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Der zweite Band der vier verborgenen Reiche: ein Papagei, der Gedanken lesen kann, ein Junge mit blauen Ohrläppchen und unvermutete Held*innen! Erwachsene kennen die vier verborgenen Reiche vielleicht nicht, aber Kinder können den Weg dorthin finden und zusammen mit Drachen, sprechenden Papageien und anderen Zauberwesen unglaubliche Abenteuer erleben. So wie Fux und Flunker. Kaum haben die Zwillinge Dschungeltau betreten, warten Magie und Abenteuer auf sie. Niemals hätten die beiden damit gerechnet, dass sie einmal mit einem gedankenlesenden Papageien und einem Jungen mit blauen Ohrläppchen auf Einrädern durch den Dschungel rasen würden. Richtig geheuer ist ihnen das Ganze nicht, aber für die Bewohner dort sind sie die Retter ihrer magischen Welt. Und so machen sie sich trotz kreischender Affenhorden, verzauberter Bäume und der bösen Harpyie Morg auf die Suche nach dem Für-immer-Farn. Aber werden sie ihn auch finden? »Fantasievoll, spannend und einfach wunderbar.« (Robin Stevens über Auf der Suche nach dem Für-immer-Farn) In jedem Band der vier verborgenen Reiche stehen zwei neue Kinder in einer anderen Welt im Mittelpunkt. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen, sodass die Bücher auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Die Bände der Reihe: - Caspar und die Träne des Phönix (Band 1) - Auf der Suche nach dem Für-immer-Farn (Band 2) - Zeb und der Drache aus Morgenschimmer (Band 3) »Ein moderner Klassiker der Fantasy-Literatur« (Leser*innenstimme) Der Riesenerfolg aus England: spannend und witzig von der ersten bis zur letzten Seite. Für alle Fans von Harry Potter und Percy Jackson!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Abi Elphinstone
Die vier verborgenen Reiche: Auf der Suche nach dem Für-immer-Farn
Aus dem Englischen von Annette von der Weppen
Nie hätten Fux und Flunker damit gerechnet, einmal auf Einrädern durch den Dschungel zu rasen. Und das auch noch zusammen mit einem gedankenlesenden Papageien und einem Jungen mit blauen Ohrläppchen! So richtig geheuer ist ihnen das Ganze nicht. Aber die Bewohner von Dschungeltau heißen die beiden begeistert willkommen: Sie halten die Zwillinge für die Retter ihrer magischen Welt. Dafür müssen Fux und Flunker den Für-immer-Farn finden. Doch sie haben mächtige Gegner: Horden von mechanischen Affen, verzauberte Bäume und die böse Harpyie Morg. Werden die beiden bestehen können?
Der Riesenerfolg aus England endlich auf Deutsch: spannend und witzig von der ersten bis zur letzten Seite. Für alle Fans von Harry Potter und Percy Jackson!
»Fantasievoll, spannend und einfach wunderbar.«(Wells & Wong-Autorin Robin Stevens)
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Für meinen Patensohn Freddie.Auf all die Abenteuer, die wir oben im Norden erleben werden.
Willkommen in den vier Verborgenen Reichen
Wenn man erwachsen wird, passieren gleich mehrere ziemlich beunruhigende Dinge: Die Knie funktionieren nicht mehr so gut wie früher, man verbringt einen Großteil des Tages damit, sich über Hausaufgaben, Gemüseessen und Schlafenszeiten zu ereifern, und man döst in jedem bequemen Sessel sofort ein. Aber zusammen mit den streikenden Knien, dem ständigen Gemecker und Eindösen kommt auch die Weisheit. Oder etwa nicht? Denn wären die Erwachsenen wirklich weise, müssten sie ja die Verborgenen Reiche kennen. Tun sie aber nicht. Sie sind viel zu beschäftigt, um an Magie zu glauben. Sonst wäre ihnen doch längst schon aufgefallen, dass die Welt ganz anders ist, als sie denken …
Am Anfang gab es nämlich gar keinen Urknall oder schwarze Löcher. Am Anfang gab es nur ein Ei. Ein ziemlich großes Ei. Und aus diesem Ei wurde ein Phönix geboren. Als er sah, dass er allein war, weinte er sieben Tränen, die zu unseren Kontinenten wurden und die Erde so formten, wie wir sie kennen, auch wenn das alles für den Phönix nur das Weitentfernt war. Diese Erdteile waren aber noch wüst und leer, und so verstreute der Phönix vier seiner goldenen Federn, aus denen dann vier nirgends verzeichnete, sprich: verborgene Reiche hervorgingen. Für jene, die später im Weitentfernt leben sollten, waren sie unsichtbar, enthielten aber all die Magie, die es brauchte, um Sonnenlicht, Regen und Schnee hervorzubringen und auch all die unbeschreiblichen Wunder hinter diesen Wetterphänomenen: von der Melodie eines Sonnenaufgangs bis hin zu den Geschichten, die ein Schneesturm erzählt.
Wäre für all das nun ein Hippogreif oder ein Einhorn zuständig gewesen, hätte die Sache leicht schiefgehen können (denn so gern diese magischen Wesen andere herumkommandieren, sind sie doch nur selten pünktlich und auch viel zu eitel, um gerecht zu herrschen). Ein Phönix hingegen ist das weiseste aller magischen Wesen, und so wusste auch schon der allererste Phönix, dass Magie, die man nur zum eigenen Vorteil nutzt, auf dunkle Abwege führt, während sie, zum Wohle aller eingesetzt, eine ganze Welt erschaffen und erhalten kann. Und so ordnete er an, die Bewohner der Verborgenen Reichen dürften sich nur so lange an den Wundern seiner Magie erfreuen, wie sie das Weitentfernt an ihr teilhaben ließen, damit auch diese Welt sich mit Licht und Leben füllte. Sollten die Verborgenen je aufhören ihre Magie zu teilen, warnte der Phönix, würden beide Welten, das Weitentfernt wie auch die Verborgenen Reiche, zu Staub zerfallen.
Der Phönix überlegte lange, welchen magischen Wesen er die Herrschaft über jedes der Verborgenen Reiche übertragen sollte. Die Wolkenriesen waren stark und weise, hatten aber leider die Eigenheit, mitten im Satz einfach einzuschlafen. Die Schneetrolle wiederum waren gütig und gewitzt, aber ein bisschen zu sehr in ihre Waffen vernarrt. Und so fiel die Wahl des Phönix schließlich auf jene Wesen, die man ›die Erhabenen‹ nannte: Magier, die alle unter derselben Mondfinsternis geboren waren und sich von den übrigen Verborgenen durch ihre Weisheit, ungewöhnlich hohe Lebenserwartung und schauderhaft schlechten Witze unterschieden. Obwohl diese Erhabenen in jedem Reich eine andere Gestalt annahmen, herrschten sie doch überall gerecht und sorgten gewissenhaft dafür, dass jeden Tag ein Teil der Magie des Phönix ins Weitentfernt weitergeleitet wurde.
Jedes der vier Reiche übernahm dabei eine andere Rolle. In Wolkenstern wurden die Wetterwunder gesammelt: winzige Perlen aus Sonnenlicht, Regen und Schnee in ihrer reinsten Form. Diese wurden dann von den Drachen in die anderen Reiche gebracht und von den Bewohnern dort mit magischer Tinte vermischt, um die Wetterrollen für das Weitentfernt zu schreiben: Sonnensymphonien in Morgenschimmer, Regengemälde in Dschungeltau und Schneegeschichten in Silberkarst. Nach und nach füllte sich nun auch das Weitentfernt mit Leben: Pflanzen, Blumen und Bäume sprossen empor, und so stark war die Magie, dass irgendwann Tiere erschienen und schließlich sogar Menschen.
Jahre vergingen und der Phönix wachte über alles von Ewigdunkel aus, einem Ort, der so weit entfernt und unerreichbar war, dass nicht einmal die Verborgenen wussten, wo er lag. Doch auch ein Phönix, und sei er noch so weise, lebt nicht ewig, und als er nach fünfhundert Jahren schließlich starb, erhob sich, wie bei diesen Vögeln üblich, sogleich ein neuer Phönix aus seiner Asche, um die Magie der Verborgenen Reiche zu erneuern und sicherzustellen, dass sie auch weiterhin mit den Bewohnern des Weitentfernt geteilt wurde.
Eine Phase des Friedens und Wohlstands folgte und die Verborgenen gewöhnten sich daran, alle fünfhundert Jahre nach einem neuen Phönix Ausschau zu halten, der in den Himmel aufstieg und den Beginn einer weiteren Ära verkündete. Alle dachten, so würde es für immer bleiben …
Doch sobald Magie im Spiel ist, hat für immer nur selten Bestand. Denn immer gibt es irgendwen, irgendwo, der von Gier gepackt wird. Und wenn ein Herz danach trachtet, alle Magie ganz allein zu beherrschen, sind Warnungen und Gebote nur allzu schnell vergessen. So war es auch bei einer Harpyie namens Morg, danach trachtete dem Phönix alle Macht und Magie zu rauben.
Von Neid und Missgunst erfüllt, hauchte Morg in eben jener Nacht, in der sich der letzte Phönix erneuern sollte, einen Fluch über sein Nest. Der alte Phönix ging in Flammen auf, wie vor ihm schon alle anderen seiner Art, aber diesmal brannte das Feuer schwarz und kein neuer Phönix erhob sich aus seiner Asche. Und so nahm Morg sein Nest in Besitz, um von hier aus die gesamte Magie der Verborgenen Reiche in ihre Macht zu bringen.
Doch immer wenn etwas schiefgeht und Magie missbraucht wird, entsteht auch Raum für Heldinnen und Helden, mit denen niemand gerechnet hat. Ich könnte euch von einem Mädchen aus Morgenschimmer erzählen, dem es gelang, Morg ihre Flügel zu rauben, in denen sich die Macht der Harpyie konzentrierte, oder von einem Jungen namens Caspar, der aus dem Weitentfernt nach Wolkenstern kam, um eben diese Flügel endgültig zu zerstören und beide Welten, die Verborgenen Reiche wie auch das Weitentfernt, vor dem Untergang zu retten. Ich könnte euch auch von den Drachen erzählen, die jetzt nachts durch die Reiche fliegen und ihren geweihten Mondstaub verstreuen, um die verbliebene Magie der Verborgenen Reiche so lange am Leben zu erhalten, bis Morg eines Tages stirbt und ein neuer Phönix sich erhebt.
Doch das sind Geschichten für andere Zeiten und Orte – und vielleicht sind sie einigen von euch ja auch schon bekannt. Hier und jetzt braut sich jedenfalls eine neue Geschichte zusammen, denn wieder regt sich Morg in Ewigdunkel, mit neuen Flügeln, die mit den finstersten Flüchen heraufbeschworen wurden, und diesmal richtet sich ihr Trachten auf Dschungeltau, das Reich, in dem – wie sie erfahren hat – ein sagenumwobener Farn wachsen soll, der Unsterblichkeit verleiht. Eine Pflanze, die Morg für ihre Pläne gut gebrauchen könnte …
Und so gern ich euch an dieser Stelle ein vor Charme sprühendes Geschwisterpaar vorstellen würde, ist mir das leider nicht möglich. Die Miese-Pampel-Zwillinge sind in etwa so charmant wie die Socken eines Politikers. Aber nur weil jemand mit elf Jahren eine scharfe Zunge und ein dorniges Herz hat, muss das ja nicht für alle Zeiten so bleiben. Im Gegenteil. Kinder sind erstaunlich wandelbare Wesen, erst recht, wenn sie kopfüber in einem Abenteuer landen. Kaum glaubt man sie endgültig durchschaut zu haben, wachsen sie in einer Weise über sich hinaus, die man nie für möglich gehalten hätte.
Selbst solche, die man wirklich unausstehlich findet, wie die Zwillinge Fux und Flunker Miese-Pampel. Ja, gerade diese Kinder geben manchmal die interessantesten Helden ab …
1
Fux Miese-Pampel ließ sich auf das Sofa der Penthouse-Suite im Hotel Runzelschreck fallen. Die Sommerferien hatten begonnen, aber statt ans Meer zu fahren oder wenigstens entspannt zu Hause im Garten zu grillen, hatten ihre Eltern sie und ihren Bruder auf eine Geschäftsreise ins tiefste Bayern mitgeschleppt, in ein verschlafenes Nest namens Nieselgurk.
Gertrud und Bernard Miese-Pampel stammten zwar ursprünglich aus England, waren aber kurz nach der Geburt der Zwillinge Fux und Flunker nach Deutschland gezogen. Bernard hatte dort nämlich einen sehr reichen Großonkel, einen Herzog namens Rudolph, der den Miese-Pampels als seinen einzigen noch lebenden Verwandten ein riesiges Stadthaus in München hinterlassen hatte. Die Dünkel-Villa war eines der größten und protzigsten Anwesen in ganz Europa, was dem Ehepaar Miese-Pampel sehr entgegenkam, denn größer und protziger als alle anderen zu sein war ihnen sehr wichtig. So wichtig, dass sie selbst ihre Sommerferien (und genau genommen auch die Weihnachts- und Osterferien) mit Geschäftsterminen vollstopften, denn nur wenn sie jede Menge Geld verdienten, konnten sie sich auch weiterhin allen anderen überlegen fühlen.
Und so war an diesem Morgen, dem ersten Ferientag der Zwillinge, die gesamte Familie Miese-Pampel aus der Dünkel-Villa nach Nieselgurk aufgebrochen, alle mit den gleichen Koffern, den gleichen Geschäftsanzügen und dem gleichen verkniffenen Gesichtsausdruck, mit dem sie sich dann – in gewohnter Unausstehlichkeit – durch den Tag schikanierten. Das Familienmotto, in Gold auf ihre Kofferraumhaube graviert, lautete nicht umsonst:
Und darunter, etwas kleiner:
Diesem Motto waren Gertrud und Bernard Miese-Pampel zeitlebens gefolgt und dadurch in der Tat sehr reich geworden. Schon vor dem Umzug in die Dünkel-Villa hatte Gertrud eine der weltweit führenden Anti-Aging-Serien namens Pampel-Kosmetik entwickelt und Bernard war der Gründer von Miese-Soßen, einem internationalen Unternehmen, das Fertigsoßen herstellte, die die unglaublichsten Dinge bewirken sollten, wie zum Beispiel Müdigkeit vertreiben und den IQ erhöhen.
Tatsächlich hielten weder die Hautpflegeprodukte noch die Soßen auch nur eines ihrer hochfliegenden Versprechen. Das Miese-Pampel-Imperium war auf Lügen gebaut. Aber gerade wer lügt und betrügt, hat oft den größten Erfolg, bis irgendwann jemand den Mut aufbringt, ihm die Stirn zu bieten.
Es versteht sich wohl von selbst, dass auch an jenem Tag, als die Miese-Pampels ihre Reise nach Nieselgurk antraten, niemand den Mut aufbrachte, ihnen die Stirn zu bieten, zumal sie an diesem Tag in besonders ausgeprägter Trampel-Stimmung waren. Hans Unterbutter, der langjährige, leidgeprüfte Chauffeur der Familie, wurde ihr erstes Opfer, denn Mrs Miese-Pampel ließ es sich nicht nehmen, ihm jedes Mal den Lohn zu kürzen, sobald er sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung hielt oder im Stau stecken blieb, schließlich hatte sie einen Kosmetiktermin im Runzelschreck-Hotel, den sie ungern verpassen wollte. Gleich bei der Ankunft bekam dann der Hotelpage eins von Mr Miese-Pampel aufs Dach, weil er zu fragen wagte, ob die Herrschaften eine angenehme Reise gehabt hätten, denn das ging ihn ja wohl überhaupt nichts an. Und auch Fux hatte an allen, denen sie begegnete, etwas auszusetzen – die Empfangsdame lächelte zu viel, der Kellner beim Mittagessen stellte zu viele Fragen und der Schnurrbart des Bademeisters war ›total bescheuert‹ –, einfach weil sie nun mal so erzogen worden war. Freundlichkeit war Schwäche, und wer schwach war, auf dem wurde herumgetrampelt, was für Fux, verständlicherweise, nicht gerade verlockend klang.
Nur Flunker hatte sich mit dem Trampeln zurückgehalten. Genau genommen war es Fux schon seit mehreren Wochen aufgefallen, dass ihr Bruder ungewöhnlich still war. Verdächtig still, wie sie fand.
Fux und Flunker waren Zwillinge, auch wenn man es ihnen überhaupt nicht ansah. Flunker war groß und hatte glatte schwarze Haare wie seine Mutter, während Fux eher klein war, mit einem Wust roter Haare, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Nur eines hatten die Zwillinge, bei aller Unähnlichkeit, gemeinsam: ihre scharfe Zunge. Und das Einzige, was sie noch lieber taten, als andere Leute zu schikanieren, war, sich gegenseitig zu schikanieren, insbesondere wenn sie den anderen dabei vor ihren Eltern bloßstellen konnten.
Diese innerfamiliäre Konkurrenz hatten die Zwillinge ebenfalls von ihren Eltern geerbt. Denn auch wenn Gertrud und Bernard letztlich ein riesiges Miese-Pampel-Imperium aufbauen wollten, war Rivalität ihnen wichtiger als Romantik. Konkurrenz belebt das Geschäft und macht schneller reich, lautete ihr – unbewiesenes – Credo. Und so nutzten sie jede noch so schäbige Gelegenheit, sich gegenseitig auszustechen, und dieses Verhalten wirkte sich natürlich auch auf die Beziehung zwischen Fux und Flunker aus.
So hatte Fux ihrem Bruder gleich nach ihrer Geburt ein blaues Auge verpasst, weil er drei Minuten vor ihr auf die Welt gekommen war, und in diesem Stil ging es von da an munter weiter. Die Zwillinge waren noch kein Jahr alt, als Flunker in einem unbeobachteten Moment die Wiege seiner Schwester umwarf. Fux rächte sich, indem sie den Kopf von Flunkers Lieblingsteddy abriss, woraufhin Flunker am nächsten Tag die Bremse an Fux’ Kinderwagen löste, sodass seine Schwester auf die Straße rollte und fast überfahren worden wäre.
Gertrud und Bernard Miese-Pampel ergötzten sich an diesem Kleinkrieg und hatten den Kindern, um den Konflikt noch zu verstärken, auch gleich entsprechende Namen verliehen: Flunker, so hofften sie, würde ein aalglatter Lügner werden (was auch eintrat) und Fux sollte genauso verschlagen sein, wie es dem Tier mit dem gleichlautenden Namen unterstellt wird (was nicht eintrat, denn wer jähzornig ist, kann nicht gleichzeitig verschlagen sein). Und so zog sich diese Geschwisterrivalität, von den Eltern noch befeuert, durch ihre gesamte Kindheit – vom Krabbelalter über den Kindergarten bis zur Oberschule – und erreichte vor einigen Wochen ihren Höhepunkt, als Flunker seine Schwester mit einer dreisten Lüge dazu gebracht hatte, ihre Hausaufgaben im Klo runterzuspülen, und Fux ihn daraufhin an den Füßen aus einem Fenster im obersten Stock der Dünkel-Villa hielt (unter den Jubelrufen ihrer Eltern, die unten standen).
Auf diesen Fenstervorfall war jedoch keine Reaktion mehr erfolgt, was Fux sehr beunruhigte. Flunker hatte sie kein einziges Mal mehr ausgetrickst, übers Ohr gehauen oder – was er sonst immer am liebsten tat – vor ihren Eltern schlecht gemacht. Woche um Woche hatte sie auf seine Rache gewartet, aber Flunker war die ganze Zeit über auf höchst untypische Weise schweigsam und nachdenklich gewesen. So wie auch jetzt, in der Suite des Runzelschreck-Hotels. Fux musterte ihren Bruder argwöhnisch. Er saß in dem Sessel ihr gegenüber, die schwarze Aktentasche zu seinen Füßen, einen Notizblock auf dem Schoß und einen Stift in der Hand. Fux reckte den Hals, um einen Blick auf das oberste Blatt zu erhaschen, aber er hielt den Block einfach etwas schräger, sodass sie nichts erkennen konnte.
Fux zog an ihrem Zopf. »Was machst du da eigentlich?«
Flunker sah nicht auf. Und ließ auch den Stift nicht sinken. Wenn ihr Bruder auf den Gefühlen anderer Leute herumtrampelte, kannte Fux ihn so ruhig und beherrscht, aber wenn sie unter sich waren, hatte sie ihn immer sehr leicht zu einem Streit provozieren können. Diese neue Schweigsamkeit gefiel ihr gar nicht, denn ein Miese-Pampel schwieg eigentlich nur, wenn er irgendetwas ausheckte. Wie der eingangs erwähnte Großonkel Rudolph, der angeblich 43 Jahre lang kein Wort gesprochen hatte, um dann zu verkünden, er würde gerade einen Tunnel von München nach London graben, um die Queen zu entführen und ein unverschämt hohes Lösegeld für sie zu fordern. Großonkel Rudolph war allerdings schon in Polen angekommen, bevor ihm klar wurde, dass er in die falsche Richtung gebuddelt hatte. Danach schwieg er für weitere 43 Jahre, wenngleich aus anderen Gründen.
Fux überlegte, ob sie selbst vielleicht auf ähnlich widerrechtliche Weise zu Geld kommen könnte, wurde aber das Gefühl nicht los, dass man Entführungen, Raubüberfälle und groß angelegte Umstürze vielleicht besser zu mehreren in Angriff nahm. Während sie doch eigentlich immer allein war, sowohl in der Schule (schließlich musste sie Mitschüler und Lehrerinnen durch tagtägliche Beleidigungen davon abhalten, auf ihr herumzutrampeln) wie auch in ihrer Familie (wo Gespräche sich nur um Geschäftliches drehten, Lächeln verpönt und Kuscheln tabu war).
Fux nahm ihre Krawatte ab, stopfte sie in die Sofaritze und sah dann wieder ihren Bruder an. »Du arbeitest an einem Geschäftsplan für Pampel-Kosmetik, stimmt’s?«
Ihre Stimme klang angespannt, denn wenn ihr Bruder kurz davor war, der Pampel-Hautpflegeserie ein neues Image zu verleihen, wurde es höchste Zeit, dass sie selbst mit einem Rettungsplan für Miese-Soßen nachzog. Die Zwillinge wussten, dass beide Unternehmen auf Lügen gegründet waren, aber es war zu spät, um jetzt noch mit der Wahrheit anzukommen. Allerdings schienen die Kunden allmählich zu begreifen, dass sie übers Ohr gehauen wurden, denn immer mehr Verträge wurden gekündigt und die Gewinne gingen zurück, weshalb die Zwillinge jetzt noch mehr Ferienzeit in irgendwelchen Luxushotels verbrachten, wo ihre Eltern alles daransetzten Köchinnen und Kosmetikern ihre Produkte aufzudrängen.
Aber Fux und Flunker wurden nicht deshalb auf diese Reisen mitgenommen, weil ihre Eltern es nicht ertragen hätten, so lange von ihnen getrennt zu sein – o nein! Sie sollten auch endlich arbeiten! Schon am Ende des ersten Schuljahrs hatten Gertrud und Bernard den Zwillingen mitgeteilt, dass nur einer von ihnen das Miese-Pampel-Imperium erben würde: Sollte Fux einen Weg finden, Miese-Soßen zu neuer Größe zu führen, wäre sie die Glückliche, sollte Flunker ihr mit der Rettung von Pampel-Kosmetik zuvorkommen, würde alles ihm zufallen. Was die Rivalität zwischen den Zwillingen natürlich noch verschärfte.
Doch damit nicht genug: Um die Rettung des Familienunternehmens weiter zu beschleunigen, machten die Eltern ihren Kinder weis, der jeweils andere sei mit seinen Plänen schon sehr viel weiter und stünde kurz vor dem Durchbruch. Mit der Folge, dass Fux und Flunker ständig eifersüchtig aufeinander waren und fest davon überzeugt, ihre Eltern hätten den anderen Zwilling viel lieber. Und so wuchsen beide in der ziemlich erschreckenden Gewissheit auf, keine Geschwister, sondern Rivalen zu sein.
Dabei war es ihren Eltern in Wahrheit völlig egal, wer von den Kindern das Familienvermögen rettete. Sie hatten sowieso nur deshalb Kinder bekommen, weil sie hofften, wenigstens eines von ihnen würde ihnen irgendwann einmal viel Geld einbringen. Entsprechend hatten sie auf Fux’ vorsichtige Nachfrage, was mit dem Zwilling geschehen würde, der nicht das Imperium übernahm, auch nur in sachlichem Ton verkündet, dieses Kind würde gut verschnürt und mit den besten Wünschen in irgendeine gottverlassene Gegend – die Antarktis oder so – verschickt, was Fux nicht gerade beruhigte.
Und so zog sie jetzt eilends ihr Smartphone aus der Blazertasche und fing an mit wichtiger Miene auf der Memo-Seite herumzutippen.
»Ich mach nur mal eben meine Liste mit geheimen und grandiosen Ideen zur Miese-Soßen-Rettung auf«, murmelte sie, gerade laut genug, dass ihr Bruder es hören konnte.
Flunker hob kurz den Blick, ließ sich aber nicht weiter stören.
Fux grinste selbstgefällig. »Mir sind noch ein paar echte Knüller eingefallen, um die Kampagne abzurunden.«
Was einfach nur gelogen war. Es gab keine Liste von genialen Ideen, um das bröckelnde Imperium zu retten. Fux konnte sich zwar mit allerlei wichtig klingenden Begriffen durch die wöchentlichen Sitzungen des Familienunternehmens mogeln – Kosten, Kapital, Gewinnspanne, Vermögen –, hatte aber keinen Schimmer, was sie wirklich bedeuteten. Und im strategischen Denken war sie ohnehin eine Niete.
Fux spürte, wie etwas Dunkles, Unangenehmes sich in ihr regte. Flunker war der geborene Geschäftsmann. Er war clever und wortgewandt – selbst die klügsten Erwachsenen gingen seinen Lügen auf den Leim –, und obwohl er sich mit seiner Arroganz unter den Schülern keine Freunde machte, hatte er sich in diesem Schuljahr erfolgreich bei einer Lehrerin, Frau Krakel, eingeschleimt, die ihm jetzt in der Mittagspause Extrastunden gab, weil sie irgendein ›verborgenes Potenzial‹ bei ihm erkannt hatte. Das Dunkle in Fux zog sich schmerzhaft zusammen. Bei ihr hatte noch nie jemand ein ›Potenzial‹ erahnt. Was konnte sie denn überhaupt gut? Für einen Mannschaftssport war sie zu egoistisch, für Topnoten nicht intelligent genug und für die Wahl zur Schulsprecherin viel zu unbeliebt. Alle Schüler in ihrer Klasse hatten wenigstens irgendein Talent. Selbst bei den ganz stillen Mauerblümchen zeigte sich (zu Fux’ großem Ärger) irgendwann, dass sie fehlerlos rechtschreiben, sagenhaft schnell eislaufen oder erschreckend gut Klarinette spielen konnten.
Fux war schon vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass ihr offensichtlicher Mangel an Talent der Grund für die Lieblosigkeit ihrer Eltern sein musste. Und auch wenn man jeden Tag auf den Gefühlen anderen Leute herumtrampelt – schließlich wollte Fux, wenn sie schon völlig untalentiert war, nicht auch noch als schwach gelten –, ist das Herz ein zerbrechliches Ding, und manche Leute glauben, sie könnten ihres schützen, indem sie es mit einer hohen Mauer umgeben. Und genau das hatte auch Fux getan. Ihre Mauer war sogar ganz besonders hoch, denn nur so war all diese Lieblosigkeit überhaupt noch zu ertragen.
Fux sah verstohlen zu Flunker hinüber. Was, wenn er so still war, weil er nun endlich – und erwartungsgemäß – einen Weg gefunden hatte, das Familienvermögen zu retten? Vielleicht war er schon ganz kurz davor, seinen Triumph zu verkünden? Fux überprüfte ihre Optionen. Sie konnte sich auf Flunker stürzen, ihm die Zettel mit seinen Geschäftsideen entreißen und sie dann – ja was? – vielleicht aufessen? Oder sollte sie es Großonkel Rudolph nachmachen (nur ohne Tunneldrama) und Flunkers Pläne erst dann wieder rausrücken, wenn er zu der Aussage bereit war, er und Fux hätten sie gemeinsam entwickelt?
Doch bevor sich Fux zu dem einen oder anderen entschließen konnte, flog die Tür ihrer Penthouse-Suite auf und herein stürmte Gertrud Miese-Pampel. Sie trug einen weißen Bademantel, weiße Badelatschen und ein weißes Handtuch um den Kopf, wodurch sie einem Baisertörtchen zum Verwechseln ähnlich sah, während Bernard Miese-Pampel, der ihr auf den Fersen folgte, mit seinen roten Haaren und dem rotem Gesicht an einen Vulkan im Geschäftsanzug erinnerte.
Bernard warf die Tür hinter sich zu. Dann musterten er und seine Frau die Zwillinge mit einem Blick, den sie sonst nur Verkehrspolizisten und fetten Spinnen vorbehielten. Fux schluckte mühsam. Ein solcher Auftritt ihrer Eltern verhieß erfahrungsgemäß nichts Gutes …
2
Der Kosmetiktermin war ein echter Reinfall«, fauchte Gertrud.
Sie rauschte zum Sofatisch, stopfte sich eine Weintraube aus der Obstschale, die dort stand, in den Mund, verzog das Gesicht und spuckte die Traube auf den Teppich.
»Als ich während der Behandlung ganz dezent auf meine neue Pampel-Kosmetik-Serie zu sprechen kam«, erzählte sie empört, »sagt mir diese Schnepfe doch ins Gesicht, das Hotel würde meine Produkte nicht mehr verwenden, weil es zu viele Beschwerden über die Nachtcreme gab …«
Bernard verdrehte die Augen. »Hab ich nicht gesagt, diese Nachtcreme wird dir noch mal Probleme machen?« Er warf sein Klemmbrett auf den Tisch. »Aber du willst ja nicht auf mich hören! Lieber wartest du darauf, dass dein Sohn in die Bresche springt und dir – har, har! – die Haut rettet.«
Flunker rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum, hielt aber den Blick gesenkt.
»Die Zeit rast dahin«, höhnte Bernard, »aber die Gewinne von Pampel-Kosmetik steigen mit der Geschwindigkeit einer asthmatischen Ameise.«
»Bei Miese-Soßen sieht es auch nicht besser aus«, giftete Gertrud zurück. »Deren Geschäftsführer scheint das Verkaufsgeschick eines neugeborenen Pavians zu haben!«
Und bevor ihr Mann reagieren konnte, wandte sich Gertrud an Flunker. »Hast du mir nicht erzählt, wir hätten diese Nachtcreme zurückgerufen, weil die Kundinnen morgens mit grünen Augenbrauen aufgewacht sind?«
Fux starrte Flunker an und jeder ihrer Muskeln war zum Zerreißen gespannt. Würde ihr Bruder jetzt aufstehen und seine bahnbrechenden Pläne zur Rettung des Miese-Pampel-Imperiums präsentieren?
Aber Flunker verstaute nur den Block in seiner Aktentasche, ließ das Schloss zuschnappen und hob in aller Ruhe den Blick. »Keine Sorge, Mum, ich bin ganz kurz davor, dir meinen extrem detaillierten und unfehlbar profitsteigernden Geschäftsplan vorzulegen, der dafür sorgen wird, dass alle Hotels der Welt nur noch Pampel-Kosmetik verwenden.«
Gertrud warf ihrem Mann einen triumphierenden Blick zu. »Wie wir immer vermutet haben, Bernard: Flunker wird die Familie retten.«
Fux schnürte sich die Kehle zu. Sie musste jetzt ganz schnell irgendwas Brillantes sagen, damit ihre Eltern nicht vergaßen, dass es sie auch noch gab.
Sie hüstelte. »Dad, mein noch viel detaillierterer und profitablerer Plan für Miese-Soßen ist ebenfalls fast fertig. Wir erwarten eine beträchtliche Gewinnspanne … bei der … Kapital…erhöhung.« Sie zog ihre Krawatte aus der Ritze und legte sie wieder um. »Vermögen.«
»Fast fertig reicht aber nicht«, blaffte Bernard. »Nicht wenn die Küchenchefin des Runzelschreck-Hotels nie wieder Miese-Soßen verwenden will, weil unsere neue Schlankmacher-Linie bei der Hälfte der Gäste Vergiftungserscheinungen hervorgerufen hat!«
»Geht’s denn allen wieder gut?«, platzte Fux heraus.
Und wäre im nächsten Moment vor Scham am liebsten in ihrem Blazer versunken. Wie konnte sie nur so etwas fragen? Eine Miese-Pampel kümmerte sich doch nicht um andere Leute! So oft war ihr das Familienmotto eingehämmert worden, dass sie inzwischen wirklich daran glaubte, auf den Gefühlen anderer Leute herumzutrampeln sei der einzige Weg zum Erfolg. Anscheinend war sie aber dermaßen untalentiert, dass sie nicht mal dieses Trampeln so richtig hinbekam.
Ihre Mutter starrte sie daher auch nur angewidert an und Bernards Reaktion war nicht viel besser: »Wer ganz nach oben will, kann keine Rücksicht nehmen! Als Nächstes tun dir wohl noch die Opfer dieser nervigen Wasserknappheit leid!«
Fux warf einen Blick auf die Zeitung, die auf dem Tisch lag: Der weltweite Wassernotstand beherrschte immer noch die Schlagzeilen. Seit Monaten hatte es nirgends auf der Erde geregnet. In ganz Europa waren Flüsse und Stauseen ausgetrocknet, Missernten standen bevor und Pflanzen und Tiere starben. In anderen Gegenden der Welt, wo Dürren zum Alltag gehörten, gab es schon seit Jahren kein Wasser mehr, sodass Wälder verdorrten, Menschen hungerten und viele Staaten in Gewalt versanken. Schon lange hatten Wissenschaftler und Umweltschützer vor den verheerenden Auswirkungen der globalen Erwärmung gewarnt, aber niemand hatte geahnt, wie schnell die Katastrophe eintreten würde.
Gertrud folgte dem Blick ihrer Tochter. Sie nahm eine weitere Traube, zerdrückte sie zwischen den Fingern und ließ sie dann achtlos auf den Boden fallen. »Solange wir Geld haben – und das werden wir, denn wer keine Rücksicht nimmt, ist letztlich immer der Stärkere –, haben wir auch genügend Wasser. Was gehen uns andere Leute an?«
Fux nickte gehorsam. »Ich hab nicht vor auch nur einen Finger für die Umwelt oder andere Leute zu rühren«, sagte sie mit fester Stimme.
Und das meinte sie auch so. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ihr ein Abenteuer unmittelbar bevorstand, bei dem sie gezwungen sein würde genau das Gegenteil zu tun.
Bernard griff nach seinem Klemmbrett. »Ich geh noch mal in die Hotelküche zurück, vielleicht kann ich denen ja doch noch irgendwas aufschwatzen.« Er sah seine Frau an. »Und angesichts deiner Verkaufszahlen würde ich dir raten, dasselbe im Wellnessbereich zu tun.«
Gertrud musterte ihre Kinder mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und was euch beide angeht … Es wird Zeit, dass ihr auch mal was beitragt, statt uns immer nur auf der Tasche zu liegen. Die Profite des Miese-Pampel-Imperiums sind auf einem Tiefpunkt angelangt und euer Vater und ich haben eure Hinhaltetaktik satt. Keine halb garen Versprechen mehr! Wenn wir zurückkommen, wollen wir eure Geschäftsideen hören. Wir wollen harte, profitsteigernde Fakten.«
»Enttäuscht uns nicht noch mal«, fügte Bernard hinzu, »sonst seid ihr schon morgen auf dem Weg in die Antarktis, alle beide! Ihr bleibt jetzt so lange hier im Zimmer, bis eure Pläne fertig sind, verstanden?«
Die Tür knallte zu und Fux schluckte mühsam.
Allerdings hatte Bernard Miese-Pampel, ohne es zu ahnen, einen Satz gesagt, der seinen Untergang bedeuten würde. Denn einem Kind zu befehlen hierzubleiben ist ähnlich sinnlos wie die Aufforderung, still zu sein. Schließlich haben Kinder nahezu keine Kontrolle über ihre Beine und Münder, weshalb solche Worte allenfalls den gegenteiligen Effekt erzeugen.
Und auch wenn Fux in ihrer Fantasie gerade von einer Kolonie wütender Pinguine überrannt wurde, würde es nicht lange dauern, bis dieses ›Ihr bleibt jetzt hier‹ in ihr widerhallen und ihre Beine zum Ungehorsam veranlassen würde.
Sie blickte zu Flunker hinüber. Die Idee, seinen Geschäftsplan aufzuessen, hatte sich erledigt, denn der war wieder in seiner Aktentasche verstaut und nur Flunker kannte den Code für das Schloss. Wenn man allerdings die ganze Tasche klauen und verschwinden lassen würde …
Und ohne noch lange nachzudenken, sprang Fux auf die Füße, griff nach der Tasche und stürmte aus der Suite.
»FUX!!!«, brüllte Flunker. »Gib mir sofort die Tasche wieder!«
Aber Fux rannte weiter den Flur entlang, während sie fieberhaft versuchte sich einen Plan zurechtzulegen. Wo konnte man etwas für alle Zeiten verschwinden lassen? Außer in der Antarktis …
Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass ihr Bruder die Verfolgung bereits aufgenommen hatte. Angst, aber auch Wut stand in seinen Augen. Fux rannte noch schneller, raste den Flur entlang und konnte gerade noch in den Fahrstuhl schlüpfen, bevor die Tür sich schloss. Sie hörte, wie Flunker von außen dagegen hämmerte, aber es war zu spät. Der Aufzug sank dem Erdgeschoss entgegen.
Erst jetzt bemerkte Fux die Frau, die sich mit ihrem Reinigungswagen in eine Ecke des Fahrstuhls drückte. Kurz entschlossen wandte sie sich zu ihr um und fragte keuchend: »Was würden Sie tun, wenn Sie irgendwas unbedingt loswerden wollen?«
Die Frau überlegte einen Moment. »Ich hab mal nach Jahren ein Paar schmutzige Socken von meinem Mann im Schrank gefunden, die stanken schon nach toter Ratte.« Sie machte eine Pause. »Die hab ich dann einfach verbrannt.«
Fux sah auf die Aktentasche hinunter. Brannte echtes Leder überhaupt? Sie schaute die Frau wieder an. »Haben Sie zufällig auch Streichhölzer in Ihrem Wagen?«
Die Frau lachte auf, aber als sie den gefährlichen Glanz in Fux’ kastanienbraunen Augen sah, begriff sie, dass es ihr ernst war. »Was genau willst du denn loswerden?«
Fux zögerte kurz und hielt dann die Aktentasche hoch. »Mein Vater hat beschlossen sich die Ferien nicht länger von seiner Arbeit vermiesen zu lassen, deshalb soll ich die hier verschwinden lassen.«
Trotz der Mauer um ihr Herz verspürte Fux einen schmerzhaften Stich. Nicht weil sie gelogen hatte – das tat sie schließlich oft genug, auch wenn ihr Bruder darin unerreicht war –, sondern weil diese Lüge ihr vor Augen führte, wie kalt und lieblos die Welt, in der sie lebte, war. Und sie merkte zu ihrem Entsetzen, wie ihr die Tränen kamen. Schnell presste sie die Lippen aufeinander und überlegte sich, was für eine Gemeinheit sie zu der Frau neben sich sagen konnte.
»Sie sagen mir jetzt sofort, wie ich diesen Koffer loswerden kann«, blaffte sie, »sonst beschwere ich mich bei Ihrem Chef und dann sind Sie Ihren Job noch vor dem Abendessen los.«
Die Frau blinzelte verblüfft und seufzte dann, als wäre sie ein solches Benehmen von Hotelgästen schon gewöhnt. »Wenn dieser Koffer teuer war, und danach sieht er aus, würde ich ihn nicht verbrennen, sondern zum Antiquitätenhändler bringen. Wir haben einen in der Innenstadt, der die verrücktesten Sachen kauft und verkauft. Der macht dir sicher einen guten Preis.«
Fux war zwar dazu erzogen worden, bei allem nur an Profit zu denken, aber was sollte sie mit Bargeld, wenn sie morgen in die Antarktis verschickt wurde? Doch dann kam ihr eine glänzende Idee: Vielleicht konnte sie mit dem Geld den Paketdienst bestechen sie irgendwo anders hinzuschicken. Irgendwohin, wo es weniger Pinguine und mehr Menschen gab.
Der Fahrstuhl kam jetzt ruckelnd zum Stehen, die Tür ging auf und Fux sprintete los.
»Aus dem Hotel raus und rechts«, rief die Frau ihr hinterher. »Immer der Straße nach, am Bahnhof vorbei, bis sie eine Linkskurve macht, und da in die nächste Seitengasse rein. In der liegt der Trödelladen.«
Fux fiel gar nicht ein sich zu bedanken, zum einen, weil sie das sowieso nie tat, zum anderen, weil sie sah, wie Flunker gerade die letzten Stufen der Feuertreppe hinuntersprang und durchs Foyer hinter ihr herstürmte wie ein wild gewordener Minimanager. Schwungvoll bog sie in die Straße ein und rannte, von der Nachmittagssonne geblendet, über das Kopfsteinpflaster, zwischen Reihen winziger, bunter Häuser mit rotem Ziegeldach hindurch. Noch im letzten Sommer waren die Touristen in Scharen nach Nieselgurk gekommen, um durch die Stadt zu radeln und im Schatten der Markisen Eis zu essen. Seit dem Wassernotstand war es hier jedoch, wie an fast allen Ferienorten der Welt, sehr viel ruhiger geworden.
Die Anzeichen für den Wassermangel waren subtil, aber unverkennbar: So gab es überall nur leere Blumenkästen vor den Fenstern, denn Pflanzen, die ausschließlich Dekorationszwecken dienten, durften nicht mehr gegossen werden. Viele Restaurants hatten geschlossen, weil die Lebensmittelpreise aufgrund von Missernten derart gestiegen waren, dass es sich kaum noch jemand leisten konnte, auswärts essen zu gehen. Und die Hotels waren alle höchstens zur Hälfte belegt, weil das Wasser rationiert worden war und nur noch für eine begrenzte Zahl von Gästen reichte.
Nichts davon war Fux bekannt. Sie wusste nur, dass Flunker ihr dicht auf den Fersen war und dass sie ihn irgendwie abschütteln musste, bevor sie die Seitengasse erreichte. Der Bahnhof kam in Sicht, wie die Frau gesagt hatte. Allerdings gab es hier keine endlose Reihe von Bahnsteigen und Zügen, alle unter demselben Dach, wie Fux es von anderen Bahnhöfen kannte. Genau genommen hatte der Bahnhof von Nieselgurk nicht einmal ein Dach. Hier gab es nur einen einzigen Bahnsteig, flankiert von zwei Gleisen und mit einer Bretterbude darauf, die vermutlich als Fahrkartenschalter diente, jetzt aber ebenso verlassen wie der Bahnsteig war. Dahinter ragten die Berge auf, auf denen früher grüne, dicht belaubte Bäumen standen, die jetzt aber wegen der Trockenheit alle braun und verschrumpelt waren.
Fux schenkte dem Bahnhof nur einen flüchtigen Blick, viel zu sehr damit beschäftigt, nach der Seitengasse Ausschau zu halten. Wäre sie jedoch etwas langsamer gelaufen und ein bisschen aufmerksamer gewesen, hätte selbst sie das schwache, aber unverwechselbare Prickeln von Magie mit Sicherheit bemerkt.
Denn in genau 47 Minuten sollte auf dem Bahnhof von Nieselgurk etwas passieren, was das Leben der Miese-Pampel-Zwillinge für alle Zeiten verändern würde.