Die vier verborgenen Reiche 1: Caspar und die Träne des Phönix - Abi Elphinstone - E-Book

Die vier verborgenen Reiche 1: Caspar und die Träne des Phönix E-Book

Abi Elphinstone

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Beschreibung

Von Minidrachen und Schneetrollen: Willkommen in den vier verborgenen Reichen! Erwachsene kennen die vier verborgenen Reiche vielleicht nicht, aber Kinder können den Weg dorthin finden und zusammen mit Drachen, sprechenden Papageien und anderen Zauberwesen unglaubliche Abenteuer erleben. So wie Caspar - dabei hasst er eigentlich Abenteuer! Am liebsten sitzt er in der Schulbibliothek und liest. Doch als er sich eines Tages vor den beiden Klassenfieslingen in der alten Standuhr versteckt, geschieht das Unglaubliche: Er findet sich in einem hohlen Baum wieder und vor ihm steht ein Mädchen mit Sommersprossen, die wie Sterne aussehen. Sie heißt Wilda Undank und bringt ihn unverzüglich vor die Zauberer von Wolkenstern. Damit nicht genug. Caspar muss die Rätsel der Nieselhexen lösen, den unheimlichen Nachtlingen entkommen und die böse Harpyie Morg besiegen. Ob ihm Wilda und Minidrache Arlo dabei helfen? Der Riesenerfolg aus England: spannend, witzig und unvergesslich magisch In jedem Band der vier verborgenen Reiche stehen zwei neue Kinder in einer anderen Welt im Mittelpunkt. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen, sodass die Bücher auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Die Bände der Reihe: - Caspar und die Träne des Phönix (Band 1) - Auf der Suche nach dem Für-immer-Farn (Band 2) - Zeb und der Drache aus Morgenschimmer (Band 3) »Abi Elphinstone ist eine würdige Nachfolgerin von C. S. Lewis.« The Times über Band 1 »Witzig, warmherzig und ganz und gar prachtvoll!« Leser*innenstimme Der mitreißende Auftakt der Fantasy-Trilogie von Bestseller-Autorin Abi Elphinstone: Für alle Fans von Potter, Percy und Greg! 

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Abi Elphinstone

Die vier verborgenen Reiche: Caspar und die Träne des Phönix

Aus dem Englischen von Annette von der Weppen

Caspar hasst Abenteuer. Am liebsten sitzt er in der Schulbibliothek und liest. Doch als er sich eines Tages vor den beiden Klassenfieslingen in einer alten Standuhr versteckt, geschieht das Unglaubliche: Er findet sich in einem hohlen Baum wieder und vor ihm steht ein Mädchen mit Sommersprossen, die wie Sterne aussehen. Sie heißt Wilda Undank und lebt in Wolkenstern, einem der vier verborgenen Reiche. Dort gibt es Zauberer, Schneetrolle und sogenannte Wetterwunder, mit denen in letzter Zeit allerdings irgendetwas nicht stimmt. Ob die böse Harpyie Morg dahintersteckt?

Um Wolkenstern und seine eigene Welt zu retten, muss Caspar die Rätsel der Nieselhexen lösen, den unheimlichen Nachtlingen entkommen und gegen Oger kämpfen – gut, dass er Wilda und Minidrache Arlo an seiner Seite hat!

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Für Bertie, meinen Patensohn.Möge dein Leben erfüllt sein von Abenteuern aller Art (und mögest du bei dem einen oder anderen daran denken, Patentante Abi zu fragen, ob sie mitkommen will).

Prolog

Das Nervige an Erwachsenen ist, dass sie immer glauben, im Recht zu sein. Meist geht es dabei nur um Schlafenszeiten und Gemüseessen, aber manchmal auch um Anfänge. Insbesondere um den Anfang unserer Welt. Da haben sie die verrücktesten Ideen – Urknall, Schwarze Löcher und was nicht alles –, aber hätten sie je die vier verborgenen Reiche entdeckt (haben sie natürlich nicht, denn die sind bekanntermaßen gut versteckt), dann wüssten sie, dass ganz am Anfang nur ein Ei war. Ein ziemlich großes Ei. Und aus diesem Ei wurde ein Phönix geboren.

Als der Phönix sah, dass er allein war, weinte er sieben Tränen, die zu unseren Kontinenten wurden und die Erde so formten, wie wir beide sie kennen, auch wenn das alles für den Phönix nur das Weitentfernt war. Diese Erdteile waren aber noch wüst und leer, und so verstreute der Phönix, viele Jahre später, vier seiner goldenen Federn, aus denen dann vier nirgends verzeichnete, sprich verborgene Reiche hervorgingen. Für jene, die später im Weitentfernt lebten, waren sie unsichtbar, enthielten aber all die Magie, die es brauchte, um Sonnenlicht, Regen und Schnee hervorzubringen und auch all die unbeschreiblichen Wunder hinter diesen Wetterphänomenen: von der Melodie eines Sonnenaufgangs bis hin zu den Geschichten, die ein Schneesturm erzählt.

Nun wusste der Phönix, als das weiseste aller magischen Wesen, dass jede Magie, die man nur zum eigenen Vorteil nutzt, auf dunkle Abwege führt, während sie eine ganze Welt erschaffen und erhalten kann, wenn sie für einen höheren Zweck verwendet wird. Also ordnete er an, die Bewohner der Verborgenen Reiche dürften sich nur so lange an den Wundern seiner Magie erfreuen, wie sie das Weitentfernt an ihr teilhaben ließen, damit auch diese Welt sich mit Licht und Leben füllte. Sollten die Verborgenen je aufhören, ihre Magie zu teilen, so warnte der Phönix, würden beide Welten, das Weitentfernt wie auch die Verborgenen Reiche, zu Staub zerfallen.

Die Herrschaft über diese Reiche übertrug der Phönix den Erhabenen: Magiern, die alle unter derselben Mondfinsternis geboren worden waren und sich von allen anderen Verborgenen durch ihre Weisheit, ungewöhnlich hohe Lebenserwartung und extrem miserablen Witze unterschieden. Obwohl diese Erhabenen in jedem Reich eine andere Gestalt annahmen, herrschten sie doch überall gerecht und sorgten gewissenhaft dafür, dass jeden Tag ein Teil der Magie des Phönix ins Weitentfernt weitergegeben wurde.

Jedes der vier Reiche übernahm dabei eine andere Rolle. In Wolkenstern wurden die Wetterwunder gesammelt: winzige Perlen aus Sonnenlicht, Regen und Schnee in ihrer reinsten Form. Diese wurden dann von Drachen in die anderen Reiche gebracht und von den Bewohnern dort mit magischer Tinte vermischt, um damit die Wetterrollen für das Weitentfernt zu schreiben: Sonnensymphonien in Morgenschimmer, Regengemälde in Dschungeltau und Schneegeschichten in Silberkarst.

Nach und nach füllte sich nun auch das Weitentfernt mit Leben: Pflanzen, Blumen und Bäume sprossen empor, und so stark war die Magie, dass irgendwann Tiere erschienen und schließlich sogar Menschen.

Jahre vergingen und der Phönix wachte über alles von Ewigdunkel aus, einem Ort, der so weit entfernt und unerreichbar war, dass nicht einmal die Verborgenen wussten, wo er lag. Doch auch ein Phönix lebt nicht ewig, und als er nach fünfhundert Jahren schließlich starb, erhob sich, wie bei diesen Vögeln üblich, sogleich ein neuer Phönix aus seiner Asche, um die Magie der Verborgenen Reiche zu erneuern und sicherzustellen, dass sie auch weiterhin mit den Bewohnern des Weitentfernt geteilt wurde.

So verging die Zeit und die Verborgenen vertrauten darauf, dass alle fünfhundert Jahre eine weitere Ära begann: Solange sich jedes Mal ein neuer Phönix aus der Asche erhob, würde auch die Magie sich erneuern und alles war gut. Jeder dachte, so würde es für immer bleiben …

Doch sobald Magie im Spiel ist, hat für immer nur selten Bestand. Denn immer gibt es irgendwen, irgendwo, der von Gier gepackt wird. Und wenn ein Herz danach trachtet, alle Magie ganz allein zu beherrschen, sind Warnungen und Gebote nur allzu schnell vergessen. So war es auch bei einer Harpyie namens Morg, die dem Phönix alle Macht und Magie rauben wollte.

Von Neid und Missgunst erfüllt, hauchte sie in eben jener Nacht, in der sich der letzte Phönix erneuern sollte, einen Fluch über sein Nest. Der alte Phönix ging in Flammen auf, wie vor ihm schon alle anderen seiner Art, doch diesmal brannte das Feuer schwarz und kein neuer Phönix entstieg seiner Asche. Und so nahm Morg das Nest in Besitz.

Doch immer, wenn etwas schiefgeht und Magie missbraucht wird, entsteht auch Raum für Heldinnen und Helden, mit denen niemand gerechnet hat, am wenigsten sie selbst. So war es auch hier: Wie durch Zufall war in jener Nacht ein Mädchen namens Murkel aus Morgenschimmer die Einzige, die sah, wie Morg anstelle des Phönix über den Himmel flog. Mit einem Mal lag das Schicksal beider Welten, der verborgenen Reiche und des Weitentfernt, in ihrer Hand, und so machte sie sich, zusammen mit einem Affen namens Bartholomäus, auf den Weg nach Ewigdunkel, das noch kein Verborgener je gefunden hatte. Es gelang ihr, Morg aufzuspüren und die Flügel der Harpyie, in denen sich ihre ganze Macht konzentrierte, in einem verzauberten Baum tief im Wald zu verschließen.

Damit waren beide Welten fürs Erste gerettet, doch ohne die Magie eines neuen Phönix mussten die Erhabenen Wege finden, die Reste der alten Magie wenigstens noch so lange zu bewahren, bis die Harpyie starb oder getötet wurde und ein neuer Phönix sich in Ewigdunkel erhob. Die Lösung kam schließlich von den Drachen, die Himmel und Meere durchstreiften. Nie zuvor waren diese magischen Wesen – die wildesten von allen – einem Ruf der Erhabenen gefolgt, doch auch sie spürten die drohende Gefahr, und so versprachen sie, jede Nacht ihren geweihten Mondstaub zu verstreuen. Die Magie des Phönix konnten sie damit nicht ersetzen, doch war es genug, um beide Welten am Leben zu erhalten.

Und so hätte auch alles bleiben können, bis Morg irgendwann starb und ein neuer Phönix sich erhob. Doch es kam anders. Denn eine Harpyie, die Böses im Schilde führt, gibt so leicht nicht auf. Sie grübelt und grübelt, und ehe man sichs versieht, brütet sie etwas Neues aus, um die Magie der verborgenen Reiche für sich zu gewinnen …

Doch ich greife vorweg, und das fände ein gewisser elfjähriger Junge im Weitentfernt sicher gar nicht gut. Jedenfalls hätte Caspar Tock das gar nicht gut gefunden, bevor das Extrem Unvorhersehbare Ereignis eintrat, denn bis dahin wurde sein Leben weitgehend von Zeitplänen und To-do-Listen bestimmt. Auf diesen Listen stand zwar oft nur einziger Punkt – schnellstens erwachsen werden –, aber dafür waren seine Zeitpläne umso ausgefeilter, angefangen bei den fünf Minuten, die er morgens vor dem Frühstück darauf verwendete, die Bilder an den Wänden seines Zimmers gerade zu rücken, bis hin zu der halben Stunde jeden Abend vor dem Schlafengehen, in der er all seine Kleidungsstücke noch mal ordentlich faltete.

Denn Caspar legte größten Wert auf ein aufgeräumtes Zimmer, ein wohlgeordnetes Hirn und einen eng getakteten Zeitplan. Je enger, desto weniger konnte ihm unerwartet dazwischenkommen, und desto geringer war das Risiko – so glaubte er jedenfalls –, in die Fänge der beiden schlimmsten Schulfieslinge zu geraten: Leopold Raffzahn und Candida Caschmir-Tops.

Aber egal, wie viele Listen man schreibt, und wie viele Pläne man entwirft: Die eigenen Eltern kann man nicht auch noch im Zaum halten. Sie verlieren Schlüssel, vergessen Handtaschen, suchen ständig ihre Brille oder lassen Handys ins Klo fallen. Und im stolzen Alter von elf Jahren merkt auch der Letzte, dass Eltern eigentlich nichts im Griff haben.

Gleiches galt auch für Caspars Eltern, Ernie und Ariella Tock. Die beiden liefen schon seit längerer Zeit aus dem Ruder und trugen am Ende sogar die Hauptschuld an all dem, was Caspar an jenem trostlosen Nachmittag im März widerfuhr: Wäre Ernie an diesem Tag rechtzeitig zu Hause gewesen und hätte Ariella nicht ihre Handtasche vergessen, wäre das Extrem Unvorhersehbare Ereignis vielleicht niemals eingetroffen.

Aber wie es manchmal so ist: Kaum verspäten sich Leute oder vergessen ihre Handtaschen, kommen magische Kräfte ins Spiel …

1

Caspar kauerte in dem Korb mit den Fundsachen, der vor seinem Klassenzimmer auf dem Gang stand. Laut Stundenplan hätte er jetzt bei Mr Rempel im Erdkundeunterricht sitzen sollen, aber sein eigener Zeitplan, den er in dieser Sekunde, schön ordentlich gefaltet, in der Hand hielt, besagte unmissverständlich, dass er hier genau richtig war: zwischen schmuddeligen Jacken und stinkenden Socken.

Caspar verlagerte sein Gewicht. Dreißig Minuten waren eine lange Zeit, so eingezwängt in einen Weidenkorb, doch das ließ sich donnerstagnachmittags nun mal nicht umgehen. Denn nur, wenn Caspar Mr Rempel gegenüber vorgab, er hätte Klavierstunde, einen Zahnarzttermin oder irgendwas für den Schulleiter zu erledigen, und sich stattdessen zwischen den Fundsachen versteckte, konnte er dem Unterricht folgen (um ja keinen Stoff zu versäumen und Mr Rempel keinen Anlass zu Misstrauen zu geben) und gleichzeitig eine Begegnung mit Candida und Leopold vermeiden.

Im Großen und Ganzen war das Internat von Little Wallops ein freundlicher Ort – und mit seinem holzvertäfelten Speisesaal, den riesigen Kaminen und steinernen Wasserspeiern sogar ziemlich schön –, aber schwarze Schafe gibt es natürlich an jeder Schule: die Sorte Kinder, die Beschwerdebriefe an den Weihnachtsmann schreiben und ständig mehr Taschengeld fordern. Zu diesen Kindern gehörten auch Candida und Leopold, und meist konnte Caspar ihnen ganz gut aus dem Weg gehen, weil sie in einer anderen Klasse waren, aber in diesem Halbjahr war ihr Erdkundelehrer krank, was einige beträchtliche Änderungen in Caspars persönlichem Zeitplan notwendig machte.

Caspar riskierte einen Blick über den Korbrand. Mr Rempel ließ die Tür zum Klassenraum immer offen stehen (was vermutlich den Rauswurf von Schülern ganz erheblich beschleunigte), und von dort, wo Caspar sich befand, konnte er zwar keinen seiner Mitschüler sehen, aber umso deutlicher seinen Lehrer, der soeben mit Erdkundebüchern um sich warf.

»Durch die Mitte, Ben, los, fang! Und Linksaußen, Ruby, aufgepasst!«

Mr Rempel, ein Mann mittleren Alters von der Größe und Statur einer Zugbrücke, war nämlich nicht nur Erdkundelehrer, sondern auch Rugbytrainer, und konnte beides nicht immer auseinanderhalten.

Ein weiteres Buch flog in hohem Bogen durch die Luft und Mr Rempels Stimme dröhnte bis auf den Gang hinaus.

»Achtung, Oliver, spring!«

Ohrenbetäubendes Krachen folgte, und Caspar verzog das Gesicht: Oliver war offenbar vorbeigesprungen. »Auf gehts, sechste Klasse, ran an den Feind.«

Jetzt wurde nervös mit den Stühlen gerückt.

»Wir alle kennen die Schlagzeilen der vergangenen Wochen: Der erste Orkan Anfang März, den die Nation noch für ein einmaliges Ereignis hielt, hat sich inzwischen zu einer weltweiten Wetterkrise ausgewachsen. Immer häufiger rasen Wirbelstürme über Europa hinweg – Großbritannien wurde allein letzte Woche gleich vier Mal von orkanartigen Stürmen verwüstet – und fordern«, er stockte, »auch immer mehr Tote.«

Caspar erschauerte. Er hatte die Nachrichten heute Morgen gesehen. Der Hurrikan, der am Vortag über London hinweggefegt war, hatte alle bisherigen Rekorde gebrochen. Tausende Menschen waren obdachlos geworden und die Zahl der Toten ging in die Hunderte. Und das trotz der Sirenen, die kurzfristig überall im Land installiert worden waren, denn diese Orkane tauchten meist schneller auf, als der Wetterdienst Alarm schlagen konnte.

Seit einem Monat fegten jede Woche gleich mehrere solcher Stürme über Little Wallops hinweg, hatten das Cricket-Clubhaus dem Erdboden gleichgemacht, Teile des Schul­dachs abgedeckt und bei mehreren Oberstufenschülern Knochenbrüche verursacht, als die Tür zur Sporthalle aus den Angeln gerissen und quer durch den Raum geschleudert worden war. Überall in den Fluren hatte man Eimer aufstellt, um das Wasser aus den undichten Stellen aufzufangen, und die Fenster mit Brettern vernagelt. Aber noch stand das Internat – so gerade eben – und bislang waren keine Toten zu beklagen. Was sich, wie alle wussten, jederzeit ändern konnte: Sie lebten auf Messers Schneide. Ein unterirdischer Bunker wurde gerade ausgehoben und sollte besseren Schutz bieten, aber das dauerte, und selbst wenn er fertig war – würden die Sirenen alle rechtzeitig warnen, damit sie ihn noch erreichen konnten?

»Ganz zu schweigen von dem, was gerade andernorts geschieht«, fuhr Mr Rempel fort. »In Amerika hinterlassen Tornados eine Spur der Zerstörung, Wirbelstürme rasen über Afrika hinweg, Taifune verwüsten Asien und Australien. Auch wenn die Meteorologen sich einig sind, dass der Klimawandel eine der Hauptursachen für diese Wetterstörungen ist – wie wir wissen, hat die Erderwärmung in den letzten Jahren kritische Ausmaße angenommen –, kann das allein nicht die Willkür dieser Stürme erklären. Hurrikans ziehen normalerweise übers Meer heran und entladen sich dann über der Küstenregion, aber diese hier schlagen mal rechts, mal links, mal in der Mitte zu und verstoßen dabei gegen sämtliche bekannten Wetterregeln, was ihre Vorhersage extrem schwierig macht. Unsere Meteorologen sind jedoch fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Und wir Geografen sollten dasselbe tun, zumal die Osterferien in diesem Jahr ohnehin wegen der ständigen Straßen- und Bahnstreckensperrungen verschoben worden sind und wir jetzt alle hier festsitzen, bis eure Eltern euch wieder gefahrlos abholen können.«

In der Nähe der Tür wurden ein paar Schluchzer laut. Alle wussten, dass an eine Heimreise in dieser Situation nicht zu denken war, und es hätte auch wenig Sinn gehabt, mit einem Mann von der Statur einer Zugbrücke zu diskutieren, aber das änderte ja nichts daran, dass sie sich nach ihren Familien sehnten. Caspar war froh, dass seine Eltern beide an der Schule unterrichteten und deshalb im Internat wohnen konnten und er selbst ein Stipendium erhalten hatte – so waren sie wenigstens alle zusammen.

Mr Rempel tat so, als würde er das Geschluchze gar nicht hören – weinende Kinder waren ihm ein Graus. »Deshalb möchte ich, dass ihr euch, als extra Hausaufgabe, eine der Katastrophen der letzten Woche vornehmt und sie genauestens dokumentiert: Was, wann, wer, wo, mit wem und – vor allem – warum? Der Klimawandel spielt natürlich hinein, aber gibt es auch noch andere Gründe für das seltsame Verhalten der Stürme?« Mr Rempel krempelte die Ärmel auf. »Am Montag sammele ich eure Berichte ein, und ich möchte, dass ihr diese Aufgabe genauso entschlossen erledigt, wie der glorreiche Jonny Hobel von den Wandernden Wölfen beim Rugby-Finale letztes Jahr sechs Gegner gleichzeitig erledigt hat.« Er unterbrach sich. »Schaut ihr tief in die Augen und dann macht sie fertig!«

Alle schwiegen verwirrt.

Caspar reckte seinen Hals noch etwas weiter über den Korbrand und sah, wie seine Mitschülerin Sophie schüchtern die Hand hob. Sophie war für Caspar das, was einer Freundin am nächsten kam: Sie aßen zusammen zu Mittag und meldeten sich ab und zu für eine Partnerarbeit in Physik oder Chemie – aber Caspar achtete sorgfältig darauf, dass sich die Gespräche ausschließlich auf die Schule beschränkten. Denn Freundschaften – und all die verworrenen und verwirrenden Gefühle, die sie mit sich brachten – hatten sich für Caspar bisher immer nur als verhängnisvoll erwiesen.

Dabei hatte er zu Anfang, in der ersten Klasse in Little Wallops, durchaus noch versucht, Freunde zu finden, aber schon damals hatten Candida und Leopold ihm keine Ruhe gelassen. Ständig hatten sie ihn geärgert und gehänselt und auch alle seine Versuche, sich mit jemandem anzufreunden, irgendwie vereitelt – bis es Caspar schließlich reichte. Freundschaften waren schwierig und anstrengend, und obwohl seine Eltern ihm immer wieder gut zuredeten, hatte er für sich beschlossen, dass die Mühe sich nicht lohnte. Ohne Freunde war das Leben viel einfacher und berechenbarer. Und so war Caspars Welt immer kleiner geworden, bis ihm schließlich schon bei dem bloßen Gedanken, irgendein Risiko einzugehen, etwas Neues zu probieren oder auch nur minimal von seinem Zeitplan abzuweichen, angst und bange wurde.

Caspar sah, wie Sophie für ihre Frage all ihren Mut zusammennehmen musste. »S…Sir, ich organisiere für Sonntag einen Kuchenverkauf, um Geld für all die Menschen zu sammeln, die wegen der Stürme kein Zuhause mehr haben, und ich muss dafür noch Handzettel und Plakate machen. Könnte ich vielleicht eine Verlängerung bekommen?«

Mr Rempel spannte seinen Bizeps an. »Hat der glorreiche Jonny Hobel um eine Verlängerung gebeten, als die Röhrenden Rüpel gegen Ende der Halbzeit immer mehr aufgeholt haben?«

Sophie runzelte die Stirn. »Ähm, vermutlich nicht, oder?«

»Da hast du meine Antwort.« Mr Rempel faselte dann noch irgendwas von einer Klassenrangelei zum Abschluss des Tages, aber zur Erleichterung seiner Schüler klingelte es in diesem Moment. Caspars Herz schlug schneller. Laut Zeitplan blieben ihm nur wenige Sekunden, um aus dem Fundsachenkorb zu klettern, sich in den Strom von Schülern einzureihen, der aus den Klassenzimmern quoll und sich durch die Gänge schob, ungesehen in die Bibliothek zu schlüpfen und dann zu der Tür zu sprinten, hinter der die Turmwohnung seiner Eltern lag.

Eine Woge von Kindern wälzte sich auf ihn zu und Caspar stieg eilig – den Zeitplan fest an die Brust gedrückt – aus dem Korb und mischte sich unter die Menge. Er war klein für sein Alter und schmal, was hilfreich war, um sich in geduckter Haltung zwischen den anderen hindurchzuschlängeln. Unbemerkt huschte er den Flur entlang, unter den frisch montierten Sirenen hindurch und an Dutzenden von Wassereimern vorbei, und schlüpfte – während die anderen zu ihren verschiedenen Freizeitaktivitäten abbogen – durch die Tür zur Bibliothek.

Ein anderes Kind hätte vielleicht noch eine Weile in den Regalen gestöbert oder ein paar Bücher durchgeblättert, aber Caspar war kein Freund von Umwegen. Schon gar nicht, wenn die Bibliothekarin, Mrs Nirgendsher, gerade Kaffeepause machte und die Bibliothek ohne Aufsicht war. Caspar huschte zwischen den Regalen hindurch, stieg über ein Häufchen Putz hinweg, das beim letzten Sturm von der Decke gerieselt war, und bog dann in den Mittelgang ein, an dessen Ende die Tür zu seiner Wohnung lag.

Er wollte gerade loslaufen, als ihm ein allzu bekannter, beißender Geruch in die Nase stieg: Haarspray! Caspars Herz fing an zu rasen. Candida Caschmir-Tops war in der Bibliothek. Von rechts drang jetzt eine Art Grunzen an sein Ohr, und Caspar überlief es kalt: Das klang nach Leopold Raffzahn.

Wie kann das sein?, dachte Caspar. Ich habe meinen Zeitplan doch genauestens befolgt. Die beiden können mich unmöglich überholt haben – ich bin doch gleich nach dem Klingeln losgerannt! Er schluckte mühsam. Es seid denn, sie haben auch die Stunde bei Mr Rempel geschwänzt und hier schon auf mich gewartet …

Er trabte trotzdem los, aber schon im nächsten Moment schoben sich, nur wenige Meter vor ihm, ein Mädchen und ein Junge zwischen den Regalen hervor.

Caspar blieb wie angewurzelt stehen.

Candida war groß und dünn und unfassbar eitel. Sie lächelte nur, wenn sie sich selbst im Spiegel sah, und sie lachte nur dann, wenn andere weinten. Leopold hingegen war klein und dick und unfassbar dumm. Schon beim Aufsagen der Zweierreihe brach ihm der Schweiß aus, und er hatte immer noch Mühe, seinen eigenen Namen zu buchstabieren. Er und Candida hatten eigentlich nur eins gemeinsam: Geld.

Candidas Vater hatte eine Luxusmarke für Kaschmir­kleidung gegründet, die in jedem Warenhaus der Welt verkauft wurde, während Leopolds Vorfahren, die Raffzahns, im 18. Jahrhundert irgendetwas sehr Verdächtiges, aber auch sehr Einträgliches mit Straußeneiern und Diamanten veranstaltet hatten. Aber wenn Geld das Einzige ist, was zwei Menschen verbindet, kommt meist nichts Erfreuliches dabei heraus.

Candida drehte eine lange blonde Strähne um den Finger. »Du hast nicht als Einziger Erdkunde geschwänzt, Caspar.«

»Stimmt.« Leopold kicherte und fügte dann höchst überflüssig hinzu: »Wir nämlich auch.«

Caspar schielte zu der Eichentür am anderen Ende des Ganges hinüber, hinter der seine Wohnung lag. Wenn er jetzt einen Sprint hinlegte, könnte er es vielleicht gerade eben schaffen. Doch Candida hatte andere Pläne.

»Wo willst du denn hin?«, fragte sie hämisch, während sich fünf perfekt manikürte Fingernägel in Caspars Oberarm krallten. »Ich hab mich schon darauf gefreut, am Wochen­ende was mit dir zu unternehmen, wo doch die Ferien verschoben worden sind.«

»Nach Hause«, stieß Caspar hervor. »Einfach nach Hause.«

Candida runzelte die Stirn. »Aber Caspar! Dieser Turm ist doch nicht wirklich dein Zuhause, oder?«

Leopold grinste feist und sein Doppelkinn blähte sich auf wie ein speckiger Ballon.

»Du gehörst hier nämlich nicht her«, zischte Candida. Verächtlich zupfte sie an Caspars gebrauchtem Schulblazer und rümpfte die Nase über seinen abgewetzten Rucksack. »Die Schüler von Little Wallops kommen alle aus wohlhabenden Familien. Wir sind kultiviert. Etwas Besonderes. Reich.« Sie machte eine Kunstpause und der nächste Satz tropfte ihr von den Lippen wie Öl. »Wir haben Stil.«

»Stil, genau.« Leopolds Wortschatz umfasste maximal 45 Wörter, deshalb wiederholte er meist einfach die von Candida.

Caspar dachte an seine Mutter, die von einer britischen Familie aus einem Waisenhaus in Tansania adoptiert worden war, und an seinen Vater, der seine Kindheit in einem der ärmsten Viertel Londons verbracht hatte. Trotzdem hatten beide etwas aus ihrem Leben gemacht: Ariella war Sportlehrerin in Little Wallops und bot in der Mittagspause auch Yogastunden an (häufig besucht von Schülern, die bei Mr Rempel Erdkunde hatten) und Ernie unterrichtete Technisches Zeichnen (er konnte Stühle schnitzen, Tische schreinern, Lampen bauen und so gut wie alles reparieren, was ihm unter die Nase kam).

Aber für Candida und Leopold spielte das alles überhaupt keine Rolle. Sie waren nicht zwischen Hochhäusern mit Graffiti an den Wänden aufgewachsen, sondern in einer Villa mit hohen Gartenmauern und mit Dienern, die Cuthbert hießen. Und obwohl Caspar meist glaubte, er käme ganz gut ohne Freunde zurecht – jetzt hätte er sich welche gewünscht. Sehr sogar. Denn in einem kleinen, verborgenen Winkel seines Herzens fühlte er sich einsam und verletzlich.

»Das Dumme ist nämlich, dass du hier einfach nicht reinpasst, Caspar. Du bist niemand und hast noch nicht mal die richtige Hautfarbe.«

Caspar spürte, wie sich bei dieser Gemeinheit seine Muskeln anspannten, aber Candida packte seinen Arm nur noch fester, und er wusste, dass er nicht den Mut hatte, sich gegen sie zu wehren. Candida und Leopold waren zu fast allen Leuten gemein, weil fiese Menschen nun mal nicht anders können, aber auf Caspar hatten sie es ganz besonders abgesehen, weil er in fast allem anders war als sie – und das konnten sie überhaupt nicht leiden. Mit verkniffener Miene musterte Candida Caspars dichte schwarze Locken und seine dunkle Haut. »Und was machen wir mit Leuten, die hier nicht reinpassen, Leopold?«

Leopold starrte sie ratlos an. Der Tag war lang gewesen und sein Vorrat an Worten ging bedenklich zur Neige. »Äh, Müll?«, stammelte er schließlich.

Caspar schielte zu dem Abfalleimer in der Ecke hinüber. Es tat sicher weh, mit dem Kopf voran hineingesteckt zu werden, aber vielleicht nicht ganz so sehr wie damals, als Leopold eine ganze Pause lang auf seinen Beinen saß, sodass Caspar noch Tage später kein Gefühl in ihnen hatte, oder als Candida seinen Englischaufsatz verbrannt hatte und Caspar an seinem Geburtstag nachsitzen musste, weil er ihn nicht abgeben konnte. Doch heute war das Glück auf seiner Seite.

»Candida und Leopold!«, ertönte die Stimme einer alten Frau, und als Caspar aufsah, stand Mrs Nirgendsher in der Tür. Für eine Bibliothekarin sah sie ziemlich seltsam aus: Sie hatte strubbeliges graues Haar, trug einen Nasenring und immer nur Rollkragenpullover, selbst im Hochsommer, aber das Merkwürdigste an ihr war ihr Akzent. Der ließ sich einfach nicht zuordnen, und wenn man sie dann fragte, woher sie kam, winkte sie bloß ab und sagte: »Ach, von hier und von dort.« Caspar hatte jedoch schon öfter bemerkt, dass sie die Gabe besaß, immer zum richtigen Zeitpunkt aufzutauchen – so auch jetzt wieder.

»Wie Mr Rempel mir erzählt hat, war keiner von euch dreien heute Nachmittag im Unterricht«, sagte sie jetzt.

Candida ließ Caspars Arm los und drehte sich dann provozierend langsam zu der Bibliothekarin um. Mrs Nirgendsher war schwer einzuordnen, deshalb behandelte Candida sie sicherheitshalber so wie die meisten ihrer Lehrer – mit herablassender Gleichgültigkeit –, achtete aber darauf, den Bogen nicht zu überspannen, denn je länger sie nachsitzen musste, desto weniger Zeit blieb ihr, andere Leute zu quälen.

»Ich war bei der Schulschwester.« Candida hüstelte wenig überzeugend, und Mrs Nirgendsher hob eine silberne Augenbraue.

»Caspar hatte, wie ich hörte, Klavierstunde«, fuhr Mrs Nirgendsher fort, und Caspar schämte sich angesichts der Lüge, die er Mr Rempel aufgetischt hatte. »Und du, Leopold?«

Leopold zog schnell ein Buch aus dem Regal. »Ich hab« – er zögerte – »gelesen.«

Mrs Nirgendsher schien überrascht. »Ach ja? Worum gehts denn in dem Buch?«

Leopold starrte auf den Buchrücken hinunter und entzifferte mühsam das Wort ›Thesaurus‹. »Um Thesaurusse«, riet er wild drauflos. »Eine Dinosaurierart.«

Candida verdrehte die Augen, aber Mrs Nirgendsher blieb ganz ruhig, nahm Leopold das Buch aus der Hand und sagte nur: »Du meldest dich jetzt sofort beim Schulleiter und sagst ihm, dass du zwar nicht weißt, was ein Thesaurus ist, aber gern jedes einzelne Wort daraus abschreiben würdest.«

Und Leopold tat, was er immer tat, wenn ihm die Worte fehlten: Er steckte die Hand in die Tasche. »Lässt sich das nicht mit einem hübschen kleinen Fünfer regeln?«

Mrs Nirgendsher setzte schon zu einer Antwort an, als von der Tür her eine dröhnende Stimme ertönte.

»Hat der glorreiche Jonny Hobel den röhrenden Rüpeln etwa Geld geboten, damit sie ihn gewinnen lassen?«, donnerte Mr Rempel und marschierte auf Leopold zu.

Caspar hatte zwar keinen Schimmer, wer dieser glorreiche Jonny Hobel war (und wenn Mr Rempel ihn noch so oft erwähnte), aber in diesem Moment fand er ihn auch ziemlich toll, bot er ihm doch überraschend die Chance zur Flucht. Und Caspar ergriff sie. Wie der Blitz schoss er den Gang hinunter – ohne zu bemerken, dass Candidas Falkenblick ihm folgte – und riss die Turmtür auf. Zog sie hinter sich fest zu, blieb einen Moment lang stehen und keuchte in die Stille. Dann stieg er, mit einem Seufzer der Erleichterung, die Stufen zu seiner Wohnung hinauf.

Der Turm, den Caspar mit seinen Eltern bewohnte, hatte nur vier Zimmer: ein Wohnzimmer – darin ein durchgesessenes Sofa, ein fadenscheiniger Teppich, eine kaputte Standuhr, die sein Vater für den Schulleiter reparieren sollte, und ein Fernseher, der viel zu klein und zu alt war, um cool zu sein –, eine schmale Küche und zwei winzige Schlafzimmer. Gleich nebenan gab es einen weiteren Turm, in dem Mrs Nirgendsher mit ihrer Katze wohnte, aber Caspar war nur ein einziges Mal, kurz nach seinem Einzug, drüben bei ihr gewesen, um Milch zu borgen.

Caspar stellte seine Schultasche ordentlich neben die Tür, zog seine Schuhe aus und schob sie, schön rechtwinklig, unters Sofa. Dann hörte er den Anrufbeantworter ab. Seine Mutter hatte daraufgesprochen, sie hätte – mal wieder – ihre Handtasche im Dorfladen vergessen, aber er solle sich keine Sorgen machen, sie sei in einer halben Stunde zurück. Caspar sah aus dem Fenster und biss sich auf die Lippen. Der Nachmittag war trüb und die Blätter der wenigen Bäume, die noch standen, hingen schlaff herab, aber Caspar wusste, dass die Sirenen trotz der Windstille jederzeit losgehen konnte, sobald der Wetterdienst irgendwo, noch weit entfernt, die ersten Anzeichen eines Sturms entdeckte.

Nachdem Anfang des Monats der erste Orkan übers Land gefegt war, hatte der Schulleiter alle in der Aula versammelt und durchgezählt, und als niemand fehlte oder verletzt war, hatte sich die Stimmung schnell wieder entspannt. Die Schülerschaft hoffte auf Stundenausfall und vorgezogene Ferien, während die Hausmeister schon mal Schäden am Mauerwerk ausbesserten und umgestürzte Bäume beiseiteräumten. Doch dann waren es immer mehr Stürme geworden, sie hatten Bahnstrecken zerstört, Straßen unpassierbar gemacht und schließlich auch erste Opfer gefordert. An diesem Punkt hatte der Schulleiter verkündet, die Schüler dürften – zu ihrer eigenen Sicherheit – das Schulgelände nicht mehr verlassen, solange das Wetter so unberechenbar blieb. Nur den Lehrern stand es weiterhin frei, ins Dorf zu gehen, sofern sie bereit waren, über Baumstämme zu klettern und sich zwischen Gebäuderuinen hindurchzuschlängeln.

Caspar fand es schrecklich, dass seine Eltern so oft bereit waren, ins Dorf zu gehen und die Internatsvorräte mit dem Wenigen aufzustocken, das noch seinen Weg in den Laden fand. Was, wenn ein weiterer Sturm aufzog, während seine Mutter auf dem Heimweg war? Caspar schob den Gedanken energisch beiseite und konsultierte erst seinen Zeitplan, dann seine Uhr. Sein Vater war auch noch nicht zurück. Vielleicht hatte er – mal wieder – den Schlüssel zu seiner Werkstatt verloren oder half beim Ausheben des Bunkers.

Caspar beschloss, sich zur Beruhigung ein Glas Saft zu gönnen, bevor er die nächste To-do-Liste in Angriff nahm – eine Tätigkeit, die ihm immer ein befriedigendes Gefühl von Kontrolle verschaffte. Er durchquerte gerade das Wohnzimmer, als er das unverkennbare Knarren der alten Turmtür hörte. Caspar erstarrte. Seine Mutter kam erst in einer halben Stunde, sein Vater konnte es auch nicht sein – den hörte man immer schon auf der Treppe pfeifen – und Besucher klopften eigentlich erst an. Diese Person jedoch war lautlos hereingeschlüpft, als wollte sie nicht gehört werden.

Caspar schluckte.

Zum ersten Mal in den sechs Jahren, die er nun schon in Little Wallops lebte, war ihm jemand in den Turm gefolgt.

2

Caspar blieb ganz still stehen und lauschte. Vielleicht hatte, wer auch immer das war, sich in der Tür geirrt und würde einfach wieder gehen. Doch nun wurden Schritte laut und sie kamen eindeutig die Treppe herauf.

»Pfui Teufel. Selbst das Treppenhaus riecht nach diesem Fraß, den seine Mutter ihm immer vorsetzt.«

Caspar zuckte zusammen. Candida! Offenbar war sie noch nicht fertig mit ihm.

»Was kocht sie auch ständig dieses ausländische Zeug?«, fuhr die Stimme missbilligend fort. »Hat wohl noch nicht begriffen, dass man hierzulande Gurkensandwiches und Cremeplätzchen isst.«

Wie gern hätte Caspar seine Mutter verteidigt, aber das traute er sich nicht, deshalb ging er im Geiste lieber alle möglichen Verstecke durch:

1. Küchenschrank: zu klein.

2. Unter meinem Bett: zu offensichtlich.

3. Unter dem Bett meiner Eltern: zu staubig.

4. Hinter dem Sofa: Echt jetzt?

In diesem Moment fiel sein Blick auf die Standuhr in der Ecke, deren beide Zeiger unbeirrbar auf die Zwölf gerichtet waren. Erst gestern Abend hatte sein Vater die Uhr geöffnet – irgendwas war mit dem Pendel nicht in Ordnung, hatte er gesagt –, aber ein störrisches Pendel war gerade Caspars geringstes Problem. Mit zwei Schritten war er bei der Uhr, riss die Tür auf, zog den Schlüssel aus dem Schloss und zwängte sich in den Uhrenkasten.

Drinnen war es eng und dunkel und es roch nach Staub und Geheimnissen.

»Caspar?« Candida war offenbar schon im Wohnzimmer.

Caspar hielt den Atem an.

»Ich weiß, dass du hier irgendwo sein musst«, gurrte Candida und kam näher. »Und ich weiß auch genau, dass deine Eltern weg sind. Ich hab gesehen, wie deine Mutter ins Dorf gegangen ist, und in der Werkstatt deines Vaters brennt noch Licht.« Sie kicherte. »Und ich dachte immer, die Tür zu eurem Turm wär verschlossen …«

Mit verdoppeltem Herzschlag lauschte Caspar auf ihre Schritte. In der Küche gingen Schranktüren auf und zu, dann sah er durch den winzigen Spalt in der Tür, wie Candida zurück ins Wohnzimmer kam und ihre Fingernägel in die Rückenlehne des Sofas grub.

»Glaubst du, ich lass es dir durchgehen, dass Leopold deinetwegen nachsitzen muss?«, zischte sie. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie reich seine Eltern sind? Ein Anruf seines Vaters und du bist für immer verschwunden.« Sie senkte die Stimme. »Eines Tages würdest du einfach irgendwo aufwachen, in Grönland oder an irgendeinem anderen, genauso scheußlichen Ort, und das wärs dann für dich. Deine Eltern würden dich nie mehr finden.«

Caspar mochte sich eine so drastische Änderung seines Tagesablaufs gar nicht erst vorstellen. Er versuchte, dem Pendel auszuweichen, das sich in seine Schulter bohrte, aber dann riss er plötzlich die Augen auf. Candida stand jetzt direkt vor der Uhr und musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, wie man einen Haufen Schmutzwäsche mustert. Caspar wagte kaum zu blinzeln. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte zu Caspars Zimmer hinüber.

Sie machte so viel Wind bei dieser Bewegung – ungeduldig, dramatisch, eine verwöhnte Prinzessin –, dass ein kleiner Luftzug durch den Türspalt drang. Er wirbelte ein paar Staubkörner auf, die im Dämmerlicht funkelten, und da – in diesem stillen Moment – trat das Extrem Unvorhersehbare Ereignis ein.

Der Schlüssel in Caspars Hand sah plötzlich ganz anders aus: gar nicht rostig und alt, sondern silbern glänzend, und an einem Ende war ein türkiser Stein eingelassen, der nun sanft zu leuchten begann. In seinem Schimmer stellte Caspar fest, dass er nicht mehr allein war.

Ihm gegenüber saß ein Mädchen. Sie las gerade einen Zettel, den sie vermutlich aus dem kleinen, weißen Briefumschlag in ihrer anderen Hand gezogen hatte. Als sie Caspar entdeckte, schrak sie zusammen, stopfte das Papier hastig in die Hosentasche und funkelte ihn wütend an.

Caspar blinzelte. Dann blinzelte er nochmals und rieb sich die Augen. Doch das Mädchen war immer noch da, und sie sah anders aus als alle, denen er je begegnet war. Ihre Wangen waren mit winzigen goldenen Sternen gesprenkelt, und sie trug eine Latzhose, aus deren vorderer Tasche mehrere Maulschlüssel und Schraubenzieher heraussahen, aber am irritierendsten war, dass sie unverkennbar nach ›Draußen an der frischen Luft‹ roch, einem Ort, an dem Caspar sich so selten wie möglich aufhielt, wegen seiner endlosen Weite und seines chronischen Mangels an Fundsachenkörben, in denen man sich vor gewissen Mitschülern verstecken konnte.

Das Mädchen ließ ihre Fingerknöchel knacken und Caspar wich erschrocken zurück. Ob sie eine Einbrecherin war? Oder eine Komplizin von Candida? Aber welcher Einbrecher oder Komplize würde sich so anziehen? Und war sie eben erst in seine Wohnung gekommen, oder schnüffelte sie hier schon den halben Tag lang herum? Caspar versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die Standuhr ist gar nicht groß genug für zwei, das Mädchen kann hier also noch nicht drin gewesen sein, sonst hätte ich sie doch bemerkt, auch im Dunkeln. Oder nicht?

Andererseits: Wenn er sich so umschaute, wirkte das Innere der Uhr jetzt irgendwie größer. Geräumiger. Eher wie ein Schrank oder eine alte Besenkammer.

Das Mädchen verengte die Augen, wie eine Katze vor dem Sprung, und Caspar wurde immer kleiner in seinem Blazer. Wo war es gefährlicher? Bei dem Mädchen in der Uhr oder draußen in der Wohnung mit Candida? Er konnte sich nicht entscheiden. Und tat, was die meisten Leute tun, wenn sie nicht weiterwissen: gar nichts.

Nun ergriff das Mädchen das Wort. »Dann bist du also der Verbrecher?«

Caspar wurde blass. Wenn Candida das Mädchen hörte, war er geliefert. Er schloss die Augen und versuchte so zu tun, als würde das alles gar nicht passieren. Konnte es doch auch gar nicht. Im Innern von Standuhren fand man Pendel und Gewichte, aber keine seltsamen Mädchen in Latzhose.

Ein Finger bohrte sich in seine Rippen, und Caspar riss die Augen wieder auf. Das Mädchen war ihm jetzt gefährlich nahe und das Gold auf ihren Wangen glitzerte. Sie trat wieder einen Schritt zurück, strich sich das Haar aus dem Gesicht – das weißblond war und in alle Richtungen abstand, als hätte man sie mitten im Schleudergang aus dem Trockner geholt – und starrte Caspar wütend an.

»Wär nett, wenn du nicht schon während der Verhaftung einschlafen würdest. Dafür bleibt dir im Kerker noch genügend Zeit.«

Caspar hob hastig einen Finger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, dass sie still sein sollte. Jeden Moment konnte Candida sie hören und die Tür aufreißen. Aber nichts dergleichen geschah. Vielleicht war sie noch in einem der anderen Zimmer? Er zwang sich, in Ruhe nachzudenken. Das Mädchen konnte doch nur eine Mitschülerin sein, aber entweder war sie neu auf der Schule, oder er hatte sie schon mal gesehen und dann gleich wieder vergessen, was er sich bei einem Mädchen wie ihr allerdings kaum vorstellen konnte.

»I…ich glaub, ich hab dich in der Schule noch nie gesehen«, flüsterte er.

Das Mädchen wippte auf den Zehen, die nackt und völlig verdreckt waren. »Das liegt daran, dass ich ständig aus dem Unterricht geworfen werde.« Sie stockte kurz. »Aber am Ende holen sie mich immer doch wieder rein. In Wolkenstern herrscht nämlich gerade Bottler-Mangel, deshalb ist es wichtig, dass ich eine gute Ausbildung bekomme.« Dann runzelte sie die Stirn. »Und jetzt hör auf, mich abzulenken. Ich versuche gerade, dich zu verhaften.«

Spätestens jetzt musste Candida sie gehört haben – dieses Mädchen gab sich überhaupt keine Mühe, leise zu sein –, aber aus unerfindlichen Gründen tat sich draußen nichts. Hatte sie vielleicht schon aufgegeben und den Turm verlassen? Caspar nahm seinen ganzen Mut zusammen und flüsterte kaum hörbar: »Und wo in aller Welt bist du gerade hergekommen?«

»Aus den Wolken natürlich«, erwiderte das Mädchen. »Woher sonst?«

»So ein Quatsch«, zischte Caspar. »Kinder kommen ja wohl kaum aus den Wolken.«

Das Mädchen schüttelte sich. »Du klingst schon fast wie ein Erwachsener.«

»Hör zu, ich habe keine Ahnung, wer du bist und woher du kommst«, flüsterte Caspar, »aber ich bin jedenfalls kein Verbrecher. Wenn hier jemand ein Verbrechen begangen hat, dann du, weil du hier unerlaubt eingedrungen bist! Ich bin nur ein Sechstklässler, der sich in einer Standuhr versteckt, und es wär nett, wenn du jetzt mal still wärst.«

Das Mädchen schnaubte. »Ich bin überhaupt nur still, wenn ich schlafe, und selbst dann schnarche ich garantiert.« Sie schaute sich um. »Außerdem ist das hier keine Standuhr, sondern der Niezuspätbaum. Du bist ja ein ganz schön dämlicher Verbrecher, wenn du nicht mal weißt, wo du dich versteckst! Und dich auch kein bisschen getarnt hast, um hier nicht ganz so sehr aufzufallen!«

Caspar verlor langsam die Geduld. »Wenn das hier keine Standuhr ist, wieso bohrt sich dann ein Pendel in meine Schulter?«

Das Mädchen musterte ihn amüsiert. »Welches Pendel? Was dich da pikt, ist eine knorrige Stelle im Stamm.«

Caspar wandte den Kopf und der Schweiß brach ihm aus. Wo vorhin noch zweifellos ein Pendel gehangen hatte, ragte nun ein kleiner Höcker aus dem Holz. Und in den Geruch nach Staub und Geheimnissen mischte sich unverkennbar der warme, wilde Geruch eines Baums. Caspar schluckte. Was war hier los? Die Situation geriet immer mehr außer Kontrolle.