Die Verschwundene - Lotte Ingrisch - E-Book

Die Verschwundene E-Book

Lotte Ingrisch

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Beschreibung

Zwei Geister auf Mörderjagd. Kann man sich selbst verlieren wie einen Regenschirm? Und wie findet man sich wieder? Vor diesem Problem steht die bei allen Physikprüfungen durchgefallene Studentin Schan-schan, als sie eines Morgens ohne ihren Körper aufwacht. Verwirrt macht sie sich auf die Suche nach sich selbst. Ein geheimnisvoller Schmetterling bringt sie auf die richtige Spur. Dabei lernt sie Peter kennen, sehr sexy, aber ebenfalls tot. Wie es scheint, wurden beide ermordet. Von ein und derselben Person? Doch wer ist es und was haben zwei prominente Physikprofessoren damit zu tun? Zwischen Wiener Hofburg und Wurstelprater fahndet das Pärchen nach seinem Mörder. Dabei begegnen sie den Rätseln der Quantenphysik – und verbünden sich mit Lotte Ingrisch.

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Seitenzahl: 109

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: nach einer Fotografie von mauritius images

eBook-Produktion: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Hemstetten

ISBN 978-3-7844-8260-6

A little something für den Photonenbär

GOTTFRIED VON EINEM

Und ein Dankeschön meinen physikalischen Freunden

Helmut Rauch Lore Sexl Walter Thirring

Inhalt

Der heulende Hund

Ich suche mich selbst

Der Abend

Die Séance

Selbstbegegnung

Das Mondscheinteilchen

Totenwache

Eine geheime Liebschaft

Lavendel

Ich mache eine Bekanntschaft

Der Lippenstift

Mörderische Geheimnisse

Die Revolution der Toten

Auf dem Friedhof

Totentanz

Der Besuch

Gute Nachbarschaft

Noch einmal mit Gefühl

Das Riesenrad

Wie rächt man sich für seinen Tod?

Himmlische Engel

Geisterfasching

Pathologische Engel

Ich kann Materie hypnotisieren

Chinesische Geister

Die Füchsin

Leseprobe: Lotte Ingrisch, Als ich merkte, dass ich gestorben bin

Der heulende Hund

Irgendwo heult ein Hund. Jetzt hat er mich aufgeweckt. Mitten in der Nacht, es ist ja stockfinster. Nein, nicht mehr. So schnell ist es noch nie hell geworden. Als wäre die Sonne nicht aufgegangen, sondern aufgesprungen. Schläfrig schaue ich auf die Uhr. Aber da ist keine. Auch kein Handgelenk.

Das Heulen hört nicht auf. Ist da ein Wolf irgendwo? Die Wölfe hat, sagt man, der Teufel erschaffen, und Hexen reiten auf ihnen. Hat mich eine verhext? Ich stehe auf – und fühle keinen Boden unter den Füßen.

Ich schaue in den Spiegel. Der Spiegel ist leer. Jetzt kommt die Angst. Wie lauter Schlangen kriecht sie an mir hoch. Wo bin ich? Man kann sich selbst doch nicht verlieren wie einen Regenschirm.

Klar, ich schlafe noch. Ich träume. Und es ist ein sehr langer Traum. Ich bin wieder ein Kind. Und schreie. Dann geht es sehr schnell. Die Puppe. Der Teddybär. Schneewittchen, und die böse Königin schaut ein bisschen aus wie Mama. Der Augarten. Kübel und Schaufel, ich grabe ein Loch in die Erde. Weil ich auf der anderen Seite herauskommen will!

Ein Mädchen mit zwei roten Zöpfen auf dem Schulweg. Niemand redet in der Pause mit mir. »Was möchtest du«, fragt die Lehrerin, »machen, wenn du einmal groß bist?«

»Ich stifte eine neue Religion.«

Hab ich das wirklich gesagt? Und schon sehe ich mich in der Kirche und strecke den Heiligen die Zunge heraus. Aber Jesus küsse ich die Füße. Sie sind kalt. Die Statue am Altar ist eiskalt.

Der erste Ball, und keiner fordert mich auf. Ich tanze allein. Mamas Begräbnis. Sie war elegant. Sogar noch im offenen Sarg, über den Papa sich beugt und … Jetzt steht er im Sternenmantel auf der Bühne und zaubert Vögel aus seinem Zylinder. Sie fliegen und fliegen. Oder fliege ich selbst? Hinein in die Sterne auf seinem Mantel.

Papa ist mein Held. Meine große Liebe. Er ist ein schöner Mann, und alles an ihm ist schwarz. Die Haare, der gewaltige Schnurrbart, die Stimme. Und die Augen. Lächelnde Augen, auch wenn er traurig ist. Er ist oft traurig, und ich weiß nie, warum.

Papa ist Zauberer. Vorher ist er Pfarrer gewesen. Aber dann hat er Mama mit einem Bankdirektor getraut und sich dabei in sie verliebt. Als der Bankdirektor die beiden im Bett fand, traf ihn der Schlag. Er war schon älter und starb bald darauf. Papa musste die Totenmesse lesen. Auch eine Grabrede halten. Es soll eine sehr schöne Grabrede gewesen sein, die Leute sprachen noch lange darüber.

Danach zog er sein Priestergewand aus und heiratete Mama. Sie war jetzt reich, aber er wollte nichts von ihrem Geld. Sondern arbeitete als Zauberer und spendete, als sie starb, das Geld zur Erforschung der Wölfe.

»Warum Wölfe?«, hab ich gefragt.

»Eines Tages wirst du es verstehen.«

Bald darauf ging er in den Wald. Den Böhmerwald, den er so liebte. Und kam nicht mehr heraus. So viel man auch nach ihm suchte, gefunden hat man ihn nie. Jetzt küsst er mich und schenkt mir seinen Zauberstab. Aber wieso, Papa ist doch tot?

Nur seinetwegen hab ich alle Religionen studiert. Und wegen Dudelinchen, meiner kleinen Katze, an der Uni Physik. Dudelinchen wurde nämlich vergiftet. Nachdem ich eine Woche lang nur geweint habe, hat Papa mir die Geschichte von Schrödingers Katze erzählt. Die war nämlich gleichzeitig lebendig und tot. »Das ist«, hat er gesagt, »Quantenphysik.«

Zehn Jahre später saß ich in meiner ersten Vorlesung. Ich hab schon immer geahnt, dass A auch B ist und von jeder Wahrheit auch das Gegenteil stimmt. Noch immer sehe ich Dudelinchen manchmal wie einen roten Schatten vorüberhuschen. Ich schwärme für die Quantenphysik.

Daneben hab ich im Prater als Zauberkünstlerin gearbeitet. Ich dachte, wenn ich so werde wie Papa, ist er wieder da. Ein bisschen. Aber mit dem Schnurrbart hat es nicht geklappt, und mit dem Zaubern auch nicht. Das Kaninchen, das ich aus seinem Zylinder holte, lief davon, und die Münzen fielen, statt zu verschwinden, einfach auf den Boden.

Dafür erklärte ich dem Publikum, dass es weder Kaninchen noch Münzen gibt. Sondern nur Wellen, sagt Herr Schrödinger, und seine Katze … Leider interessierte sich mein Publikum nicht für Physik, und bald zauberte ich so gut wie allein. Als ich die Miete schuldig blieb, es war sowieso nur ein Kabinett, trug ich Zylinder und Zauberstab schweren Herzens ins Dorotheum und wurde Luftballonfrau.

Am liebsten wäre ich selbst ein Luftballon gewesen und, von der Schwerkraft erlöst, in den Himmel geflogen. Leider interessierten die spärlichen Käufer sich überhaupt nicht für Newton und die Gravitation, und bald konnte ich schon wieder die Miete nicht zahlen.

Wie im Film rasen jetzt Professoren und Hörsäle an mir vorbei. Mechanik, Wärmelehre, Optik, Elektrizität, Atomphysik … Als mein Lieblingsprofessor mich zum neunten Mal durchfallen ließ, brach ich in Tränen aus. Er reichte mir sein Taschentuch. »Was«, fragte er mitleidig, »wollen Sie jetzt machen?« Statt einer Antwort heulte ich nur. »Meine Putz … Meine Hausdame hat gerade geheiratet«, sagte er nach einer Weile.

»Eine Gefahr«, schluchzte ich, »die bei mir nicht besteht.« Er lächelte. »Wenn Sie also wollen?«

»Und Sie würden manchmal über Schrödingers Katze mit mir reden?« Jetzt lachte er. Ich ließ die Luftballons fliegen und trat noch am selben Abend meinen Job an.

Filmriss. Gut, ich bin ohnehin schon spät dran. Also stehe ich auf, stehe noch einmal auf …

Und schwebe schon wieder. Wo ist meine Schwerkraft geblieben? Hat sich Newton geirrt? Oder hab ich am Ende gar nicht geträumt? Angeblich zieht das Leben, wenn man stirbt, noch einmal vorbei wie ein Film. Und der Film ist jetzt aus? Gerade, wo etwas Neues anfängt. Ich bin doch erst gestern beim Professor eingezogen!

In seine Wohnung in der Hofburg, in der ich jetzt ein Zimmer habe. Klein, aber ordentlich. Bett, Schrank, Tisch, Sessel. Komisch, mein Koffer ist nicht da. Und nichts hängt im Schrank. Keine Jeans, kein Pullover. Sogar meine Schuhe … Bin ich im Nachthemd gekommen?

Oder … Nein, das will ich nicht einmal denken! Alte Leute sterben manchmal, ohne dass sie es merken. Aber ich bin nicht einmal dreißig. Unwahrscheinlich, dass mir der eigene Tod nicht auffiel. Und überhaupt, irgendwo müsste doch meine Leiche herumliegen?

Und ich sollte spuken. Wie die komische Alte, die hier leben soll. Den Leuten in der Hofburg, hat mein Professor gesagt, ist sie unheimlich. Nachts sieht man sie kichernd durch die Gänge schleichen. Eine arme Verrückte. Schreibt komische Bücher und beschwört Geister.

Natürlich gibt es weder Geister noch sonst einen Spuk. Die Leute fürchten sich vor ihrer eigenen Phantasie.

Ich schlafe noch immer. Man träumt manchmal, dass man aufgewacht ist. Das Gehirn spielt uns komische Streiche. Fragt sich nur, ob es mich gibt? Oder nicht. Sicherheitshalber suche ich das ganze Zimmer nach mir ab. Sogar unterm Bett schaue ich nach. Soll ich eine Vermisstenanzeige nach mir aufgeben? Aber auf der Polizei würde mich auch keiner bemerken.

Irgendwer müsste mich doch vermissen! Und erschrocken stelle ich fest, nein, niemand. Bis vielleicht auf den Professor. Er hätte längst nach mir klingeln müssen. Oder nach seinem Frühstück. Warum tat er es nicht? Ich schleiche in sein Zimmer. Klopfe artig an der Tür.

Sie ist aus Luft. Sehr bedenklich. Da stimmt irgendwas nicht. Ich stimme nicht.

Der Professor liegt im Bett und schläft. Wir haben gestern Abend getrunken. War es so viel?

Ich inspiziere rasch seinen Schreibtisch. Er ist zwar groß, aber hineingepasst hätte ich kaum. Bei der Gelegenheit finde ich bündelweise Liebesbriefe und Nacktfotos von einer Blondine.

Ich muss unbedingt meinen Körper finden! Und zwar schnell. Hat ihn jemand versteckt? Ich werde noch gründlicher suchen, irgendwo muss ich ja sein. Und vielleicht, wenn ich mich gefunden habe … Soviel ich weiß, kann man Körper reanimieren. Wenn sie erst ein bisschen und noch nicht ganz tot sind. Hoffentlich bin ich erst ein bisschen tot!

Ich suche mich selbst

Und zwar zuerst in den Mülleimern vor dem Haus. Ich habe meine Katze Dudelinchen in einem Mülleimer gefunden. Sie war schon ganz räudig. Ob ich jetzt auch räudig bin? Hoffentlich in keinem Mülleimer! Wenn schon tot, dann wenigstens sauber. Edel. Romantisch.

Ob es vielleicht ein crime passionnel war? Jemand hat mich leidenschaftlich geliebt, und ich hab ihn betrogen, verlassen oder sonstwie beleidigt. Daraufhin griff er zum Messer. Oder zur Pistole. Hoffentlich zur Pistole, weil das Messer tut bestimmt weh. Aber in beiden Fällen hätte ich doch Blut in meinem Bett sehen müssen? Oder er hat mich ganz woanders erstochen, und ich bin noch schnell nach Hause gelaufen. Im Nachthemd?

Allerdings hat mich bisher noch keiner leidenschaftlich geliebt. Nicht einmal ohne Leidenschaft. Oder möglicherweise doch? Und ich hab es vergessen. Man vergisst so viel im Leben. Wie viel erst im Tod? Ich möchte, dass es mir wieder einfällt. Ich möchte unbedingt, dass mein leidenschaftlicher Mörder mir wieder einfällt. Schon aus Dankbarkeit würde ich ihn lieben. Wo er sich extra die Mühe gemacht hat, mich zu ermorden …

Das Letzte, woran ich mich erinnere – ich läute an der Tür. Der Professor öffnet. »Ah, schon?«, sagt er. »Ich hab geglaubt, morgen.« Ich drehe mich wieder um. Und weiter, wie ging es weiter? Wohin bin ich gegangen?

Die Hotels kann ich auslassen. Die Kaffeehäuser auch. Pleite, wie ich bin. Und gegessen hab ich schon den ganzen Tag nichts. Wohin geht man, wenn der Magen genauso leer wie die Geldbörse ist? In die Kirche! Zwar glaube ich nicht wirklich an Gott. Ich glaube an die Quantenphysik. An den Urknall. Ist vielleicht dasselbe. Gott könnte der Urknall sein und erschafft noch immer die Welt. In sieben Tagen wäre sich das sowieso nie ausgegangen.

Betet man zum Urknall? Probieren kann ich es ja. Ich gehe in die Michaelerkirche, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass der Urknall dort wohnt. Sie ist leer, also bin ich ganz allein mit … Ja, wie soll ich ihn nennen? Himmelvater? Im Himmel ist er ja wirklich. Oder vielmehr, er macht ihn. Er macht so lang den Himmel, bis ihm die Energie ausgeht. Ist er darum auch mein Vater?

Das bezweifle ich. Außerdem habe ich schon einen Papa. Und wie ist das mit der Sünde? Kann man sich gegen den Urknall versündigen? Bestraft einen der Urknall, und wie? Belohnt er auch, wenn man fromm ist? Und wie erscheint er, wenn er erscheint?

Ganz wunderlich wird mir auf einmal. Als ginge ein Licht in mir auf und erfüllte die ganze Kirche. Ein Licht, das zugleich Klang ist. Glockenklang! Der Big Bang. Ich falle auf die Knie, obwohl ich gar keine mehr habe.

Gott, Du bist unendlich groß.

Gott, Du bist unendlich klein.

Geheimnisvoller Gott.

Als Urknall schufst Du aus dem Nichts

Materie, Raum und Zeit.

Als Evolution regst aus dem Tod Du an

die Vielfalt Leben.

Du bist das Fünklein tief in uns

Und hoch um uns der Kosmos.

Unsichtbarer Gott.

War das ich? Nein, ausgeschlossen. Ich bete nie. Bin außerdem wahrscheinlich tot. Und durchgefallen. Sogar beim Urknall. Und dann läute ich wie der Big Bang?

Es werde Licht, sprachst Du,

Und aus der Finsternis erwachten

Himmel und Erde.

Pflanzen wuchsen aus ihr, Blumen und Bäume.

Als der Tiere letztes aus Dir trat, der Mensch,

Sprachst Du: Hüte! Behüte die Erde!

Unbekannter Gott.

Jetzt ist es schon wieder passiert. Als wäre ich eine Glocke, die jemand anderer läutet.

Wir haben sie nicht gehütet.

Nicht behütet die Erde.

Wir haben sie uns untertan gemacht.

Das ist wahr. Das könnte direkt von mir sein. Und von Papa. Er hat immer gesagt, die haben den aramäischen Urtext absichtlich falsch übersetzt. Und nie korrigiert. Ich stehe sofort auf. Was mache ich in einer Kirche? Noch dazu auf den Knien.

Grausam herrschten über unsere Geschwister wir,

die Tiere, die Pflanzen …

Mama schon. Aber Papa und ich haben nur Gemüse gegessen, obwohl Gemüse ja auch …

Eigentlich eine schreckliche Welt. Nicht nur wir. Sogar die Sterne fressen sich gegenseitig auf. Und die Teilchen. Kann man auswandern? Obwohl, ausgewandert bin ich vielleicht schon. Und möchte wieder einwandern, trotzdem!

Da vertrödle ich die Zeit mit Gott, statt mich endlich zu finden. Tot oder lebendig. Und lebendig wäre mir, ehrlich gesagt, lieber.

Wir wünschen uns ein ewiges Leben.

Aber Leben ist nicht ewig.

Leben fließt. Wird und vergeht.

Ewig ist der Tod.