Die verlorenen Wälder - Martin Hocke - E-Book
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Die verlorenen Wälder E-Book

Martin Hocke

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Beschreibung

Seit jeher bilden die Waldkäuze die privilegierte Adelsschicht unter den Nachtvögeln, in weitem Abstand zu Schleiereulen und Steinkäuzen. Auch Yoller, der Sohn des Anführers einer Waldkauz-Dynastie, ist in diesem Bewusstsein aufgewachsen. Als der ungestüme, junge Waldkauz jedoch während eines Botenauftrages in entlegene Waldgebiete von Bussarden attackiert wird, hilft ihm seine aristokratische Herkunft nicht weiter. Erst in höchster Not wird Yoller von der Käuzin May Blossom vor dem sicheren Tod bewahrt. Yoller und seine Lebensretterin verlieben sich ineinander, doch gegensätzliche Lebenspläne trennen sie wieder voneinander. So folgt Yoller der ihm vorgesehenen Bestimmung als Waldkauz und kehrt zurück in seine Heimat, wo er sich mit dem ewigen Kampf um die Vorherrschaft in den Wäldern konfrontiert sieht. Doch das Erlebnis mit May lässt ihn an den alten Regeln zweifeln … Ein unerbittliches System regelt das Nebeneinander von Schleiereulen, Wald- und Steinkäuzen. Im Land der Eulen werden Verstöße gegen diese uralten Regeln mit dem Tode bestraft. Doch eine neue Zeit beginnt: Aus ehemaligen Feinden werden notgedrungen Verbündete im Kampf gegen einen gemeinsamen, alten Feind. Die fantastische Romantrilogie, die sich um Eulen und andere Nachtvögel dreht, hat Martin Hocke mit poetischem Witz und bestechender Beobachtungsgabe zu einer Parabel verwoben, die in der Tradition von »Unten am Fluß« und »Wind in den Weiden« steht. Einzelbände: Zeit der Eulen, Die verlorenen Wälder, Der Krieg der Käuze

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Seitenzahl: 722

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Martin Hocke

Die verlorenen Wälder

Roman Aus dem Englischenvon Irene Bonhorst

Für Malcolm Hopson und mit großem Dank an Pauline Hocke und Jenny Picton, ohne deren Hilfe etc.

Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. SALOMO, Kap. III, Vers 1 Wie das Geschrei der Weisen schrill ertönt! Komm, lass wie ich den Streit ums Weltall sein; Abseits im Winkel, vom Radau umdröhnt, Verhöhne das, was auch sich selbst verhöhnt. OMAR CHAIJAM, 1044–1131Robaejat Though much is taken, much abides; and though We are not now that strength which in old days Moved earth an heaven; that which we are, we are; One equal temper of heroic hearts, Made weak by time and fate, but strong in will To strive, to seek, to find, and not to yield. ALFRED LORD TENNYSON, 1809–1892Ulysses

TEIL EINS

… herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit SALOMO, Kap. III, Vers 5 Geliebte, könnten wir mit dem Geschicke Uns doch verschwören, um die Welt zu ändern! Wir schlügen rasch der Dinge Lauf in Stücke Und schüfen neu ihn, dir und mir zum Glücke. OMAR CHAIJAM, 1048–1131RobaejatTis better to have loved and lost Than never to have loved at all. ALFRED LORD TENNYSON, 1809–1892Freundes Klage (In Memoriam)

1

Ich bin jetzt alt und mehr als jeder andere in der Lage, die Geschichte zu erzählen. Ich werde sie dem Wind und den Bäumen erzählen, denn keiner meiner Artgenossen würde zuhören.

Natürlich gibt es andere Versionen der Wahrheit. Aber wie alles, ist auch die Wahrheit relativ. Sie hängt sehr stark vom eigenen Standpunkt ab, von dem Ort, wo man gerade steht – oder fliegt. Die Schleiereulen haben zwei epische Darstellungen jener geschichtlichen Ereignisse hervorgebracht, die ich im Begriff bin zu beschreiben. Bardics Version ist inzwischen in Misskredit geraten, selbst bei seinesgleichen. Der aufgeblasene und schwülstige Bardic, der keine Hemmungen kennt, die Tatsachen auf jede Weise zu verdrehen, nur um sich selbst in ein vorteilhaftes Licht zu rücken und Lorbeeren zu ernten. Quavers Version dagegen hat Bestand. Seine Ballade gilt heute zwar als nur mittelmäßiges Kunstwerk, dafür aber als zuverlässiger Bericht über die Ereignisse, vom Standpunkt der weißen Eulen aus betrachtet.

Meine Version ist anders. Vielleicht weniger poetisch, aber immerhin authentisch. Ich besitze Kenntnis von Dingen, die er nicht gewusst haben konnte, und selbst wenn er sie gewusst hätte und auch gewusst hätte, dass sie wahr sind, hätte er niemals erlaubt, dass diese Dinge, auf die ich mich beziehen werde, seine eigene unbefangene Sicht der Dinge getrübt oder vernebelt und sein anspruchsvolles Unterfangen, Geschichte in Kunst zu verwandeln, vereitelt hätten.

Die Schleiereulen sind, wie sie sind, wir Waldkäuze jedoch sind eine stolze und uralte Rasse, älter als die meisten anderen Lebewesen, aber auch eine Spezies, die gezwungen ist, in einer sich ständig ändernden Welt ums Überleben zu kämpfen. Der Kampf ums Überleben kann ein blutiges Geschäft sein, und deshalb erzählt meine Geschichte außer von der Liebe auch von Rache, Gewalt und Krieg. Doch dies sind nicht die Aspekte, die meine Artgenossen von vornherein verabscheuen würden. Der Grund, warum sie mir nicht zuhören würden, ist der, dass ich gelernt habe, unsere althergebrachten Werte und Lebensweisheit infrage zu stellen. Während meines langen Lebens sind mir allmählich Zweifel gekommen, ob wir wirklich die Herren des Nachthimmels sind und ob wir das Recht haben, andere Geschöpfe aus dem Waldgebiet zu vertreiben, das wir schon so lange besitzen, in dem wir uns heimisch fühlen und in dem wir seit vielen Tausend Lenzen ein gedeihliches Dasein führen.

Gegen Ende meines dritten Lebensabschnitts begann ich mich zu fragen, ob wir stattdessen nicht eine Koexistenz mit anderen Spezies anstreben sollten, nicht nur hier in unserem angestammten Wald, sondern auch in den Feldern und Wiesen, wo die wenigen verbliebenen Schleiereulen leben, und selbst im Niemandsland mit den emporgekommenen Steinkäuzen – ja sogar mit den unrechtmäßigen Landbesetzern, den unerwünschten Einwanderern, wie immer man sie auch nennen mag. Aber so etwas gilt natürlich als subversives Gerede, und dafür, dass ich diese Philosophie auch nur andeutungsweise vertreten habe, hat man mich seit Langem schon geächtet und als Ketzer gebrandmarkt.

Tatsache ist, dass wir Emporkömmlinge von jeher gehasst haben. Zuerst verachteten wir die Schleiereulen, und dann – viel später – verachteten und verabscheuten wir die kleinen Einwanderer. Wir haben uns selbst stets allen anderen Lebensformen gegenüber als überlegen erachtet, und aus diesem Grund würde niemand aus meiner Schicht oder meiner Rasse eine Geschichte anhören, die nicht nur von unserem eigenen Ruhm berichtet, sondern auch von Freundschaften, die mit anderen Spezies geschlossen wurden – geschmiedet in Zeiten des Friedens und verwittert in den Stürmen des Krieges. Wenn diese sogenannte Ketzerei von den falschen Ohren belauscht würde, wäre mein Leben in Gefahr. Zum Beispiel würde Rowan, der Sohn von Birch, mich umbringen, indem er meinen angeblichen Verrat als Vorwand benutzen würde, um das zu besetzen, was von meinem angestammten Territorium noch übrig ist. Er hält das seine für zu klein und wartet seit Langem auf die Gelegenheit, mich aus dem Weg zu räumen und auf diese Weise seinen eigenen Hoheitsbereich auszudehnen.

Also flüstere ich stattdessen in der Abenddämmerung und im Morgengrauen den Bäumen meine Geschichte zu, angefangen von der Zeit, als ich zum ersten Mal May Blossom begegnet bin und mich in sie verliebt habe. Aus der Zeit vor diesem schicksalsentscheidenden Augenblick gibt es wenig Folgenschweres zu berichten, außer dass ich aus gutem und edlem Hause stamme und in dem fruchtbaren, hügeligen Waldgebiet geboren wurde, das seit Jahrhunderten im Besitz meines Vaters und seiner Vorfahren war. Er war der oberste Anführer der Waldkauz-Gemeinschaft im gesamten Gebiet, das sich weiter erstreckte, als irgendeine Eule in einer Nacht fliegen konnte, und eben diese Entfernung war es, die beinahe meinen Untergang in frühen Jahren bedeutet hätte, wenn May Blossom mir nicht das Leben gerettet hätte.

Mein Vater hatte mich mit einer Botschaft in den hintersten Winkel seiner Ländereien geschickt, und auf der Hinreise befolgte ich seinen Rat und legte eine geraume Zeit vor dem Morgengrauen in einem großen Gehölz, wo May Blossom und ihre Mutter lebten, eine Rast ein. Ich führte eine kurze Unterhaltung mit diesen beiden Weibchen, doch ich war müde, und bald war es Zeit zum Schlafen. Ich erinnere mich jetzt kaum mehr an etwas, was sich zwischen uns abspielte, aber es kann gut sein, dass in meinem Unterbewusstsein der Keim der Liebe ausgesät wurde – geboren aus dem flüchtigen Austausch von Höflichkeiten, bevor die aufgehende Sonne unsere Flugkraft einschränkt und uns zwingt, uns auszuruhen oder zu schlafen.

Sobald sich die Abenddämmerung zur Dunkelheit vertieft hatte, legte ich die kurze Strecke zu den Außenbezirken meines väterlichen Territoriums zurück und hoffte, meine Botschaft schnell übermitteln zu können, um vor Sonnenaufgang zu dem Ort zurückzukehren, wo ich tags zuvor geschlafen und mich ausgeruht hatte. Die Umstände wollten es jedoch, dass der Empfänger meiner Botschaft bei meiner Ankunft zur Jagd ausgeflogen war. Zunächst wartete ich geduldig in den Ästen seiner Eiche – und dann immer ungeduldiger, als die Nacht ihren Lauf nahm und die Morgendämmerung nahte. In der Nacht davor hatte ich lediglich eine einzige große Wühlmaus gegessen, und jetzt wagte ich nicht, mich auf die Jagd zu begeben, aus Angst, Beech bei seiner Rückkehr zu verpassen.

Endlich kam er. Ich übergab ihm meine Botschaft und machte mich sofort wieder auf den Weg, obwohl sich die Nacht ringsum dem Ende zuneigte und ich bereits das heraufziehende Tageslicht spürte.

Auf halber Strecke zu May Blossoms Gehölz machte ich ein junges Kaninchen aus, und zwar dort, wo die Wiesen unter mir an einen Fluss stießen. Von Rechts wegen gehörte dieses Kaninchen zu den Schleiereulen-Pfründen, doch da ich jung, eigensinnig und hungrig war, tauchte ich hinab, schnappte mir das Ding und verzehrte es auf einen Satz. Es war erst das dritte junge Kaninchen, das ich jemals gegessen hatte, und dies war das fleischigste und schmackhafteste von allen. Ein junges Kaninchen ist jedoch eine schwere Mahlzeit für einen einzelnen Waldkauz, und danach war ich so voll, dass ich kaum noch fliegen konnte. Ich hätte mich natürlich so recht und schlecht zu dem kleinen Wäldchen jenseits des Flusses schleppen, dort einen passenden Baum suchen und mich darin für den Tag zur Ruhe begeben sollen, um mein Kaninchen zu verdauen und den so sehr benötigten Schlaf zu bekommen.

Stattdessen beging ich den Fehler, der mir beinahe zum Verhängnis wurde, und flog über das Wäldchen hinaus und über die Felder und Wiesen zu dem Gehölz, wo May Blossom und ihre Mutter lebten. Inzwischen zeigten sich die ersten roten Striemen der Morgenröte am Nachthimmel, und ich wusste, dass meine Flugkraft bald nachlassen würde, was mich noch um Einiges mehr verlangsamen würde als das reichhaltige Kaninchen, das ich jetzt im Bauch trug.

Noch nie hat jemand begriffen, warum wir Waldkäuze durch das Tageslicht wie betäubt sind, während niedrigere Eulengattungen genauso gut im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung fliegen können, und einige, wie die kleinen Einwanderer, sogar am helllichten Tag jagen oder reisen können. Dies war das Erste, was mich an der uneingeschränkten Überlegenheit unserer Spezies zweifeln ließ, doch viele Lenze lang verdrängte ich diese Frage aus meinem Denken, in der Annahme, dass jegliches Geschöpf – selbst Waldkäuze – mit irgendeinem schweren Makel behaftet sein müssen.

Als die Sonne aufging, befand ich mich noch zwei Anger von meinem Etappenziel entfernt. In diesem Augenblick sah ich ihn kommen. Riesengroß war er, mit weit ausgebreiteten Flügeln, die im Licht der ersten Sonnenstrahlen schimmerten. Selbst in der Dunkelheit ist ein Bussard ein furchterregender Anblick, doch ihre Zahl nimmt seit Langem immer mehr ab, und da sie nie bei Nacht fliegen, bekommen wir sie sehr selten zu Gesicht.

Das mag einem seltsam vorkommen, da sich unsere Territorien überschneiden, doch da sie bei Tag töten und wir bei Nacht, verzeichnet die Geschichte wenig Reibungspunkte zwischen unseren beiden Arten. Die Regel ist jedoch, dass sie beim Anblick eines allein im Tageslicht fliegenden Waldkauzes diesen angreifen. Sie fechten dann einen Kampf auf Leben und Tod, denn sie fürchten, wenn wir dazu übergehen, bei Tag zu jagen, könnte nicht mehr genügend Nahrung für sie übrig bleiben. Ich wurde in der Auffassung erzogen, dass dies durchaus gerecht sei, da wir genauso handeln würden, wenn sie zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang unsere Waldgebiete bedrohen würden.

Das riesige adlerartige Geschöpf kreiste über mir am Himmel und machte sich zum Angriff bereit. Ich hätte versuchen können, in den Wald zu entkommen, bevor es mich erwischte, aber die Tradition schreibt vor, dass wir kämpfen müssen. Niemals klein beigeben, niemals, niemals, niemals! Das ist Teil der Waldkauz-Philosophie. Manchmal siegt man, und manchmal verliert man, aber auf dem eigenen Territorium – einem Territorium, das man für sich beansprucht – darf man sich niemals ergeben, niemals.

Während ich mich drehte, um dem sich schnell nähernden Bussard entgegenzusehen, verfluchte ich die aufgehende Sonne und das Kaninchen in meinem Bauch, zwei Dinge, die meine Schnelligkeit stark beeinträchtigten. Ich muss gestehen, ich hatte Angst, auch schon bevor ich den zweiten Vogel herannahen sah, vermutlich die Gefährtin meines Angreifers. In unserer ruhmreichen Geschichte ist überliefert; dass es Waldkäuzen durchaus schon mal gelungen ist, einen Bussard in einem Kampf von Mann zu Mann zu töten, aber gegen zwei von ihnen hatte ich nicht die geringste Aussicht, das wusste ich. Jetzt blieb keine Zeit mehr, kehrtzumachen und Hilfe zu holen oder Schutz im Wald zu suchen, also beschloss ich, stattdessen ehrenvoll zu sterben, ein Gedanke, der mir von der Geburt an eingetrichtert worden war, den ich jedoch später infrage zu stellen gelernt habe.

Ich gewann den ersten Schlagabtausch, indem ich Fleisch und Federn aus der Stelle herausriss, wo der Flügel des anderen Vogels mit dem Körper verbunden war. Heulend vor Zorn und Schmerz, wirbelte er herum und griff erneut an. Obwohl ich ihm als Erster einen Hieb versetzte und ihm eine zweite Wunde zufügte, riss er mir einen dem Anschein nach großen Brocken aus der Brust. Ich habe oft gedacht, wie seltsam es ist, dass man in der Schlacht keinen Schmerz empfindet. Nachher schon, doch zu der Zeit ist man sich lediglich der Verwundung bewusst. Das Leiden, oder der Tod, ereilt einen erst später.

Bei der dritten Begegnung riss ich dem Geschöpf ein Auge aus, obwohl meine Kraft bereits im Schwinden war. Ich machte das mit den Krallen der rechten Klaue, von denen ich später auf so tragische Weise eine verlieren sollte. Wenn es auch kein tödlicher Schlag war, so machte er den Bussard dennoch kampfunfähig, und ich wusste, dass er letzten Endes seinen Tod bedeuten würde.

Ich wandte mich dem Weibchen zu, das inzwischen die Lücke zwischen uns geschlossen hatte und jetzt mit einem Wutschrei auf mich zuschoss. Ich verletzte ihren Bauch gleich beim ersten Aufeinanderprallen, doch im weiteren Verlauf schlitzte sie mir den Kopf auf und riss einen kleinen Teil meines Flügels weg.

Als ich mich ihr zum dritten Mal gegenübersah, erkannte ich, dass mein Ende nahe war. Sie war kräftig, außer sich vor Zorn und lechzte nach Rache. Erst in diesem Augenblick gewahrten meine Sinne das schnelle Herannahen eines anderen Waldkauzes: ein Waldkauz-Weibchen, das schneller flog, als ich es je vermocht hätte, auch ohne Kaninchen im Bauch. Als der Bussard und ich zum dritten Mal aufeinander stießen, stieg May Blossom über meine Widersacherin auf und stürzte sich dann von hinten auf sie herab. Indem sie mit beiden Klauen gleichzeitig zuschlug, trennte sie praktisch den Kopf des Wesens vom Körper. Während ich mit schnell nachlassender Kraft in der Luft flatterte, beobachtete ich, wie das Bussard-Weibchen versuchte, kehrtzumachen und davonzufliegen, beinahe reflexartig – wie es ein Huhn zu tun pflegt, selbst wenn es eigentlich schon tot ist. Dann wirkte sich die tödliche Verwundung vollends aus, das riesige Wesen zappelte einmal, drehte sich in der Luft und fiel schließlich wie ein Stein zu Boden. Ich wandte mich um, um das Männchen auszumachen, und sah, dass es in die Wiese gestürzt war, nicht weit von der Stelle entfernt, wo seine Gefährtin jetzt mit tödlicher Wucht aufschlug. Einen kurzen Augenblick tat es mir um sie leid, und vor allen um ihn. Ihm, das wusste ich, stand ein langer und qualvoller Todeskampf bevor.

»Komm, Yoller«, sagte May Blossom. »Du musst in den Wald zurückfliegen, wo du in Sicherheit bist und dich erholen kannst. Wenn du am Boden landest, verwundet wie du bist, wird dich ein Falke, ein Habicht, ein Wiesel oder irgendein anderes Tagesgeschöpf töten.«

Ich nickte, sammelte meine schnell schwindende Kraft für den kurzen Flug und machte mich dann langsam in May Blossoms Spur auf den Weg. Es war nur eine kurze Strecke, aber eine, die ich niemals vergessen werde. Sie hatte mir das Leben gerettet. Sie führte, ich folgte ihr. Damals wusste ich noch nicht, dass dies für einen großen Teil meines irdischen Daseins zutreffen würde.

2

Während meiner langen Genesungszeit bei May Blossom und ihrer Mutter wurde mir zum ersten Mal das gewisse Maß an Not bewusst, dem weniger vom Glück begünstigte Waldkäuze als ich ausgesetzt waren. Ich sage: ein gewisses Maß an Not, denn wie ihr – Wind und Bäume – wisst, ist Not genau wie Wohlstand etwas Relatives. May Blossom und ihre Mutter waren nicht arm. Sie lebten nicht wie die jämmerlichen kleinen Einwanderer, nicht einmal wie die unterste Klasse der Waldkäuze. Obwohl bescheiden, lag ihr Territorium nicht im Niemandsland. Es war ein Gehölz von ganz ordentlicher Größe, ausreichend für zwei. Wenn sie nicht allzu verschwenderisch waren und sich mit schlichteren Speisen begnügten – wie Wühlmäuse oder Spitzmäuse –, dann hatten sie gerade eben ausreichend zu essen. Um sich etwas Besonderes zu gönnen, vielleicht sogar einen Maulwurf, ganz zu schweigen von einem Kaninchen, mussten sie in dem Schleiereulen-Land rings um sie herum jagen. Da sie zwei Weibchen waren, scheuten sie jeden Konflikt mit ihren Nachbarn – obwohl ihre Nachbarn gemeinhin als untergeordnete Spezies galten. Also waren besondere Leckerbissen für sie etwas Seltenes.

Was den anderen Unterschied zwischen meinen Lebensbedingungen und den ihren betrifft, könnte man sagen, er sei ästhetischer Natur. Erst während meines Aufenthaltes hier bei ihnen und meiner allmählichen Genesung lernte ich die Eichen zu schätzen, die wir bei uns zu Hause hatten. Die Pracht der Buchen, die silberne Farbe der Birken, die roten Beeren der Stechpalmen, die sich leuchtend gegen den Schnee des Winters abhoben – all dies übertraf an Schönheit tausend Mal die Haselnuss- und Holunderbüsche und die Weiden, die den größten Teil der Vegetation in May Blossoms ungeordnetem Dickicht ausmachten. Es gab ein paar ansehnliche Ahornbäume, einige Weißdornhecken mit ihren weißen Blüten und einen wilden Kirschbaum, doch es gab nichts Vergleichbares zu der Birke, Fichte und Kiefer, die sich in solcher Üppigkeit mit dem einheimischen Ahorn, der Esche und Eiche in dem dichten und ausgedehnten Waldgebiet der angestammten Heimat meines Vaters mischten. Doch trotz der ärmlichen Verhältnisse und dem Mangel an wahrem Stil und echter Schönheit geschah es während dieser Zeit meiner Genesung, dass ich mich in May Blossom verliebte und ihr einen Antrag machte. Ich verliebte mich in sie, weil sie das kleine, schachtelartige Zuhause mit Schönheit und Intelligenz versah und die niedrigen Bäume, die kaum mehr waren als Büsche, behaglich und einladend erscheinen ließ. Dank ihrer Ausstrahlung erschien das beengte kleine Gehölz ebenso reizvoll wie die Pracht und die Herrlichkeit des gewaltigen Waldes, in den ich bald zurückkehren würde.

Ja, das war das erste Mal, dass ich ihr einen Antrag machte, und zu meinem Kummer und meiner Überraschung sagte sie nein.

»Aber warum nicht?«, fragte ich erschüttert, erfüllt von einer Mischung aus Schmerz und Verwunderung. »Mein Vater wird uns einen Teil seines Territoriums zur Verfügung stellen, der mindestens dreimal so groß ist wie dieses winzige Zuhause hier. Du wirst zwischen hohen, stattlichen alten Bäumen leben, und der Boden unter dir wird mit einem Teppich aus Glockenblumen, purpurnen Waldorchideen und Anemonen geschmückt sein.«

May Blossom antwortete nicht sofort, sondern sah mich mit ihren klaren, hellen Augen an – Augen, die vor Entschlossenheit und Intelligenz strahlten.

»Du hast mir das Leben gerettet und ich liebe dich«, fuhr ich fort, in der Hoffnung, dass sie anderen Sinnes werden würde, wenn ich beharrlich bliebe. Ich war damals kräftig, jung und sehr von mir selbst eingenommen und – so sagte man mir nach – die wortgewandteste männliche Eule in der ganzen Gegend.

May Blossom, die mich immer noch ansah, schüttelte den Kopf. »Wir sind beide zu jung, um uns zu paaren«, sagte sie. »Bevor ich mich irgendwo niederlasse, möchte ich reisen, und vor allem möchte ich lernen.«

Das erschütterte mich, und die Vorstellung, dass sie reisen würde, machte mich eifersüchtig – ein Gefühl, das ich nie zuvor empfunden hatte. »Wohin, um alles in der Welt, möchtest du gehen?«, fragte ich. »Jeder weiß, dass man nirgends auf der Welt besser leben kann als hier. Und ich biete dir ein Zuhause im schönsten und reichsten Teil davon.«

»Wie willst du das wissen?«, fragte sie und sah mich dabei immer noch an, doch jetzt mit leicht zur Seite geneigtem Kopf.

»Wie will ich was wissen?«

»Dass man nirgends besser leben kann als hier?«

»Na, weil es so ist!«, entgegnete ich.

»Ich verstehe. Wo hast du denn schon überall gelebt?«

»Natürlich noch nirgendwo sonst.«

»Woher weißt du dann, dass es hier am besten ist?«

»Weil das jeder sagt«, antwortete ich und fühlte mich allmählich ziemlich aus der Fassung gebracht.

»Im Ausland – überall außerhalb dieser Territorien – ist es ganz schrecklich, das weiß jeder, und Waldkäuze sind nicht besonders reiselustig, das muss dir doch auch bekannt sein.«

»Das weiß jeder, das sagen alle, und das war immer schon so!«, spottete May Blossom mit einem kleinen Lächeln in dem Gesicht, das mir zu jener Zeit als das schönste in allen Territorien meines Vaters erschien. »Wir wissen nicht, ob das, was unsere Eltern und Ahnen uns erzählen, wirklich wahr ist. Du kannst es glauben, wenn du willst, aber ich möchte mich selbst davon überzeugen. Und zu diesem Zweck muss ich reisen. Weit reisen und viel lernen.«

»Was lernen? Was soll das sein, das du nicht hier, zu Hause, lernen kannst?«

»Ich möchte wissen, was in der Welt um uns herum geschieht.«

»Was zum Beispiel?«

»Nun, als Allererstes möchte ich wissen, ob es stimmt, dass die Menschen noch mehr Bäume fällen. Ich möchte wissen, ob es stimmt, dass sich Städte und Dörfer und Straßen überall weiter ausbreiten. Ich möchte wissen, wie schnell sich die kleinen Einwanderer vermehren, und vor allem möchte ich wissen, warum die Bevölkerungszahl der Schleiereulen immer mehr abnimmt.«

»Warum, um Himmels willen, möchtest du all das wissen? Es ist doch zweifellos eine gute Nachricht für uns, dass die Schleiereulen immer weniger werden. Es ist schlecht, dass sich die Steinkäuze vermehren, aber wenn sich die Gebietsbesetzer allzu stark ausbreiten, können wir sie entweder töten oder vertreiben oder dorthin zurückverweisen, woher sie gekommen sind. Was die Waldgebiete angeht, so ist es beängstigend, dass die Menschen mehr und mehr Bäume fällen, das muss ich zugeben. Aber nach dem, was von unseren Vorfahren überliefert ist, tun sie das schon seit Jahrhunderten. Das war überhaupt erst der Grund, warum die Schleiereulen gediehen …«

»Ich weiß«, unterbrach May Blossom mich. Sie lächelte immer noch, aber mir entging der ungeduldige Unterton in ihrer Stimme nicht. »So weit kenne ich mich in der Geschichte aus. Die Schleiereulen gediehen, weil die Menschen jahrhundertelang die Wälder abgeholzt haben, um die landwirtschaftlichen Flächen zu vergrößern, wo die weißen Eulen leben. Doch jetzt nimmt ihre Zahl ab. Warum?«

»Wen interessiert das schon?«, sagte ich ziemlich verletzt und verärgert, weil das Gespräch nach meinem Heiratsantrag einen solchen Verlauf genommen hatte. Ich hatte einen Lohn für meine Liebe erhofft, nein erwartet, anstatt Geschichte und intellektuelle Betrachtungen.

»Es muss uns interessieren!«, sagte May Blossom mit Nachdruck. »Es muss uns interessieren, denn wenn die Menschen weiterhin Bäume fällen, um landwirtschaftliche Fläche zu gewinnen und noch mehr Städte und Straßen zu bauen, werden wir eines Tages nicht mehr genügend ursprüngliches Land haben, auf dem wir leben können. Dann müssen auch wir auf Äckern und Weiden leben.«

»Du meinst, einen Krieg gegen die Schleiereulen führen und deren Gebiet übernehmen?«

»Irgendwann einmal könnte das nötig sein. Aber welchen Sinn hätte das, wenn sich dann auch unsere Zahl allmählich verringerte, wie die ihre?«

»Woher hast du die Informationen darüber, dass die Menschen weitere Straßen und Städte bauen?«, fragte ich; mir war dieses Weibchen jetzt nicht mehr geheuer, weil es so viel mehr wusste als ich. »Wer hat dir das über die Schleiereulen und die kleinen Einwanderer erzählt?«

May Blossom zögerte, bevor sie antwortete. Dann bedachte sie mich mit einem angespannten, verhaltenen kleinen Lächeln, als ob sie wüsste, dass ihre Antwort einen unvermittelten und heftigen Gegenangriff auslösen würde.

»Ein Medienvogel hat es mir erzählt«, sagte sie, wobei sie das Gesicht hob und das schwache Lächeln als eine Art Herausforderung beibehielt.

»Ein Medienvogel? Du musst verrückt sein! Wie kannst du irgendetwas glauben, das dir eine Eule ohne Ohren erzählt hat – eine Eule, die ständig unterwegs ist und am Boden nistet?«

»Es sind Nomaden«, erwiderte May Blossom und hielt meinen Vorhaltungen sehr entschlossen stand. »Sie kommen weit herum. Sie wissen, was in der Welt geschieht. Wir wissen es nicht. Wir Waldkäuze leben zu abgeschieden.«

»Sie erfinden Dinge, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen«, warf ich empört ein. »Sie fliegen in die Territorien anderer Eulen und geben dann im Austausch für die Nahrung, die sie stehlen, solche Geschichten zum Besten.«

»Sie nehmen es nicht immer allzu genau«, räumte May Blossom ein. »Ich muss zugeben, dass sie hin und wieder etwas übertreiben, um irgendwo bleiben zu dürfen und gut zu speisen. Aber ich warne dich, wenn wir nicht auf sie hören, tun wir das auf eigene Gefahr. Das Geheimnis besteht darin, ihnen zuzuhören und sich dann selbst darüber Gedanken zu machen, wie viel davon wahr und wie viel erfunden ist. Aber ich stimme dir zu, früher oder später muss man sich selbst aufmachen und es herausfinden.«

»Wohin aufmachen?«, fragte ich und hatte dabei das unbehagliche Gefühl, dass es May Blossom erfolgreich gelungen war, meine eigenen Worte gegen mich zu verwenden.

»In eine Stadt«, antwortete May Blossom. »In die größte Stadt, die man erreichen kann.«

»Du bist wirklich verrückt!«, rief ich, jetzt außer mir vor Verzweiflung und Wut. »Kein Waldkauz mit einem Funken Verstand würde in einem Dorf oder einer Stadt leben, und schon gar nicht in einer Großstadt.«

»Einige tun es«, entgegnete May Blossom, die immer noch diese aufreizende, beinahe überhebliche Ruhe beibehielt – eine halb bevormundende Haltung der Überlegenheit, die ihr im späteren Leben von so großem Nutzen sein sollte.

»Einige tun es, natürlich tun sie es!«, gab ich zurück. »Aber das sind Waldkäuze ohne Land – Ausgestoßene oder Kriminelle, die vor langer Zeit aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden.«

»Das glaubst du, weil dein Vater es dir so erzählt hat«, sagte May Blossom in einem sehr ruhigen, aber völlig unbeirrten Ton. »Andererseits weiß ich zufällig, dass manche aus freien Stücken in die Stadt gehen – und dort bleiben.«

»Das glaube ich nicht! Wie könnte es irgendjemand ertragen, so nahe beim Menschen zu leben? Ich würde das keine einzige Nacht lang aushalten.«

»Doch, das würdest du«, sagte May Blossom. »Und vielleicht wirst du eines Tages sogar dazu gezwungen sein.«

»Schleiereulen können das nicht!«, sagte ich triumphierend, da wir endlich auf ein Thema gekommen waren, bei dem ich ihr ebenbürtig war. »Schleiereulen können niemals in einem Dorf oder einer Stadt überleben, auch wenn sie hier in landwirtschaftlichem Gebiet leben, sehr viel näher beim Menschen als wir.«

»Woher weißt du das?«, erkundigte sich May Blossom. Der Ton ihrer Frage war höflich, aber skeptisch, als ob die Quelle meiner Behauptung wieder einmal nur Volksmund oder Hörensagen wäre.

»Weil mir eine Schleiereule das gesagt hat!«, erklärte ich.

»Du hast dich mit einer Schleiereule unterhalten?«

»Natürlich«, antwortete ich und übertrieb, indem ich hinzufügte: »Erst vor kurzem.«

»Wer ist dieser Vogel?«, fragte May Blossom und zog damit meine Behauptung mit dieser höflichen, aber eisigen Ruhe in Zweifel, die sich in späteren Jahren für ihre weitere Karriere als überaus förderlich erweisen sollte.

»Beak Poke«, sagte ich. »Er ist ein sehr alter, gebrechlicher Vogel, dessen Aufgabe es ist, die Gewohnheiten anderer Vögel zu erforschen, die am nächtlichen Himmel fliegen.«

»Er ist die Euleneule in deren hiesigem Rat«, sagte May Blossom, nickte gelassen und lächelte mich dann auf eine Weise an, die bei jemandem so Hübschen und Jungen beinahe arrogant wirkte.

»Du kennst ihn?«, fragte ich; nun hatte sie mir also wieder den Wind aus den Segeln genommen.

»Nicht persönlich, aber natürlich habe ich von ihm gehört.«

»Nun, er sagt, Schleiereulen können in Dörfern oder Städten nicht überleben. Er sagt, die Einwanderer können es, und wir könnten es, wenn wir wollten. Aber sie können es nicht. Ohne Äcker, Weiden und freie Flächen können sie nicht überleben.«

»Was hältst du von ihm?«, fragte May Blossom mit leicht hochgezogenen Augenbrauen.

»Ach, er ist in Ordnung, aber wie gesagt, er ist sehr alt. Er achtet nicht richtig auf sich. Er hat keine Gefährtin, und anscheinend ist es ihm gleichgültig, was oder wann er isst. Meine persönliche Meinung ist, dass er nicht mehr lange zu leben hat.«

»Besuche ihn so oft wie möglich«, sagte May Blossom. »Du kannst von einem Vogel mit seiner Erfahrung und seiner Klugheit viel lernen.«

»Er ist ein interessanter alter Kerl«, sagte ich mit Bedacht. »Doch wie alt und weise er auch sein mag, er ist schließlich nur eine Schleiereule.«

»Wenn sie uns auch insgesamt unterlegen sein mögen, sind Schleiereulen doch in bestimmten Dingen besser als wir«, sagte May Blossom. »Ich gebe es nicht gern zu, aber es ist wahr. Und wenn wir sie in der Zukunft einmal schlagen wollen, müssen wir ihren Stärken nacheifern und sie nicht nur wegen der Dinge verachten, die sie nicht so gut beherrschen wie wir.«

»Welche Stärken?«, fragte ich.

»Such den alten Beak Poke auf, oder andere kluge Schleiereulen, dann wirst du es herausfinden«, sagte May Blossom. »Jetzt bist du wieder gesund und musst nach Hause fliegen. Auch ich werde heute Abend, wenn sich die Dämmerung zur Dunkelheit vertieft, aufbrechen und meine lange Reise in die Stadt antreten.«

»Geh nicht!«, bat ich sie flehentlich; jetzt waren mir Schleiereulen, Einwanderer oder die Menschen und ihre Bedrohung für unsere Waldheimat vollkommen gleichgültig. »Komm stattdessen mit mir. Komm mit mir, dann kannst du in den Territorien meines Vaters so viel studieren, wie du willst. Ich werde dir nicht im Weg sein. Wir können zuerst Gefährten werden und später Küken haben, wenn du bereit dazu bist.«

»Mein Entschluss steht fest«, sagte May Blossom. »Heute Nacht fliege ich nach Süden, und das ist endgültig.«

»Wie findet deine Mutter all das?«, fragte ich und versuchte, mich an einen Strohhalm zu klammern, um ihren Aufbruch zu verhindern. »Gefällt es ihr, ganz allein hier zurückgelassen zu werden?«

»Sie wäre auch allein, wenn ich mit dir kommen würde«, erwiderte May Blossom und erstickte meine Gefühle mit ihrer gelassenen Logik – etwas, das sie in Zukunft noch sehr oft tun sollte.

»Nun, ich möchte mich sowieso mal mit ihr unterhalten«, sagte ich und hoffte wider jede Wahrscheinlichkeit, die Hilfe der mittelalten Iris dafür zu gewinnen, dass sie ihre Tochter überredete, diese selbstmörderische Reise in die Stadt nicht zu unternehmen.

»Natürlich kannst du dich mir ihr unterhalten, aber das wird nichts an den Dingen ändern«, sagte May Blossom. »Mein Entschluss steht fest, und ich fliege heute Nacht, sobald die Sonne hinter dem fernen Hügelkamm eures alten Waldes versunken ist.«

»Wirst du zu mir zurückkommen?«, fragte ich verzweifelt, nun, da ihr Gebrauch so poetischer Wendungen, was bei ihr selten war, mich irgendwie davon überzeugt hatte, dass sie nicht von ihrer Absicht ablassen würde.

»Es wäre verfrüht, Versprechungen zu machen«, sagte sie und sah mich mit Augen an, deren harter Blick jetzt von einer Spur Zärtlichkeit gemildert war. »Ich werde mich nicht paaren, weder während der langen Reise noch während meines Aufenthaltes in der Stadt. Der Sinn meines Unternehmens ist, dort anzukommen, Wissen zu erlangen und dann in dieses Gebiet zurückzukehren. Aber ich werde lange Zeit weg sein, und während meiner Abwesenheit wirst du vielleicht in Versuchung geraten. Wenn das geschieht – und wenn du sicher bist, die richtige Eule gefunden zu haben –, gehorche deinem Instinkt und paare dich mit ihr. Aber sei auf der Hut! Du bist ein kräftiger, gutaussehender junger Vogel, und wenn dein Vater stirbt, wirst du wahrscheinlich der Anführer der Waldkauz-Gemeinschaft in diesen Territorien sein. Nimm diese Verantwortung nicht zu leicht. Um diesem Amt gerecht zu werden, brauchst du die richtige Partnerin, also pass auf!«

Nach diesen Worten lächelte sie und flog davon, ohne mir Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Ich saß auf dem Ast der einsamen Eiche – des einzigen echten Baumes in ihrem bescheidenen Gehölz – und wartete auf ihre Mutter. Sie kam bald darauf, während ich mich immer noch angestrengt bemühte, die Größe der Aufgabe, die sich May Blossom selbst gestellt hatte, zu begreifen und zu erfassen.

»Du siehst besorgt aus«, sagte Iris, als sie sich neben mir auf dem Ast niedergelassen hatte.

»Das bin ich auch«, antwortete ich, und dann, nachdem ich ihr ein kurzes, besorgtes Lächeln zugeworfen hatte, blickte ich durch die spärlichen Bäume des Gehölzes weit hinaus nach Westen, dorthin, wo die Sonne als roter Ball langsam hinter den hohen Hügeln meines heimatlichen Waldes versank. In wenigen Augenblicken würde der rote Flammenball jenseits des bewaldeten Hochlandes erlöschen, das Zeichen für May Blossoms Aufbruch zu ihrer langen und gefährlichen Mission.

»Es ist nicht gut, sich Sorgen zu machen«, sagte Iris mit einem kleinen Seufzer. »May Blossom ist dickköpfig, seit eh und je. Schon damals, als sie gerade flügge geworden war, hat sie gemacht, was sie wollte, und das hat sich bis heute nicht geändert – insbesondere seit dem Tod ihres Vaters.«

»Aber es ist so gefährlich«, sagte ich. »Und die Stadt ist so weit weg. Ich habe sie gebeten, sich mit mir zu paaren. Kannst du denn gar nichts tun, um sie dazu zu bewegen, es sich anders zu überlegen?«

»Das habe ich bereits versucht«, sagte Iris traurig. »Aber wenn May Blossom einmal einen Entschluss gefasst hat, kann keiner von uns irgendetwas dagegen tun. Sie ist fest entschlossen, zu reisen und Wissen zu erlangen. Ich kann nur hoffen und zum Gottvogel beten, dass ich den Sonnenaufgang ihrer sicheren Rückkehr noch erleben werde.«

Ich nickte gedankenverloren, während ich zusah, wie die Sonne hinter den fernen Hügeln immer tiefer sank. »Nun, ich werde versuchen, auf sie zu warten«, sagte ich. »Aber das wird nicht leicht sein. Immer wenn der Frühling kommt, wird es mir sehr schwer fallen, mich nicht zu paaren.«

»May Blossom hat mir gesagt, dass du nicht zögern sollst, es zu tun«, erklärte ihre Mutter und sah mich mit betrübten, aber freundlichen Augen an. »Was mich betrifft, ich habe ihr gesagt, dass sie ihre beste und größte Chance verpasst, die sie jemals im Leben bekommen wird. Was könnte ich sonst noch sagen oder tun?«

»Nichts«, antwortete ich und beobachtete, wie der letzte Rest des Flammenballs hinter den fernen Hügeln in die Vergessenheit versank. Jetzt schien der Mond, jetzt herrschte die Nacht. »Heute Nacht werde ich nach Hause fliegen«, sagte ich. »Aber niemals werde ich eure Liebenswürdigkeit, eure Fürsorge und Gastfreundschaft vergessen. Und vor allem werde ich niemals vergessen, dass May Blossom ihr Leben für meines aufs Spiel gesetzt hat. Wenn du Hilfe brauchst, lass es mich wissen, und ich komme.«

Iris schenkte mir noch einmal ein trauriges, tapferes Lächeln und nickte, den Tränen nahe, als ich abhob und nach Westen, in Richtung Heimat davonflog. Eulen, ja sogar Waldkäuze, haben ein Herz, trotz ihres kühnen Äußeren, ihres lässigen Geredes und ihres natürlichen Phlegmas. Meines zerbrach, während ich dahinflog. Es wurde entzwei gerissen, als mindestens die Hälfte davon nach Süden flog und der schönen und unerschrockenen May Blossom auf ihrer ruhelosen Suche nach Wissen folgte. Während ich über Schleiereulen-Gebiet zu meinen heimatlichen fernen Hügeln flog, weinte ich, zum ersten Mal seit meiner frühen Tage als Küken. Ich weinte um eine Liebe, die – was immer auch geschehen mochte – niemals mehr dieselbe sein würde.

Als das Morgengrauen aufzog, erreichte ich den letzten Streckenabschnitt meiner Heimreise, und ich stieg höher hinauf zum rotgestreiften Himmel, um meinen Flug zurück in den Wald meines angestammten Territoriums zu vollenden.

Über einem Dickicht am Fuße der Hügel – bevor der eigentliche Wald begann – traf ich einen frühmorgendlichen Sperlingskauz, der wenige Augenblicke vor dem Morgengrauen in unserem nächtlichen Territorium wilderte. Obwohl diese kleinen, dem Habichtskauz ähnlichen Geschöpfe draufgängerische Kämpfer sind und obwohl ich noch nicht wieder gesund genug war, um es mit einem solchen Gegner aufzunehmen, stürzte ich mich auf das Ding hinab, das flach über dem Boden flog und nach etwas Essbarem ausspähte.

Der bösartige kleine Killer drehte sich zu mir um, als ich blitzschnell auf ihn zuschoss und zum Schlag aus dem immer noch dunklen Himmel ansetzte. Bevor ich ihm mit meinen starken Klauen die Kehle aufriss, verkrallte er sich in meiner Brust und öffnete die Wunde, die ich seit meinem Kampf mit den Bussarden gepflegt hatte. Ich japste vor Schmerz, während der sterbende Vogel die kurze Strecke bis zum tödlichen Aufprall am Boden flatternd hinabsackte. Ich spürte, wie warmes Blut von der Brust auf den unteren Teil meines Bauches rann, während ich langsam über den sich verdichtenden Wald, den ich so sehr liebte, ins Herz meines Heimatlandes flog.

Während ich die letzte Etappe meiner Reise zurücklegte, empfand ich Mitleid mit dem sterbenden Sperlingskauz, den ich zurückgelassen hatte. Heute, mit der Nachsicht und der Schwäche, die im Laufe der Jahre über mich gekommen sind – heute würde ich hoch über den Wilderer hinwegfliegen und ihn den ganzen kommenden Tag hindurch im Dickicht und im Wald am Fuße des Hügels nach Nahrung suchen lassen. Doch damals war ich jung und ungestüm, erfüllt von Wut und Enttäuschung, und vor allem trug ich schwer an der Mischung von verletztem Ego und gebrochenem Herzen. Im späteren Leben habe ich mich oft gefragt, wie das Ego eines jungen Männchens gezähmt oder irgendwie so umgepolt werden könnte, dass er Mitgefühl für andere empfände, um einiges von dem sinnlosen Leid und Blutvergießen zu vermeiden, das sich anscheinend in jeder Generation wiederholt. Doch in jener Nacht – abgesehen von dem vorübergehenden Bedauern für den Sperlingskauz, der gestorben war, weil er zu früh angefangen hatte zu jagen, nur wenige Augenblicke vor dem Morgengrauen – waren mein Herz und meine Seele beschäftigt gewesen mit May Blossoms Abreise und meiner eigenen blutbefleckten Rückkehr nach Hause.

Selbstsüchtig, wie wir sind, und von unseren eigenen kleinen Belangen in Anspruch genommen, erkennen wir die Veränderungen in der weiteren Welt um uns herum erst dann, wenn es zu spät ist. Aber so war es schon immer, und jetzt, da ich mich meinem dritten Lebensabschnitt nähere, eröffnet sich mir immer noch wenig Aussicht auf irgendeine Änderung.

3

Blutend und dank May Blossom gerade noch dem Tod entrissen, kehrte ich wie ein verschollener Sohn nach Hause zurück und wurde entsprechend von meinen Eltern empfangen, die überglücklich waren, mich zu sehen.

Ich musste erkennen, wie viel ich ihnen bedeutete. Ich hatte es stets als selbstverständlich hingenommen, dass sie mich liebten, und natürlich liebte ich sie und brachte ihnen das für einen Sohn richtige Maß an Zuneigung und Achtung entgegen.

Wie bereits erwähnt, wird jedes nach außen hin zum Ausdruck gebrachte Gefühl von jedem echten Waldkauz, der mit der nötigen Selbstachtung ausgestattet ist, als ungehörig angesehen. Doch aufgrund ihres Entzückens, mich zu sehen, und ihrer tiefen Sorge wegen meiner Verwundung fielen einige dieser falschen Schranken für eine kurze Zeit, und deshalb in dieser neuen Stimmung von freigelassenen Emotionen – erzählte ich meinen Eltern von May Blossom.

Zu meiner Erleichterung – und beträchtlichen Überraschung – reagierte mein Vater nicht halb so missbilligend, wie ich es mir vorgestellt hatte. »Ich glaube, ich kann mich dunkel an sie erinnern«, sagte er. »Sie schien mir ein kluger, gut aussehender, durchblickender Vogel zu sein. Natürlich erinnere ich mich sehr gut an ihre Mutter Iris, und auch an ihren Vater, den armen alten Forest, der von einem Bussard ermordet wurde. Genau gesagt von zwei Bussarden.«

»Könnten es dieselben beiden gewesen sein?«, fragte ich, denn natürlich wussten meine Eltern und die ganze Gegend bereits über den Kampf Bescheid, den May Blossom und ich über dem Weideland, in nur so geringer Entfernung von der Tagessicherheit des nahe gelegenen Dickichts entfernt, siegreich geschlagen hatten.

»Wahrscheinlich«, antwortete mein Vater. »Forest wurde erst vor zwei Lenzen getötet. Jedenfalls ist das Gebiet sie jetzt endlich los, und ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Außerdem solltest du nicht zulassen, dass der Tod des Sperlingskauzes auf deinem Gewissen lastet. Auch seinem Treiben hast du ein Ende bereitet, und das wird anderen Tagesraubvögeln als Warnung dienen. Das Territorium gehört ihnen am Tag und uns in der Nacht. So war es immer schon. Brauch und Tradition müssen geachtet werden, auf natürliche Weise. Sie töten am Tag, wir töten in der Nacht. Man darf ihnen keine Übergriffe auf unsere Rechte gestatten.«

»Aber es waren nur noch wenige Sekunden bis zum Morgengrauen«, sagte ich. »Ich hätte so tun können, als ob ich ihn nicht bemerkte, und einfach weiterfliegen.«

»Du hast deine Pflicht erfüllt«, sagte meine Mutter, die aufmerksam meine Brust betrachtete, um festzustellen, dass das Blut jetzt nur noch langsam aus der erneut aufgerissenen Wunde rann.

»Was das Thema Landrechte und Übergriffe betrifft«, fügte mein Vater hinzu, »so gehen Gerüchte um, dass Beak Pokes Land unrechtmäßig besetzt wurde. Das geht zu weit. Wenn man diese Elendsgestalten einmal hereinlässt, wird man sie niemals wieder los.«

»Ein Steinkauz?«, fragte ich.

»Übles Pack!«, zischte mein Vater verächtlich. »In diesem Fall handelt es sich angeblich um ein Weibchen, und es wurde berichtet, dass es in jenem Dickicht wildert, wo du den Sperlingskauz bei Sonnenaufgang getötet hast.«

»Aber das Dickicht ist eindeutig als Niemandsland klassifiziert«, sagte ich. »Deshalb lastet der Tod des Sperlingskauzes auf meinem Gewissen. Diese Geschöpfe müssen sich irgendwo Nahrung beschaffen, und soweit ich weiß, können die Einwanderer auch am Tag jagen, nicht nur in der Nacht wie wir. Worin besteht also die Bedrohung für uns?«

»Das ist nur der Anfang!«, warf meine Mutter ein, und der schroffe Ton ihrer Stimme stand in seltsamem Widerspruch zu der zärtlichen Sorge in ihren Augen, während sie die rasch nachlassende Blutung aus meiner Brust beobachtete. »Wenn wir diese Wilderer hereinlassen, werden sie sich vermehren. Wenn dieser Einwanderer, dem Beak Poke Unterschlupf gewährt hat, ein Weibchen ist, wird sie Junge ausbrüten. Und sie vermehren sich schnell, wie die Spatzen oder Kaninchen. Bald wird es im Gehölz nur so wimmeln von ihnen. Sie werden nicht genügend zu essen finden, also werden sie am Tag in unser Waldgebiet einfallen, das ist so sicher wie das morgige Morgengrauen, und sie werden Wühlmäuse, Maulwürfe und Spitzmäuse am Waldboden fangen und den Ort mit ihrer zahlreichen Gegenwart verpesten. Bald wird kein Waldkauz mit einer Spur Selbstachtung mit solchen Tagesnachbarn zusammen leben wollen. Das Waldgebiet, das wir seit vielen tausend Jahren bewohnen, wird an Wert verlieren.«

»Sie hat recht«, pflichtete mein Vater bei.

»Was soll ich eurer Meinung nach also tun?«, fragte ich, und mein Herz, das immer noch mit May Blossom flog, sank gleichzeitig bei dem Gedanken an weiteres Blutvergießen. »Wollt ihr, dass ich heute Nacht dorthin zurückfliege und das elende Ding töte?«

»Nein!«, antwortete mein Vater mit Nachdruck. »Du bist verletzt und musst dich zuerst von deiner Verwundung erholen. Und wie auch immer, wenn es mir um eine bloße Hinrichtung ginge, würde ich eine geringere Eule schicken, wie zum Beispiel Birch. Obwohl er noch ziemlich jung ist, erledigt er solche Dinge schon recht gut. Du brauchst nichts anderes zu tun, als mit dem gebrechlichen Beak Poke zu sprechen. Fordere ihn auf, die kleine Einwanderin von seinem Land zu vertreiben. Dann wird sie keinen Zugang zum Dickicht oder den tiefer gelegenen Regionen unseres Territoriums mehr haben.«

»Ich werde es versuchen«, sagte ich und nickte, während der Schmerz in meiner Brust allmählich nachließ und nicht mehr so heftig tobte wie auf der letzten Strecke nach Hause, nach meiner Begegnung mit dem Sperlingskauz. »Aber ihr wisst doch, wie Beak Poke ist und welches Amt er innehat, oder nicht?«, fügte ich hinzu, entschlossen, mir das wenige Wissen zunutze zu machen, das ich über den weißen Vogel hatte, der im flachen Schleiereulen-Territorium lebte, jenseits der Grenzen unseres bewaldeten Hoheitsgebiets. »Ihr wisst, dass er die Euleneule im dortigen Rat ist und es seine Aufgabe ist, das Verhalten aller anderen Nachtvögel zu erforschen und zu beobachten.«

»Natürlich weiß ich das«, sagte mein Vater. »Wir haben unsererseits sein Verhalten beobachtet, seit er vor zwölf oder dreizehn Lenzen zum ersten Mal hier auftauchte. Anfangs hielten wir ihn für einen Spion, aber jetzt sind wir seit langem zufriedenstellend überzeugt von seiner Echtheit – er ist lediglich ein Wissenschaftler, besessen von seiner Forschung. Von Zeit zu Zeit leben jüngere Schleiereulen bei ihm, um etwas zu studieren, was sie Eulologie nennen. Natürlich übt er einen schlechten Einfluss auf die Gegend aus, aber er bedeutet keine wirkliche Bedrohung für unsere Sicherheit.«

»Was meinst du mit ›schlechter Einfluss‹«, fragte ich und dachte darüber nach, wie man einen scharfsinnigen, aber hinfälligen alten Vogel wie Peak Poke jemals für irgendeine Art von Bedrohung hatte halten können.

»Weil er widerrechtliche Siedler ermutigt«, erklärte mein Vater. »Ich möchte, dass du ihn wissen lässt, dass wir das missbilligen, und wenn er darauf beharrt, kleinen Einwanderern Unterschlupf zu gewähren, könnte es sein, dass ich ihn töten lasse.«

»Ich werde versuchen, es ihm zu erklären«, sagte ich. »Aber um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, dass er zuhören wird. Inzwischen glaube ich, dass er zu alt ist, als dass es ihm etwas ausmachen würde, ob er getötet wird oder ob es ihm gestattet ist weiterzuarbeiten, bis die Zeit für ihn kommt, eines natürlichen Todes zu sterben, was nicht mehr lange dauern kann.«

»Wie dem auch sein möge«, sagte mein Vater, auf eine ziemlich altmodische Art sprechend, »die Tatsache bleibt bestehen, wenn du nicht gehst und die Sache friedlich beilegst, werde ich stattdessen Birch schicken.«

»Und wenn Beak Poke nicht auf deine Bedingungen eingeht, wird Birch ihn töten?«

»Wir sind hier keine Barbaren«, sagte mein Vater. »Aber wenn dieser ausgedörrte alte Schleiereulerich Einwanderer auf dem Land, das an unseres grenzt, beherbergt, dann müssen wir ihn töten. Um unser Erbe zu bewahren. Deshalb bitte ich dich zu vermitteln. Weil du ihn kennst. Wenn dein Versuch fehlschlägt, werden wir Birch schicken, der nicht unter deinen Skrupeln leidet und beide eliminieren wird.«

»Sowohl Beak Poke als auch die kleine Einwanderin?«

»Wenn der weiße Vogel sich weigert zu kooperieren, haben wir keine andere Wahl«, sagte meine Mutter. Sie sprach diese Worte ohne jedes Mitleid, sondern vielmehr mit unverhohlener Verachtung. Weil ich wusste, dass sie mich liebte, konnte ich nicht verstehen, warum sie nicht fähig war, diese Liebe oder zumindest Güte auf andere Geschöpfe der Nacht auszudehnen. Mir kam plötzlich der Gedanke, dass sowohl der greise Beak Poke als auch die Steinkäuzin, die sich auf seinem Land angesiedelt hatte, irgendwann einmal eine Mutter gehabt haben mussten. Wären diese Mütter ebenso gnadenlos wie meine gewesen?

Ich habe es damals nicht verstanden, und ich verstehe es heute immer noch nicht, und zum Teil verdanke ich es diesem mangelnden Verständnis, dass meinesgleichen mich jetzt als Ketzer bezeichnen und mir mit dem Tod drohen. Ich frage mich, ob meine Mutter das gutgeheißen hätte.

Meine sogenannte Ketzerei hätte sie jedenfalls nicht gut geheißen, dessen bin ich sicher. Aber würde sie die Verbannung ihres einzigen und inzwischen betagten Sohnes aus dem alten Reich billigen, wo er geboren wurde und das sie einst so sehr liebte?

Verbannung oder Tod, das sind die Alternativen, denen ich mich jetzt gegenübersehe, während ich dem Wind und den Bäumen meine Geschichte erzähle. Jetzt muss ich dieselbe Entscheidung treffen, die meine Eltern damals Beak Poke und seiner kleinen Siedlerin abverlangten. Wie hätte meine Mutter reagiert, wenn sie miterlebt hätte, wie die Rollen vertauscht wurden? Jetzt ist es zu spät, denn sie ist seit langem tot.

Jedenfalls, zwei Nächte später, als meine Wunde aufgehört hatte zu bluten, machte ich mich unwillig auf den Weg. Ich flog vom Herzen unseres dicht bewaldeten Heimatlandes zu dem Gehölz, das an die mageren Felder und Weiden grenzte, in denen Beak Pokes Territorium lag – ein Territorium, so vermute ich, das die meisten anderen Schleiereulen seines Status' als ein ganz und gar nicht erwünschenswertes Domizil angesehen hätten.

Als ich das Gehölz erreicht hatte, flog ich in meine Lieblingsweide, hockte mich auf einen der oberen Äste und blickte durch die Dunkelheit hinunter auf das träge Wasser des Flachlandflusses und verglich das brackige, beinahe stehende Rinnsal mit dem wilden Bach, der aus der Felsenquelle sprudelt, wo ich geboren wurde und wo ich jetzt kauere. Hier quillt das Wasser aus den Felsen und rauscht bergab, am Fuß des Hügels allmählich ruhiger werdend, da es dort seine angeborene Kraft verliert und sich langsam in Windungen durch die langweilige Ebene wälzt.

Ja, hier hocke ich jetzt, hoch oben im Wald meiner Heimat, dem schmerzlichen Ende meines langen Lebens entgegensehend, und ich blicke auf denselben Fluss, der aus seinem Bergquell sprudelt, und ich erinnere mich gut, wie ich in jener langen Nacht versuchte, mich auf die Begegnung mit dem weisen, weißen alten Vogel vorzubereiten, der auf dem armseligen Fleckchen flachen Landes unter der Weide und jenseits des Flusses lebte, sich bewegte und sein Dasein fristete. Als ich mir meine früheren, zufälligen Begegnungen mit Beak Poke ins Gedächtnis rief, kam ich zu dem Schluss, dass er in Wirklichkeit im Inneren seines Kopfes lebte. Er war eine Eule, die in sich selbst lebte, und deshalb waren die Schönheit oder der äußere Status seines Domizils für ihn ohne Bedeutung. Während ich hoch oben in der Weide kauerte und Mut sammelte, um ihm gegenüberzutreten, kam mir der Gedanke, dass er ebenso gut im Niemandsland leben könnte. Nur was sich in seinem Kopf und in anderen Köpfen abspielte, war für ihn von Wichtigkeit.

Deshalb blieb ich eine Zeit lang in der Weide sitzen und spähte hinab auf den brackigen Fluss unter mir, während ich auf eine Eingebung hoffte.

In körperlicher Hinsicht hatte ich natürlich keine Angst vor ihm. Ich hätte den alten Beak Poke mit einem einzigen Schlag töten können. Aber ich fürchtete mich vor seinem Geist – vor seinem alten, aber noch nicht verwirrten Gehirn. Doch gleichzeitig war mir klar, dass meine Eltern vollkommen recht hatten. Eulen, die hier in der Ebene lebten, in enger Nachbarschaft zu den Menschen, mussten notgedrungen im Vergleich zu uns minderwertig sein. Und wenn sie anfingen, kleine Einwanderer auf ihrem öden, flachen Territorium zu beherbergen, wohin würde das letztendlich führen?

Aber ich schweife ab! Meine Gedanken waren nicht nur bei Beak Poke und der bevorstehenden Begegnung, sondern bei dem Weibchen, das ich liebte. Wie konnte ich Zweifel hegen in Bezug auf die einfache Aufgabe, mit der ich betraut worden war, wenn sie in die unheimliche, weit entfernte Stadt geflogen war, um Wissen zu erlangen?

In Gedanken bei May Blossom, hob ich von meinem Platz in der Weide ab, flog über den Fluss, hinaus aus dem Dickicht und ins offene Land, auf der Suche nach dem alten weißen Eulerich, entschlossen, ihm auszurichten, dass er zum Tod verurteilt sei, wenn er nicht dafür sorgte, dass die kleine Landbesetzerin verschwände.

Aber – wie es in schlechten Träumen vorkommt – ich traf die kleine Landbesetzerin als Erste. Als ich über das Schleiereulen-Land in Richtung des verlassenen Bauernhauses flog, wo Beak Poke lebte, sah ich, wie sie über die Hecke zwischen der Wiese und der vom Menschen gemachten Straße unter mir flitzte. Ich kreiste über ihr und beobachtete sie, während sie in den Schutz eines hohlen Baumes flog. Einige Augenblicke lang verharrte ich in der mitternächtlichen Luft in der Schwebe und überlegte, was mein Vater in dieser Situation getan hätte. Vielleicht wäre er vom dunklen Himmel herabgestoßen und hätte das Geschöpf ohne Vorwarnung getötet.

Einerseits drängte mich die Pflicht meiner Klasse und meiner alten Rasse – dieser und kommender Generationen gegenüber, doch gleichzeitig hemmte mich der verständliche Widerwille, meine Krallen erneut mit einer Form von Leben blutig zu machen; und so vollführte ich einen Schwenk in der Luft und flog über die flache, vernachlässigte Wiese in Richtung des baufälligen Hauses, in dem die alte Schleiereule die letzten Nächte ihres Lebens mit der Erforschung des Eulenverhaltens und mit vergleichender Eulengeschichte verbrachte.

Meine kräftigen jungen Flügel trugen mich schnell über die Wiese, und ich kündigte mit einem Tuten meine Ankunft an. Aus dem Inneren kam keine Antwort, also ließ ich mich vom Himmel herabsinken, landete auf dem Dach und stieß ein erneutes Tuten aus, aber auch diesmal kam keine Antwort.

Wie ich damals schon wusste, können Schleiereulen nicht richtig tuten wie wir, sondern nur auf höchst unmelodische Weise kreischen oder zischen, obwohl ich inzwischen gelernt habe, dass sie selbst diesen abscheulichen Laut ziemlich harmonisch und reizvoll finden.

Ich blieb eine Zeit lang auf dem Dach hocken, tutete noch einmal, und als keine Antwort erfolgte, kam ich zu dem Schluss, dass Beak Poke irgendwo in den trostlosen Feldern und Wiesen, die zu seiner Behausung gehörten, jagte. Ich hob vom Dach ab und flog zurück in Richtung des Dickichts am Waldrand, mit der Absicht, in der Weide über dem Fluss zu warten, bis der alte Vogel seine Anwesenheit durch irgendetwas manifestieren würde. Doch als ich die schmale Asphaltstraße überquerte, in der Nähe des Tors und des hohlen Baums, sah ich ihn von Westen her tief unter dem mitternächtlichen Halbmond heranfliegen. Er musste mein kräftiges Tuten gehört haben und daraufhin mit seinen alten, gebrechlichen Flügeln zu mir her geflogen sein, da er sich schämte – so dachte ich damals –, mir mit dem schrecklichen Schleiereulen-Kreischen oder -Zischen zu antworten.

Ich stieg am nächtlichen Himmel über ihn auf, schwebte über dem fünfsprossigen Gatter neben der Straße und beobachtete, wie er näher kam, mühsam mit den tatterigen alten Flügeln schlagend. Als ich aus meiner Höhe hinabsank, um ihm in der Luft entgegenzukommen, leuchtete eine Flut weißen Lichts auf der Straße unten auf.

Der blendende Blitz stammte von einem jener metallenen Geschöpfe, die der Mensch geschaffen, gezeugt oder gefangen genommen hat, damit sie ihn mit hoher Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen transportieren, und zwar nicht nur innerhalb der abscheulichen Stadt, in die May Blossom auf der Suche nach Wissen gezogen war, sondern auch hier, mitten auf dem Land, wo deren Krach, Abgase und widerlicher Gestank unser uraltes geheiligtes Reich belästigen.

Hoch am Himmel beobachtete ich, wie der greise Beak Poke vor dem dahinflitzenden Fahrzeug und dem blendenden Licht über die Straße flog. Tief unten, denn höher trugen ihn die schwachen und gebrechlichen Flügel anscheinend nicht, hielt er mitten auf dem schmalen Asphaltstreifen inne, verwirrt durch das grelle weiße Licht, das die Augen des metallenen Geschöpfs, das auf ihn zuschoss, ausstrahlten.

Es geschah alles innerhalb einer Sekunde, und ich konnte nichts mehr tun. Das vom Menschen gemachte oder gezeugte Gefährt traf ihn mit voller Geschwindigkeit, während er in einer Höhe von nur zwei oder drei Eulenlängen über der Straße schwebte.

Obwohl ich viel weiter oben war, war auch ich zum Teil verwirrt durch den grellen Schein des weißen Lichts, und erst als das zerstörerische Ding vorbei war und in der Nacht verschwand, konnte ich Beak Pokes gebrochenen Körper erkennen, der in der Mitte des schmalen Streifens, der die Straße war, lag. Zutiefst erschüttert, flog ich hinab, doch selbst aus sicherer Entfernung erkannte ich, dass er sich an der Schwelle des Todes befinden musste, denn er murmelte irgendeinen Kauderwelsch vor sich hin, der sich wie ein Gebet anhörte.

Bevor ich Zeit hatte, auf Stoßweite zur Straße hinabzutauchen, flatterte ein Schatten aus dem hohlen Baum unter mir, als die kleine Einwanderin aus ihrem Versteck hervorkam, um zur Mitte der Asphaltpiste zu fliegen und sich neben Beak Pokes zerschmettertem Körper niederzulassen.

Da ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte, verharrte ich in der Schwebe, während sie einen ihrer gezackten, rundlichen kleinen Flügel ausbreitete und ihn über Beak Pokes gebrochenen Kopf und Hals hielt, als ob sie versuchte, ihm Trost zu spenden, oder vielleicht in dem Bemühen, ihn mittels irgendeiner fremdartigen Magie aus dem Reich des Todes zurückzuholen.

Die kleine Fremde hatte meine Anwesenheit offenbar gespürt – hatte gewusst, dass ich da war, hoch über ihr am Himmel schwebend. Trotzdem gab sie ihr wohltätiges Vorhaben nicht auf, und ich spürte, dass sie bei der Aussicht auf einen plötzlichen Tod nicht zusammenzucken würde, einen Tod ähnlich jenem, dessen Zeuge wir beide soeben geworden waren.

Eine Zeit lang schwebte ich so auf der Stelle und beobachtete sie, wobei ich mich fragte, ob ich hinabstoßen und das kleine Geschöpf töten sollte. Wenn ich es täte, wären meine Eltern mit mir zufrieden, das wusste ich, aber nach langem Zögern wurde mir klar, dass ich mich nicht dazu überwinden konnte. Ich konnte kein Wesen töten – ob fremd oder nicht –, das gerade versuchte, jemandem Gutes zu erweisen, den soeben ein plötzlicher Tod ereilt hatte.

Also machte ich am Himmel kehrt, flog zu der Weide im Dickicht zurück und kauerte mich auf meinen Lieblingsast, hoch über dem träge sich dahinschlängelnden brackigen Fluss. Hier blieb ich eine geraume Zeit und überlegte, während die Nacht ihren Lauf nahm, was ich meinen Eltern über die Mission berichten sollte, die auszuführen mir nicht möglich gewesen war.

Damals war mir nicht klar, dass mein Versagen, die kleine Fremde zu töten, tiefgreifende Auswirkungen haben sollte, nicht nur auf mein eigenes Leben und das Leben meiner Waldkauzgefährten, sondern auch für die Zukunft der Schleiereulen und für das Schicksal der ständig wachsenden Gemeinschaft von Einwanderern. Vor allem sollte mein Zögern zu töten die Zukunft eines lebenslangen Freundes beeinflussen, den ich gemäß meiner Bestimmung in der folgenden Nacht zum ersten Mal im selben Dickicht und in derselben Weide kennenlernen sollte.

Obwohl ich jung, kräftig und von mir selbst eingenommen war, war ich abgeneigt zu töten. Wenn ich es damals getan hätte, so wie meine Eltern es von mir verlangt hatten, hätte die jüngste Geschichte von uns Geschöpfen, die des Nachts am Himmel fliegen, womöglich einen völlig anderen Verlauf genommen. Ich vermag nicht zu sagen, ob das besser oder schlechter gewesen wäre. Aber auf jeden Fall anders. Ja, ganz bestimmt wäre alles anders gekommen. Doch es ist jetzt zu spät, um zu spekulieren, und auf welche Weise anders, das werden nur der Wind und die Bäume jemals wissen.

4

Als ich kurz vor dem ersten blassen Licht der Morgendämmerung nach Hause flog, fing ich einen Turmfalken, der in den unteren Bereichen unseres Landes wilderte. Zögernd tötete ich ihn, aber Turmfalken sind hinterhältige kleine Geschöpfe, und dieser riss mir die kaum verheilte Brust auf, als er einen kühnen, aber vergeblichen Versuch der Selbstverteidigung unternahm. Da ich an diesem Abend nichts gegessen hatte, aß ich das Ding, allerdings auch wieder mit Widerwillen. Es war das erste und letzte Mal, dass ich einen anderen Vogel, der mir zur Beute geworden war, verzehrte, obwohl wir Waldkäuze in dem Glauben erzogen werden, dass der Verzehr eines anderen Raubvogels uns mehr Stärke und Mut gibt. Ich nehme an, ich tat es damals, um mir selbst und meinen Eltern etwas zu beweisen.

Zweifellos musste die Tatsache, dass bei meiner Rückkehr nach Hause frisches Blut aus meiner Brust troff, und die Mitteilung, dass ich diese Wunde bei der Tötung und dem anschließenden Verzehr eines Tagesräubers davongetragen hatte, als mildernde Umstände dafür angesehen werden, dass ich meinen Auftrag nicht ordnungsgemäß ausgeführt hatte.

»Du hättest die Landbesetzerin töten sollen!«, sagte meine Mutter, als ich endlich zu Hause ankam.

»Aber man hat mir beigebracht, die Toten zu ehren. Du selbst hast mich in diesem Sinn erzogen«, entgegnete ich.

»Du bist dazu erzogen worden, unsere Toten zu ehren. Der Tod einer altersschwachen Schleiereule hat keine Bedeutung, ganz zu schweigen vom Leben einer Fremden – einer unerwünschten Einwanderin, deren Spezies unser altes geheiligtes Reich bedroht.«

»Vater, was meinst du dazu?«, fragte ich, entschlossen herauszufinden, ob das Verschonen der Fremden auf Feigheit, auf Mitleid oder auf beidem beruhte.

»Du musst noch einmal hinfliegen«, sagte mein Vater. »Übernächste Nacht musst du noch einmal hinfliegen und das Wesen töten. Sonst werde ich Birch schicken, damit er es tut. Wie ich dir bereits gesagt habe, gefallen ihm derartige Dinge.«

»Aber wäre es nicht besser, eine oder zwei Nächte abzuwarten, ob Beak Pokes Schüler erscheint«, sagte ich, indem ich mich verzweifelt an jeden Strohhalm klammerte.

»Was für ein Schüler?«, wollte mein Vater wissen.

»Ein neuer. Als ich mich das letzte Mal mit Beak Poke unterhielt, erwartete er einen Studenten, der ihm für das Studium der Eulologie zugewiesen worden war.«

»Ich dachte, er wäre für so etwas zu alt«, sagte mein Vater. »Ich dachte, er hätte sich aus dem Lehrberuf zurückgezogen.«

»Anscheinend hat er das getan, zumindest für eine Weile, aber aufgrund einer besonderen Bitte konnte er überredet werden, noch einmal in dieser Hinsicht tätig zu werden.«

»Na ja, nun geht das nicht mehr, weil er tot ist«, sagte meine Mutter in ungerührtem, sachlichem Ton und einer gedehnten Sprechweise, die ihre Klasse und ihre Abstammung verriet. »Beak Poke ist tot, deshalb muss dieser junge Schleiereulerich zum Studieren irgendwo anders hingehen, wodurch das Land von den Bekannten und Verwandten dieser kleinen Landbesetzerin eingenommen werden kann.«

»Ganz recht!«, pflichtete mein Vater bei. »Umso mehr ein Grund, dieses Wesen möglichst bald zu töten.«

»Aber es ist immer noch Schleiereulen-Gebiet«, warf ich ein. »Ist es uns gestattet, auf ihrem Gebiet zu töten, ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen?«

»Ein Waldkauz kann ganz nach seinem Belieben immer und alles töten«, sagte meine Mutter. »Und es entspricht nicht der Art und Weise, wie wir Dinge erledigen, dass wir zuerst um Erlaubnis fragen.«

»Aber Yoller hat nicht ganz Unrecht«, gab mein Vater überraschenderweise zu bedenken. »Gemäß der Vereinbarung, die nach dem letzten Krieg zwischen ihnen und uns geschlossen wurde – vor vierhundert Wintern –, müssen wir sie in Kenntnis setzen, bevor wir ein Geschöpf töten, das auf ihrem Land lebt, sich bewegt oder sein Dasein fristet. Und aufgrund desselben beiderseitigen Übereinkommens ist es ihnen nicht gestattet, auch nur eine Wühl- oder Spitzmaus in unserem Gebiet zu töten.«

Meine Mutter bedachte meinen Vater mit einem eisigen Blick – diesem eisigen, missbilligenden Blick, vor dem ich mich seit meiner Zeit als Küken fürchtete. Es war ein so kalter Blick, dass ich immer dachte, er könnte die meisten lebenden Geschöpfe sogar auf eine Entfernung von einem Anger gefrieren lassen.

»Nun denn«, sagte meine Mutter schließlich. »Gib diesem jungen Vogel eine Chance. Begib dich morgen Nacht dorthin und sieh, ob er inzwischen angekommen ist, und falls ja, ob er beabsichtigt zu bleiben oder nicht. Wenn er beschließt zu bleiben, fordere ihn auf, die kleine Einwanderin loszuwerden. Wenn er sich dafür entscheidet, woanders hinzugehen, musst du das Ding selbst töten.«