Die Vermessung des Himmels - Andrea Wulf - E-Book
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Die Vermessung des Himmels E-Book

Andrea Wulf

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Beschreibung

Die Geschichte des größten wissenschaftlichen Abenteuers im 18. Jahrhundert erzählt dieser Wissenschaftsthriller, der an jenen magischen Moment erinnert, als die Dimensionen des Universums erstmals Kontur gewannen. Bestsellerautorin Andrea Wulf blickt zurück auf den Sommer des Jahres 1769, als beim Venusdurchgang erstmals Wissenschaftler weltweit zusammenarbeiteten, um den Abstand zwischen Sonne und Erde exakt zu ermitteln. Sie reisten in die entlegensten Regionen und bestanden gefährliche Abenteuer.
Das Buch erschien im Verlag C. Bertelsmann unter dem Titel »Die Jagd auf die Venus«.

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Seitenzahl: 593

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Andrea Wulf 
DIE VERMESSUNG DES HIMMELS
Vom größten Wissenschaftsabenteuer
des 18. Jahrhunderts
Aus dem Englischen übertragen
von Hainer Kober

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2012unter dem Titel »Chasing Venus. The Race to Measure the Heavens«bei William Heinemann, London.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 unter dem Titel Die Jagd auf die Venusim Verlag C. Bertelsmann, München.

Copyright © 2012 by Andrea Wulf

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by C. Bertelsmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Sotheby’s /akg-images,

Science Photo Library/akg-images

Bildredaktion: Dietlinde Orendi

Satz: Uhl + Massopsut, Aalen

ISBN 978-3-641-23026-5 V007

www.penguin-verlag.de

Für Regan

Inhaltsverzeichnis

WidmungInschriftVorbemerkungDramatis PersonaeProlog - Die HerausforderungTeil I - Transit 1761
Kapitel eins - Der AufrufKapitel zwei - Die Franzosen sind die ErstenKapitel drei - Die Briten steigen einKapitel vier - Nach SibirienKapitel fünf - Alles bereit für die VenusKapitel sechs - Transit-Tag, 6. Juni 1761
Le Gentil: An Bord der Le Sylphide, Indischer Ozean, südöstlich von Sri Lanka, unmittelbar südlich des Äquators, Breite: 5° 44’10 S, Länge: 89° 35’ OChappe d’Auteroche: Tobolsk, RusslandAlexandre-Gui Pingré: Rodriguez, Indischer OzeanMichail Lomonossow: Lomonossows Haus, Sankt Petersburg, RusslandAnders Planman: Kajaani, FinnlandPehr Wilhelm Wargentin: Stockholm, SchwedenCharles Mason und Jeremiah Dixon: Kap der Guten Hoffnung, SüdafrikaNevil Maskelyne: Sankt Helena, SüdatlantikJohn Winthrop: St John’s, Neufundland
Kapitel sieben - Wie weit ist es zur Sonne?
Teil II - Transit 1769
Kapitel acht - Eine zweite ChanceKapitel neun - Russland steigt einKapitel zehn - Die kühnste ReiseKapitel elf - Skandinavien oder das Land der MitternachtssonneKapitel zwölf - Der nordamerikanische KontinentKapitel dreizehn - In alle vier Ecken der Welt
Nach Osten: französische Expedition, Le GentilNach Norden: skandinavische Expedition, Maximilian HellNach Süden: britische Expedition, James Cook und die EndeavourNach Westen: französische Expedition, Chappe d’Auteroche
Kapitel vierzehn - Transit-Tag, 3. Juni 1769
Der Süden: britische Expedition, James Cook und die Endeavour, TahitiDer Westen: französische Expedition, Chappe d’Auteroche, San José del Cabo, NiederkalifornienDer Norden: skandinavische Expedition, Maximilian Hell, Vardø, nördlicher PolarkreisDer Osten: französische Expedition, Le Gentil, Pondichéry
Kapitel fünfzehn - Nach dem Transit
Epilog - Eine neue MorgenröteDankVerzeichnis der Beobachter 1761Verzeichnis der Beobachter 1769AbkürzungsverzeichnisAnmerkungen
Prolog: Die HerausforderungKapitel 1: Der AufrufKapitel 2: Die Franzosen sind die ErstenKapitel 3: Die Briten steigen einKapitel 4: Nach SibirienKapitel 5: Alles bereit für die VenusKapitel 6: Transit-Tag, 6. Juni 1761Kapitel 7: Wie weit ist es zur Sonne?Kapitel 8: Eine zweite ChanceKapitel 9: Russland steigt einKapitel 10: Die kühnste ReiseKapitel 11: Skandinavien oder das Land der MitternachtssonneKapitel 12: Der nordamerikanische KontinentKapitel 13: In alle vier Ecken der WeltKapitel 14: Transit-Tag, 3. Juni 1769Kapitel 15: Nach dem TransitEpilog: Eine neue Morgenröte
Ausgewählte Literatur und Quellen
Online-Quellen und Internet-ArchiveZeitungen und Zeitschriften
LiteraturZur weiteren Lektüre empfohlen
Transit 2012Wissenschaftliche Informationen
BildnachweisBilder im TextRegisterCopyright

Der Planet Venus, aus seiner Abgeschiedenheit geholt, seine wahre Größe bescheiden und unverstellt auf die Sonne skizziert, wobei seine sonst so anmutige Scheibe hier melancholisch verfinstert ist.

–Jeremiah Horrocks

Wir müssen zeigen, dass wir besser sind und dass die Wissenschaft mehr für die Menschheit geleistet hat als die göttliche oder allzureichende Gnade.

–Denis Diderot

Vorbemerkung

Aus Gründen der Klarheit und Schlüssigkeit habe ich in Karten und Text bestimmte Ortsnamen der Beobachtungsstationen so belassen, wie sie von den Astronomen im 18. Jahrhundert verwendet wurden. So benutze ich beispielsweise Pondichéry statt des modernen Puducherry; Benkulen statt Bengkulu; Madras statt Chennai; Konstantinopel statt Istanbul. In einigen seltenen Fällen, wo die alten Namen in Vergessenheit geraten sind, verwende ich die modernen Bezeichnungen: zum Beispiel Jakarta statt Batavia. Eine vollständige Auflistung der historischen und zeitgenössischen Namen befindet sich im »Verzeichnis der Beobachter«.

Dramatis Personae

TRANSIT 1761

Großbritannien

Nevil Maskelyne: Sankt Helena

Charles Mason und Jeremiah Dixon: Kap der Guten Hoffnung

Frankreich

Joseph-Nicolas Delisle: Académie des Sciences, Paris

Guillaume Le Gentil: Pondichéry, Indien

Alexandre-Gui Pingré: Rodrigues

Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche: Tobolsk, Sibirien

Jérôme Lalande: Académie des Sciences, Paris

Schweden

Pehr Wilhelm Wargentin: Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften

Anders Planman: Kajaani, Finnland

Russland

Michail Lomonosow: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, Sankt Petersburg

Franz Aepinus: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, Sankt Petersburg

Amerika

John Winthrop: St John’s, Neufundland

Großbritannien

Nevil Maskelyne: Royal Society, London

William Wales: Prince of Wales Fort, Hudson Bay

James Cook und Charles Green: Tahiti

Jeremiah Dixon: Hammerfest, Norwegen

William Bayley: Nordkap, Norwegen

Frankreich

Guillaume Le Gentil: Pondichéry, Indien

Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche: Niederkalifornien, Mexiko

Alexandre-Gui Pingré: Haiti

Jérôme Lalande: Académie des Sciences, Paris

Schweden

Pehr Wilhelm Wargentin: Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften

Anders Planman: Kajaani, Finnland

Fredrik Mallet: Pello, Lappland

Russland

Katharina die Große: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, Sankt Petersburg

Georg Moritz Lowitz: Gurjew, Russland

Amerika

Benjamin Franklin: Royal Society, London

David Rittenhouse: American Philosophical Society, Norriton, Pennsylvania

John Winthrop: Cambridge, Massachusetts

Dänemark

Maximilian Hell: Vardø, Norwegen

Prolog

Die Herausforderung

Die alten Babylonier nannten sie Ischtar, für die Griechen war sie Aphrodite und für die Römer Venus  – die Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und der Schönheit. Sie ist der hellste Stern am Nachthimmel und sogar an einem klaren Tag zu sehen. Für einige kündigte sie Morgen und Abend, für andere neue Jahreszeiten oder bedeutsame Epochen an. 260 Tage lang regiert sie als »Morgenstern« oder »Bringer des Lichts«, dann verschwindet sie und geht wieder auf als »Abendstern« und »Bringer der Morgendämmerung«.

Jahrhundertelang hat Venus die Menschheit inspiriert, doch in den 1760er Jahren waren die Astronomen überzeugt, dass der Planet die Lösung für ein sehr gewichtiges wissenschaftliches Problem liefern könnte: die Antwort auf die Frage nach der Größe des Sonnensystems. Ref 1

1716 rief der britische Astronom Edmond Halley in einem zehnseitigen Aufsatz seine Kollegen auf, sich gemeinsam an einem weltweiten Projekt zu beteiligen  – ein Projekt, das die Welt der Wissenschaft unwiderruflich verändern könnte. Am 6. Juni 1761, so sagte Halley vorher, werde die Venus vor der Sonne vorüberziehen, für wenige Stunden werde der helle Stern als kleine, vollkommen schwarze Scheibe sichtbar sein. Er glaubte, durch eine Messung der genauen Zeit und Dauer dieses seltenen Himmelsereignisses würden sich die Daten zusammentragen lassen, die die Astronomen brauchten, um die Entfernung von der Erde zur Sonne zu berechnen.

Allerdings gab es ein Problem: Der sogenannte Venus-Transit oder Venus-Durchgang ist eines der seltensten vorhersagbaren Ereignisse. Diese Durchgänge treten immer paarweise auf  – im Abstand von acht Jahren, aber mit einem Intervall von mehr als einem Jahrhundert, bevor sie sich wieder beobachten lassen. 1 Laut Halley hatte es erst ein einziges Mal eine Beobachtung des Ereignisses gegeben, und zwar durch den britischen Astronomen Jeremiah Horrocks. Das nächste Paar würde 1761 und 1769 auftreten, und danach erst wieder 1874 und 1882. Ref 2

Halley war sechzig Jahre alt, als er seinen Aufsatz schrieb, und wusste, dass er den Transit nicht mehr erleben würde (es sei denn, er würde 104 Jahre alt), aber er wollte dafür sorgen, dass die nächste Generation gut vorbereitet war. In der Zeitschrift der Royal Society, der wichtigsten wissenschaftlichen Institution Großbritanniens, erläuterte Halley genau, warum dieses Ereignis so wichtig war, was die »jungen Astronomen« zu tun hatten und wo sie den Venus-Transit beobachten sollten. Er schrieb auf Latein, der internationalen wissenschaftlichen Verkehrssprache, um in ganz Europa so viele Astronomen wie möglich zur Teilnahme an seinem Projekt bewegen zu können. Je mehr Menschen er erreichte, desto größer die Aussichten auf Erfolg. Es sei von größter Wichtigkeit, erläuterte Halley, dass möglichst viele Menschen an verschiedenen Orten auf der Erde das seltene himmlische Zusammentreffen von Sonne und Venus zur selben Zeit beobachteten. Es reiche nicht aus, den Durchgang der Venus nur von Europa aus zu betrachten; Astronomen müssten auch abgelegene, möglichst weit auseinanderliegende Orte auf der nördlichen und südlichen Erdhalbkugel aufsuchen. Und nur wenn sie ihre Ergebnisse zusammenfassten  – wobei die nördlichen Daten das Gegenstück zu den südlichen Beobachtungen bildeten  –, konnten sie schaffen, was bis dahin unvorstellbar schien: eine exakte mathematische Erfassung der Dimensionen unseres Sonnensystems  – der heilige Gral der Astronomie.

Hunderte von Astronomen folgten Halleys Aufruf zu diesem Transit-Projekt. Sie kamen im Geist der Aufklärung zusammen. Das Wettrennen um die Beobachtung und Messung des Venus-Transits war ein Schlüsselmoment der neuen Zeit, einer Epoche, in der man die Natur mit Hilfe der Vernunft zu verstehen suchte. Die Wissenschaft wurde verehrt, und rationales Denken verdrängte die Mythen. Der Mensch begann, die Welt nach rationalen Prinzipien zu ordnen. So trug der Franzose Denis Diderot alles verfügbare Wissen in seiner monumentalen Encyclopédie zusammen. Der schwedische Botaniker Carl Linnaeus klassifizierte Pflanzen nach ihren Geschlechtsorganen, und 1751 brachte Samuel Johnson mit der Zusammenstellung des ersten englischen Wörterbuchs Ordnung auch in die Sprache. Mit der Erfindung von Mikroskopen und Teleskopen eröffneten sich bis dahin unbekannte Welten, denn die Forscher konnten nun die winzigsten Einzelheiten und die Unendlichkeiten der natürlichen Welt sehen. Robert Hooke spähte durchs Mikroskop und fertigte detaillierte Stiche von vergrößerten Samen, Fliegen und Würmern an  – er hat den Begriff »Zelle« für die Grundeinheit des Lebens geprägt. In den nordamerikanischen Kolonien experimentierte Benjamin Franklin mit Elektrizität und Blitzableitern, um menschlicher Kontrolle zu unterwerfen, was bislang als Ausdruck göttlicher Rage galt. Langsam wurden die Naturvorgänge klarer. Kometen galten nicht mehr als Vorboten des Zorns Gottes, sondern waren, wie Halley bewiesen hatte, vorhersagbare Himmelsereignisse. 1755 hatte Immanuel Kant die Vermutung geäußert, das Universum sei viel größer, als seine Zeitgenossen glaubten, und bestehe aus zahllosen riesigen »Welteninseln«  – »Galaxien« würden wir heute sagen.

Die Menschheit glaubte, sie schreite auf dem Weg des Fortschritts unaufhaltsam voran. In London, Paris, Stockholm, Sankt Petersburg, sogar in Philadelphia in den nordamerikanischen Kolonien wurden wissenschaftliche Gesellschaften gegründet, um dieses neu erworbene Wissen zu erfassen und auszutauschen. Beobachtung, Untersuchung und Experiment waren die Bausteine des neuen Weltverständnisses. Da Fortschritt das Leitmotiv des Jahrhunderts war, beneidete jede Generation die nächste. Während die Renaissance den Blick auf das Goldene Zeitalter der Vergangenheit gerichtet hatte, blickte die Aufklärung zuversichtlich in die Zukunft. Ref 3

Halleys Plan, den Venus-Transit als Werkzeug zur Himmelsvermessung zu verwenden, war aus den Errungenschaften des vorhergehenden Jahrhunderts erwachsen. Bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts hatte man den Himmel mit bloßem Auge beobachtet, doch der technische Fortschritt holte jetzt langsam die ehrgeizigen Pläne und Theorien der Wissenschaften ein. Die Blickrichtung der Astronomie hatte sich verändert: Es ging nicht mehr um die Kartierung der Sterne, sondern um das Verständnis der Planetenbewegungen. Anfang des 16. Jahrhunderts hatte Nikolaus Kopernikus die revolutionäre These aufgestellt, dass nicht die Erde, sondern die Sonne den Mittelpunkt des Sonnensystems bildet und von den Planeten umkreist wird  – ein Modell, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Galileo Galilei und Johannes Kepler bestätigt und erweitert worden war. Entscheidend für das Verständnis des Universums aber wurde Isaac Newtons bahnbrechendes Buch Principia von 1687, in dem er die fundamentalen, für alle Körper geltenden Bewegungs- und Gravitationsgesetze darlegte. Wenn Astronomen nun die Sterne beobachteten, waren sie nicht mehr auf der Suche nach Gott, sondern nach den das Universum regierenden Gesetzen.

Eine Abbildung des ptolemäischen und tychonischen Planetensystems.

Zu jener Zeit, als Halley seine Astronomie-Kollegen dazu aufrief, den Durchgang der Venus zu beobachten, glaubte man, das Universum arbeite wie ein von göttlicher Hand geschaffenes Uhrwerk nach Gesetzen, die die Menschheit nur zu verstehen und zu berechnen brauche. Position und Bewegungen der Planeten begriff man nicht mehr als willkürlich von Gott bestimmt, sondern man ging davon aus, dass sie auf Naturgesetze gegründet und damit geordnet und vorhersagbar seien. Doch noch immer war den Astronomen die tatsächliche Größe des Sonnensystems unbekannt und damit ein wichtiges Teil des Himmelspuzzles. Ref 4

Die Abmessungen des Himmels zu verstehen, sei schon »immer ein wichtiger Gegenstand astronomischer Forschung« gewesen, sagte der amerikanische Astronom und Harvard-Professor John Winthrop im Transit-Jahrzehnt. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts hatte Kepler entdeckt, dass sich die relative Entfernung zwischen der Sonne und einem Planeten ausrechnen ließ, wenn man wusste, wie lange der Planet braucht, um die Sonne zu umkreisen (je länger die Umrundung dauert, desto weiter ist er entfernt). 2 Daraus hatte er die Entfernung zwischen Erde und Sonne im Verhältnis zu den anderen Planeten ableiten können  – eine Maßeinheit, die zur Grundlage für die Berechnung von relativen Entfernungen im Universum wurde. 3 Beispielsweise wussten die Astronomen, dass die Entfernung zwischen Erde und Jupiter fünfmal so groß ist wie die Entfernung zwischen Erde und Sonne. Das Problem bestand allerdings darin, dass bis dahin noch niemand in der Lage gewesen war, die Entfernung genauer zu beziffern.

Die Astronomen des 18. Jahrhunderts hatten eine Karte des Sonnensystems, aber sie hatten keine Ahnung von seiner wirklichen Größe. Ohne zu wissen, wie weit die Erde tatsächlich von der Sonne entfernt ist, war eine solche Karte so gut wie nutzlos. Nach Halleys Auffassung war die Venus der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels. Als hellster Stern am Himmel wurde die Venus zur idealen Metapher für das Licht der Vernunft, das die neue Welt erleuchten und die letzten Spuren des finsteren Mittelalters verwischen sollte.

Anders als die meisten Astronomen, deren Leben von der ständig wiederkehrenden Mühe ihrer nächtlichen Beobachtungen beherrscht wurde, hatte Halley sich aufregenderen Aufgaben verschrieben  – was vermutlich der Grund war, warum er sich vorstellen konnte, dass eine Schar abenteuerlustiger Astronomen lange nach seinem Tod bereit sein würde, in alle Welt auszuschwärmen. Halley war nicht nur der Mann, der anderthalb Stunden in einer Taucherglocke fast zwanzig Meter tief in der Themse verbracht hatte, er war auch der erste Europäer, der drei Expeditionen in den Südatlantik unternommen hatte, um den südlichen Nachthimmel mit Hilfe eines Teleskops zu kartieren. Halley »spricht, flucht und trinkt Brandy wie ein alter Seebär«, sagte ein Kollege von ihm, aber er war auch einer der genialsten Wissenschaftler seiner Zeit. So hatte er die Rückkehr des nach ihm benannten Halleyschen Kometen vorhergesagt, eine Karte des südlichen Sternenhimmels gezeichnet und Isaac Newton überredet, die Principia zu veröffentlichen .Ref 5

In der Gewissheit, dass er nicht mehr am Leben sein würde, um die weltweite Zusammenarbeit zur Beobachtung des Venus-Transits zu organisieren  – ein Umstand, den Halley »noch auf seinem Totenbett«, ein Glas Wein in der Hand, beklagte  –, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf künftige Generationen zu vertrauen und zu hoffen, dass sie sich in fünfzig Jahren noch an seine Anweisungen erinnern würden. »In der Tat würde ich mir wünschen, dass viele Beobachtungen dieses einen Phänomens von verschiedenen Personen an weit entfernten Orten vorgenommen würden,« schrieb er. »Das empfehle ich daher wieder und wieder allen wissbegierigen Astronomen, die (nach meinem Tode) Gelegenheit haben werden, diese Dinge zu beobachten.«

Edmond Halleys Zeichnung der Venus beim Eintritt und Austritt während des Transits.

Halley forderte seine Nachfolger auf, sich auf ein Projekt einzulassen, das größer und kühner war als alle bisherigen wissenschaftlichen Unternehmen. Die gefährlichen Reisen zu abgelegenen Außenposten würden viele Monate, möglicherweise sogar Jahre dauern. Dabei würden die beteiligten Astronomen ihr Leben für ein Himmelsereignis riskieren, das gerade einmal sechs Stunden dauern und nur bei geeigneten Wetterbedingungen zu sehen sein würde. Ref 6

Im Vorfeld der Expeditionen mussten die Forscher für die Finanzierung von ausgezeichneten Teleskopen und anderen Instrumenten sowie für Reise, Unterbringung und Gehältern sorgen. Sie mussten ihre Monarchen oder Regierungen dazu bewegen, sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen, und ihre eigenen Beobachtungen mit denen in anderen Ländern abstimmen. Miteinander im Krieg liegende Nationen mussten  – zum ersten Mal  – im Namen der Wissenschaft zusammenarbeiten. Das Projekt konnte nur gelingen, wenn Hunderte von Astronomen von vielen Dutzend Orten ihre Teleskope in genau demselben Augenblick auf den Himmel richteten, um die Venus über die glühende Sonnenscheibe wandern zu sehen.

Hinzu kam  – was vielleicht noch aufwendiger, wenn auch weniger aufregend war  –, dass sie ihre Ergebnisse mit anderen Forschern teilen mussten. Jeder Beobachter musste seine Beobachtungen in den internationalen Datenpool einfließen lassen. Kein individuelles Ergebnis würde ohne die anderen von Nutzen sein. Um die Entfernung zwischen der Sonne und der Erde zu berechnen, mussten die Astronomen die Zahlen vergleichen und aus den verschiedenen Daten ein eindeutiges Ergebnis ableiten. Die Zeiten, die weltweit mit Hilfe verschiedener Uhren und Teleskope gemessen würden, mussten irgendwie standardisiert und vergleichbar gemacht werden.

Die Beobachtungen des Venus-Transits würden das ehrgeizigste jemals geplante wissenschaftliche Projekt sein  – ein höchst ungewöhnliches Vorhaben zu einer Zeit, als ein Brief von Philadelphia nach London zwei bis drei Monate brauchte und die Reise von London nach Newcastle sechs Tage dauerte. Es bedurfte schon einer gehörigen Portion Fantasie, vorzuschlagen, dass die beteiligten Astronomen, beladen mit mehr als einer halben Tonne Ausrüstung, Tausende von Kilometern durch die Wildnis hoch im Norden und tief im Süden reisen sollten. Ref 7

Auch der Plan, genaue Entfernungen im Raum zu berechnen, war ein kühnes Vorhaben, da die Uhren noch nicht genau genug gingen für eine exakte Längenbestimmung; außerdem existierten nicht mal auf der Erde standardisierte Maßeinheiten: Eine englische Meile bezeichnete eine andere Länge als eine Meile in den deutschsprachigen Ländern  – und selbst dort gab es Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich. Eine Mil in Schweden betrug mehr als zehn Kilometer, in Norwegen mehr als elf, während eine französische Lieue drei Kilometer, aber auch bis zu viereinhalb Kilometer lang sein konnte. Allein in Frankreich gab es 2000 verschiedene Maßeinheiten  – die sogar von Dorf zu Dorf verschieden waren. Angesichts dieser Umstände schien die Hoffnung, man könne Hunderte von Beobachtungen, die von Astronomen in aller Welt gesammelt würden, zu einem gemeinsamen Wert zusammenfassen, ungeheuer ehrgeizig. Ref 8

Die Wissenschaftler, die ihre Observatorien an den europäischen Bildungszentren verließen, um die Venus von abgelegenen Außenposten der bekannten Welt zu beobachten, waren Abenteurer der besonderen Art. Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht wie heldenmütige Entdeckungsreisende wirken mochten, bewiesen sie auf der weltweiten Jagd nach der Venus ungewöhnlichen Wagemut und Einfallsreichtum. Am 6. Juni 1761 und noch einmal am 3. Juni 1769 richteten mehrere hundert Astronomen in aller Welt ihre Teleskope auf den Himmel, um zu verfolgen, wie die Venus über die Sonne wanderte. Sie setzten sich über alle religiösen, nationalen und wirtschaftlichen Unterschiede hinweg, um sich zum ersten globalen wissenschaftlichen Projekt zusammenzuschließen. Dies ist ihre Geschichte.

Teil I

Transit 1761

Kapitel eins

Der Aufruf

Zu Beginn des Transit-Jahrzehnts Mitte des 18. Jahrhunderts erstreckten sich die Handelsreiche der europäischen Staaten über den ganzen Globus. Auf den traditionellen Handelsrouten konnte man zu fernen Zielen in Ost- und Westindien 4, Afrika und Brasilien reisen. Großbritannien hatte weitgehende Kontrolle über die Ostküste Nordamerikas sowie über Teile Indiens, des Weiteren über einige Karibikinseln und Sumatra in Indonesien. Zu den französischen Besitzungen gehörten Kanada und Louisiana, Plantagen in Indien, Zuckerkolonien wie Haiti und St. Lucia und einige Inseln im Indischen Ozean, während die Holländer ihren Ostindienhandel weitgehend über Jakarta, Galle auf Sri Lanka und Häfen am Kap der Guten Hoffnung in Südafrika abwickelten.

Doch auf die Reisenden warteten auch große Gefahren: Seit 1756 waren die meisten europäischen Staaten in den Siebenjährigen Krieg verwickelt. Die politischen Verhältnisse machten die Transit-Expeditionen zu riskanten Unternehmen. Während Wissenschaftler aus Frankreich, Großbritannien, Schweden, Deutschland, Russland und anderen Staaten ihre internationale Zusammenarbeit planten, führten die Armeen ihrer Länder blutige Schlachten gegeneinander in den sächsischen Wäldern, an der Ostseeküste, in der Wildnis des Ohio Valley und in Indien. Feindliche Flotten durchkreuzten die Weltmeere von Guadeloupe bis Mauritius und griffen in so fernen Gegenden wie Pondichéry und Manila an, aber auch in größerer Nähe zur Heimat, etwa im Mittelmeer und im Atlantik.

Der Krieg hatte seinen Ursprung in alten europäischen Konflikten zwischen den Hohenzollern in Preußen und den Habsburgern in Österreich sowie zwischen Großbritannien und dem Haus Bourbon, das in Frankreich und Spanien herrschte. Großbritannien und Preußen kämpften gegen Frankreich, das mit Russland, Österreich und Schweden verbündet war. Dabei ging es nicht nur um politische Macht, sondern auch um Handels-und Wirtschaftsinteressen: die Kolonien in Nordamerika, in Indien, den Sklavenhandel in Westafrika und die wertvollen westindischen Zuckerinseln. In dem Maße, wie die Europäer ihre Welt vergrößerten, weiteten sich auch ihre Kriege aus. Der Siebenjährige Krieg war der erste globale bewaffnete Konflikt, der nicht nur Europa zerriss, sondern auch dessen koloniale Außenposten in der ganzen Welt spaltete. Mitten in diesen turbulenten Zeiten mussten die Astronomen zu ihrer ehrgeizigen Jagd aufbrechen. Ref 9

Am 30. April 1760 ging der 72-jährige Joseph-Nicolas Delisle, der offizielle Astronom der französischen Marine 5, zu einer Sitzung der Académie des Sciences in Paris. An jedem Mittwoch versammelten sich dort die Akademiemitglieder, die auf dem Gebiet der Mathematik oder Astronomie forschten, um Projekte und laufende Forschungsarbeiten zu erörtern. Delisle hatte nur einen kurzen Fußmarsch zu absolvieren. Die Räume der Akademie befanden sich im Louvre, auf der anderen Seite der Seine, etwa anderthalb Kilometer von seinem kleinen Observatorium im Hôtel de Cluny, dem Verwaltungssitz der Marine Royale, entfernt. Die Straßen waren schmal, erwiesen sich aber, wie Benjamin Franklin einige Jahre später feststellte, als »gut zu begehen« und wurden durch tägliches Kehren sauber gehalten. Zwischen den hohen Gebäuden, die sie säumten, drängten sich die Fußgänger und Kutschen. An Straßenständen verkauften Männer und Frauen ihre Waren  – alles vom Besen bis zur Auster, von Eiern bis zu Käse und Obst. Schuster, Scherenschleifer und Hausierer boten den Passanten lautstark ihre Dienste an. Menschen »jeder Art & Stellung« mischten sich hier, notierte eine Reisende überrascht  – von Taschendieben bis zu einem »Fürst von Geblüt«. Laut Franklin war es »eine erstaunliche Mischung aus Pracht und Verwahrlosung«, andere waren strenger in ihrem Urteil und sprachen von der »hässlichsten und abscheulichsten Stadt im Universum«.

Delisle überquerte den Fluss auf dem Pont Neuf, einer massiven Steinbrücke, die als Tummelplatz von Gauklern, Quacksalbern und Zahnziehern bekannt war. Die Brücke sei für die Stadt, so ein Pariser, »was das Herz für den Leib ist: das Zentrum der Bewegung und des Kreislaufs«. Sich nach links wendend, gelangte Delisle an der nächsten Ecke vor die eindrucksvolle Fassade des Louvre. Ref 10

Frankreich wurde von Ludwig XV. regiert, einem König, der 1715 im Alter von fünf Jahren den Thron bestiegen hatte. Er schwärmte für die Astronomie, besuchte regelmäßig wissenschaftliche Vorführungen in Versailles und erlaubte sogar, dass man ihn elektrisch auflud. Im Jahrhundert zuvor hatte sein Urgroßvater Ludwig XIV. die Académie des Sciences in Paris gegründet, zur Förderung der Wissenschaft (und ihrer praktischen Anwendung) und zum höheren Ruhm seines Reiches. Seitdem kamen die Akademiemitglieder zusammen, um eine Vielzahl wissenschaftlicher Themen zu diskutieren  – von der Insektenkunde über die Hydraulik für die Springbrunnen von Versailles bis zu Pumpen für die Säuberung der Häfen. Die Akademie war die wichtigste wissenschaftliche Institution des Landes und versammelte die besten Wissenschaftler in ihren Reihen  – zum »membre de l’Académie« gewählt zu werden, galt als höchste wissenschaftliche Ehre, die man stolz trug wie einen Adelstitel.

In dem bevorstehenden Vortrag beabsichtigte Delisle, die Akademiemitglieder zum Mittelpunkt des größten jemals geplanten wissenschaftlichen Unternehmens zu machen. Er wollte seine Kollegen aufrufen, die Herausforderung anzunehmen, die Edmond Halley 44 Jahre zuvor formuliert hatte: die Organisation einer internationalen Zusammenarbeit, um den ein Jahr später  – am 6. Juni 1761  – erwarteten Venus-Transit zu beobachten.

Halley hatte die revolutionäre These aufgestellt, man könne den Venus-Transit als natürliches astronomisches Instrument verwenden  – gewissermaßen als himmlischen Zollstock: Wenn mehrere Menschen über die Erde verteilt den gesamten Transit von verschiedenen, so weit wie möglich auseinanderliegenden Orten beobachten, so Halley, sieht jeder die Venus auf einer etwas abweichenden Bahn über die Sonne wandern  – je nachdem, ob er sich auf der nördlichen oder südlichen Erdhalbkugel befindet. Der Weg der Venus über die Sonne wird abhängig vom Ort der Beobachtung kürzer  – oder länger. Ref 11

Die unterschiedlichen Bahnen der Venus über die Sonnenscheibe, beobachtet von Orten auf der nördlichen und südlichen Hemisphäre während der Durchgänge von 1761 und 1769. Im Süden ist der Weg 1761 länger und 1769 kürzer.

Mit Hilfe der Trigonometrie konnten diese verschiedenen Bahnen (und die Unterschiede in der Dauer des Venus-Transits) zur Berechnung der Entfernung zwischen Sonne und Erde herangezogen werden. Das war eine einfallsreiche Methode, weil der Durchgang nicht »gemessen«, sondern nur zeitlich erfasst werden musste  – indem man genau festhielt, wann die Venus in die Sonnenscheibe eintrat und wann sie wieder austrat. Die Beobachter benötigten nur ein vernünftiges Teleskop mit farbigen oder eingerußten Linsen (um die Augen vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen) und eine zuverlässige Uhr.

Seit Halleys Aufruf im Jahr 1716 hatten die Astronomen andere Methoden zur Vermessung des Sonnensystems erprobt. Anfang der 1750er Jahre hatten französische Astronomen versucht, anhand von gleichzeitig vorgenommenen Beobachtungen in Kapstadt und Berlin die Entfernung zwischen Mond und Erde zu bestimmen. Durch Triangulation der Ergebnisse hofften sie, den Himmel noch vor dem Venus-Transit vermessen zu können. Doch die Ergebnisse waren nicht genau genug gewesen. Jahrelang hatte Delisle geglaubt, er könne das Halleysche Verfahren auf die häufiger erfolgenden Durchgänge des Merkurs anwenden  – andere Astronomen und er hatten mehrere dieser Transite beobachtet  –, schließlich musste er einsehen, dass Merkur der Sonne zu nah ist. Nur der Venus-Transit konnte die Voraussetzungen für eine exakte Berechnung liefern. Ref 12

Die Aufgabe, die Transit-Beobachtungen an vielen Punkten der Erde zu organisieren, verlangte eine ganz eigene Persönlichkeit. Jemanden, der so hartnäckig, ausdauernd und entschlossen war, dass er rivalisierende Astronomen und tief zerstrittene Nationen dazu bringen konnte, an einem Strang zu ziehen. Niemand war dazu besser geeignet als Delisle. Er war wie ein Besessener, ein Mann, der in seiner wissenschaftlichen Arbeit aufging und sein Leben den Sternen gewidmet hatte. Mit seinem enzyklopädischen Wissen und seiner unermüdlichen Arbeitswut hatte er es zu einem der angesehensten Astronomen Europas gebracht. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte er in Sankt Petersburg gearbeitet und die Astronomie in Russland heimisch gemacht, indem er dort ein Observatorium errichtete und Astronomen ausbildete. Seine Reise nach Russland hatte er zur Grand Tour ausgeweitet, die allerdings nicht der Kunst und Architektur gewidmet war, sondern anderen Gelehrten. Dabei war er 1724 dem alternden Halley in London begegnet und hatte mit ihm den Venus-Transit erörtert. Jetzt lebte der verwitwete Delisle in Paris und verbrachte den größten Teil seiner Zeit am Collège de France, wo er Astronomie lehrte und wohnte, und in seinem Observatorium im direkt gegenüberliegenden Hôtel de Cluny.

Delisle hatte nicht nur sein eigenes Leben der Astronomie gewidmet, sondern war auch die Schnittstelle für den Informationsaustausch zwischen anderen Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft Europas. Der Umfang seiner Korrespondenz mit ausländischen Astronomen ist höchst beeindruckend, wenn auch nicht alle mit seiner Vorgehensweise einverstanden waren. Der schwedische Botschafter in Paris hatte das Gefühl, Delisle hätte ihm so viele wissenschaftliche Informationen entlockt, ohne sich jemals revanchiert zu haben, dass er ihn »gierig« nannte. Der französische Astronom stand in dem Ruf, »Gott und die Welt zu bedrängen«, um in den Besitz von Beobachtungsdaten zu gelangen, die eigenen hingegen eifersüchtig zu hüten. Er sei »ein alles verschlingender Schlund, der nichts zurückgibt«, klagte Jérôme Lalande, ein ehemaliger Schüler von Delisle . Mag sein, dass Delisle manchmal ein wenig zurückhaltend mit den eigenen Ergebnissen war, ganz gewiss aber »verschlang« er alle Informationen, die er zum Transit bekommen konnte, und setzte seine überzeugende, wenn nicht sogar hartnäckige Persönlichkeit ein, um die Welt für sein Vorhaben zu gewinnen. Ref 13

In den Jahren vor dem Transit hatte Delisle Halleys astronomische Tafeln studiert und war zu dem Schluss gekommen, der britische Astronom habe sich ein wenig geirrt  – nicht in seiner Vorhersage oder in seinem Aufruf zum Handeln, wohl aber in der Wahl der Orte, die sich am besten für die Beobachtung des Transits eigneten. Der Erfolg der Messungen hing davon ab, dass man sich für die richtigen Beobachtungsstationen entschied. Als Delisle nun seinen Plan darlegte und erklärte, wo die Venus erscheinen würde, nahm er die anderen Akademiemitglieder mit auf eine fiktive Weltreise  – von Pondichéry in Indien nach Vardø im nördlichen Polarkreis, von Peking nach Paris. Halley hatte vorhergesagt, dass der Transit, von der Hudson Bay in Nordamerika betrachtet, achtzehn Minuten kürzer sein würde als in Ostindien, »allerdings bin ich«, so erklärte Delisle seinen Zuhörern, »zu ganz anderen Ergebnissen gelangt als Herr Halley«. In den eigenen Vorhersagen kam Delisle zu dem Schluss, der Transit würde an der Hudson Bay nur zwei Minuten kürzer sein  – nicht ausreichend, um ihren Berechnungen zu nützen; außerdem würde er größtenteils nachts stattfinden.

Die größten Unterschiede in der Zeitmessung, so Delisle, ließen sich erzielen, wenn man die Beobachtungsorte auf der nördlichen und der südlichen Hemisphäre paarweise zusammenstellte. So schlug Delisle das sibirische Tobolsk und das Kap der Guten Hoffnung als ideale Beobachtungsstationen vor; von diesen Orten aus betrachtet, musste die Dauer des Transits einen Unterschied von mehr als elf Minuten aufweisen. Um die Auswahl zu erleichtern, zeigte er eine Weltkarte  – seine Mappemonde. Als gelernter Landvermesser hatte Delisle mit vereinten kartografischen und astronomischen Kenntnissen eine Karte entwickelt, die durch unterschiedliche Farbschattierungen anzeigte, wo sich der Transit am besten beobachten ließ. In der blauen Zone konnten Beobachter nur sehen, wie die Venus in die Sonne eintrat, in den gelb gefärbten Erdregionen war nur der Austritt zu beobachten, während sich in den roten Flächen der gesamte Transit verfolgen ließ. Ref 14

So konnten Forscher mit einem Blick auf die Karte erkennen, wo die geeignetsten Beobachtungsorte lagen, wobei sich allerdings auch zeigte, dass viele dieser Plätze weit entfernt und schwer zu erreichen waren. Vollständig war der Transit nur zu beobachten in China, Indien und Ostindien, am nördlichen Polarkreis, in Nordskandinavien und Russland  – wobei die Dauer des Transits in Sibirien am kürzesten und in Ostindien am längsten erwartet wurde.

Eine Mappemonde von 1770. Auf seiner (hier nicht abgebildeten) Karte hatte Delisle die Sichtbarkeit des Transits durch unterschiedliche Farbzonen markiert.

Der Vortrag, den Delisle seinen Kollegen von der Académie in Paris hielt, war Teil einer breit angelegten Kampagne: Er hatte seine Karte nebst den Erklärungen des Transits an seine internationalen Korrespondenten geschickt  – mehr als 200 Naturforscher in Amsterdam, Basel, Florenz, Wien, Berlin, Konstantinopel, Stockholm, Sankt Petersburg und vielen französischen Städten. 6 Gleichzeitig wurde in französischen Zeitungen die Karte gerühmt und erörtert, wodurch der Transit ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde. Delisle erwies sich als ein würdiger Schüler von Halley. Seine Mappemonde war an jeden fähigen Astronomen in Europa geschickt und in mehreren wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht worden. Delisle konnte an nichts anderes mehr denken, seine Wohnung im Pariser Collège de France war zur Schaltstelle und Nachrichtenzentrale des Projekts geworden. Ref 15

Bis zu dem Zeitpunkt, da Delisle seine astronomischen Kollegen aufforderte, Transit-Expeditionen auszurüsten, hatten die meisten von ihnen ihr Leben in endloser, öder Routine verbracht  – mit kalten Nächten unter freiem Himmel oder komplizierten Berechnungen. 7 Obwohl sie Tag und Nacht ins Universum blickten, reichte ihre eigene Welt nur selten über die Grenzen ihrer Sternwarten hinaus. Die einzige Ablenkung waren, so der Vorschlag eines Vaters an seinen Astronomensohn, »Reisebeschreibungen«, weil »Reisen ablenken und den Horizont erweitern«. Die Arbeitsplatzbeschreibung für den Hilfsastronomen am Royal Observatory in Greenwich war deprimierend ehrlich: Gefragt waren »unermüdliche Arbeitstiere & vor allem gehorsame Handlanger«  – nicht gerade die Persönlichkeitsmerkmale, die man normalerweise mit Weltreisenden und heldenmütigen Entdeckern in Verbindung bringt.

Es war ein kühnes Unterfangen. Nachdem Delisle seine Anfragen versandt hatte und kaum noch ein Jahr bis zum Transit blieb, wurde es Zeit für ihn, die Beobachtungen zu koordinieren und zu entscheiden, wer wo beobachten sollte. Da sich die Handelsverbindungen der europäischen Staaten über den ganzen Globus erstreckten, bot es sich an, für Reisen an abgelegene Beobachtungsposten den vorhandenen kolonialen Handelsrouten zu folgen. Halley hatte bereits empfohlen, die imperialen Besitzungen jedes Landes zu nutzen; den Engländern hatte er zur Hudson Bay, den Franzosen zu ihren Plantagen in Pondichéry und den Holländern zum Handelshafen Jakarta geraten. Delisle sah das genauso. Ref 16

Die Astronomen versprachen sich von den Transits vor allem bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und ein neues Verständnis des Universums, aber sie wussten auch, dass sich durch das Projekt weitere Möglichkeiten eröffneten, die sie zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Wenn die über den Globus verteilten Beobachter Erfolg hätten, würden die Messungen auch zur Verbesserung der Navigation beitragen  – was für jede Handels- und Seemacht von entscheidender Bedeutung war. Das 18. Jahrhundert war nämlich nicht nur die Kinderstube für expandierende Handelsreiche und für die Ideale der Aufklärung, sondern auch für den Kapitalismus. Als weltweit neue Import-und Exportmärkte aus dem Boden schossen, wurde exakte Navigation ein wissenschaftliches Forschungsgebiet, das Wohlstand und Macht sicherte  – ein Umstand, der, wie Delisle zuversichtlich annahm, Monarchen und Regierungen veranlassen würde, zumindest einige der Expeditionen zu finanzieren.

Da die Beobachtungsstation in Holländisch-Ostindien am weitesten entfernt und zugleich sehr wichtig war, schrieb Delisle an einen befreundeten Astronomen in Den Haag, und fragte ihn, ob eine Beobachtung in der holländischen Kolonie möglich wäre. Gleichzeitig bemühte er sich weiter um Unterstützung in seiner Heimat, indem er den französischen Außenminister und König Ludwig XV. bat, eine französische Expedition nach Jakarta zu finanzieren, wobei er vorgab, dass ihm die Holländer schon ihre uneingeschränkte Kooperation zugesagt hätten. Das Wagnis zahlte sich nicht recht aus. Delisles Bekannter in Den Haag hatte schlechte Nachrichten: Die Holländer erklärten sich lediglich bereit, einem französischen Beobachter auf einem holländischen Schiff Zugang zu gewähren, das war alles. Sie waren nicht gewillt, irgendwelche Expeditionen zu finanzieren, weil »der Nutzen der Astronomie für die Menschheit in der holländischen Gesellschaft nicht genügend Anerkennung findet«, notierte er niedergeschlagen. Ref 17

Doch Delisle fand eine Lösung. Wie seine Mappemonde deutlich zeigte, gab es viele Orte, von wo man entweder den Eintritt oder den Austritt der Venus bei ihrer Wanderung über die Sonnenscheibe beobachten konnte. Wenn man Halleys »Dauermethode« verwendete (das heißt, die vollständige Transit-Bahn der Venus beobachtete), kamen nur einige wenige Orte auf der Erde in Betracht  – und von diesen waren die meisten, wie beispielsweise Jakarta, weit entfernt oder schwer zu erreichen. Delisles neue Strategie gab den Beobachtern die Möglichkeit, anstelle der vollständigen Bahn nur den Eintritt oder den Austritt der Venus zu beobachten. Nach Delisles Auffassung ließ sich eine Beobachtung der Eintritts- oder der Austrittszeit an einem Ort mit einer anderen an einem weit entfernten Ort verknüpfen  – sofern sie auf ähnlichen Breitengraden gemacht wurden und der genaue Unterschied der Positionen in Breiten und Längen bekannt war. Die Astronomen konnten die Daten nach dem Transit zusammenfassen und die Entfernung zwischen Erde und Sonne ausrechnen.

Da Delisle der wichtigste Motor des Projekts war, kam es nicht überraschend, dass die Franzosen die erste Expedition in die Wege leiteten. Am 26. März, fünf Wochen, bevor Delisle seine Mappemonde in ganz Europa versandte, führte einer seiner ehemaligen Schüler seinen Plan aus und brach von Brest, einem Hafen an der französischen Atlantikküste, zur Seereise nach Indien auf.

1725 in einer kleinen Stadt in der Normandie als Sohn »eines nicht sehr wohlhabenden Edelmanns« geboren, ging Guillaume Joseph Hyacinthe Jean-Baptiste Le Gentil de la Galaisière als Erster ins Rennen. Ursprünglich hatte er sich in Paris auf eine geistliche Laufbahn vorbereitet, ließ sich dann aber von den intellektuellen Anregungen der Metropole ablenken. Nachdem Le Gentil eine Vorlesung bei Delisle gehört hatte, wandte er sich der Naturforschung zu. Statt zu predigen oder sich auf »müßige« theologische Streitgespräche einzulassen, beobachtete er jetzt lieber den »Himmel«. Er bekam eine Stellung an der Königlichen Sternwarte in Paris und wurde Mitglied der französischen Académie des Sciences. Wie Delisle hatte er 1753 den Merkur-Transit beobachtet, seine Aufmerksamkeit aber rasch dem nützlicheren, wenn auch selteneren, Venus-Transit zugewandt, darüber geschrieben und sich dann bereit erklärt, nach Pondichéry in Indien zu reisen, wo der gesamte Durchgang sichtbar sein würde. Ref 18

Ende 1759 hatte Le Gentil die Erlaubnis erhalten, nach Pondichéry zu reisen. Die geballte Macht von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft  – der Präsident der Académie in Paris, der französische Außenminister und der Contrôleur général des finances (dem heutigen Finanzminister vergleichbar)  – war von der Bedeutung der Mission überzeugt und unterstützte sie vorbehaltlos. Da die, den Handelshafen Pondichéry kontrollierende, französische Ostindien-Kompanie versprach, die Fahrt auf einem ihrer Schiffe zu ermöglichen, war seine Reise in wenigen Wochen organisiert. Die Ostindien-Kompanie war laut Le Gentil, »stets voller Eifer«, wenn es um »nützliche« Projekte ging.

Zwei weitere französische Astronomen zeigten lebhaftes Interesse an einer solchen Reise: Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche und Alexandre-Gui Pingré, die wie Le Gentil Mitglieder der französischen Académie waren. Beide sagten »äußerst begierig« zu, als die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg sie einlud, nach Tobolsk in Sibirien zu reisen. Man war übereingekommen, den 38-jährigen Chappe nach Russland und den 48-jährigen Pingré an einen anderen Bestimmungsort zu schicken, über den man zu gegebener Zeit befinden wollte. Chappe wurde von Delisle schon lange wegen seiner exakten astronomischen Berechnungen und kenntnisreichen Beobachtungen geschätzt, und Pingré war einer der angesehensten Astronomen von Paris. Beide hielt man  – oder zumindest glaubte das die Académie  – dieser Ehre für »würdig« und daher für ideale Kandidaten. Fraglos waren sie brillante Astronomen, aber auch beleibt und mittleren Alters  – nicht unbedingt der Inbegriff kühner Abenteurer. Trotzdem waren sie entschlossen, die Gefahren der langen Reise auf sich zu nehmen. Frankreich war bereit, die Venus zu jagen … doch Großbritannien war ihm dicht auf den Fersen. Ref 19

Am 5. Juni 1760, fünf Wochen, nachdem Delisle seine Mappemonde in der Académie in Paris vorgelegt hatte, machten sich die Fellows  – die Mitglieder  – der British Royal Society auf den Weg in den Crane Court in London, eine kleine Sackgasse, die von der Fleet Street abzweigte. Wohlhabende Fellows fuhren in ihren eigenen Kutschen vor, während andere durch die schlammigen Straßen stapften oder eine der vielen tausend Mietkutschen nahmen, die die engen Gassen verstopften. Einige riefen nach einer Sänfte, um sich durch die geschäftige Stadt tragen zu lassen, wobei die Träger so rasch liefen, dass sie des Öfteren Fußgänger umstießen, die nicht schnell genug beiseite sprangen. Der Weg führte an den prachtvollen Fassaden der Geschäfte im Strand und in der Fleet Street vorbei. Dort schienen, so meinte ein ausländischer Besucher, die »Boutiquen … gantz von Glas zu seyn« und »ein Kaufmannsgewölbe an das andere« zu stoßen. In den Schaufenstern wurden kostbare Waren feilgeboten  – Auslagen, die von Großbritanniens weltweiten Einflusssphären und von der Leistungsfähigkeit seiner Manufakturen zeugten. Am Abend beschien das flackernde Licht Tausender von Kerzen glänzende Silberkannen, politische Karikaturen, neue Teleskope und Stapel erlesener Spitzen. Pyramiden von Ananas und Weintrauben wetteiferten mit Diamanten und anderen Edelsteinen, um den Passanten das Geld aus der Tasche zu locken.

Tagtäglich wurde den Londonern in den überfüllten Straßen ein Ständchen gebracht von einem Orchester aus Stimmen und Lauten, die nie zu verstummen schienen: Fiedler an Straßenecken, Glockenspiele an Kirchtürmen und Rufe von fliegenden Händlern. Sogar nachts konnten sie die »rauhe Stimme des Nachtwächters« hören, der die Zeit und das Wetter ausrief. Ref 20

Als die Fellows die Stufen zu ihrem Sitzungssaal erklommen hatten, tauschten sie aufgeregt die neuesten wissenschaftlichen Nachrichten und Klatschgeschichten aus. Ihr Präsident saß in einem großen Sessel an einem Ende des langen Tisches, hinter ihm ein Porträt des königlichen Schutzpatrons Georg II. und ihm gegenüber eine Marmorbüste des früheren Präsidenten Isaac Newton. Wie immer brauchten die Fellows eine Zeitlang, um auf den Bänken Platz zu nehmen und ihr Geplauder einzustellen. Genau wie die Académie in Frankreich war die Royal Society das wichtigste wissenschaftliche Forum in Großbritannien. Seit ihrer Gründung in den 1660er Jahren  – »zur Beförderung der Naturerkenntnis durch das Experiment«  – war sie zum Dreh- und Angelpunkt britischer Naturforschung und philosophischer Aufklärung geworden. Bei ihren wöchentlichen Donnerstagssitzungen hörten die Fellows von Tauchglocken und botanischer Taxonomie, sahen explodierende Hunde, »elektrifizierte« Menschen, führten Bluttransfusionen vom Schaf zum Menschen durch und wurden über Kometen, Fossilien und die neuesten Pendeluhren informiert. Man nahm Experimente vor, erörterte die Ergebnisse und verlas Briefe, die von anderen wissenschaftlich interessierten Leuten eingetroffen waren  – egal, ob von Freunden oder Fremden.

Der Sitz der Royal Society im Crane Court in London.

Am 5. Juni, nachdem die Namen der Anwesenden im Protokoll festgehalten worden waren, stand einer der Fellows auf, um einen Brief vorzulesen, den er aus Paris erhalten hatte: »Ausführungen von Mr. de Lisle an die Gesellschaft« und die »Weltkarte«, auf der die Orte verzeichnet seien, von denen aus »der bevorstehende Venus-Durchgang« zu beobachten sei. Dieser Brief setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die die Royal Society mehr als ein Jahrzehnt beschäftigen sollten, denn nachdem die Fellows die Mappemonde und den Transit-Plan eingehend untersucht hatten, sprachen sie sich begeistert für Delisles Vorschlag aus.

Bereits zwei Wochen später wurde beschlossen, dass der Rat der Royal Society Beobachter und »geeignete Orte« zur Beobachtung des Venus-Transits bestimmen sollte. Doch da nur noch ein Jahr blieb, um die weit entfernten Bestimmungsorte zu erreichen  – und um Gelder aufzutreiben, Instrumente zu beschaffen und Astronomen einzustellen  –, wurde die Zeit knapp. »Einstimmig« wählte der Rat die beiden Beobachtungsorte aus: die abgelegene Insel Sankt Helena im Südatlantik, das südlichste Stück Land unter britischem Einfluss, und einen noch genauer zu bestimmenden Punkt in Ostindien  – entweder Benkulen auf Sumatra, eine Insel, die wie Sankt Helena von der britischen Ostindien-Kompanie kontrolliert wurde, oder vielleicht Jakarta, »wenn nicht mit Unsicherheit behaftet«, denn die Stadt befand sich in holländischem Besitz. In Ostindien würde der ganze Durchgang sichtbar sein, während auf Sankt Helena nur der Ausgang des Transits zu beobachten sein würde  – was nach Delisles Methode aber ausreichen sollte. Der große Vorteil Sankt Helenas bestand darin, dass es in der südlichen Hemisphäre lag und daher das ideale Gegenstück zu den Beobachtungsstationen hoch im Norden bildete. Ref 21

Sobald die Entscheidung gefallen war, brach hektische Aktivität aus. Einige Fellows wurden gebeten, die Kosten der Expedition zu schätzen und eine Liste der benötigten Instrumente zusammenzustellen. Andere erhielten den Auftrag, Informationen über das Klima in Sankt Helena und Ostindien zu sammeln. Günstige Wetterverhältnisse waren von entscheidender Bedeutung. Es wäre sinnlos gewesen, Astronomen ans Ende der Welt zu schicken, um sie einen bewölkten Himmel betrachten zu lassen. Vor allem aber wurde eine Delegation entsandt, die von den Direktoren der britischen Ostindien-Kompanie in Erfahrung bringen sollte, »welche Unterstützung von ihnen zu erwarten sei«.

Die Beteiligung der Kompanie war unbedingt erforderlich. Sie war vor mehr als 150 Jahren als ein Kartell von Kaufleuten gegründet worden, um Ressourcen zu bündeln und damit die Beförderung von Handelsgütern zu ihrem Vorteil kontrollieren zu können. Seither hatte sie stetig expandiert, bildete mittlerweile ein erdumspannendes Netzwerk von kolonialen Außenposten und konkurrierte mit den Ostindien-Kompanien anderer europäischer Staaten wie etwa Holland und Frankreich. Im Hinblick auf die begrenzten Mittel und den engen Zeitrahmen des Transit-Projekts erschien es sinnvoll, sich das vorhandene Handelsnetz des Empires zunutze zu machen. Falls die Ostindien-Kompanie bereit war, zu kooperieren, konnten die Astronomen, so hoffte man in der Royal Society, auf deren Schiffen reisen, in den Niederlassungen der Kompanie Unterkunft finden und deren Infrastruktur in diesen entlegenen Gebieten nutzen. Ref 22

Am 3. Juli, vier Wochen nach Empfang von Delisles Brief, kam der Rat der Royal Society wieder zusammen, um sich über die Ergebnisse der Erkundigungen zu informieren: Der Ex-Gouverneur von Benkulen hatte die nötigen Klimadaten geliefert, und das Treffen mit den Direktoren der Ostindien-Kompanie sei sehr erfolgreich gewesen, berichtete ein Fellow. Die Direktoren wollten »alles in ihrer Macht Stehende« veranlassen, um das Projekt zu unterstützen. Es werde kein Problem geben, rechtzeitig nach Sankt Helena zu kommen. Obwohl es eine der entlegensten Inseln der Welt war, ein verlassenes Fleckchen Erde mitten im Südatlantik, war es doch eine wichtige Zwischenstation, wo die Schiffe auf der Handelsroute der Ostindien-Kompanie ihre Lebensmittelvorräte auffüllen konnten. Die Reise würde rund drei Monate dauern  – und in diesem Zeitrahmen waren Handelsfahrten geplant. Ein Beobachterteam könnte auf einem Ostindienfahrer 8 mitreisen, so die Direktoren weiter, und sie würden auch die Unterkunft auf Sankt Helena zur Verfügung stellen (allerdings musste die Royal Society für dieses Privileg bezahlen).

Erheblich schwieriger würde die Fahrt nach Ostindien sein. Es gab kein Schiff der Kompanie, das Benkulen vor dem 6. Juni 1761 erreichen konnte. Stattdessen empfahlen die Direktoren, die Royal Society solle sich mit den Holländern in Verbindung setzen und sich um eine Überfahrt auf einem von deren Schiffen zum holländischen Handelshafen Jakarta bemühen  – eine Route, auf der man »(höchstwahrscheinlich) rechtzeitig eintreffen werde«. Derweilen hatten die Direktoren an ihre Mitarbeiter in Indien auch Briefe geschickt mit Anweisungen für die Beobachtung des Transits. Nach diesem Bericht erklärte ein anderer Fellow, dass die Instrumente für die Expeditionen nicht  – wie eigentlich gehofft  – gemietet werden konnten, sondern gekauft werden mussten. Ref 23

Nachdem die Fellows die zu erwartenden Kosten aufgelistet hatten, errechneten sie, dass sie 685 Pfund für die Reise eines Astronomen mit einem Assistenten nach Sankt Helena veranschlagen müssten und ungefähr das Doppelte für zwei Beobachter, die nach Ostindien gingen. Die Kosten der Expedition nach Sankt Helena waren fast siebenmal so hoch wie das Jahresgehalt des Astronomer Royal (Königlichen Astronomen) und viel zu hoch, um aus dem kleinen Haushalt der Royal Society bestritten werden zu können  – daher beschloss man, in einem Schreiben an das Schatzamt um die nötigen Geldmittel zu bitten. Obwohl den Astronomen überall in Europa klar war, dass die Datensammlung nur in einer großen kollektiven Anstrengung gelingen konnte, wussten sie andererseits auch, dass ihre Regierungen und Monarchen eher bereit sein würden, diese Expeditionen zu finanzieren, wenn man sie vom nationalen Nutzen des Unternehmens überzeugen konnte. In ihrer Bittschrift appellierte die Royal Society an den Patriotismus von Schatzamt und König und unterstrich, dass die nationale Ehre bei diesem Projekt auf dem Spiel stand.

England, so behaupteten die Fellows der Royal Society, habe die Pflicht zur Teilnahme. Nicht nur, dass die ursprüngliche Idee zu diesem Vorhaben von einem Engländer stamme  – »Dr. Halley, Seiner Majestät verstorbenem Astronomer Royal«  –, auch der einzige Mensch, der bisher einen Venus-Transit beobachtet habe, sei ein englischer Astronom gewesen  – nämlich Jeremiah Horrocks im Jahr 1639 9. Mehr noch, die Franzosen und andere europäische Nationen seien im Begriff, so die Fellows, alle Vorteile für sich einzuheimsen, »da sie jetzt die richtigen Leute an die richtigen Orte schicken«. Je mehr Beobachtungen, desto größer der Nutzen für die Wissenschaft und infolgedessen auch für die beteiligten Nationen. Da nun die ganze Welt nach England blicke, wolle das Schatzamt diese »allgemeine Erwartung« doch sicherlich nicht enttäuschen. Sie seien zum Fortschritt der Astronomie und zum höheren Ruhm der Nation auf Zuschüsse angewiesen, um ihre eigenen Beobachter auszusenden. Die Strategie funktionierte: Am 14. Juli, keine zwei Wochen nach Entsendung ihrer Bittschrift, erhielt die Royal Society die Nachricht, dass König Georg II. »gnädig geruht« habe, die Gelder zu bewilligen. Ref 24

Noch am selben Tag wurde der 27-jährige Astronom Nevil Maskelyne kurzerhand zum leitenden Beobachter der Expedition nach Sankt Helena ernannt. Der unverheiratete Maskelyne war Hilfspfarrer in Chipping Barnet, einer Kleinstadt nordwestlich von London, doch seine Liebe zur Astronomie stellte seine religiöse Berufung in den Schatten. Seine Leidenschaft für den Himmel hatte ihren Ursprung in einer Sonnenfinsternis, die er als Kind beobachtet hatte. 10 Astronomische Theorien waren für ihn »erhaben«, nicht etwa die Bibel. Maskelyne war seit einigen Jahren Fellow der Royal Society und hatte sich freiwillig für die Überfahrt nach Sankt Helena gemeldet. Da ein Teil der Reise von der Ostindien-Kompanie finanziert wurde, war es möglicherweise hilfreich, dass Robert Clive der Schwager von Maskelyne war  – denn Clives jüngste militärische Erfolge in Bengalen hatten den Aufstieg der Kompanie und schließlich ihre Herrschaft in Indien konsolidiert. Für den jungen Hobbyastronomen war die Reise seine große Chance, in der Welt der Berufsastronomie Fuß zu fassen.

Nur fünf Wochen, nachdem Delisles Brief die Fellows der Royal Society erreicht hatte, waren die Briten bereit, ihre Ansprüche anzumelden. Ref 25

Kapitel zwei

Die Franzosen sind die Ersten

Als sich der Nebel am Kap der Guten Hoffnung hob, entdeckte Le Gentil vier Schiffe am Horizont. Noch etwa fünf Meilen entfernt, aber sich rasch nähernd, erschienen die bedrohlichen britischen Kriegsschiffe riesig im Vergleich zu der kleinen Fregatte, auf der der französische Astronom reiste. Ein Blick durch sein Teleskop zeigte ihm, dass zwei der Schiffe über je 64 Kanonen verfügten  – der französische Segler hatte nur 24. Die Briten verfolgten das Schiff seit ein paar Tagen, aber das Wetter hatte ihm immer ermöglicht, ihnen zu entkommen  – bis jetzt.

Als ob Seereisen seinerzeit nicht auch so schon gefährlich genug gewesen wären, wurden sie durch die unberechenbare politische Situation noch riskanter. Mitten im Siebenjährigen Krieg schickte Delisle die Astronomen in Kampfgebiete. Da ihre Reise zwischen kriegführenden Armeen hindurch verlief, war höchst ungewiss, ob sie ihre Bestimmungsorte erreichen würden. Großbritannien und Frankreich waren Kriegsgegner, daher hätte das Auftauchen der feindlichen Flotte durchaus das frühzeitige Ende von Le Gentils Reise bedeuten können. Zwar hatten sich Wissenschaftler beider Länder bereit erklärt zusammenzuarbeiten, doch war ihr Projekt im größeren politischen und wirtschaftlichen Rahmen ohne Bedeutung. Mochten die Royal Society in London und die Académie des Sciences in Paris auch dasselbe Ziel verfolgen, wenn ein britisches Schiff einem französischen begegnete, war eine Seeschlacht unvermeidlich. Der Krieg hatte die Seefahrt zu einem so riskanten Unterfangen gemacht, dass die britische Ostindien-Kompanie der Royal Society sogar geraten hatte, an jeden Ort zwei Beobachter zu schicken, sie aber »auf verschiedenen Schiffen« reisen zu lassen, falls eines angegriffen würde.

Es war nicht das erste Mal, dass der 34-jährige Le Gentil auf seiner Reise dem Feind begegnete. Seit er Brest zwei Monate vorher, Ende März 1760, verlassen hatte, sahen sie sich gezwungen, im Zickzackkurs den Ozean zu kreuzen, um den Briten zu entgehen. Dieses Mal war ein Entkommen allerdings unwahrscheinlich. Le Gentil sah die Briten rasch näher kommen  – trotz des starken Windes fuhren sie unter vollen Segeln. In der Absicht, die französische Fregatte in die Zange zu nehmen, scherte ein britisches Schiff nach Steuerbord aus und das andere nach Backbord, schrieb Le Gentil  – »um uns zwischen zwei Feuer zu nehmen«.

Angesichts dieser Gefahr bewies Le Gentil große Entschlossenheit. Schließlich hatte er eine wichtige astronomische Aufgabe zu erledigen, und nichts  – weder Kriege noch Wellen  – konnten ihn aufhalten. Egal, wie stürmisch die Meere und wie nah die feindlichen Kanonen waren, Le Gentil war bereit, sein Leben für Wissenschaft und Erkenntnis zu riskieren. In dieser Nacht, als sie über die raue See gejagt wurden, bereitete sich ein unerschütterlicher Le Gentil auf eine Mondfinsternis vor  – eines der seltenen Ereignisse, mit denen er die genaue Position des Schiffs bestimmen konnte. Als sich die Erde langsam zwischen Sonne und Mond schob, sodass ihr Schatten den Mond verbarg, richtete Le Gentil sein Teleskop auf den verschwindenden Trabanten  – fort von den britischen Kriegsschiffen. Ref 26

Glücklicherweise war das Wetter auf ihrer Seite: Ein dicker Vorhang aus Nebel und Regen verhüllte Le Gentils Fregatte vor den Blicken der Briten, sodass sie in die Weite des Ozeans entkommen konnte. »Der Nebel schien für uns gemacht zu sein«, schrieb Le Gentil später; mit Hilfe seiner astronomischen Beobachtungen und der Mondfinsternis war er sogar in der Lage, dem Kapitän bei der Umsegelung des gefährlichen Kap der Guten Hoffnung zu helfen.

Die Stürme setzten ihrem Schiff jedoch so zu, dass die Segel zu nutzlosen Streifen zerfetzt wurden. Immerhin hatte sich Gentils Seekrankheit gebessert, die ihn so gequält hatte, dass er den Tod als »Erleichterung« herbeigesehnt hatte. Er fühlte sich gut genug, um zu erklären, ihm sei nun »wohler als normalerweise an Land«, daher messe und beobachte er die Sterne, »ohne zu ermüden«. Sechs Wochen kreuzten sie langsam über den Indischen Ozean, bis sie Mauritius (damals Île de France) erreichten.

Mauritius war eine Zwischenstation auf der französischen Handelsroute nach Indien und wurde daher von der Compagnie des Indes verwaltet; außerdem war es ein wichtiger französischer Marinestützpunkt mit einer florierenden Werftindustrie. Von dort aus führten die Franzosen Angriffe gegen britische Besitzungen in Indien, und  – so hatte man Le Gentil berichtet  – dort würde er auch eine Schiffspassage nach Pondichéry finden. Am 11. Juli ging Le Gentil in Mauritius von Bord  – drei Tage bevor der Royal Society die erforderlichen Mittel von König Georg II. bewilligt wurden. Ref 27

Seine Reise sei, so berichtete Le Gentil jetzt ziemlich unbekümmert in einem Brief an die Akademie, »denkbar angenehm und glücklich gewesen«. Doch selbst Le Gentil, mit seiner Begabung, sich auch noch die schrecklichste Begebenheit schönzureden, verzweifelte, als zwei Tage später ein Schiff aus Indien eintraf und die niederschmetternde Nachricht brachte, dass die französischen Besitzungen in Indien unter den britischen Angriffen zerbrachen. Bereits drei Jahre zuvor hatte Robert Clive mit seinem entscheidenden Sieg in der Schlacht von Plassey Bengalen unter britischen Einfluss gebracht. Jetzt war Karaikal, ein französischer Hafen, nur 150 Kilometer südlich von Pondichéry gelegen, von den Engländern eingenommen worden, während Pondichéry selbst  – der Hauptsitz der Compagnie des Indes in Indien  – belagert wurde. Rund 3000 Briten seien, so berichtete der französische Kapitän dem geschockten Le Gentil, »für die Belagerung« nach Pondichéry gesandt worden. Als er die indische Küste 25 Tage zuvor verlassen habe, sei der Feind damit beschäftigt gewesen, »seine Artillerie vor Pondichéry in Stellung zu bringen«. Was die Sache noch schlimmer machte: Einen Großteil der französischen Flotte, die im Marinestützpunkt auf Mauritius stationiert und zur Unterstützung von Pondichéry abgeordnet war, hatte einige Monate zuvor ein Hurrikan vernichtet  – einige Schiffe waren gesunken, andere an den Korallenbänken zerschmettert worden. »Ich weiß nicht, wann ich aufbrechen kann«, schrieb Le Gentil verzweifelt nach Paris. Für den Augenblick saß er jedenfalls auf Mauritius fest. Es sah so aus, als sei die erste französische Expedition bereits gescheitert. Ref 28

Doch so leicht gab Le Gentil nicht auf. Er beschloss, einen anderen Ort für die Transit-Beobachtung zu finden. Beharrlich sann er auf einen Plan, fürchtete aber, dass er seine Zeit mit »Luftschlössern« verschwendete. Als er Delisles ursprüngliche Liste möglicher Beobachtungsorte durchsah, fiel seine Wahl zunächst auf Jakarta als mögliche Alternative zu Pondichéry, doch schließlich gab er den Gedanken auf. Während er wartete, hatte nicht ein einziges Schiff die Insel angelaufen, geschweige denn Kurs auf Ostindien genommen. Seiner Ansicht nach bestand die einzige Möglichkeit darin, mit einem kleinen einheimischen Boot nach Rodriguez zu segeln, einer nahe gelegenen Insel, die vor allem wegen ihrer Schildkröten bekannt war. Keine Ideallösung, denn nach Le Gentils Berechnungen würde die Sonne auf Rodriguez während des Transits sehr niedrig stehen. Das würde die Beobachtungen erschweren, weil der Horizont »immer dunstig und mit dicken Wolken bepackt ist«. Das Klima von Rodriguez verhieß ebenfalls nichts Gutes, weil der Himmel, wie man ihm sagte, während des Monsuns oft bewölkt war. Aber er habe keine Wahl, erklärte er, weil »ich hier ohne jede Hoffnung bin«.

Auch abgesehen von den Sorgen um die Transit-Beobachtung, war Gentils tägliches Leben während der nächsten Monate auf Mauritius unerfreulich. Da Pondichéry von den Briten belagert wurde, konnten keine Lieferungen aus Indien eintreffen, und die korrupten Beamten der Compagnie des Indes in Mauritius verkauften die noch in ihren Lagern verbliebenen Güter zu absurd überhöhten Preisen. »Das Leben ist entsetzlich teuer«, schrieb Le Gentil nach Paris, wobei er sich besonders über die Weinpreise beklagte. Zusätzlich wurde er durch eine hartnäckige Ruhrerkrankung geschwächt und litt unter der feuchten Luft, die wie ein dickes Tuch über der Insel lag. Er war sich sicher, dass seine Krankheit auf die Enttäuschung zurückging. »Ärger und Sorge« wegen der Transit-Beobachtungen hatten ihn krank gemacht. Ref 29

Als Le Gentil den Plan fasste, nach Rodriguez zu segeln, hatten die Mitglieder der Académie in Paris ironischerweise gerade beschlossen, auch Alexandre-Gui Pingré nach Rodriguez zu entsenden. Mit seinem scheinbar nie versagenden Talent, Probleme anzuziehen, war es Le Gentil gelungen, sich aus den unendlichen Weiten des Ozeans ausgerechnet jenes winzige Fleckchen Land herauszusuchen, das die Akademiemitglieder für einen anderen französischen Beobachter bestimmt hatten. Durch reinen Zufall waren zwei Beobachter, die eigentlich so weit wie möglich voneinander getrennt sein sollten, im Begriff, sich aufeinander zu zubewegen.

Die Mitglieder der Akademie hatten den Sommer und Herbst 1760 gebraucht, um zu entscheiden, wohin sie Pingré schicken wollten. Während dieser Wochen hatten zwei französische Astronomen  – mit Hilfe von Pingré selbst  – einen Bericht für den Außenminister und für König Ludwig XV. aufgesetzt, in dem sie die Bedeutung der Expeditionen darlegten. Le Gentils früher Aufbruch sei ein Beweis für den »Eifer« der Akademie, hieß es dort, aber die Franzosen könnten noch mehr tun. Der Transit sei ein »kostbarer Augenblick«, machte ein anderer Astronom in einem weiteren Bericht geltend, und wenn man ihn nicht nutzte, würde man nie in der Lage sein, die verschenkte Gelegenheit wieder wettzumachen. Das vergangene Jahrhundert habe sie um diesen Augenblick »beneidet«, und die »Zukunft« würde jene tadeln, die ihn missachtet hätten.

Zunächst hatte die Akademie gehofft, Pingré zu einem der portugiesischen oder holländischen Häfen entlang der afrikanischen Südwestküste schicken zu können  – beispielswiese nach Luanda in Portugiesisch-Angola oder zu einem Hafen in Holländisch-Guinea. Mehrere Orte wurden in Erwägung gezogen und von allen Seiten beleuchtet, etwa im Hinblick auf Pingrés Reisemöglichkeiten, auf Wettervorhersagen und vorhandene Infrastruktur. Überall, so der Bericht, sei das Klima »gefährlich für Ausländer«. Man müsse unbedingt zwei Forscher entsenden, weil Pingré, falls er sterbe, »ersetzt werden muss«. Tapfer erklärte Pingré, er sei »von diesen Gefahren nicht beunruhigt«, die Académie solle daher die »Risiken« für sein persönliches Wohlergehen nicht berücksichtigen. Ref 30

Der 48-jährige, gichtkranke Pingré war auf den ersten Blick ein denkbar ungeeigneter Kandidat für eine so gefährliche Expedition. Sein beleibter Körper und sein pausbäckiges Gesicht ließen auf ein heiteres Naturell und ein sinnliches Vergnügen an den guten Dingen des Lebens schließen. Er war ein Universalgelehrter und ordinierter Priester, der Theologie studiert und gelehrt hatte, aber auch über Sprachwissenschaft, Musik, Poesie und, natürlich, Astronomie schrieb. Allerdings verbarg sich hinter seinen freundlichen und lebhaften Augen ein sehr eigenwilliger Charakter. In der Vergangenheit hatte er seine Kirche so sehr mit seinen unorthodoxen Auffassungen erzürnt, dass sie ihn in eine armselige Volksschule in der Provinz versetzte. Von dem Leben dort gelangweilt, hatte sich Pingré mit 38 Jahren der Astronomie zugewandt und die Académie in Paris mit wissenschaftlichen Briefen und Aufsätzen bombardiert. Mit seinen Ausführungen über Kometen, Verfinsterungen, Navigation und über den Venus-Transit hatte er sich langsam einen Ruf erworben. Schließlich hatte ihn das Kritikerlob für seine astronomische Forschung sogar innerhalb der Kirche rehabilitiert, sodass ihm gestattet wurde, an die Pariser Abtei Sainte-Geneviève, eine berühmte Bildungsstätte, zurückzukehren. Wie Le Gentil und Delisle hatte Pingré den Durchgang des Merkur im Jahr 1753 beobachtet und mehrfach seine Dienste für die Venus-Expeditionen angeboten. Angesichts seiner Fachkenntnisse waren sich die Adademiemitglieder sicher, dass Pingrés Arbeit ihre Erwartungen »zweifellos übertreffen« würde. So beschloss man, nach Holland und Portugal zu schreiben, um herauszufinden, welche Häfen von Handelsschiffen angelaufen wurden und deshalb für Pingré am leichtesten zu erreichen waren. Ref 31

Wie zu erwarten, waren die Portugiesen und Holländer, die von vornherein wenig Interesse am Transit gezeigt hatten, nicht besonders erpicht darauf, den Franzosen Gelegenheit zur Vermessung ihrer Kolonialbesitzungen zu geben. In ihren Antworten sprachen sie höflich von »vielen Hindernissen«. Rasch wartete die Académie mit einer neuen Strategie auf: Pingré sollte den Transit von einem Teil des französischen Kolonialreichs aus beobachten, wo er sich der Unterstützung durch die lokale Verwaltung sicher sein konnte. Nach einigen Diskussionen entschied sich die Akademie für Rodriguez, das zum Handelsnetz der französischen Ostindien-Kompanie gehörte. Angeblich war dort der Junihimmel klar (ganz im Gegensatz zu den Informationen, die Le Gentil erhalten hatte), außerdem lag die Insel an der Handelsroute zwischen Frankreich und Indien und befand sich in französischer Hand.