Die versteckte Welt - Ina van Lind - E-Book

Die versteckte Welt E-Book

Ina van Lind

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Beschreibung

"Sollte sie einfach nur mal durch das Schlüsselloch gucken? Ganz kurz nur! Vielleicht konnte sie ja irgendetwas erkennen! Doch Fehlanzeige. Es war rein gar nichts zu sehen. Rike nahm ihre Taschenlampe in die Hand. Dann öffnete sie so leise wie möglich die schwere Eisentüre. Nun stand sie mit dem Rücken zur Tür. Die kleinen Härchen an ihren Armen standen senkrecht. Sie zitterte wie Espenlaub. Der Lichtkegel der Taschenlampe leuchtete den Raum nur sehr dürftig aus. Sie blickte in unzählige, angsterfüllte Augen. ..." Rike steht überwiegend im Schatten ihrer jüngeren Schwester Nele, die mit guten Leistungen brilliert und zudem weiß, wie sie ihre Eltern für sich einnehmen kann. Auch in der Schule muss sie sich immer wieder gegen einige ihrer Mitschüler behaupten. Als Rike auf einem Flohmarkt einen alten Kaugummikasten ersteht, ahnt sie nicht, welches Geheimnis er birgt. Auf der Suche nach Antworten gerät sie immer mehr in den gefährlichen Bann sagenumwobener Geschichten. Natürlich will Rike sich selbst etwas beweisen und fällt eine folgenreiche Entscheidung ... Ein Buch für Leute von 11 - 99 Jahren!

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Ina van Lind

Die versteckte Welt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1: Rike, ein Flohmarktbesuch, ein Buch, eine Kugel und ein Zaunkönig

Kapitel 2: Was ist ein Fjäl-Fräs?

Kapitel 3: Das Margeritenmädchen

Kapitel 4: Ein Neidnagel

Kapitel 5: Das immergrüne Land

Kapitel 6: Die Schneekönigin

Kapitel 7: Die verlorene Kugel

Kapitel 8: Der entscheidende Tipp

Kapitel 9: Im Sumpf

Kapitel 10: Frau Blumenthals Entsorgung

Kapitel 11: Der blitzblanke Putztrupp

Kapitel 12: Nele petzt

Kapitel 13: Das Haus des Zaunkönigs

Kapitel 14: Ein aufschlussreiches Frühstück

Kapitel 15: Ein alter Koffer

Kapitel 16: Kennt Oma Luise Amin Abiden?

Kapitel 17: Gulos Plan

Kapitel 18: Ein rabenschwarzer Vogel im alten Kirschbaum

Kapitel 19: Die Ruinen des Palastes

Kapitel 20: Aufbruch

Kapitel 21: Stenbjorn, der Steinmensch

Kapitel 22: Raban, der Eitle und Mervyn Sem Silas

Kapitel 23: Im Kristallpalast

Kapitel 24: In Bellinas Haus

Kapitel 25: Der Steinkreis

Kapitel 26: Im Krater

Kapitel 27: Milla lauscht

Kapitel 28: Unerwarteter Besuch für Amin Abiden

Kapitel 29: Noch mehr rätselhafte Fragen

Kapitel 30: Eine tückische Kugel

Kapitel 31: Milla hat Glück

Kapitel 32: Der "Stein der Macht" und die Erdbeerfröschlein

Kapitel 33: Piccio

Kapitel 34: Die eiserne Tür

Kapitel 35: Aufbruch nach Aurum

Kapitel 36: Die Spiegelburg

Kapitel 37: Virgils Plan

Kapitel 38: Die Hängebrücke

Kapitel 39: Aus die Maus

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Dienstag, 14. August 1917:Karl lag auf dem Boden. Wie ein Stein, der vom Himmel gefallen war.Völlig erschöpft, die Nase platt am Waldboden, schmeckte er bei jedem Atemzug den modrigen Geruch der Erde. Ihm war eisig kalt, nur seine Hände und Arme brannten wie Feuer. Die Beine dagegen spürte er kaum. Gerade so als würden sie nicht zu ihm gehören. Deswegen versuchte er auch unaufhörlich mit den Zehen kleine Kreise zu zeichnen. Es dauerte nicht lange, dann fühlte er plötzlich ein Kribbeln, als würden Ameisenkolonnen an seinen Beinen aufmarschieren und Kontakt zu allen Nervensträngen suchen. Karl biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und machte ein paar unsichere Schritte. Er wollte weg von diesem Ort. Nach Hause, zu seiner Mutter.

Seine Schulter schmerzte bei jedem Schritt. An den Händen und Unterarmen bemerkte er Schürfwunden. Daher kam also das brennende Gefühl auf seiner Haut. Sein Hemd war schmutzig und am Ärmel entdeckte er zudem einen großen Riss. Die Hose sah nicht viel besser aus. Er versuchte, den Dreck abzureiben. Vergeblich.

Karls Herz schlug schneller. So konnte er unmöglich seiner Mutter unter die Augen treten!

Er sah sie bereits vor sich. Ihr eingefallenes, blasses Gesicht mit den stets müden, traurigen Augen. Karl bildete sich ein, sogar ihr Seufzen zu hören. Dieser winzige Ausdruck einer Klage war für ihn viel schlimmer als jede Strafpredigt oder Ohrfeige. Er wusste, sie würde sofort Nadel und Faden hervorholen und das Hemd und die Hose flicken, denn Geld für neue Kleidung hatten sie nicht. Außer Kartoffeln und trockenem Brot gab es zuhause kaum etwas zu essen. Und das alles nur, weil dieser blöde Krieg war – und sein Vater tot.

Karl sah sich um und rief: „Jakob?“.

Nichts.

„Bist du hier?“

Stille.

„Wo bist du, Jakob?“ Seine Stimme zitterte.

„Jakob?“

Doch so oft er auch nach ihm rief, Jakob blieb verschwunden. Schluchzend sank Karl nieder und bedeckte das Gesicht mit seinen schmutzigen Händen. Seine Schultern bebten.

Unvermittelt sickerte ein kleines Bruchstück einer Erinnerung durch das Dunkel seiner Gedanken. Ihm fiel dieser fremde Junge mit den langen, schwarzen Haaren wieder ein, der ihn so hasserfüllt angesehen hatte, dass ihn selbst jetzt noch eine gewisse Furcht beschlich. Dabei war der Junge höchstens so alt wie er oder Jakob. Bestimmt war er auch noch keine sieben.

Es hatte doch so harmlos begonnen:

Jakob war wieder einmal aus dem Waisenhaus ausgebüxt, um mit ihm zu spielen. Sie hatten ein paar Brombeeren stibitzt und gerecht aufgeteilt. Da hatte Jakob eine Idee.

„Du, ich weiß ein neues Spiel! Das hier …“, Jakob hatte auf die Beeren gedeutet, „… ist ein Zaubermittel. Wenn wir die Beeren essen, landen wir in einer anderen Welt. Dort lebt ein König - mit seinem Volk natürlich. Und außerdem gibt es einen …“

Jakob hatte eine kurze Pause gemacht. Anscheinend musste er erst überdenken, was es Besonderes geben könnte.

„Vielleicht einen Zauberer?“, hatte Karl begeistert Jakobs Überlegungen fortgesetzt. Er schwärmte für Abenteuerspiele und konnte den Beginn kaum erwarten.

„Genau! Dort lebt ein ganz gemeiner Zauberer, der den König vom Thron stürzen will, damit er das Reich regieren kann.“

Damit verblassten Karls Erinnerungen. Als ob er geträumt hätte und plötzlich aufgewacht wäre.

Er schniefte und suchte seine Hosentaschen nach einem Taschentuch ab, doch das Einzige, was er zutage förderte, war ein Stein. Ungläubig starrte er ihn an.

Tiefrot funkelnd und angenehm glatt lag er in seiner Hand. Er kannte sich zwar nicht mit derartigen Schätzen aus, aber ihm fiel sofort ein, dass die Vermieterin ihrer Wohnung gelegentlich einen roten Stein an einer goldenen Kette um den Hals trug und prahlte, wie wertvoll er sei. Hastig schob er ihn in seine Hosentasche zurück.

Zuhause musste er ein sicheres Versteck finden. Wenn seine Mutter den Stein entdeckte, ging sie vielleicht davon aus, dass er der Vermieterin den Anhänger geklaut hatte.

Und das hatte er sicher nicht getan.

Oder womöglich doch?

Kapitel 1: Rike, ein Flohmarktbesuch, ein Buch, eine Kugel und ein Zaunkönig

Samstag, 22. Oktober 2011:Der Regen klopfte im Takt auf das Dachflächenfenster. Rike kauerte in ihrem Bett und lauschte. Klang es nicht so, als würde jemand mit den Fingern ans Glas pochen? Doch als sie schaudernd aus dem Bett stieg, um nachzusehen, zitterte sie noch mehr als vorher und kletterte mit eiskalten Füßen wieder zurück unter die Bettdecke.

Was war das nur für eine seltsame Nacht? Wieso schlug ihr Herz wie wild und warum konnte sie nicht einschlafen? Der Wecker zeigte doch schon fast Mitternacht. Sie tastete nach dem Lichtschalter und las noch einmal in dem Buch, das ihr eine merkwürdige, alte Frau auf dem Trödelmarkt zugesteckt hatte.

Rike hatte sich am Morgen, zusammen mit ihrer Schwester Nele und ihrem Vater, an einem Flohmarktstand altes Blechspielzeug angesehen, als die Händlerin einen uralten Kaugummiautomaten anpries, der ihren Worten nach wahre Wunder bewirken würde.

Der Kasten mit der abgeblätterten roten Farbe hatte zwar alles andere als magisch ausgesehen, doch Rike bettelte, bis ihr Vater endlich die fünf Euro herausrückte, die er kosten sollte. Die Frau schaufelte eine beachtliche Anzahl ihrer „unglaublichen, geheimnisumwobenen, einmaligen  Spezialkaugummikugeln“ hinein, die sie in einem großen Bonbonglas mit der Aufschrift „Zauberkugeln“ aufbewahrte und drückte Rike ein betagtes Buch in die Hand. „Bewahre es gut! Du wirst feststellen, dass es von überaus großem Nutzen ist!“

„Die Farbenwelt - Eine Abenteuerreise zu dir selbst“, so stand in glitzernden, mystischen Schriftzeichen auf dem Buchdeckel.

Zuhause hatte Rike sofort zu lesen begonnen. Im ersten Kapitel ging es um die Farbe Grün, die anscheinend im Zusammenhang mit einem Landstrich namens Averda stand.

In den nächsten Kapiteln ging es um die Farben Weiß, Rot, Blau, Gelb, Orange, Lila, Braun und Schwarz.

Auf den letzten Seiten hatte jemand etwas notiert. Namen von Personen und Edelsteinen und Eigenschaften, die den Steinen oder Farben zugeordnet wurden.

… Grün: Frisch, gesund, aber auch unreif, bitter. Charakteristisch: Der Smaragd ist der Stein der Hoffnung, ebenso gilt er als der Stein der Weisheit, der geistigen Schöpfung und des esoterischen Wissens. Zugehöriges Land: Averda. Zugehörige Personen: Amin Abiden Vernon, Adelina Avalon (Piccio) …

So ging es weiter, Farbe für Farbe. Rike packte das Buch weg. Was für ein Quatsch! Für sie ergab das alles keinen Sinn.

Aber natürlich probierte sie noch am gleichen Abend, neugierig wie sie war, eine der Kaugummikugeln. Eine grüne. Furchtbar bitter hatte sie geschmeckt. Schlimmer noch als Grapefruit. Rike schüttelte es sogar jetzt noch bei dem Gedanken daran ab.

Doch es passierte nichts. Absolut nichts. Die Alte hatte ihnen wohl das Gerät nur aufgeschwatzt, um ihnen ein paar Euros aus der Tasche zu ziehen. Rike schloss müde die Augen, kuschelte sich in ihr Kissen und war im Handumdrehen eingeschlafen.

Der Nebel, der sich vor ihr ausgebreitet hatte wie ein fließendes, graues Seidentuch, lichtete sich plötzlich und gab den Blick frei auf eine ihr fremde, verborgene Welt.

Für einen Moment glaubte Rike sogar, ein Wispern zu hören. Eine helle Frauenstimme flüsterte etwas von einer Reise in das ewig grüne Land Averda.

Dann sah Rike auf ein Tal mit saftigen, grünen Wiesen, auf denen eine Schafherde weidete. Daneben stritten sich lautstark drei Kinder, wer das nächste Spiel bestimmen durfte und auf dem angrenzenden Acker klaubten ein Mann und eine Frau Kartoffeln in einen Korb. Die Frau richtete sich auf und drückte schmerzverzerrt eine Hand gegen ihren Rücken.

Bei der Gelegenheit bemerkte Rike, welch einfache, derbe und vor allen Dingen furchtbar altmodische Sachen die Menschen trugen.

Gegenüber der Weide erspähte Rike eine Anhöhe, die ein kleiner Tannenwald umsäumte. Ein Bach floss in ein nahe gelegenes Sumpfgebiet.

Und noch etwas fiel Rike auf: Stille. Es herrschte ungewöhnliche Ruhe. Kein Straßenlärm, kein Dröhnen von Baumaschinen, oder ähnlichem. Nichts. Nur beschauliche Stille.

Doch schon flog eine Schar Zaunkönige heran, landete auf einem nahen Baum und begann wild zu kreischen.

Der ältere Junge erstarrte zunächst in seiner Bewegung, als er die Vögel bemerkte, dann jagte er davon.

Im selben Augenblick rumpelte ein Einspänner den Feldweg entlang, bis er bei dem Acker ankam. „Brrrr“, knurrte der alte Mann, der ihn lenkte.

Er trug einen dunklen, zerknitterten Anzug. Der Hemdkragen sah abgewetzt aus und war zudem schief geknöpft. Seinen Hut benutzte der Greis offenbar auch als Kissen. Völlig zusammengedrückt saß er auf seinem Kopf. Mit seinen grauen, buschigen Augenbrauen, dem gezwirbelten, weit abstehenden Schnurrbart und der verlotterten Kleidung sah er aus wie eine alte Vogelscheuche.

Erstaunt sah die Frau zu ihrem Mann.

„Das ist der alte Zaunkönig Refugio aus Brunolino“, raunte er ihr zu.

„Zaunkönig?“

„Sein Spitzname, weil sich in seiner Nähe immer ein paar der kleinen Vögel aufhalten!“

„Und was will der hier?“

Der Mann zuckte nur mit den Schultern.

Unter Ächzen stieg der bucklige Zaunkönig Refugio aus dem Gefährt und sah sich prüfend um.

„Wo ist er?“, brüllte er ohne ein Wort der Begrüßung.

„Guten Tag, der Herr. Auch wenn Ihr es eilig habt, solltet Ihr doch so viel Zeit erübrigen, uns zumindest zu erklären, wen oder was Ihr sucht.“ Zorn schwang in der Stimme des jüngeren Mannes mit.

„Wen ich suche? Das will ich Euch gerne sagen. Ich suche Euren Bengel. Sein Fjäl-Fräs hat meinen Sohn angegriffen.“

Die Blicke der Mutter huschten über den Acker, hin zum Misthaufen, hinter dem sich ihr Sohn nun versteckt hielt.

„Weshalb? Was ist passiert?“, erkundigte sich der Vater des Jungen.

„Euer Bursche war in meinem Garten. Ich nehme an, er wollte wieder einmal Fressen für diesen elenden Vielfraß ergaunern. Mein Enkelsohn hat ihn dabei ertappt. Und dieses unnütze Vieh hat sofort meinen Enkel heimtückisch angegriffen.“

„Wie könnt Ihr Euch so sicher sein, dass es sich dabei um unseren Sohn handelt? Es gibt schließlich viele Buben hier in der Gegend, die sich auf den ersten Blick doch alle sehr ähnlich sehen.“

„Das mag wohl sein, doch keiner der anderen Rangen wird von einer Bestie begleitet und zudem habe ich einen Zeugen.“

„So? Einen Zeugen?“

„Ja. Mervyn Sem Silas kam an unserem Garten vorbei und hat das Geschehen beobachtet. Und mein Enkel nannte sogar noch den Namen Eures Bengels, bevor er das Bewusstsein verlor.“ „Mervyn Sem Silas! Das soll Euer Zeuge sein?“, ereiferte sich der Vater.

„Wieso verdächtigt Ihr unseren Sohn? Das verstehe ich nicht. Franjo ist ein guter Junge, er würde niemals …“, unterbrach ihn die Mutter und versuchte, ihren Jungen zu verteidigen, doch mit einer heftigen Handbewegung stoppte der alte Mann ihren Redefluss.

„Platz da!“ Er stieß die Frau mit seinem Gehstock zur Seite, musterte die beiden verängstigten Kinder mit finsterem Blick, dann marschierte er geradewegs auf das Haus zu und riss die Türe auf.

„Komm heraus, du elender Dieb! Und bring das Untier gleich mit!“

Nichts rührte sich.

Refugio schlug mit seinem Stock gegen die Holztür.

„Raus! Sofort! Wenn ich dich erwische, ergeht es dir schlecht. Sei ein Kerl und stelle dich!“

Der Vater hatte inzwischen den alten Mann eingeholt.

„Es ist niemand im Haus. Franjo ist mit seinem Onkel schon den ganzen Tag im Wald, um Holz zu machen. Lasst uns jetzt weiterarbeiten. Die Zeit drängt. Es wird bald Nacht.“

Die Mutter suchte indessen mit fieberhaften Blicken das Gelände ab, konnte ihren Sohn aber nirgends mehr ausfindig machen. Franjo war längst in den nahen Wald geflüchtet, um sich zu verstecken.

„Das werdet Ihr mir büßen!“, geiferte Zaunkönig Refugio über seine Schulter hinweg, bahnte sich einen Weg zurück und kletterte in sein Gefährt.

„Los, Brauner“, herrschte er sein Pferd an und gab ihm die Peitsche.

Franjos Eltern sahen dem Gefährt noch lange nach, bis die endlose Weite des blaugrauen Horizonts es gemächlich schluckte.

Kapitel 2: Was ist ein Fjäl-Fräs?

„Rike! Aufstehen! Frühstück ist fertig!“ Rike streckte sich im Schlaf, trat mit dem rechten Fuß gegen die Bettdecke und kickte dabei ihren alten, zerfledderten Schlummerhasen aus dem Bett.

„Menno!“ Sie blinzelte ins Licht der Nachttischlampe, die wieder einmal die ganze Nacht hindurch gebrannt hatte und quälte sich aus dem Bett.

Beim Frühstück hing sie ihren Gedanken nach.

„Du bist so ruhig heute“, stupste sie Papa an. 

„Ach, ich bin nur müde.“

„Du Papa, wir sollen doch nachts, bevor wir einschlafen, das Licht ausmachen, oder?“, mischte sich Nele ein. Ihre Stimme hatte diesen „Seht-ihr-wie-vernünftig-ich-bin-im-Gegensatz-zu-meiner-blöden-Schwester“-Ton drauf, den Rike absolut nicht leiden konnte.

Papa zog die Augenbrauen hoch, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Nur Mama fiel natürlich wieder einmal auf die Masche herein.

„Das weißt du doch, Liebes. Erstens kostet es zu viel Strom und zweitens ist es nicht erholsam, wenn man bei Licht schläft.“

„Aber die Frida hat schon wieder die ganze Nacht das Licht brennen lassen!“, rief Nele. Rike kniff die Augen zusammen und funkelte Nele böse an. Warum musste Nele ständig petzen? Und warum nannte Nele sie Frida? Sie wusste genau, dass Rike, die eigentlich Friderike hieß, diesen Namen verabscheute.

„Kann mir jemand von euch sagen, was ein Fjäl-Fräs ist?“, lenkte sie deshalb schnell vom Thema ab.

„Ein Fjäl-Fräs?“ Mama schüttelte den Kopf. „Also Rike, was du immer wissen willst!“

Nele meckerte wie eine Ziege, was Rike mit frostigem Blick quittierte.

Papa, der bisher ungerührt in der Zeitung las, bequemte sich nun doch, den Kopf über den Rand zu strecken. „Wenn du es schon nicht weißt, Rike, wer soll es denn dann wissen? Du schaust dir doch alle Fernsehsendungen über Tiere und Pflanzen an und liest im Lexikon von A bis Z darüber nach. Ich kann dir nur sagen, dass die deutsche Bezeichnung für den Fjäl-Fräs Vielfraß ist. Mehr weiß ich darüber leider auch nicht.“

Nach dem Frühstück fischte Rike ihr Tier-Lexikon aus einem Stapel Bücher und las:

Der Vielfraß gehört zur Familie der Marder. Sein Äußeres ist eine Mischung zwischen Bär, Marder und Hund. Er versprüht wie das Stinktier übelriechende Düfte und verfügt über einen sehr guten Geruchssinn. Der immer hungrige Vielfraß ist ein erbarmungsloser Jäger, der Hasen, Füchse und sogar Rentiere und Elchkälber erlegt. Größere Tiere tötet er, indem er ihnen auf Bäumen sitzend auflauert und sie heimtückisch im Sprung erlegt. Außerdem nimmt er Vogelnester aus und frisst gerne süße Beeren.

Die Beschuldigungen des Zaunkönigs konnten also stimmen. Rike fragte sich jedoch, ob Franjos Eltern es tatsächlich erlauben würden, ein gefährliches Raubtier als Haustier zu halten. Im Buch fand sie nichts darüber, dass Fjäl-Fräs auch Menschen angreifen würden, doch gerade das hatte der Zaunkönig behauptet.

Immer wieder ging sie die Traumfetzen durch, die ihr noch im Gedächtnis waren. Alles hatte vollkommen realistisch gewirkt. Rike zückte sogar ihren Atlas, doch sie fand keinen Ort, kein Land mit dem Namen Averda.

„Rike?“ Mama stand in der Tür. „Machst du Hausaufgaben?“

„Nein, noch nicht. Ich hab was nachgesehen. Aber ich fang gleich damit an.“

„Du, ich geh mal zu Oma Luise rüber. Sie hat eben angerufen. Sie fühlt sich ganz elend.“

„Oh. Was hat sie denn?“

„Ach, eine starke Erkältung.“

„Dann wünsch ihr gute Besserung von mir. Ich besuch sie bald mal.“

Oma Luise war nicht ihre wirkliche Oma, sondern eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, aber die beste Ersatzoma, die man sich vorstellen konnte. Sie hatte früher auf Rike und Nele aufgepasst wenn Not am Mann war.

Oma Luise fand immer Zeit für sie, hatte stets ein offenes Ohr, wusste immer einen guten Rat, kannte jede Menge Hausrezepte gegen allerlei Wehwehchen und backte die besten Kuchen und Kekse. Sie liebte Kartenspiele, spielte „Mensch ärgere Dich nicht“ auch fünfmal nacheinander, ohne genervt auf die Uhr zu sehen und puzzelte mit ihnen um die Wette, zumindest dann, wenn sie ihre Brille auf der Nase hatte.

Außerdem besaß sie die zwei drolligsten Haustiere, die es auf der ganzen Welt gab. Minka, die weiße Katze mit drei schwarzen Flecken im Fell. Das rechte Ohr war schwarz wie Kohle, die linke, vordere Pfote und die Schwanzspitze ebenso. Und Schoko, der kniehohe Labradormischling mit kakaobraunem Fell und einem hellen Fleck auf der Brust.

Aber auch ohne die beiden Fellträger war Oma Luise die Beste.

Kaum hatte Mama die Haustüre hinter sich zugezogen, spazierte schon Nele in Rikes Zimmer, blieb vor dem Nachttischchen stehen und blätterte im Farbenbuch.

„Kann ich mir das hier mal ausleihen? Ich könnte es gut für Kunst gebrauchen. Da machen wir nämlich zurzeit …“

Kapitel 3: Das Margeritenmädchen

Rike stand am Fenster. In dem alten, winterlich kahlen Kirschbaum im Garten konnte sie einen Raben ausmachen, der unentwegt zu ihr herübersah. Zumindest erweckte er den Anschein, genau das zu tun. Ein Rabe als Spion. Blödsinn! Sah sie nun schon am helllichten Tag Gespenster?

Eine Stunde später, nach einem Riesenschnitzel mit Pommes Frites, lag Rike faul auf dem Sofa, doch Papa machte dem ganzen einen Strich durch die Rechnung. „Wer solch fette Fritten isst, bald mehr an Bauch und Hintern misst. Darum machen wir jetzt einen Spaziergang und der wird ziemlich lang.“

Rike verkniff sich ein Grinsen, versuchte aber trotzdem mit fadenscheinigen Ausreden ein Daheimbleiben zu erreichen. Doch Papa ließ sich nicht erweichen. Auch Mama musste mit, obwohl sie sich noch viel heftiger als Rike dagegen wehrte.

„Halt, wartet auf mich, ich hole nur noch schnell meinen Rucksack!“, rief Nele. Ohne ihren Überlebensrucksack, wie Papa ihn nannte, ging Nele nicht aus dem Haus. In ihm transportierte sie ausnahmslos lebenswichtige Sachen, wie ein altes Universal-Klapptaschenmesser, das sie von Opa hatte, einen Block und Buntstifte, eine Taschenlampe, Kekse, eine Schnur, eine Trillerpfeife, ein Fernglas, Haargummis, Taschentücher …, nun ja, eben alles, was in einen Überlebensrucksack hineingehörte.

Der Kinderwanderweg war an diesem grauen Novembertag einsam und verlassen. Trotzdem stritten sich Rike und Nele an den Mitmach-Stationen darum, wer als Erste dran war.

„Das nächste Mal darf aber dann ich“, nörgelte Rike.

„Seht mal, da vorne ist jemand!“, rief Nele.

„Na und.“

„Aber guckt mal wie die aussieht!“

Eine Frau stand etwa hundert Meter von ihnen entfernt.

„Uih, ist denn schon wieder Fasching?“, lästerte Papa. Mama stieß ihn unauffällig in die Seite. „Also Klaus, bitte!“

Nun starrte auch Rike die Frau an.

„Die sieht aber seltsam aus, oder?“, nuschelte Nele.

„Wie eine, eine …“ Rike suchte nach dem richtigen Wort.

„Wie eine Braut, die ihre eigene Hochzeit verpasst hat.“

 Mama hatte recht. Die Frau passte überhaupt nicht an diesen Ort. Sie trug ein weißes Kleid, das bis zum Boden reichte und darüber einen langen, weißen Umhang. Sie wirkte mädchenhaft, unglaublich zierlich. So dünn, als wollte sie tunlichst vermeiden, einen Schatten zu werfen. Lange, hellblonde Locken umspielten ihr schmales, blasses Gesicht. Rike fielen die Blumen in ihrem Haar auf. Ein Kranz aus Margeriten. Die Frau sah wunderschön und furchtbar traurig zugleich aus.

„Warum ist sie an einem so kalten Tag wie heute in dieser komischen Verkleidung hier?“, flüsterte Nele.

Papa, der eigentlich immer einen flotten Spruch auf Lager hatte, gab keinen Ton mehr von sich. Er starrte die Frau an, runzelte die Stirn und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.

„Kennst du sie, Klaus?“, erkundigte sich Mama. Papa schüttelte den Kopf.

„Nein. Natürlich nicht. Aber sie erinnert mich irgendwie an früher. Mein Vater hat mir oft vorm Einschlafen Geschichten erzählt. Eine davon handelte von Bellina Fiorella, einem Mädchen, das aussah wie eine Margeritenblume. Und genau so, wie diese Frau hier, habe ich sie mir immer vorgestellt. Eigenartig, oder?“

In diesem Moment schlenderte die lebende Version einer Margeritenblume weiter und besah sich flüchtig die kleinen Kästen an der nächsten Station. Obwohl alle Vier die Frau mit Blicken verfolgten, hatte anscheinend nur Rike bemerkt, dass sie in den ersten Kasten auf der linken Seite etwas hineingelegt hatte, denn als sie dort ankamen, stöberte Nele in dem Behälter rechts. Rike fasste in den linken hinein und brachte eine Halskette mit einem Pentagramm als Anhänger hervor.

„Was hast du da?“ Nele sah neidisch zu Rike.

„Es gehört mir. Ich habe es gefunden.“

„Wieso gehört das dir? Das soll wahrscheinlich in dem Kasten da bleiben.“ Neles Stimme überschlug sich fast vor Wut.

„Lasst mal sehen!“, sagte Papa und nahm die Kette mit dem Anhänger an sich. „Ach du meine Güte! Deswegen streitet ihr euch? Wisst ihr, was das wert ist?“

Rike und Nele schüttelten den Kopf.

„Nichts. Absolut nichts. Das ist billigster Blechschmuck. Es lohnt sich nicht einmal, darüber zu sprechen, geschweige denn deswegen zu streiten. Der Anhänger liegt anscheinend nur in dem Kasten, damit man die Form ertasten kann. Leg ihn zurück, Rike. Und dann ist Schluss mit dem Quatsch!“

Rike sah unschlüssig zu dem Anhänger hin.

„Haben wir uns verstanden?“ Papas Tonfall wurde schärfer.

Rike verzog das Gesicht zu einer Grimasse und ging zu dem Kasten, aus dem sie die Halskette gefischt hatte. Als sie die Hand hineinsteckte, ließ sie die Kette in ihren Jackenärmel gleiten. Sie konnte es sich zwar nicht erklären, aber sie verspürte dieses untrügliche Gefühl im Bauch, dass sie diese Kette nicht zufällig gefunden hatte und deswegen auch behalten sollte.

Stumm machten sie sich auf den Heimweg. Nachdem es windig und kalt geworden war, nahmen sie eine Abkürzung. Der Weg war steinig, mit vielen Wurzeln und abgesägten Baumstämmen und sie mussten aufpassen, nicht zu stolpern. Die Wälder ringsum hatten durch die letzten Herbststürme einiges einstecken müssen. Mehrere Laubbäume hingen kreuz und quer zur Seite und viele Äste waren geknickt.

Rike und Nele jagten sich gegenseitig. Das gefallene Laub knirschte in der Kälte wie zerbrochenes Glas unter den Schuhsohlen, als sie darüber stoben. Rike bemerkte, dass die Halskette im Begriff war, aus dem Jackenärmel zu rutschen und steckte sie schnell in ihre Jackentasche. Unglücklicherweise spähte genau in diesem Moment Nele zu ihr herüber. Rike wusste nicht, ob Nele es gesehen hatte und rannte deswegen schnell weiter, um sie abzulenken.

„Los Nele! Lass uns auf dem Baumstamm hier balancieren!“ Schon stand Rike oben und Nele erklomm die andere Seite.

Als sie sich in der Mitte gegenüberstanden, gab keine der beiden nach. Rike trotzte. „Also bitte, was soll das denn? Du wirst doch wohl deiner großen Schwester den Vortritt geben!“

In Neles Augen blitzte etwas auf, was Rike für einen Moment ablenkte und Nele nutzte natürlich sofort die Gelegenheit und gab Rike einen heftigen Schubs, der sie taumeln ließ. Rike sprang ab, kam aber dummerweise auf dem Rand eines Steinbrockens auf und knickte um.

„Aaah, Mist! Autsch!“ Rike rieb sich den Knöchel und versuchte, sich hochzustemmen.

„Lass mal sehen!“ Papa kniete sich hin und tastete vorsichtig Rikes Bein ab. „Gebrochen scheint es zumindest nicht zu sein. Wahrscheinlich ist es eine satte Zerrung am Sprunggelenk. Das tut zwar auch verdammt weh, aber es wird sicher bald wieder besser!“

Mama und Papa hakten sich bei Rike unter und schleppten sie im Schneckentempo nach Hause. Nele schien es die Sprache verschlagen zu haben. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie neben ihnen her.

Zuhause wurde Rike auf das Sofa im Wohnzimmer gepackt.

Nele dagegen kauerte missmutig auf ihrem Bett und starrte die Wände an.

Als Papa die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, um nach ihr zu sehen, heulte sie. „Natürlich bin ich daran schuld, dass Rike sich den Fuß verknackst hat und jetzt wird sie bedauert. Mama verhätschelt und vertätschelt sie und ich sitze hier oben. Keiner kümmert sich um mich. Keiner fragt, wie es mir geht, ob ich auch Hunger habe, oder so. Das ist so gemein.“ Ihre Worte versanken in bitterer Sehnsucht nach Geborgenheit. „Papa, ich hab das doch nicht gewollt.“ Auf Neles Wangen suchten dicke Tränen den Weg zu ihrem Kinn.

„Das weiß ich doch. Und Mama weiß es auch.“ Behutsam strich Papa mit seiner Hand über ihren Rücken.

„Aber Rike ist sauer auf mich“, stammelte Nele. Nun sammelten sich die Tränen an ihrem Kinn und stürzten sich wagemutig von dort auf den Holzboden. Neles Schluchzen erreichte inzwischen bedrohliche Dezibelgrenzwerte.

„Ja, Rike ist sauer, aber … Ach, Nele! Ihr habt Quatsch gemacht. Ihr habt euch ein bisschen geärgert. Das ist normal. Du bist doch erst acht Jahre alt.“

„Fast neun.“

„Was?“ Papa kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Also gut, dann eben neun und Rike ist zehn. Fast elf“, verbesserte er sich sofort. „Meine Güte, Nele! Ihr seid Kinder. Ihr habt euch geneckt und dann ist das eben passiert. Es konnte doch keiner ahnen, dass Rike auf dem Steinbrocken landet. Wäre sie ein paar Zentimeter daneben aufgekommen, wäre nichts passiert.“

„Hm, stimmt“, flüsterte Nele.

„So, jetzt gibt’s Abendessen. Und zwar im Wohnzimmer vor dem Fernseher, nachdem Rike den nassen Wickel am Fuß dran lassen soll.“

Kapitel 4: Ein Neidnagel

Beim Abendessen schielte Nele immer wieder zu Rike hinüber. „Ist was? Dauernd glotzt du mich so komisch an“, fauchte Rike. Nele lief rot wie eine Tomate an und klappte vor Schreck ihr Käsebrot zusammen, welches sie vorher kunstvoll mit Paprikapulver verziert hatte. Papa bedachte Rike mit einem tadelnden Blick.

„Wie machen wir das eigentlich morgen?“, lenkte Rike schnell ab. „Wie komme ich denn morgen zur Schule?“

Mama legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Hm, das ist eine gute Frage. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Nachdem du morgen nur zwei Hauptfächer hast, wäre es wohl das Beste, dich einen Tag von der Schule zu Hause zu lassen. Papa muss ja schon ganz früh am Morgen weg und kommt erst am Dienstagabend wieder zurück und somit haben wir bis dahin kein Auto.“

Nele starrte Mama ungläubig an. Es war unschwer zu erkennen, was sie gerade dachte: Wie bitte? Schule schwänzen? Mit Erlaubnis von Mama und Papa? Wann hat es das je gegeben?

„Hm, gut, das ist prima. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich den Weg zu Fuß schaffen würde. Es tut wirklich verdammt weh. Ich geh schon mal nach oben, ich bin echt müde.“

Kaum hatte Rike es ausgesprochen, sprangen Mama und Papa gleichzeitig auf und stützten Rike. Nele rollte genervt mit den Augen und Rike guckte verlegen. „Lasst mal, es geht schon! Ich schaff das auch alleine.“

Doch Papa schnappte sich Rike und rief: „Von wegen. Ich trag dich nach oben. Überlegt schon mal, wen ich anschließend um die Ecke, ähm, natürlich noch oben bringen soll!“ Mama lachte lauthals. Doch Nele saß mit verkniffenem Gesicht daneben.

Als sich Rike im Badezimmer die Zähne putzte, kam Nele hinzu. „Du hast’s ja gut! Du kannst morgen daheim bleiben. Dabei bist du gar nicht richtig krank. Wegen einem verknacksten Fuß muss man ja wohl nicht gleich von der Schule zu Hause bleiben.“

„Die süße, kleine, liebe Nöle!“, schnaubte Rike durch den Zahncremeschaum. „Zuerst ist sie so gemein und schubst die große Schwester vom Baumstamm und dann ist sie auch noch neidisch.“ Sichtlich angewidert spuckte sie die Zahncreme aus. „Damit du’s weißt: Mir tut mein Fuß verdammt weh. Das kannst du mir glauben! Und morgen haben wir zwei Stunden Sport, bei denen ich sowieso nicht mitmachen kann, außerdem zwei Stunden Theaterprobe für die Weihnachtsfeier, bei der ich nur soufflieren muss. Und ansonsten haben wir eine Stunde Mathe und eine Stunde Deutsch, also verpasse ich kaum etwas. Deswegen lässt mich Mama daheim. Und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Mama sprach nur von morgen.“

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und schlurfte in ihr Zimmer, wobei sie das rechte Bein besonders auffällig nachzog.

„Blöde Kuh!“, schickte ihr Nele hinterher.

Rike ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihr Bein streifte dabei das Farbenbuch.

Und plötzlich begriff sie es! Mensch! Voll krass! Das waren gar keine normalen Kaugummikugeln, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen konnte. Das waren tatsächlich Zauberkugeln, mit denen man in ein anderes Land und wahrscheinlich auch in eine andere Zeit kommen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich auf einmal. Was hatte die Alte am Flohmarkt gesagt? „Für den Einen sind es einfach nur Kaugummikugeln, für den Anderen sind es zauberhafte Kostbarkeiten.“

Rike hatte schon mal einen Film gesehen, in dem es um eine Zeitreise ging. Da allerdings funktionierte das Ganze nur mit einer Maschine. Bei ihr klappte es anscheinend sogar mit diesen bunten Kugeln.

Dieser Gedanke ließ ihr natürlich keine Ruhe mehr und so huschte Rike zu dem kleinen Raum am Ende des Flurs, in dem alle Trödelmarktsachen aufbewahrt wurden. Der rote Automat stand bedeutungslos in der Ecke, als wartete er darauf, zum Müll geworfen zu werden.

Rike sah sich nochmal um. Niemand hatte bemerkt, dass sie sich hierher geschlichen hatte. Sie drehte am Griff.

Eine grüne Kugel rollte heraus. Ha! Grün! Besser hätte es gar nicht laufen können!

Durch das beschlagene und etwas verkratzte Glas im Sichtfenster des Automaten konnte sie die Kaugummikugeln in den verschiedensten Farben sehen.

Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter unten an der Treppe. Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte den Schmerz, der unaufhörlich um ihren Knöchel strich, als sie zurück in ihr Zimmer flitzte.

Keuchend ließ sie sich wieder auf ihrem Bett nieder. Das war knapp. Sie musste morgen unbedingt den Kaugummikasten leeren. Rike öffnete ihre Hand. Mist! Die Farbe der grünen Kaugummikugel war etwas abgegangen.

„Kommst du alleine klar oder brauchst du Hilfe, Rike?“

Erschrocken sah sie zu ihrer Mutter, die bereits in der Tür stand, ballte augenblicklich wieder die Faust und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Alles in Ordnung, Mama. Ich komme schon zurecht. Danke.“

„Schlaf gut und ruf mich, wenn was ist.“

„Mach ich. Gute Nacht!“

Rike begutachtete noch einmal ihre grün verschmierte Handfläche. Bitte lass mich jetzt nicht halb in dieser, halb in der anderen Welt hängen, nur weil etwas von der Farbe fehlt!

Sie steckte die Kaugummikugel in den Mund und schleckte zur Sicherheit noch einmal über die grünen Flecken in ihrer Hand. Dann lag sie ganz zappelig in ihrem Bett und ihr Herz pochte rekordverdächtig schnell, denn sie konnte nicht glauben, was sie augenblicklich sah.

Grün! Alles erstrahlte in saftigem Grün. Die Reise begann.

Kapitel 5: Das immergrüne Land

Beim Abendessen schielte Nele immer wieder zu Rike hinüber. „Ist was? Dauernd glotzt du mich so komisch an“, fauchte Rike. Nele lief rot wie eine Tomate an und klappte vor Schreck ihr Käsebrot zusammen, welches sie vorher kunstvoll mit Paprikapulver verziert hatte. Papa bedachte Rike mit einem tadelnden Blick.

„Wie machen wir das eigentlich morgen?“, lenkte Rike schnell ab. „Wie komme ich denn morgen zur Schule?“

Mama legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Hm, das ist eine gute Frage. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Nachdem du morgen nur zwei Hauptfächer hast, wäre es wohl das Beste, dich einen Tag von der Schule zu Hause zu lassen. Papa muss ja schon ganz früh am Morgen weg und kommt erst am Dienstagabend wieder zurück und somit haben wir bis dahin kein Auto.“

Nele starrte Mama ungläubig an. Es war unschwer zu erkennen, was sie gerade dachte: Wie bitte? Schule schwänzen? Mit Erlaubnis von Mama und Papa? Wann hat es das je gegeben?

„Hm, gut, das ist prima. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich den Weg zu Fuß schaffen würde. Es tut wirklich verdammt weh. Ich geh schon mal nach oben, ich bin echt müde.“

Kaum hatte Rike es ausgesprochen, sprangen Mama und Papa gleichzeitig auf und stützten Rike. Nele rollte genervt mit den Augen und Rike guckte verlegen. „Lasst mal, es geht schon! Ich schaff das auch alleine.“

Doch Papa schnappte sich Rike und rief: „Von wegen. Ich trag dich nach oben. Überlegt schon mal, wen ich anschließend um die Ecke, ähm, natürlich noch oben bringen soll!“ Mama lachte lauthals. Doch Nele saß mit verkniffenem Gesicht daneben.

Als sich Rike im Badezimmer die Zähne putzte, kam Nele hinzu. „Du hast’s ja gut! Du kannst morgen daheim bleiben. Dabei bist du gar nicht richtig krank. Wegen einem verknacksten Fuß muss man ja wohl nicht gleich von der Schule zu Hause bleiben.“

„Die süße, kleine, liebe Nöle!“, schnaubte Rike durch den Zahncremeschaum. „Zuerst ist sie so gemein und schubst die große Schwester vom Baumstamm und dann ist sie auch noch neidisch.“ Sichtlich angewidert spuckte sie die Zahncreme aus. „Damit du’s weißt: Mir tut mein Fuß verdammt weh. Das kannst du mir glauben! Und morgen haben wir zwei Stunden Sport, bei denen ich sowieso nicht mitmachen kann, außerdem zwei Stunden Theaterprobe für die Weihnachtsfeier, bei der ich nur soufflieren muss. Und ansonsten haben wir eine Stunde Mathe und eine Stunde Deutsch, also verpasse ich kaum etwas. Deswegen lässt mich Mama daheim. Und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Mama sprach nur von morgen.“

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und schlurfte in ihr Zimmer, wobei sie das rechte Bein besonders auffällig nachzog.

„Blöde Kuh!“, schickte ihr Nele hinterher.

Rike ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihr Bein streifte dabei das Farbenbuch.

Und plötzlich begriff sie es! Mensch! Voll krass! Das waren gar keine normalen Kaugummikugeln, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen konnte. Das waren tatsächlich Zauberkugeln, mit denen man in ein anderes Land und wahrscheinlich auch in eine andere Zeit kommen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich auf einmal. Was hatte die Alte am Flohmarkt gesagt? „Für den Einen sind es einfach nur Kaugummikugeln, für den Anderen sind es zauberhafte Kostbarkeiten.“

Rike hatte schon mal einen Film gesehen, in dem es um eine Zeitreise ging. Da allerdings funktionierte das Ganze nur mit einer Maschine. Bei ihr klappte es anscheinend sogar mit diesen bunten Kugeln.

Dieser Gedanke ließ ihr natürlich keine Ruhe mehr und so huschte Rike zu dem kleinen Raum am Ende des Flurs, in dem alle Trödelmarktsachen aufbewahrt wurden. Der rote Automat stand bedeutungslos in der Ecke, als wartete er darauf, zum Müll geworfen zu werden.

Rike sah sich nochmal um. Niemand hatte bemerkt, dass sie sich hierher geschlichen hatte. Sie drehte am Griff.

Eine grüne Kugel rollte heraus. Ha! Grün! Besser hätte es gar nicht laufen können!

Durch das beschlagene und etwas verkratzte Glas im Sichtfenster des Automaten konnte sie die Kaugummikugeln in den verschiedensten Farben sehen.

Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter unten an der Treppe. Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte den Schmerz, der unaufhörlich um ihren Knöchel strich, als sie zurück in ihr Zimmer flitzte.

Keuchend ließ sie sich wieder auf ihrem Bett nieder. Das war knapp. Sie musste morgen unbedingt den Kaugummikasten leeren. Rike öffnete ihre Hand. Mist! Die Farbe der grünen Kaugummikugel war etwas abgegangen.

„Kommst du alleine klar oder brauchst du Hilfe, Rike?“

Erschrocken sah sie zu ihrer Mutter, die bereits in der Tür stand, ballte augenblicklich wieder die Faust und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Alles in Ordnung, Mama. Ich komme schon zurecht. Danke.“

„Schlaf gut und ruf mich, wenn was ist.“

„Mach ich. Gute Nacht!“

Rike begutachtete noch einmal ihre grün verschmierte Handfläche. Bitte lass mich jetzt nicht halb in dieser, halb in der anderen Welt hängen, nur weil etwas von der Farbe fehlt!

Sie steckte die Kaugummikugel in den Mund und schleckte zur Sicherheit noch einmal über die grünen Flecken in ihrer Hand. Dann lag sie ganz zappelig in ihrem Bett und ihr Herz pochte rekordverdächtig schnell, denn sie konnte nicht glauben, was sie augenblicklich sah.

Grün! Alles erstrahlte in saftigem Grün. Die Reise begann.

Kapitel 6: Die Schneekönigin

Rike rieb sich die Augen. Es war morgens halb sieben und Nele veranstaltete ein Riesenspektakel im Badezimmer. Nele hustete, prustete und gurgelte in einer irren Lautstärke. Außerdem knallte sie mit den Türen, dass sogar Mama aus der Küche nach oben rief: „Nele, kannst du nicht ein bisschen leiser sein? Rike schläft doch noch!“

„Ich bin leise!“