er war froh, dass es nur eine Zyste und kein Tumor war. Nicht auszudenken, dass sie nicht mehr nach Hause käme und ihn mit seinem Vater allein zurückließe.

„Das Essen in dieser Klinik bringt alles aus dem Gleichgewicht“, sagte sie, als sie allein im Zimmer waren, machte aber eine Pause und biss die Zähne zusammen, um den Schmerz einzudämmen.

„So schlimm, Mama?“, empörte er sich. Er konnte sich nicht daran gewöhnen. Sie so leiden zu sehen, zog ihm den Magen zusammen. Er stellte den Teller auf den Nachttisch und holte die Schachtel mit den Schmerzmitteln aus der Schublade.

„Nein, nicht nötig, ich habe schon genug, meine Leber rebelliert“, sagte sie, bevor sie in die Kissen sank und die Augen schloss. „Hast du schon eine Nachricht erhalten, mein Junge?“

Wieder diese Frage. Ein tägliches Mantra. Fast schon ein Mantra. Seine Mutter hoffte immer noch, dass sich für ihren Sohn alles zum Guten wandte.

„Nach dem letzten Telefonat habe ich nichts mehr von der Blutsaugerin gehört, Mama.“

„Auch nicht von deinem Anwalt?“

„Nein. Dr. Werner meint, dass es eine Weile dauern könne, bis sich die Gegenseite wieder meldet.“

„Hm…“

Wenn seine Mutter in diesem Zustand war, könnte er ihr sagen, dass ein Meteorit im Garten eingeschlagen wäre, ohne ihr Interesse zu wecken. Nur ein „Ja, ich habe Neuigkeiten“, konnte sie dazu bringen, zu reagieren.

Er starrte auf die Tür und fragte sich, ob der Pferdeschwanz noch einmal das Zimmer betreten würde. Schritte eilten vorbei, die Tür blieb aber geschlossen. Kein attraktiver Körper, kein tanzender Pferdeschwanz. Er musste sich etwas einfallen lassen, um mit der Krankenschwester in Kontakt zu treten.

„Ich vermisse die Kinder. Dein Vater übrigens auch. Es wäre wunderbar, wenn du eines Tages wieder eine neue Frau kennenlernen würdest, mein Junge.“ Sie seufzte. „Es ist übrigens zehn nach sieben, Junge. Du musst jetzt gehen. Du kennst deinen Vater. Wenn er sagt, dass er um Viertel nach sieben losfährt, dann wartet er keine Minute länger. Dir bleiben nur noch wenige Minuten.“

Er grinste. „Dann schaffe ich es wohl nicht mehr. Ich werde mir ein Taxi nehmen, Mama. Das ist viel besser, als dem Alten etwas vorzugaukeln und mich zu verbiegen, nur um ihm zu gefallen.“

„Dein Vater meint es nicht so, er kann nur nicht akzeptieren, dass du ein anderer Typ Mann bist als er“, sagte sie und zog ihn an sich.

„Darauf bin ich aber ziemlich stolz, Mama.“

„Wusstest du, dass ich dich gerne Joris genannt hätte, nach meinem Großvater?“, sinnierte sie plötzlich. „Aber da dein Großvater väterlicherseits in der Familie unter den Neugeborenen noch nicht berücksichtigt wurde, hat dein Vater darauf bestanden, dass …“

„Du hast demnach wieder einmal nachgegeben. Und das ist bis heute so geblieben. Nichts hat sich geändert, Mama. Gar nichts!“

„Wir sind beide keine Kämpfer, mein Schatz.“

„Das wird sich ab sofort ändern!“

„Meinst du dein Verhalten gegenüber Tanja?“

„Das auch“, antwortete er. „Ich will eine Veränderung auf der ganzen Linie. Mir reicht Vaters Genörgel, sein Schweigen, seine Zweifel. Es reicht. Das gilt übrigens auch für Tanja!“

Tanja … Seine Exfrau war zum Bösen in seinem Leben mutiert, ein durstiger Vampir, ein hungriger Aasfresser, der ihn mit ihrem Anwalt umkreiste. War es nicht der Kummer über seine unappetitliche Scheidung, der den gutartigen Tumor seiner Mutter hatte wachsen lassen? Die Sorge um den Sohn und den sich auftürmenden Schuldenberg, den er kaum noch bewältigen konnte? Alles wuchs ihm über den Kopf: der Unterhalt für Tanja und die Kinder, die Hypothek auf dem Haus. Seine Mutter ließ sich zwar selten etwas anmerken, aber er hatte immer gespürt, wie sehr sie die Scheidung und die Trennung von den Enkelkindern belasteten. Aber emotional gab es einen winzigen Hoffnungsschimmer: der Pferdeschwanz und er. Ein solches Szenario würde das Herz seiner Mutter erwärmen und ihr zusätzliche Energie verleihen, die sie brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen.

Ihre Augen weiteten sich. „Oh, mein Junge. Du bleibst aber auf der Hut?“

Er umarmte sie. „Das bin ich, Mama. Mach dir keine Gedanken. Du musst jetzt erst einmal gesund werden, sodass du übermorgen nach Hause gehen kannst. Und keine Sorge, ich putze, koche, wasche und bügle fast so gut wie du. Mit anderen Worten: Ich werde mich um dich kümmern.“

„Das weiß ich, aber ich hoffe trotzdem, dass du bald wieder eine Frau findest und mit deinem Leben weitermachst. Ich werde so froh sein, wenn euer Haus verkauft ist und du die Hypothek los bist. Du bist viel zu großzügig, was Tanja betrifft. Es gefällt mir nicht, dass du ihr jeden Monat einen so hohen Unterhalt zahlst. Sie hat doch auch einen Job! Für dich bleibt kaum etwas übrig.“

Sebastian drückte ihr einen weiteren Kuss auf die Stirn. „Es ist nicht für Tanja, Mama, sondern für die Kinder. Meine Mädchen können nichts dafür, dass ihre Mutter es für nötig gehalten hat, ihren Vater auf die Straße zu setzen. Wenn das Haus verkauft ist, muss ich nur noch Unterhalt für die Kinder zahlen und das werde ich gerne tun. Aber darüber musst du dir keine Sorgen machen.“

„Du hättest deine Frau nicht betrügen sollen.“

„Stimmt.“ Ein Eingeständnis, das ihm nicht schwerfiel, ihn aber auch nicht weiter berührte. Er dachte dabei an die Außentemperatur. Draußen war es zu kalt für die Jahreszeit. Kälte hatte etwas Bedrohliches. Kälte bereitete ihm Kopfschmerzen, wie das permanente Niedermachen durch seinen Erzeuger oder die vernichtenden Worte seiner Ex-Frau, die ihm das Besuchsrecht für seine kleinen Mädchen verweigerte. Ein eisiger Schauer lief ihm bei dem Gedanken über den Rücken.

„Du hattest deine Chance, Sebastian.“ Es war die Art, wie Tanja ihm die Worte entgegengeschleudert hatte. Seine Ex-Frau wusste, was ihn auf die Palme brachte und wütend machte. Verdammt, er war kein Baby mehr!

Aber jetzt bekam er endlich Aufwind. Er hatte diese andere Frau gesehen. Alles blendete ihn. Die Welt sah plötzlich anders aus als zuvor. Jemand hatte einen Filter über sie gelegt, der alles veränderte. Der Himmel war blauer als zuvor, kobaltblau. Das Sonnenlicht war so hell, dass es ihm in den Augen schmerzte.

Seine beiden Mädchen besaßen die Fähigkeit, seine manchmal farblose Welt auf dem Papier auszumalen, graue Regentage oder trübe Stimmungen papageienbunt einzufärben – mit ihrer Lebenslust, ihrem Humor, ihrem Enthusiasmus. Die Frau mit dem Pferdeschwanz könnte vielleicht sein Leben ausmalen wie ein Kind mit dicken Wachsmalstiften ein Malbuch.

Warum also über die Dominanz seines Vaters und Tanjas Gefühlskälte sinnieren? Ihre eisige Zurückhaltung hatte ihn fast zerstört. Diese gottverdammte blöde Kuh. Wusste sie denn nicht, dass nur die emotionale Kälte die Sünde hervorbrachte? Die Leidenschaft erzeugte keine.

„Ach, Junge“, seufzte seine Mutter leise und lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. „Du bist wieder so weit weg.“

„Alles braucht seine Zeit, weißt du. Ich schaffe das…“

Sie legte eine zarte Hand auf seine. „Sebastian, ich liebe dich. Das weißt du doch, oder?“

„Ich dich auch, Mama.“

Als er seinen Arm ausstreckte, um das Tablett abzuräumen, griff sie ein. „Nein, du kannst es stehen lassen. Ich werde später essen. Im Moment habe ich wirklich keinen Appetit. Würde es dir etwas ausmachen, die Vorhänge zuzuziehen, wenn du gehst?“

Der Raum war aber bereits dunkel. Die tief hängenden Wolken und der sich schwarz färbende Himmel kündigten den nächsten Regen oder ersten Schnee an. Er stand auf.

Das Fenster des Krankenzimmers bot einen atemberaubenden Blick auf den Englischen Garten. Der Herbst näherte sich seinem Ende, hier und da war bereits der Winter über den Park hereingebrochen und hatte ihn mit einer feinen Frostschicht bedeckt.

Sebastian hasste den Winter, noch mehr, seit er jeden Tag zwischen seinem Elternhaus und dem Friseursalon hin und her pendelte. Er besaß kein schönes, warmes Einfamilienhaus mehr, kein Eheleben mit einer sanften, liebevollen Frau, keine Töchter, die er täglich umarmen konnte, sondern die er nur noch selten sah. Ihm war nur der weibliche Aasgeier geblieben, der ihn bluten ließ und mit dem er sich rechtlich immer wieder über das Besuchsrecht auseinandersetzen musste. Eine Frau, die die Mordlust in ihm weckte.

Er vertrieb den unheimlichen Gedanken. Mit einem Seufzer zog er die Vorhänge zu. „Wenn du noch etwas brauchst; Mama…“

„Geh, geh schon. Vielleicht triffst du auf dem Korridor deine zukünftige Muse.“

Meine Muse?

Er winkte ihr noch einmal zu, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Schluss jetzt!, sagte er sich. Er wollte nicht länger über die emotionale Kälte andere Leute grübeln.

Schon gar nicht über widerliche Kreaturen wie Tanja oder seinen Vater.

Kapitel 2

Cherry

„Warum bist du noch hier? Deine Schicht ist doch um sechs Uhr zu Ende.“

Cherry vernahm den unterschwelligen Missmut in Lisas Stimme. Ihr war schon einige Male aufgefallen, dass die Stationsleiterin schnippisch und gereizt auf ihre Anwesenheit reagierte, wenn sie sich nach Dienstschluss im Büro aufhielt.

„Ich muss noch einige Akten aktualisieren. Hab zu lange mit einigen Patienten geplaudert.“

Lisa sah sie mitleidig an. „Ja, sicher.“

„Hast du ein Problem damit, dass ich meine Arbeit ordentlich mache, Lisa?“

„Nein, ich mag nur keine Nachlässigkeit und Angebergehabe.“

„Ach ja?“ Manchmal erinnerte Lisa sie an eine eiskalte Senke der Isar, in die Cherry an heißen Sommertagen hineinwatete und die einen Schritt weiter wieder wärmer und flacher wurde. Bei der Stationsleiterin wusste sie auch nicht, wo die kalten Stellen waren oder was einem als Nächstes erwartete.

Auf dem Gang waren Stimmen zu hören. Cherry spitzte die Ohren. Ob Vince unter den Kollegen ist?

Die Tür flog auf. Vince ging mit einem verstohlenen Grinsen voran, ihm folgte eine Schar Krankenschwestern und Medizinstudenten. Cherry schmunzelte, ihr Liebhaber benahm sich, als gehörte ihm die ganze Welt. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er in ihre Richtung kam. Als er sie jedoch bewusst wahrnahm, zuckte er zusammen und blickte zur Seite. Sah einfach weg. Ignorierte sie.

Er kam näher, doch sein Blick kehrte nicht zu ihr zurück, stattdessen besprach er mit Lisa den Fall einer Patientin.

„Wollten Sie nicht noch weitere Patienten konsultieren, Dr. Dinard?“, fragte Lisa.

Vince nickte. „Nur die zwei, die von der Intensivstation zurück sind.“

„Okay, ich begleite Sie.“

Cherry blickte Vince hinterher, als er den Korridor entlangging, obwohl sie den Schmerz der Ignoranz noch deutlich spürte. Sie wollte woanders hinsehen, aber ihre Augen folgten dem athletischen Körper. Warum war er zusammengezuckt? Sie spürte, wie Tränen über ihre Wangen rollten. Ihr Blick war verschwommen. Herrgott, was ist nur los mit mir? Sie war doch kein Teenager.

Cherrys Gedanken kreisten neuerdings nur noch um Vince. Warum hatte er sie gestern Abend nicht besucht, obwohl sie verabredet waren? Es kam schon vor, dass er eine Verabredung nicht einhalten konnte, aber er schickte stets eine Whatsapp oder hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Als Grund gab er stets eine familiäre Situation an: Ein Kind, dass unerwartet erkrankte, seine Frau, die einen Termin hatte, so dass er zu Hause bleiben musste. Er holte die Verabredung aber stets später nach.

Plötzlich überfiel sie eine tiefe Erschöpfung. Sie sollte jetzt lieber das Krankenhaus verlassen und darauf achten, dass sie ihm nicht über den Weg lief. Vielleicht fühlte er sich von ihr kontrolliert. Cherry wollte nicht, dass er glaubte, dass sie dazu fähig war. Ein Jammer, dass sie vorhin nicht mit ihm sprechen konnte. Aber das hätte Lisas Aufmerksamkeit erregt. Sobald diese Hexe etwas Verdächtiges witterte…

Cherry erschauderte bei dem Gedanken, dass die Stationsleiterin von ihrer Affäre mit Vince erfahren würden. Dann wusste es morgen das ganze Krankenhaus, und danach würde irgendjemand Vince’ Frau informieren. Und das war definitiv zu früh, seine Kinder waren noch zu jung, um eine Trennung der Eltern zu verkraften. Vince wollte sich erst trennen, wenn seine Tochter und sein Sohn ein bisschen älter waren, er glaubte, dass sie ein Jahr später besser damit klar kämen. Sie würde sich also noch zwölf Monate mit gestohlenen Stunden und verschwiegenen Gefühlen zufriedengeben müssen. Niemand wusste etwas von der Affäre, nicht einmal ihre beste Freundin Zasa oder ihre Schwester Meghan.

Cherry brauchte seinen Atem, sein Herz, sein Blut. Wenn sie sich ganz der schmerzhaften Lust überließ, war sie nicht mehr die einfache sympathische Krankenschwester, die immer die Kontrolle über die Gefühle behielt, sondern eine Frau, die sich in der Liebe verlor. Nur zu gern erinnerte sie sich an die gemeinsamen Nächte mit Vince, in denen Lust, Schmerz und Unterwerfung erlaubt waren. Ein famoser Rundumschlag mit seinem Körper, gegen alles, was verboten war. Vielleicht träumte sie deshalb neuerdings in der Nacht vom Angesicht des Todes. Im Hintergrund war der Tod stets allgegenwärtig und gefräßig. Einem Mann ihre Macht zu demonstrieren und sich dabei gleichzeitig erotisch zu stimulieren, regten ihre und seine sexuelle Fantasie enorm an, obwohl sie wusste, wie gefährlich ihre Spiele manchmal waren.

Mühsam löste sie ihren Blick von der verschwindenden Gestalt und blinzelte. Dann war der Korridor leer. Zweimal rieb sie sich unwillkürlich die Stirn, hinter der es dumpf pochte. Im Aufzug presste sie ihre Hände gegen die Brust, bis ihr Herzschlag nachließ. Das Gummiband ihres Pferdeschwanzes war auch zu fest. Sie lockerte ihr Haar, schüttelte es.

Sollte sie Vince einen Zettel unter den Scheibenwischer legen? Nein, sein Blick im Stationszimmer hielt sie davon ab. Besser nicht. Sie würde einfach nach Hause gehen, vielleicht kam er am Abend vorbei. Vielleicht wollte er heute nur nicht den Eindruck erwecken, dass er sich gefreut hatte, sie zu sehen.

Aber warum kann ich das nicht glauben?

Ihr Handy signalisierte einen Anruf. Vince?

Nein, ihre verdammte Schwester Meghan.

Mit einer wütenden Geste unterdrückte sie den Anruf.

Zuhause setzte sie sich einen Moment an das Klavier, berührte die Tastatur, und dachte an ihren Vater, dem der alte Steinberg gehört hatte. Sie hatte kaum darauf gespielt, seit ihr Vater die Familie vor Jahren verlassen und ihr das Klavier geschenkt hatte. Aber immer, wenn sie ihre Finger über das Instrument gleiten ließ, fühlte es sich an wie eine Umarmung ihres Vaters.

Der Geruch von kaltem Gras war verlockend. In der Regel rauchte sie nur an ihren freien Tagen, aber heute würde sie eine Ausnahme machen. Sie zündete sich einen kaum angebrochenen Joint aus dem Aschenbecher an. Zehn Minuten später war sie schon weit von ihrer ursprünglichen Absicht entfernt, die Wohnung aufzuräumen. Sie saß in luftigen Höhen, wo ihr Geist zwischen Vince und Grasdämpfen umherschweifte.

Vince sah ihr direkt in die Augen, während das unbegreifliche aller Gefühle sein Recht einforderte und alle anderen überlagerte: Liebe. Es konnte kein Zweifel daran bestehen. Er formte die Worte mit den Lippen: Ich liebe dich.

Viel später legte sie sich ins Bett, führte erneut eine langsame, schwere Hand an ihre Stirn, in der Bewegung jedoch innehaltend, weil sie in Wahrheit keinerlei Schmerz verspürte. Nur Abscheu und Hass.

Kapitel 3

Karo

Ich halte den Atem an. Zwei Kilo abgenommen. Tatsächlich! Der Zeiger der Waage bleibt auf achtzig Kilo stehen. Natürlich ist das erst der Anfang, es müssen noch zwanzig Kilo purzeln, aber die Deadline ist schon mal geknackt.

Vor Freude trällere ich unter der Dusche ein Liedchen. Als ich mich abtrockne, glaube ich, eine zurückkehrende Taille zu tasten. Blödsinn. Ich habe immerhin aber den Anfang geschafft, jubele ich in Gedanken. Endlich! Ich kann es schaffen, ich will es schaffen, ich will es so sehr. Und wenn meine Waage wieder sechzig Kilo anzeigt, werde ich nie wieder ein Gramm zunehmen. Nie wieder!

Wie gerne würde ich jemandem davon erzählen und gelobt werden. Aber wem? Meine Freundinnen vom Eat-Club, mit denen ich einmal im Monat zu Abend esse, reden nur vom Abnehmen, unternehmen aber nichts gegen ihre Fettpolster. Ich kann mich darauf verlassen, dass die zwei Kilo nächste Woche beim monatlichen Abendessen mit dem Eat-Club wieder drauf sind. Ganz sicher. Wie kann ich den beiden klarmachen, dass ich eine Pause einlegen muss und auch nicht wieder an den Treffen teilnehmen werde, falls die Eat-Club-Mädels nicht anfangen, an den Abenden auf ihre Ernährung zu achten?

Gesunde Ernährung … Was für ein Begriff. Das klingt so verdammt schräg und macht hungrig.

Meine Stiefmutter drängt mich jedes Mal, etwas gegen meine Pfunde zu unternehmen. Wie würde Anja auf die verlorenen zwei Kilo reagieren? Ich sehne mich so sehr nach meiner verstorbenen Mutter. Sie wäre stolz auf mich gewesen und hätte mich ermutigt weiterzumachen und durchzuhalten oder etwas in der Art gesagt, dass es ihr egal wäre, solange es mir nur gut ginge.

Mein Handy klingelt. Die Stimme meiner Eat-Club-Freundin Chris torpediert mich mit Fragen, nachdem ich die grüne Hörertaste gedrückt habe.

„Warum hast du mich noch nicht angerufen? Hattest du nicht vorgestern ein Blind Date? Wie ist es gelaufen, Karo? War es gut?“

Ich atme tief durch. „Ob es gut war? Der Typ war ein ganz schöner Brocken, ein Riese, fast zwei Meter groß. Ich könnte mich unter seinen Achseln stellen.“

„Hattet Ihr Sex?“ Die Frage klingt verwegen.

„Sex klingt zu sehr nach Singular. Denk ruhig im Plural“, antworte ich.

„Wirklich? Du hast immer dieses unverschämte Glück. Warum passiert mir das nie? Wenn diese Kerle mich sehen, sind sie fast schon wieder weg. Dein Typ steht also auf mollige Frauen?“

„Wir haben nicht über meine Kleidergröße gesprochen, Chris. Wir haben zusammen zu Abend gegessen, uns nett unterhalten und sind dann zu mir gegangen.“

„Wirst du ihn wiedersehen? Glaubst du, dass er wieder anrufen wird?“

„Wir werden sehen. Bei diesen Typen weiß man heutzutage nie, was sie beabsichtigen.“

„Puh, lass uns nicht davon anfangen. Also er hat es dir so richtig besorgt? Ich beneide dich. Ich lege neuerdings selbst Hand an. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Okay, wir sehen uns am Sonntag. Ich habe ein neues Pastarezept.“

„Ich habe übrigens zwei Kilo abgenommen, Chris.“

„Die hast du kommenden Montag wieder drauf. Denk dran. Der Stau am mittleren Ring ist in. Bis dann. Liebe dich.“

Bevor ich antworten kann, hat Chris aufgelegt. Ich beschließe, sie Samstag anzurufen und abzusagen.

Im Schrank liegt noch eine Tüte Erdnüsse, aber ich werde sie nicht öffnen, sondern wegwerfen, und zwar sofort! Sekunden später trete ich auf das Pedal des Mülleimers und trenne mich von der Kalorienbombe. Seit einer Woche notiere ich mir jeden Tag, was ich essen und was ich nicht essen darf. Das Ergebnis von zwei Kilo ist für jemanden wie mich schon beeindruckend.

Eines Tages werde ich tatsächlich ein heißes Blind Date haben und die ganze Nacht dieses Kribbeln im Bauch verspüren. Ich möchte nicht an das Gesicht des Mannes denken, dem ich vor ein paar Tagen begegnet bin, vor allem nicht an die Art und Weise, wie er mich angesehen hat. Wir wollten irgendwo zu Abend essen, aber dazu kam es nicht. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, sagte er unverblümt, ich wäre nicht sein Typ und ließ mich einfach stehen.

Dennoch gab ich an dem Abend dem Frust keine Chance, blieb stark und verzichtete auf Junkfood und Süßigkeiten. Das war ein Sieg, auf den ich stolz sein kann. Männer, die nur auf das Aussehen achten, können zur Hölle fahren. Sie sind es nicht wert, dass man auch nur eine Sekunde lang einen Gedanken an sie verschwendet.

Aber warum weine ich dann?

Kapitel 4

Sebastian

Er war fast glücklich und tänzelte beinahe über den Krankenhausflur. Über einer der anderen Türen brannte ein Lämpchen. Vermutlich kümmerte sich die hübsche Krankenschwester dort um einen Patienten.

Sebastian tastete in seiner Jackentasche nach einem Stift. Ja! Jetzt nur noch einen Zettel. Er betrat das leere Stationszimmer und ließ den Blick über die Schreibtische schweifen. Auf einem lag ein Notizblock. Sollte er? Konnte er einfach so…? Warum nicht? Er wollte doch auch nur ein wenig leben, ein wenig Spaß haben. Dies sollte der erste Schritt sein.

Eine Gruppe Weißkittel betrat den Raum. Der Pferdeschwanz war aber nicht unter ihnen. Eine Schwester kam auf ihn zu, fragte, ob sie etwas für ihn tun könnte. Die Anderen setzten sich an einen großen Tisch.

Er nahm den Zettel aus seiner Jackentasche. „Ich weiß nicht, ob … Wie soll ich es sagen? Nun, hier arbeitet eine Krankenschwester mit einem Pferdeschwanz. Sie ist groß und schlank und hat…“

„Ich weiß, wen Sie meinen. Sie ist gerade nach Hause gegangen.“

„Oh, okay.“ Er gab ihr den Zettel. „Würden Sie ihr diese Nachricht bitte ins Fach legen? Oder hat sie kein Postfach?“

„Doch, wir haben alle eins“, antwortete die Schwester und grinste.

Sebastian zögerte.

„Ich werde dafür sorgen, dass sie Ihre Nachricht erhält. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, aber ich danke Ihnen für die Mühe.“

Er drehte sich um und ging schnell zum Aufzug. Im Spiegelglas der Tür sah er sich reflektiert und stellte fest, dass er mit einem Mal ein energiegeladener und charismatischer Mann war. Kein Loser. Ein Schnelldenker. Endlich erwachsen. Ob Tanja seine Veränderung auch auffallen würde? Wenn sie ihn so sehen könnte, würde sie erkennen, was sie verloren hatte.

Jetzt war da dieser Pferdeschwanz. Dass sie schon fort war, schien ihm ein Akt der Grausamkeit und der Wermutstropfen an diesem Abend.

Seltsam … Mit dem Gedanken kamen ihm wieder die Zweifel, die er so hasste und die ihn zum Nobody machten.

Draußen vor der Klinik spürte er ein Kribbeln im Nacken. Der Teppich aus Unkraut und vermoderten Blättern knisterte leise, als er zum Taxistand ging. Irgendetwas war anders als sonst. Aber was? Sebastian blieb stehen, starrte in die Dunkelheit. Nichts. Die Straße war menschenleer. Kein kalter und farbloser Schatten wanderte umher. Alles war ruhig, bis auf den Wind, der durch die Bäume fegte. Warum hatte er dann das Gefühl, wie neulich beobachtet zu werden?

Schulterzuckend umfasste seine Hand den Türgriff des vorderen Taxis. Die Scheinwerfer leuchteten auf wie ein Willkommensgruß. Auch sein Handy, das plötzlich gegen seinen Oberschenkel vibrierte, empfand er wie ein positives Omen. Eine anonyme WhatsApp. Vom Pferdeschwanz? Hatte sie seine Nachricht schon erhalten? Ganz sicher hatte sie sich in dem Krankenzimmer mit dem Lämpchen über der Tür aufgehalten. Die WhatsApp konnte nur von ihr sein, musste von ihr sein. Er kam fast um vor Sehnsucht nach ihr, obwohl er sie gar nicht kannte. Warum hatte er sie nicht im Zimmer seiner Mutter angesprochen?

Feigling.

Er stieg ins Taxi, nannte seine Adresse und schnupperte den Duft des neuen Leders. Das Smartphone vibrierte ein zweites Mal. Er nahm es aus der Hosentasche. Die WhatsApp musste vom Pferdeschwanz sein. Sex mit ihr war gewiss sensationell. Sobald er nur daran dachte, bekam er eine Erektion.

Wenn er jetzt in einen Spiegel blicken könnte, würde es wie ein Spiegelbild in Scherben wirken. Aber auch zerbrochene Dinge widerspiegelten das Licht. Er könnte sich in den Pferdeschwanz verlieben, obwohl er erfahren hatte, dass aus der größten Seelentiefe der Liebe zu oft die grausamsten, schrecklichsten Empfindungen aufkeimen konnten.

Im Taxi hob er kurz den Blick zum schwarzen Himmel. Hinter dem Krankenhaus schimmerte schwach der Mond. O mein Gott! Die Sehnsucht nach dem Körper der Krankenschwester brachte ihn fast um den Verstand.

Der Taxifahrer beugte sich kurz nach vorn, um mit einer Hand über die beschlagene Windschutzscheibe zu wischen. Sebastians Augen verweilten auf den schwarzen Nagelrändern des Fahrers, auf den von Tabak gelb verfärbten Fingern, auf den Flecken am Kragen des zerknitterten Hemdes. Er sah einen Mann, allein, gebrochen und fragte sich, wie viel Zeit dem Mann wohl in diesem Leben noch blieb. Das aufgedunsene Gesicht war von Couperose gezeichnet, Schweiß stand ihm auf der Stirn und dunkle Ränder umrandeten die Augen des Fahrers. Das Herz oder die Nieren? Vielleicht beides, dachte er. Zu viel Salz, dazu Stress und das Cholesterin. Die Arterien rächten sich. Seine Augen streiften die leere McDonald’s-Schachtel auf dem Boden. Wie konnte der Mann sich nur so gehen lassen?

Sein Handy vibrierte. Er blinzelte vor Freude in die Finsternis, atmete ein und aus. Draußen regnete es jetzt in Strömen. Er blinzelte wieder. Spürte vor Glück eine Träne über seine Wange laufen, spürte, wie sie das Salz alter Tränen auflöste. Er öffnete die Nachricht.

Auf dem Display startete ein Video. Unscharf, körnig, ein schwarzer Hintergrund, wie ein weit geöffneter Schlund, der darauf wartete, den Betrachter zu verschlingen. Er brachte das Display näher an sein Gesicht. Bei genauem Hinsehen beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er zwang sich, dennoch dazu. Er erkannte schwach eine Straße, auf der eine Frau radelte, dann brach das Video ab. Was war das denn? Und wo war das? Er zwang sich, seine Atmung zu beruhigen. Jemand erlaubte sich einen Scherz mit ihm. Hm… Also keine Nachricht von der Frau, die er flachlegen wollte. Er zwang sich den Videoclip noch einmal anzusehen: die Straße, die Radfahrerin in der Nacht, Cut. Im Dunkeln konnte er nicht erkennen, wer es genau war, aber die Frau erinnerte ihn an Tanja.

Schlagartig war er wieder ganz ruhig und richtete sich auf dem Rücksitz des Taxis auf. Schade. Er schloss einen Moment die Augen und döste ein …

Er startete das Video erneut: ein grauenhaft entweihter Frauenkörper, nackt und mit Stacheldraht gefesselt. Die Geschlechtsorgane inmitten von Kerzen drapiert. Vor ihrer Leiche lagen zwei kleine, kopflose Mädchen in einem Sarg, die Köpfe waren nirgendwo zu sehen. Seine Augen weiteten sich, sein Körper fühlte sich plötzlich taub an.

Etwas verschob sich in ihm, etwas trudelte an die Oberfläche, etwas Böses. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau und vergrößerte den Ausschnitt. Ihre Gesichtshaut war an manchen Stellen akribisch abgelöst und hing in Fetzen herunter, in Höhe des rechten Tränenkanals krabbelte ein Wurm.

Sebastian knirschte mit den Zähnen. Dann blickte er auf die beiden Särge, seine Hände zitterten, sein Puls beschleunigte sich. Die Köpfe der Mädchen kamen aus der Schwärze auf ihn zu und blickten ihn mit leeren Augenhöhlen an. Ihre Stimmen erhoben sich.

„Komm zu uns, Papa. Lass uns nicht allein!“

„Papa!“

Schreie.

Das Taxi hielt mit einem Ruck an. Sebastian riss die Augen auf, sein Körper wurde leicht, er kämpfte gegen die Ohnmacht, blieb aber bei Bewusstsein, gerade so.

„Sie haben geschrien, das muss ja ein übler Albtraum gewesen sein“, knurrte der Taxifahrer.

Plötzlich fügte sich das Puzzle zu einem klaren Gedanken in den kühlen Windungen seines Geistes. Er blickte auf sein Handy. Keine zweite WhatsApp. Keine neuen Nachrichten, kein weiterer Videoclip. Er hatte von Tanjas Tod und dem seiner Kinder geträumt. Die Schreie der Mädchen hallten in seinem Kopf wie ein fernes Echo. Und er wusste, es waren ihre Hilferufe.

„Das macht dann einundzwanzig Euro“, sagte der Taxifahrer und grinste.

Sein Lächeln kam Sebastian wie ein geöffnetes Klappmesser vor. Er zahlte, stieg aus. Der Regen hatte breite Furchen in die Erde gegraben, in denen jetzt trübes Wasser stand. Der schwammige Boden verschlang seine Schritte. Er versuchte, die Pfützen zu umgehen, in der vergeblichen Hoffnung seine Hose zu schützen.

Verdammt, warum hatte sein Vater den Weg zum Hauseingang noch immer nicht gepflastert? Ihm war übel, das Wasser wirkte plötzlich wie ein tosendes, alles verschlingendes Meer.

Was hatte er da nur geträumt? Diese abscheulichen Bilder. Tanjas grauenhaft entweihter Körper, nackt und mit Stacheldraht gefesselt. Und die leeren Augen der Mädchen, ihre kopflosen Körper in den Särgen. Ihre heiser gequälten Schreie. Blicke, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würden, wie ihre gebrochenen, verzweifelten Stimmen.

Wenige Schritte vor der Haustür hielt Sebastian inne und sah sich um. Hielt den Atem an, lauschte. Weit und breit war niemand zu sehen. Nur die Endlosigkeit des vor ihm liegenden Hochhauses.

Da! Jetzt hörte er es deutlich. Klack … klack … klack! In der Ferne hallten Schritte wider. Jetzt war er sich sicher, dass er längst nicht mehr allein war, dass jemand ihn beobachtet hatte. Er war sich sicher: Sein Albtraum war eine Metapher, ein Vorgeschmack auf all das, was Tanja anrichten konnte, um ihn zu zerstören.

Kaum hatte er die Einliegerwohnung in seinem Elternhaus betreten, überwältigte ihn der Geruch von lauwarmem Bier. Auf dem niedrigen Tisch stapelten sich Dosen und leere Flaschen – die Überbleibsel des gestrigen Abends, die er noch nicht aufgeräumt hatte.

Sein Handy holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Eine unbekannte Nummer. Realität oder Albtraum?, fragte er sich.

Er starrte auf das Display auf dem Couchtisch, das nicht aufhörte zu vibrieren. Seine Finger kribbelten, sein Herzschlag beschleunigte sich, er unterdrückte einen Schauer. Auch wenn er die Nummer nicht kannte, glaubte er zu wissen, wer am anderen Ende der Leitung wartete. Tanja, die ihn terrorisierte?

Sein verknoteter Magen krümmte sich einmal zu oft. Er eilte ins Badezimmer und entleerte seine Eingeweide in der Toilette. Mit einem Röcheln richtete er sich taumelnd auf. Eine Myriade von Sternen tanzte vor seinen Augen.

Das Klingeln hörte endlich auf und wurde durch ein Stakkato aus Klirren ersetzt. Eine Salve aus drei Nachrichten:

Morgen auf jeden Fall.

Du weißt, was dich erwartet, Feigling.

Sei morgen Abend um 20 Uhr im Laden.

Wollte sie schon wieder Geld? Sebastian schaltete sein Handy aus. Nur nicht daran denken. Morgen war ein neuer Tag. Er musste sich zusammenreißen, seine Probleme bewältigen, um das Besuchsrecht für seine Kinder zu bekommen. Aber er wusste, dass alles noch schwieriger werden würde.

Nein, nicht schwieriger.

Grausamer.

Kapitel 5

Cherry

Sie könnte heute Abend ins Kino gehen, das tat sie oft, wenn es im Fernsehen nichts Besonderes gab oder sie sich langweilte.

Safe Haven, hatte ihr die übergewichtige Karo bei einem Kaffee empfohlen. Ob ihre Kollegin mit diesem Körper jemals einen Liebhaber haben würde? Solche Gedanken kamen Cherry immer wieder in den Sinn, wenn sie sich über etwas aufregte. Sie wusste, dass es unschön war, solchen Gedanken über eine Kollegin Raum zu geben, die zwar sehr mollig war, der man aber als Mensch nichts vorwerfen konnte.

Ihre Nerven lagen blank und die Tränen flossen. Warum hatte Vince kein beruhigendes Signal von sich gegeben? Er ignorierte sie. Wollte er keinen Verdacht erregen? Verdammt, sie war viel zu abhängig von diesem Mann. Sie begnügte sich mit einer geheimen Affäre, ließ sich seit fast einem Jahr auf eine Beziehung ein, die einen ranzigen Beigeschmack hatte. Diese Obsession war vor zwölf Monaten wie eine riesige Welle in ihre Welt hineingeschwappt. Das Zufügen und Erleben von Schmerz und Macht bereitete ihr einen qualvollen Genuss, den sie brauchte, um sexuelle Befriedigung zu erlangen. Seine dunklen Augen hatten sie dabei immer aufmerksam gemustert. Er war der einzige Mann, der ihren Herzschlag durch eine Berührung auf hundert Schläge pro Minute beschleunigen konnte und ihren Unterleib beben ließ. Sie vermisste Vince, seine Stimme, seinen Atem, die schimmernden Wellen seiner Gedanken. Sein Herz barg finstere Tiefen, die nur sie allein ausloten konnte. Tief in ihrem Inneren spürte sie noch immer das Zittern, das allein die Erwähnung seines Namens auslöste. In den letzten Monaten kam ihr immer öfter das Wort ‚ranzig‘ in den Sinn. Was Vince und sie aber gemeinsam hatten, war gut und aufrichtig. Er liebte sie, da war sie sich sicher. Er fand sie schön, das sagte er jedes Mal, wenn sie zusammen waren. Dennoch führte sie das verdammte Leben einer ewig wartenden Geliebten. Einer ‚Waiting Cherry‘! Einer Verdammten!

Wie seine Frau wohl aussah? Wäre sie vor sechs Monaten zu der Jubiläumsfeier des Krankenhauses gegangen, würde sie es wissen. Ursprünglich wollte sie sich dort mit den anderen Kollegen amüsieren, vielleicht sogar einen anderen Mann anbaggern, um Vince’ Eifersucht anzustacheln. Aber sie befürchtete, dass er sie dann sofort abservieren würde. Am Ende beschloss sie, nicht hinzugehen. Tage später hörte sie auf der Station begeisterte Geschichten über eine großartige Band, ein tolles Buffet und jede Menge Küsse und Knutschereien zwischen Mitarbeitern, die sich tagsüber auf dem Krankenhausflur nicht einmal grüßten. Jemand behauptete, dass Vince mit Lisa das Gebäude verlassen hätte, aber das glaubte sie nicht. Sie war davon überzeugt, dass er mit ihrer Kollegin draußen nur eine Zigarettenpause eingelegt hatte. Rauchen war das Einzige, was sie an ihm nicht leiden konnte, aber auch das erwähnte sie mit keinem Wort.

Ob Vince’ Frau auch Cannabis rauchte?

Wiederholt prüfte sie, ob sie eine Voicemail oder eine Whatsapp-Nachricht erhalten hatte. Nichts.

Sie schickte ihm eine Was ist los?-Nachricht mit dem Handy, das Vince eigens für diesen Zweck gekauft hatte – anonym, damit seine Frau nicht herausfinden konnte, mit wem er eine Affäre hatte, falls sie die Nachricht las.

An der Kinokasse fragte sie nach einem Eckplatz und betrat sofort den Saal. Es waren nur eine Handvoll Leute dort, sie zählte zehn Personen, von denen vier ohne Begleitung waren. Drei Reihen vor ihr saß ein Pärchen, das seine Hände nicht voneinander lassen konnte. Verdammt, warum löschte niemand das Licht. Sie wollte sich das nicht ansehen und sich auf den Film konzentrieren.

Der Film begann. Jetzt nicht an Vince denken, und schon gar nicht an seine Frau.

Plötzlich drang ein Gedanke in ihr Gehirn.

Das darf nicht sein, ich muss ihn sofort loslassen.

Sie spürte, dass der Gedanke eine unmittelbare Wirkung auf sie ausübte: Ihr Gesicht und ihr Hals liefen rot an, ihr Herz raste, ihre Augen weiteten sich, nur einen Moment lang. Doch so schnell wie es anfing, so schnell war es auch vorbei. Sie beruhigte sich wieder. Der Gedanke blieb. Er war in ihr Hirn getreten, sie dachte es immer wieder. Und wieder. Aber er brachte ihre Wangen nicht mehr zum Glühen.

Der Abspann begann, die Zuschauer standen auf, zogen ihre Mäntel an. Cherry starrte auf die Leinwand. Alles unbekannte Namen, die sie sofort wieder vergessen würde. Sie versuchte, sich auf die weißen Buchstabenreihen zu konzentrieren, so dass die Worte in ihrem Hirn verloren gingen. Es gelang ihr nicht.

Cherry presste die Augenlider zusammen. Vielleicht half das, nicht darüber nachdenken zu müssen: Vince’ Frau muss aus dem Weg geräumt werden!

Jemand stand neben ihr, sagte etwas, Worte, die nicht zu ihr durchdrangen. Sie sah sich um. Der Raum war ansonsten menschenleer. Die Person neben ihr machte eine Geste. Wir schließen jetzt, lautete die Botschaft. Rasch verließ sie das Kino und lief zum Parkplatz, während die Augen der Nacht sie beobachteten.

Zuhause sank sie in die Couch, schnappte sie sich ihr Handy und scrollte ihre Nachrichten. Keine Antwort von Vince. Sie hatte jetzt zwei Tage dienstfrei. Vince wusste es. Morgen Abend würde er vermutlich vor ihrer Tür stehen.

Zur Entspannung griff sie zu einem Joint und nahm ein paar Züge. Ihr verweichlichtes Gehirn reagierte nicht sofort. Gedanken an Vince, die für sie eigentlich selbstverständlich sein sollten, erreichten sie mit einer Verzögerung. Aber nach einer durchwachten Nacht und in diesem besonderen Kontext war das Nachdenken wie das Fischen nach Ideen in trübem Wasser.

Sie lehnte sich zurück …

Sie schreckte hoch, als ein Lichtkegel über die Wand hinter dem Fernseher glitt, und schon im nächsten Moment fragte sie sich, ob sie sich den Schatten nicht eingebildet hatte. Sie war eingeschlafen, trotz des spannenden Thrillers, der gerade im Fernsehen lief. Das passierte ihr oft. Sie war ein Morgenmensch. Stand um halb sechs in der Früh auf und ging voller Tatendrang zum Dienst. In den Abendstunden hingegen … Sie hatte neuerdings ein ungutes Gefühl, konnte nicht erklären, wo die Ursache dafür zu finden war.

Cherry richtete sich von der Couch auf, zerdrückte den Joint im Aschenbecher und pustete die wenige Asche vom Couchtisch weg. Sie lauschte nach draußen, konnte aber nichts hören. In den vergangenen Wochen fuhr immer wieder ein Auto langsam an dem Haus vorbei. Meistens am späten Abend, in der Dunkelheit. Sie hörte den Motor, sah dann das Licht der Scheinwerfer über die Wände des Wohnzimmers gleiten. Und dann – nichts. Kein Laut, kein Licht, gar nichts. Als hätte jemand angehalten, den Motor und die Scheinwerfer ausgeschaltet. Um im Dunkeln dort zu stehen und … um was zu tun? Sie zu beobachten?

Sie war keine ängstliche Frau, hatte das Handy gegriffen und irgendwann ein Foto gemacht. Beim zweiten Mal stand sie auf und trat sogar vor die Haustür, lief den Plattenweg durch den Garten bis zum Tor. Versuchte, irgendetwas zu erkennen, aber das war hier draußen fast unmöglich. Der Wald grenzte an das Grundstück. Eine Nacht war nie völlig schwarz, nur hier draußen war sie es. Nahezu undurchdringlich schwarz. Das Haus lag abgelegen, was das Auftauchen eines Autos so befremdlich erscheinen ließ.

Ein Insekt hatte sich auf dem Fenster niedergelassen. Es bewegte sich nicht mehr. Sie fragte sich, ob eine Fliege schlief. Musste nicht jeder lebende Organismus sich ausruhen, um seine Batterien wieder aufzuladen?

Sie schielte auf die Fernsehzeitschrift, nahm sie in die Hand. Entweder das Insekt oder sie. Sie trat ans Fenster. Bestand nicht die Gefahr, dass sie die Scheibe zerbrach? Bei der Kälte draußen wäre das eine Katastrophe. Dann schlug sie zu. Sie visualisierte die Szene, die zerquetschte Fliege, das intakte Fenster. Und legte die Zeitschrift wieder beiseite. Dann waren ihre Gedanken woanders. Sie dachte nicht mehr an die Fliege, die tot auf der Fensterbank lag.

Jemand beobachtete das Haus.

Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Sie schaltete die Stehlampe und den Fernseher aus. Das Zimmer lag jetzt im Dunkeln. Wieder starrte sie angestrengt in den finsteren Abend. Es war schwierig, irgendetwas zu erkennen. War das eine Frauengestalt neben der Eiche? Sie ahnte mehr, als sie wirklich sah.

Sie seufzte. Da war er wieder: der Mordgedanke.

Kapitel 6

Karo

Ich spüre eine innere Unruhe, während ich ausgestreckt auf dem Sofa liege und mir zum wiederholten Mal Sex and the City ansehe. Heute langweilt mich die Folge. Ich blättere in der Fernsehzeitschrift und zappe unentwegt durch die Programme. Der Appetit auf die süßen Sünden bringt mich fast um den Verstand. Jetzt einen fetten Doppelburger mit Pommes, ein Stück Torte, Gummibärchen, ich möchte alles in mich hineinstopfen, was nicht erlaubt ist.

Auf der Glasplatte unter dem Couchtisch stapeln sich die Zeitschriften voller Ratschläge und Interviews mit Frauen, die Tipps zum Abnehmen geben. Ich höre aber nur, wie mein Magen knurrt. Wo ist diese verdammte Zeitschrift mit den Tipps? Warum kann ich nie etwas sofort finden, wenn ich es brauche? Ich komme ohne diese Tipps nicht aus, ohne Hilfe schaffe ich es nicht.

Plötzlich habe ich das Gesicht meiner Stiefmutter Anja vor Augen und das wohlwollende Lächeln um ihre Lippen. „Hast du schon mal von Weight Watchers gehört, Karo?“, hat sie mich neulich gefragt. „Das soll immer noch der beste Weg zum Abnehmen sein. Meine Nachbarin hat sich auch dort angemeldet und einen großen Erfolg erzielt. Sie sieht jetzt zehn Jahre jünger aus. Weißt du, ich habe neulich Fotos von dir gesehen, als du noch schlank warst. Kind, ich habe dich kaum wiedererkannt.“

Sie hätte alles sagen können, nur nicht dieses Kind. Ich stand abrupt auf und verließ wortlos mein Elternhaus.

Plötzlich erinnere ich mich an einen Hinweis in einer Zeitschrift. Suchen Sie sich Fotos aus der Zeit aus, als Sie noch schlank waren und hängen sie diese an strategisch günstigen Stellen im ganzen Haus auf, lautete der Rat einer ehemaligen Übergewichtigen. Hängen Sie das Foto eines dicken Mannes oder einer dicken Frau, das sie anwidert, an den Kühlschrank.

Demzufolge muss jemand ein Foto von mir machen.

Niemals!

Ich sehe mich um. Im Wohnzimmer herrscht Chaos, ich entdecke Spinnweben in einer Ecke, eine Eintagsfliege liegt auf der Fensterbank. Dem Hungertod erlegen!

Mein Appetit auf herzhafte Speisen ist unerträglich. Ich laufe in die Küche, fische die Tüte Erdnüsse aus dem Mülleimer und reiße sie gierig auf. Mental habe ich mich noch nicht von den falschen Nahrungsmitteln verabschiedet, das sollte ich verdammt nochmal jetzt tun. Das ist das letzte Mal, dass ich Erdnüsse esse. Ich kaufe nichts mehr, was mich von meinem Ziel entfernt. Letzte Woche war eine Übung, morgen starte ich richtig durch. Morgen … Die größte Lüge aller Zeiten.

Irgendwo muss auch eine Tüte Chips sein.

Kapitel 7

Sebastian

Sebastian wollte nicht an sie denken und dachte dennoch an nichts anderes. Alles blendete ihn. Die Welt sah urplötzlich anders aus. Amor hatte einen Filter über sie gelegt, der alles veränderte. So kam es ihm vor. Ob die Krankenschwester mit dem Pferdeschwanz die Notiz schon bekommen hatte? Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte er ihren Namen auf dem Namensschildchen gelesen. Jetzt war das alles merkwürdig anonym. Vielleicht hätte er statt des zaghaften S, das deutlich zeigte, dass seine Hand gezittert hatte, die Zeilen mit Sebastian Kramer unterschreiben sollen. Aber er wollte sich nicht zu sehr exponieren. Sollte sie seine Nachricht ignorieren, dann wüsste sie, dass er der Sohn der Patientin Kramer war. Es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Er konnte vielmehr davon ausgehen, dass sie ihn nicht anrufen würde und nur ein schöner, unerfüllter Traum blieb. Vermutlich war es auch besser so, denn Träume waren meist – mit einigen Ausnahmen – angenehmer als die Realität.

Er seufzte. Wäre es besser gelaufen, wenn es ihm gelungen wäre, der Mann zu sein, der ihr Interesse geweckt und von dem sie sich gerne hätte erobern lassen? In der Vergangenheit hatte ihn in Wahrheit seine Exfrau erobert. Am Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihn noch damit geneckt. Später wurde daraus ein einziger Vorwurf.

Er hätte sich eine andere Beziehung gewünscht: ruhiger, freundlicher, rücksichtsvoller im Umgang miteinander. Auch hätte er sich selbst mehr Entschlossenheit gewünscht, alles hätte weniger flexibel sein können. Er hätte die Augen vor der Hexe in Tanja nicht verschließen dürfen, sondern sie direkt auf ihr Verhalten ansprechen sollen.

Er hätte eingreifen müssen!

Hätte, hätte, hätte!

Am Schaufenster seines Friseurladens liefen zwei Kinder vorbei. Blitzschnell ging er zur Tür. Er war sich sicher, dass es seine Töchter waren. Ob Tanja auch in der Nähe war? Seine Augen blickten nach links, nach rechts. Da! Ihm stockte der Atem, als die Mädchen auf der anderen Straßenseite unmittelbar in die ausgestreckten Arme eines Mannes liefen.

Was sollte das? Sebastian riss die Augen auf. Das konnte nicht sein! Wie lange lief das schon? Er wollte seine Töchter rufen, aber seiner Kehle entwich nur ein Stöhnen. Eine Frau, die am Laden vorbeiging, warf ihm einen neugierigen Blick zu. Er wandte sich ab.

Vor dem Schaufenster seines Ladens verblasste der Vormittag. Er schaute auf die Straße die sich vor ihm ausbreitete und hielt Ausschau nach den Mädchen, aber sie waren fort. Was zum Teufel machte Tanja da? Hatte sie nicht schon genug Schaden angerichtet? Die Sehnsucht nach seinen Töchtern schmerzte heute mehr denn je. Er wollte sie sehen, sie mussten in seine Arme kommen und von ihm geknuddelt werden. Wenn diese Schlampe noch länger versuchte, sie von ihm fernzuhalten, würde er ihr an die Kehle gehen. Das hätte er längst tun sollen, schon als sie das erste Mal auf ihn losgegangen war und ihn angegriffen hatte. Und auch dieser Typ, mit dem sie jetzt angab, würde eines Tages feststellen, dass er diese Frau unterschätzte. Zu wissen, dass die bloße Anwesenheit seiner Exfrau irgendwo da draußen existierte, verursachte ihm Gänsehaut. Er nahm seine Wut aber nicht mit in den Laden, zu den Kunden, zu seiner Angestellten, sondern trug sie wie seine Schere zwischen den Fingerspitzen und schnitt die toten, ekelhaften Haarspitzen, als wäre jede einzelne Tanja.

In den vergangenen Nächten hatte er wieder einmal von Tanja geträumt. Sein Schmerzgedächtnis meldete sich, die Synapsen spielten verrückt. Er glaubte, das Anschwellen seiner Wange nach einer Ohrfeige zu spüren, die Rötung in seinem Gesicht, die eisige Stille danach. Die Tränen, die unweigerlich mit dieser Erinnerung kamen. Im Traum hielt er Tanja seine Schere an die Kehle, blickte ihr dabei direkt in die Augen, hörte ihr atemloses Flehen und … stach zu. Wurde zum Mörder. Tanja ging zu Boden, ihr Blut drohte ihn zu überfluten wie ein Szenario aus einem billigen Horrorstreifen.

Jenseits des Schaufensters veränderte sich das Licht, der Tag schritt voran. Die Glocke eines Kirchturms läutete in der Ferne, der Regen setzte ein. Doch all das bekam er nur nebenbei mit. Seine Gedanken waren bei den Schlägen, die Erinnerungen prasselten auf ihn ein, die Verwirrung, die Panik, die entsetzlichen Schreie, als alles außer Kontrolle geriet.

Gütiger Himmel. Das musste aufhören! Tanja war bereits seit zwölf Monaten Geschichte. Er schaute in den Spiegel und schreckte vor dem Gesicht zurück, das ihm da jetzt entgegenblickte. Aber noch mehr erschreckte ihn der Gedanke, der ihm immer wieder in den Sinn kam.

Neunzehn Uhr. Diese Verrückte würde bald im Laden auftauchen und von ihm verlangen, dass er noch mehr Unterhalt zahlte, Geld, das er nicht besaß. Sie würde ihn ausfragen, bedrohen, verprügeln und vielleicht sogar schwer verletzen, wie Tanja es schon so oft in der Vergangenheit getan hatte. Nur um ihm zu sagen: Mit mir ist nicht zu spaßen.

Sterben – vorausgesetzt, er litt nicht zu sehr – wäre die einfachste Lösung für seine Probleme. Eine Flucht. Und zwar endgültig. Das Ende all seiner Sorgen, es blieb nur das Nichts. Kein Unterhalt, keine Hypothek, keine Tanja, keine … Nichts.

Halt! Er unterdrückte einen Schauer. Der Gedanke an nichts hatte ihn schon immer beunruhigt, er ließ seine Gedanken nie länger als ein paar Sekunden darin verweilen.

Nichts bedeutete Totsein: Er würde seine Kinder zurücklassen, seine Mädchen, allein mit dieser Psychopathin. Demzufolge war das Nichts keine Option.

Kapitel 8

Cherry

War er ihrer überdrüssig? Das hätte sie doch gewiss bemerkt? Vergangene Woche hatten sie einen ganzen Abend im Bett verbracht, er wollte partout nicht nach Hause gehen. Sie musste ihn mit Nachdruck daran erinnern, dass er ernsthafte Probleme bekommen würde, wenn er zu spät nach Hause käme. An der Haustür hatte er sie noch einmal schnell und heftig genommen.

Irgendetwas musste passiert sein, er hatte noch nie eine ihrer Nachrichten ignoriert. Sie musste sich ablenken und sich etwas für den heutigen Tag überlegen. Vielleicht würde Zasa mit ihr in die Stadt fahren? Doch bei ihrer Freundin meldete sich nur der Anrufbeantworter, sie hinterließ keine Nachricht. Sie würde auf eigene Faust in die Stadt gehen. Vielleicht konnte sie ihre Niedergeschlagenheit mit etwas Hübschem kompensieren? Ein Kleid. Schuhe. Eine schöne Tasche. Selbst wenn es ein Trost-Shopping war, so war es immer noch besser als ein Trost-Essen, denn das barg die Gefahr, in kürzester Zeit wie ihre Kollegin Karo auszusehen.

„Ich werde verrückt, wenn du mich bei der Visite begleitest und ich deinen Körper sehe“, flüsterte Vince manchmal, wenn es ihm gelang, ihr unbemerkt etwas ins Ohr zu flüstern.

Sie spürte genau, wann er ihr in der Klinik nachschaute oder im Schatten der Korridore stets ein paar Sekunden wartete, ehe er durchatmete und auf sie zukam. Dann sah er sie so seltsam an, verliebt, verträumt, und flüsterte ihr ins Ohr, dass er sich auf den Abend mit ihr freute. Sein Lachen klang schön, warm und heiser nach. Danach ging sie wie auf Spiralfedern, mit weit ausgreifenden langen Schritten und erhobenem Kinn in das Stationszimmer und hoffte, dass ihr Dienst schnell zu Ende war.

In diesen amerikanischen Fernsehserien gingen die Ärzte regelmäßig mit jemandem in ein Arztzimmer und kamen nach einer Stunde mit erhitzten Gesichtern wieder heraus. Aber das hatte nichts mit der Realität zu tun. Zumindest nicht mit ihrer Realität.

Sie überprüfte zum x-ten Mal den Posteingang. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass er nichts von sich hören ließ. Erhöhte das nicht die Chance, dass er sie überraschen würde? Wenn er jetzt eine WhatsApp schicken würde, dass es – aus welchem Grund auch immer – vorbei wäre, hätte sie nichts mehr, worauf sie sich freuen könnte. Sie wusste, dass sie ihm sexuell hörig war, und das gefiel ihr nicht. Warum geriet sie immer wieder in eine Beziehung, die ohne Zukunft war? Sie wusste, dass sie mehr als genug zu bieten hatte, aber sie konnte das Interesse eines ungebundenen Mannes immer nur für eine gewisse Zeit auf sich ziehen. Ihre Freundin Zasa kämpfte seit langem mit demselben Problem und hatte eine Therapie gemacht. Dort lernte sie den Spieß umzudrehen und nicht darauf zu warten, dass jemand sie ansah, sondern selbst die Initiative zu ergreifen. Sie fand schon bald einen netten Freund, der von allen mit offenen Armen empfangen wurde. Nach sechs Monaten beendete sie die Beziehung. Zasa fand ihn zu langweilig und vorhersehbar.

Eine Therapie half demnach auch nicht.

Cherry bürstete ihr langes, kräftiges Haar, drehte und fixierte es als Dutt am Hinterkopf. Manchmal, wenn Frauen ihr Leben ändern wollten, trennten sie sich von ihrer Haarpracht und entschieden sich für einen Kurzhaarschnitt. Würde sie das tun, wenn Vince die Beziehung beendete? Wie würde sie wohl mit einem Kurzhaarschnitt aussehen? Nein, dann lieber shoppen und sich mit neuen Schuhen und neuer Kleidung verwöhnen. Die Haare konnte sie sich jederzeit abschneiden lassen.

Das Handy kündigte eine Nachricht an. Ihre Finger zitterten, als sie auf das Display schaute.

Kapitel 9

Karo

Das Geräusch des Weckers zerreißt einen schönen Traum, der sich sofort verflüchtigt, als ich die Augen öffne. Ich könnte noch stundenlang schlafen, aber der faulige Geschmack in meinem Mund schreit nach Wasser und Zahnpasta. Ich schleppe mich ins Bad, drehe den Wasserhahn der Dusche auf und erwäge ernsthaft, mich krank zu melden.

Mir ist übel. Mein Magen ist noch immer voll mit regelwidrigem Essen. Meine Strafe, meine Schuld. Ich spähe zur Waage. Ich habe mir geschworen, mich nur am Abend zu wiegen. Vermutlich hat die gestrige Sünde Konsequenzen. Kein erbaulicher Gedanke. Heute werde ich nicht versumpfen. Nie wieder! Mein ‚ab morgen‘ soll keine Lüge mehr sein.

Ich würde mich gerne wieder hinlegen, die Nacht war nicht so erbaulich: zu viel gegessen, zu wenig geschlafen. Meine Kollegen werden die Nase rümpfen, wenn ich mich krank melde, was ich sonst niemals mache. Ich war sogar die Einzige, die letzten Winter zur Arbeit kam, als die Grippe grassierte und die Kollegen reihenweise zu Hause blieben. Aber jeder macht hin und wieder eine Pause, warum also nicht ich …? Mal sehen. Zuerst eine heiße Dusche.

Ein Tag zu Hause birgt allerdings das Risiko, einer Heißhungerattacke zu erliegen, weil ich mich zu Tode langweilen werde. Warum fällt mir erst jetzt auf, dass ich ein echtes Problem habe? Vielleicht ist der Vorschlag meiner Stiefmutter doch eine Überlegung wert.

„Wenn du einem Weight Watchers Club beitrittst, wirst du begleitet und ermutigt. Ein mentaler Schub kann nicht so falsch sein“, hat sie neulich gesagt.

„Aber dann wissen die Leute, was ich wiege, Anja“, protestierte ich, „und das ist etwas, das ich gerne für mich behalten möchte. Meine Freunde tun das auch und niemand hinterfragt die Aussagen des anderen.“

Wie werden meine Freunde reagieren, wenn ich es wirklich schaffe, weitere zwanzig Kilo abzunehmen?

Eine Kollegin, die die Abendschicht übernehmen sollte, hat sich krank gemeldet. Lisa fragt, ob jemand bereit ist, bis zehn Uhr zu arbeiten und um vier Uhr nachmittags wiederzukommen. Nach ihrer Frage herrscht Schweigen. Alle Augen schauen in meine Richtung, ich bin mal wieder der Depp vom Dienst. Verdammt, warum bin ich nicht zuhause geblieben? Ich hätte noch ein paar Stunden schlafen können, meine Augen brennen und ich bin noch nicht richtig wach.

Ich hebe meine Hand.

---ENDE DER LESEPROBE---