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Showdown in den vier verborgenen Reichen: im dritten und letzten Band der Fantasy-Trilogie geht es um alles oder nichts! Erwachsene kennen die vier verborgenen Reiche vielleicht nicht, aber Kinder können den Weg dorthin finden und zusammen mit Drachen, sprechenden Papageien und anderen Zauberwesen unglaubliche Abenteuer erleben. In jedem der drei Bände stehen zwei neue Kinder in einer anderen Welt im Mittelpunkt, so dass man die Bücher auch unabhängig voneinander lesen kann. Zeb glaubt nicht an Magie. Doch dann verschleppt ihn die böse Harpyie Morg nach Morgenschimmer. Er soll ihr helfen die goldene Schriftrolle zu finden, die Macht über alle verborgenen Reiche verspricht. Sobald Zeb die Chance dazu hat, ergreift er die Flucht. Zum Glück trifft er Oonie, ein furchtloses Mädchen mit einem sprechenden Chamäleon. Zu dritt begeben sie sich auf eine Reise voller Abenteuer und Gefahren. Wird es Zeb mit Hilfe seiner Freunde gelingen, einen Drachen zu beschwören, um selbst die Schriftrolle zu finden, Morg zu besiegen und so die magische und die reale Welt zu retten? Zeb und der Drache aus Morgenschimmer ist ein Abenteuer über die Rettung der Welt und gleichzeitig eine Geschichte über die Macht der Freundschaft - gerade in Zeiten größter Not. Caspar und die Träne des Phönix (Band 1) - Ein Riesenerfolg in England! - Spannend und witzig zugleich Auf der Suche nach dem Für-immer-Farn (Band 2) - Liebenswerte Figuren und fantastische Zauberwesen - Über die Macht von Freundschaft und Vertrauen! »Abi Elphinstone ist eine würdige Nachfolgerin von C. S. Lewis.« The Times über Band 1 »Fantasievoll, spannend und einfach wunderbar.« Robin Stevens über Band 2 Das große Finale der Fantasy-Trilogie von Bestseller-Autorin Abi Elphinstone: Für alle Fans von Potter, Percy und Greg!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Abi Elphinstone
Zeb und der Drache aus Morgenschimmer
Aus dem Englischen von Maren Illinger
Zeb glaubt nicht an Magie. Doch dann verschleppt ihn die böse Harpyie Morg nach Morgenschimmer. Er soll ihr helfen die Goldene Schriftrolle zu finden, die Macht über alle verborgenen Reiche verspricht. Sobald Zeb die Chance dazu hat, ergreift er die Flucht. Zum Glück trifft er Oonie, ein furchtloses Mädchen mit einem sprechenden Chamäleon. Zu dritt begeben sie sich auf eine Reise voller Abenteuer und Gefahren. Wird es Zeb mit Hilfe seiner Freunde gelingen, einen Drachen zu beschwören, um selbst die Schriftrolle zu finden, Morg zu besiegen und so die magische und die reale Welt zu retten?
Zeb und der Drache aus Morgenschimmer ist ein Abenteuer über die Rettung der Welt und gleichzeitig eine Geschichte über die Macht der Freundschaft - gerade in Zeiten größter Not.
Wohin soll es gehen?
Landkarte
Buch lesen
Viten
Für Amelia und Ruby Melvin,
die sich in jedes Abenteuer stürzen
Und für Hana Lily Suzuki
Willkommen in den vier Verborgenen Reichen
Die meisten Erwachsesnen sind viel zu beschäftigt, um an Magie zu glauben. Sie müssen Zeitungen lesen, Rechnungen bezahlen, Telefonanrufe beantworten und – was am aufwendigsten ist – ihre Kinder herumkommandieren. Aber wenn die Erwachsenen etwas weniger beschäftigt und etwas neugieriger wären, würden sie vielleicht Dinge bemerken, die Kinder sehen können. Unwahrscheinliche, unmögliche, außergewöhnliche Dinge. Wie Portale in verborgene Reiche, die die Wahrheit darüber offenbaren, wie unsere Welt entstanden ist …
Falls du dir also diese Frage stellst: Am Anfang gab es nur ein Ei. Ein außergewöhnlich großes Ei. Und aus diesem Ei wurde ein Phönix geboren. Als er sah, dass er allein war, weinte er sieben Tränen, die zu unseren Kontinenten wurden und die Erde so formten, wie wir sie kennen. Der Phönix nannte diese Länder das Weitentfernt. Diese Erdteile waren anfangs noch wüst und leer, und so verstreute der Phönix vier seiner goldenen Federn, aus denen dann vier nirgends verzeichnete, sprich: Verborgene Reiche hervorgingen. Für jene, die später im Weitentfernt leben sollten, waren sie unsichtbar, enthielten aber all die Magie, die es braucht, um Sonnenlicht, Regen und Schnee hervorzubringen und auch all die unbeschreiblichen Wunder hinter diesen Wetterphänomenen: von der Melodie eines Sonnenaufgangs bis hin zu den Geschichten, die ein Schneesturm erzählt.
Du hast sicher schon Menschen getroffen, die weise sind, Großeltern zum Beispiel oder Bibliothekare. Auch einige (aber längst nicht alle) Elefanten sind weise. Ein Phönix ist sogar noch weiser, und der allererste Phönix wusste, dass Magie, die nur zum eigenen Vorteil genutzt wird, auf dunkle Abwege führt. Wird sie dagegen zum Wohle aller eingesetzt, kann sie eine ganze Welt erschaffen und erhalten. Und so ordnete er an, die Bewohner der Verborgenen Reiche dürften sich nur so lange an den Wundern seiner Magie erfreuen, wie sie das Weitentfernt an ihr teilhaben ließen, damit auch diese Welt sich mit Licht und Leben füllte. Sollten die Verborgenen je aufhören ihre Magie zu teilen, warnte der Phönix, würden beide Welten, das Weitentfernt wie auch die Verborgenen Reiche, zu Staub zerfallen.
Dann überlegte der Phönix, welchen magischen Wesen er die Herrschaft über die Verborgenen Reiche übertragen sollte. Und da er so weise war, machte er einen großen Bogen um zänkische Königinnen oder Politiker und wählte stattdessen die ›Erhabenen‹: Magier, die alle unter derselben Mondfinsternis geboren waren und sich von den übrigen Verborgenen durch ihre Weisheit, ihre ungewöhnlich hohe Lebenserwartung und ihre miserablen Witze unterschieden. In jedem Reich nahmen die Erhabenen eine andere Gestalt an, doch sie herrschten überall gerecht und sorgten dafür, dass jeden Tag ein Teil der Magie des Phönix über das Wetter ins Weitentfernt weitergegeben wurde.
Jedes der vier Reiche übernahm dabei eine andere Rolle. In Wolkenstern wurden die Wetterwunder gesammelt: winzige Perlen aus Sonnenlicht, Regen und Schnee in ihrer reinsten Form. Diese wurden dann von Drachen in die anderen Reiche gebracht und von den Bewohnern dort mit magischer Tinte vermischt, um die Wetterrollen für das Weitentfernt zu schreiben: Sonnensymphonien in Morgenschimmer, Regengemälde in Dschungeltau und Schneegeschichten in Silberkarst. Nach und nach füllte sich nun auch das Weitentfernt mit Leben: Pflanzen, Blumen und Bäume sprossen empor, und die Magie war so stark, dass irgendwann Tiere erschienen und schließlich sogar Menschen.
Der Phönix wachte über all das von Ewigdunkel aus, einem Ort, so entlegen und unerreichbar, dass nicht einmal die Verborgenen wussten, wo er lag. Doch auch ein Phönix kann nicht ewig leben, und als er nach fünfhundert Jahren starb, erhob sich, wie bei diesen Vögeln üblich, ein neuer Phönix aus seiner Asche, um die Magie der Verborgenen Reiche zu erneuern und sicherzustellen, dass sie auch weiterhin mit den Bewohnern des Weitentfernt geteilt wurde.
Die Jahre vergingen, und die Verborgenen gewöhnten sich daran, alle fünfhundert Jahre einen neuen Phönix aufsteigen zu sehen, der den Beginn einer neuen Ära ankündigte. Alle glaubten, so würde es für immer weitergehen …
Doch wenn Magie im Spiel ist, hat für immer nur selten Bestand. Denn stets gibt es irgendwen, irgendwo, der von Gier gepackt wird. Und wenn ein Herz danach trachtet, alle Magie allein zu beherrschen, sind alte Warnungen und Gebote schnell vergessen. So war es auch bei einer Harpyie namens Morg, die eifersüchtig auf den Phönix und seine Macht war.
Vor fast viertausendfünfhundert Jahren verfluchte Morg das Nest des Phönix genau in der Nacht, in der sich ein neuer Phönix aus der Asche erheben sollte. Doch keiner erschien, und so nahm Morg sein Nest in Besitz und machte sich daran, die gesamte Magie der Verborgenen Reiche für sich zu beanspruchen.
Doch immer, wenn etwas schiefgeht und Magie missbraucht wird, entsteht auch Raum für Heldinnen und Helden, mit denen niemand gerechnet hat. Vielleicht hast du schon von dem Mädchen aus Morgenschimmer gehört, das nach Ewigdunkel segelte und Morgs Flügel raubte, in denen sich die Macht der Harpyie befand? Möglicherweise weißt du von dem Jungen namens Caspar, der aus dem Weitentfernt nach Wolkenstern reiste, um ebendiese Flügel zu zerstören und so die Verborgenen Reiche und das Weitentfernt vor dem Untergang zu bewahren? Vielleicht bist du auch schon den Miese-Pampel-Zwillingen begegnet, die aus dem Weitentfernt nach Dschungeltau reisten, um einen sagenumwobenen Farn zu finden, der Morg aus den Verborgenen Reichen verbannte und den Regen in unsere Welt zurückholte?
Oder bist du vielleicht sogar eins jener ahnungsvollen Kinder, die die Wege der Drachen erspüren und wissen, dass sie es sind, die die Verborgenen Reiche durchstreifen und Mondstaub mit ihren Flügeln verstreuen, um das, was von der Magie der Verborgenen übrig ist, zu erhalten, bis Morg stirbt und ein neuer Phönix aus der Asche steigt? Und das muss er, denn trotz der Bemühungen der Drachen, die Magie am Leben zu halten, verrinnt sie mit jedem Tag, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie gänzlich verschwunden ist. Nur die Ankunft eines neuen Phönix kann wieder aufbauen, was Morg zerstört hat, und die Verborgenen Reiche zu ihrem früheren Glanz zurückführen.
Eine Geschichte gibt es noch zu erzählen, ein letztes Abenteuer. Zwar sind die Miese-Pampel-Zwillinge nach Dschungeltau gereist, haben Morg in einen bodenlosen Brunnen gesperrt und die Welt vor ihrer dunklen Magie gerettet … aber alles hat bekanntlich ein Ende, sogar bodenlose Brunnen. Von ihrem unterirdischen Gefängnis aus hat sich Morg beharrlich ihren Weg ins Weitentfernt gescharrt, Stück für Stück. Sie weiß, wenn sie die unsterblichen Tränen des allerersten Phönix, die bei der Entstehung unserer Welt vergossen wurden, in ihre Klauen bekommt, kann sie deren Macht nutzen, um wieder nach Morgenschimmer zu gelangen, wo sie immer noch Anhänger hat. Und dann kann sie die Herrschaft über die Verborgenen Reiche ein für alle Mal an sich reißen.
Tag für Tag ist Morg der Kraft der Phönixtränen gefolgt und heute Nacht hat sie einen Eingang zum Weitentfernt gefunden. Doch die Harpyie ist zu schwach, um die Grenze zu unserer Welt zu durchbrechen, und so hockt sie in der Dunkelheit unter einem verlassenen Theater in der Gaunergasse, einer düsteren und halbvergessenen Seitenstraße in Brooklyn, New York, und wartet. Einst gab es in dieser Straße belebte Restaurants und aufgeregte Theaterbesucher, aber als das Viertel immer zwielichtiger und gefährlicher wurde, zogen die Leute weg und die Restaurants und das Theater schlossen.
Heute gibt es niemanden mehr in der Gaunergasse. Aber das wird sich bald ändern, denn ein elfjähriger Junge ist auf der Flucht und das Hämmern seiner Füße kommt immer näher. Er weiß nicht, dass es Magie ist, die ihn in diese trostlose Gegend führt. Aber wenn Phönixtränen, eine Harpyie und ein Portal in ein Verborgenes Reich zusammenkommen, ist klar, dass etwas passiert.
Und auch wenn Zebedäus Bolt bisher kein Kind war, das Zeit für Magie hatte, so hat die Magie sehr wohl Zeit für ihn. Morg braucht jemanden, der sie ins Weitentfernt lässt, und die Verborgenen Reiche brauchen jemanden, der die Harpyie ein für alle Mal hinauswirft. Zeb braucht niemanden und vertraut niemandem, und das ist nur allzu verständlich, aber der Magie entkommen zu wollen, wenn man bereits darauf zusteuert, ist wie der Versuch, einen Donut nicht aufzuessen, wenn man einmal hineingebissen hat: ganz und gar unmöglich. Da kann man ebenso gut weitermachen und akzeptieren, dass es ziemlich holprig werden kann, wenn die Magie einen mit sich zieht. Besonders, wenn es sich dabei nicht um Donuts, sondern um Drachen handelt, denn Drachen sind, wie Zeb schon bald herausfinden wird, sogar noch unberechenbarer als Magie …
1
Zebedäus Bolt war ein geübter Ausreißer. Schließlich war er oft genug ausgerissen. Und nicht auf die halbherzige Art, bei der man seine Eltern anschreit, in den Garten stürmt und sich dann rechtzeitig zum Abendbrot kleinlaut wieder nach Hause schleicht. Wenn Zeb ausriss, rannte er über große Brücken und durch unbekannte Parks und klammerte sich dabei an die Gewissheit, dass er alle Tricks des Panzers (eines Überlebenstrainers mit eigener Fernsehshow, der so verstörende Dinge tat wie seinen eigenen Schweiß trinken und aus seinen Barthaaren Rettungsseile knüpfen) in- und auswendig kannte.
Nur leider wurde Zeb früher oder später immer geschnappt. Und das lag daran, dass es ihm fast unmöglich war, seine Verzweiflung unter Kontrolle zu halten. Sie überkam ihn ohne Vorwarnung und ging mit einer Menge peinlichem Geschluchze an Straßenecken einher. Bis er sich wieder im Griff hatte, war in der Regel schon ein halbes Dutzend Erwachsener zur Stelle, um seiner Flucht ein Ende zu bereiten.
Zeb wäre gern ein harter Kerl gewesen. Er sehnte sich danach, wie der Panzer zu sein, der jeder brenzligen Lage entkam, wochenlang in der Wildnis nur von Heuschrecken leben konnte und im Kampf gegen einen Bären nicht mehr als ein paar blaue Flecken davontrug. Aber wenn man kein Geld, nur begrenzte Vorräte und keine Freunde hat, auf die man sich im Ernstfall verlassen kann, dann ist es schwer, optimistisch zu bleiben.
Obwohl Zebs Fluchtversuche immer gut anfingen, dauerte es nie lange, bis ihn die Panik überkam. Wohin wollte er denn überhaupt fliehen? Welche Möglichkeiten gab es für einen Elfjährigen allein in New York? Wen interessierte, was mit ihm geschah? Nicht, dass er je mit den Erwachsenen, die ihn aufgabelten, dem Sozialarbeiter, der für ihn zuständig war, oder den Pflegefamilien, bei denen er gelebt hatte, über seine Gefühle gesprochen hätte. Denn Reden bedeutete Vertrauen. Und anderen Menschen zu vertrauen, war für Zeb schon seit Jahren nicht mehr möglich.
Doch heute Abend würde es anders sein. Heute Abend hatte er Kekse eingepackt. Und er hatte sich feierlich vor dem Spiegel geschworen, dass er nicht in Tränen ausbrechen und geschnappt werden würde, auch dann nicht, wenn es dunkel oder ein bisschen unheimlich wurde. Zeb hatte es satt, wie ein unerwünschtes Paket herumgereicht zu werden. Er hatte genug davon, dass seine Pflegefamilien sich immer das Gleiche über ihn zuflüsterten: »Er ist so still. Warum lächelt er nie? Ist er immer so trübsinnig?« Oder, wie er heute Morgen von seinen Pflegeeltern Josephine und Gerald Wartner-Anstand, Rechter Winkel Nr. 56, Manhattan, im Telefongespräch mit seinem Sozialarbeiter gehört hatte: »Wir haben ihn jetzt seit sechs Monaten und es funktioniert einfach nicht. Er lächelt nicht, er lacht nicht, er redet kaum! Er verbringt so viel Zeit in seinem Zimmer, dass er garantiert irgendetwas Schreckliches ausheckt. Bevor er uns also im Schlaf vergiftet oder, Gott bewahre, das Wohnzimmer mit Graffiti besprüht, würden wir ihn gerne zurückgeben.«
Ihre Worte schrillten in Zebs Ohren, während er über die Brooklyn Bridge lief. Es war immer das Gleiche: Er war einfach nicht so, wie die Pflegefamilien ihn gern gehabt hätten. Dutzenden anderen Kindern hatte das Jugendamt längst ein liebevolles Zuhause vermittelt, doch diejenigen, die – wie Zeb – unter der Obhut des Sozialarbeiters Daniel Dummbatz standen, hatten nicht so ein Glück. Daniel Dummbatz war eine Witzfigur und schaffte es, noch die einfachsten Dinge zu vermasseln, zum Beispiel, einen Korridor entlangzugehen, ohne zu stolpern. Liebevolle Familien zu finden, die sich um vernachlässigte Kinder kümmerten und ihre Probleme verstanden, war für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Wie eine falsche Bestellung im Restaurant oder ein kaputter Mantel aus dem Kaufhaus wurde Zeb am Ende immer zurückgeschickt.
Vor etwas mehr als einer Stunde hatte Zeb sich aus dem Rechten Winkel Nr. 56 hinausgeschlichen, nachdem er sein Abendessen hinuntergeschlungen und sein Selbstgespräch vor dem Spiegel beendet hatte. Jetzt war er also auf der Flucht, und obwohl er nicht wusste, wohin, so ging er auch dann noch weiter, als die Dämmerung hereinbrach und die Lichter der Stadt zu glitzern begannen. Er schlug die Kapuze seiner Jacke hoch, teils weil der Panzer das auch so machte, bevor er einen Löwen zur Strecke brachte, und teils als Vorsichtsmaßnahme. Wenn die Wartner-Anstands Alarm geschlagen hatten und die Polizei nach einem elfjährigen Jungen mit blonden Haaren, grünen Augen und einer Neigung zu lautstarken Heulanfällen suchte, wollte Zeb wenigstens gut verkleidet sein.
Er bog von der Brücke ab und eilte ins Herz von Brooklyn. Der Ort war voller Leben. Menschenscharen strömten in Restaurants, Musik drang aus offenen Fenstern und Taxis hupten. Für eine Sekunde erlaubte Zeb sich die Frage, wie es wohl wäre, in einem solchen Viertel zu leben, mit einer Familie und Freunden. Fahrradtouren im Park mit Mum und Dad, am Wochenende Kinobesuche mit Schulfreunden, Übernachtungen bei Nachbarskindern …
In Zeb wuchs die Sehnsucht und mit ihr der Kloß im Hals – das erste Anzeichen eines Panikanfalls. Er schluckte ihn hinunter und tat, was der Panzer tat, wenn es hart auf hart kam: Er presste den Kiefer zusammen und grunzte. Sofort fühlte er sich besser, und während er sich seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte, erinnerte er sich daran, dass es sinnlos war, von Familie und Freunden zu träumen, weil man sich auf andere Menschen nicht verlassen konnte. Sie ließen einen bloß im Stich. Menschen, das hatte Zeb inzwischen gelernt, waren wie Gemüse: angeblich ganz fantastisch, aber letztlich ziemlich enttäuschend.
Nach Auskunft von Daniel Dummbatz war Zeb in der Bronx geboren worden, seine Mutter war gestorben, als er erst wenige Monate alt war, und sein Vater wollte nichts mit ihm zu tun haben. Anfangs hatte das Jugendamt gehofft, dass er bald dauerhaft in eine liebevolle Familie aufgenommen würde. Aber da Daniel Dummbatz für seinen Job völlig unqualifiziert war, waren Zebs Pflegeeltern immer von der Art gewesen, die in Wahrheit ein unkompliziertes Kind wollten, das ab und zu am Essen herumnörgelte und sich aufregte, wenn ihm die Zehennägel geschnitten wurden, im Großen und Ganzen einfach nur erwachsen werden wollte.
Ein solches Kind war Zeb aber nicht, denn es ist schwer, erwachsen werden zu wollen, wenn man nicht erst mal eine Weile geliebt wurde. Seine Wutausbrüche führten dazu, dass man ihn als »Problemkind« abstempelte, und in den verschiedenen Schulen, die Zeb besuchte, hatte er nie Freunde gefunden. Er blieb für sich, zu verschlossen, um sich auch nur einen Moment verletzlich zu zeigen. Das war eine einsame Angelegenheit, aber immer noch besser als der Versuch, Freunde zu finden, nur um dann wieder fallen gelassen zu werden.
Zeb wurde langsamer. Er ließ den Trubel der Restaurants und Bars hinter sich und bog in verschlafene Seitenstraßen ein, die von eingezäunten Vorgärten gesäumt wurden, bis das Viertel auszufransen begann und immer trister wurde. Zeb umklammerte die Riemen seines Rucksacks. So weit war er noch nie gekommen. Er überlegte kurz, ob er eine Runde heulen sollte, besann sich dann aber eines Besseren und trabte weiter durch eine Spur aus Herbstlaub.
Hier war es ruhiger – und dunkler. Von den Straßenlaternen brannten nicht allzu viele, und der Mond hatte sich hinter eine Wolke verzogen. Zeb wagte sich weiter in die Schatten, er wurde von der Magie angezogen, ohne es zu wissen. Die Straßen hatten sich geleert, und die Nacht gehörte den Streunern: einer herumschleichenden Katze, einem Hund, der nach Essensresten suchte, und einer Ratte, die durch die Gasse huschte.
Zeb blieb stehen und die Angst schnürte ihm die Brust zu. Er hatte eine Plane aus der Garage der Wartner-Anstands geklaut, weil der Panzer immer betonte, dass man beim Bau seines Lagers vorausschauend sein müsse. Aber woher wusste Zeb, wo er sein Lager aufschlagen sollte? Sollte er sich einfach mit seinen Keksen unter der Plane zusammenrollen und auf das Beste hoffen?
Als hätte die Stadt Zebs Unbehagen gespürt, erhob sich wie aus dem Nichts eine Brise, wirbelte eine Handvoll Blätter vor seinen Füßen auf und trieb sie die Straße hinunter. Zeb ertappte sich dabei, wie er den Blättern folgte, die eines nach dem anderen die Straße hinunter und über die nächste Kreuzung flatterten.
Am Boden lag eine alte Zeitung, deren Schlagzeilen er nur halb registrierte:
GLOBALER TEMPERATURANSTIEG
POLARREGIONEN SCHMELZEN IN REKORDTEMPO
ARKTISCHE TIERE VOM AUSSTERBEN BEDROHT
MEER VERSCHLINGT KÜSTENSTÄDTE
In den letzten hundert Jahren hatte es zwei große Klimakatastrophen gegeben: eine Reihe von Wirbelstürmen, die die Welt fast auseinandergerissen hätten, und eine Dürre, bei der monatelang kein Tropfen Regen fiel. Und nun schmolzen täglich riesige Teile des Polareises, Eisbären und Belugawale waren nahezu ausgestorben, der steigende Meeresspiegel überflutete ganze Städte, und der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen führte zu verheerenden Waldbränden auf der ganzen Welt. Millionen Menschen hatten ihre Häuser verloren, Tausende ihr Leben, und die Arktis und Antarktis schwanden mit erschreckender Geschwindigkeit. Alle, die in einer Stadt am Meer lebten, waren nervös – alle außer Zeb. Die Erderwärmung zu stoppen, stand nicht ganz oben auf seiner Agenda, weder heute noch sonst irgendwann. Er war vollauf damit beschäftigt, einen Heulkrampf zu verhindern und ein Versteck zu finden.
Zeb folgte den herumwirbelnden Blättern, bis sie am Fuße eines Straßenschildes zu Boden sanken. Die dahinterliegende Gasse war so dunkel, dass sie wie ein Höhleneingang aussah. Zeb spürte, dass seine Knie weich wurden und sich der vertraute Kloß in seiner Kehle bildete. Um nicht unkontrolliert loszuheulen, schob er die Brust raus, reckte das Kinn und dachte daran, dass nichts und niemand auf ihn wartete, selbst wenn er sich jetzt einen Ausbruch leistete. Josephine und Gerald Wartner-Anstand brachten dem Samstags-Kreuzworträtsel in der Zeitung mehr Zuneigung entgegen als ihm. Er musste weitergehen. Er musste auf eigene Faust ein neues Leben beginnen.
Er blickte zu dem Straßenschild hinauf. Die Beschläge waren rostig und der Lack abgeplatzt, aber die Schrift war gerade noch erkennbar.
»Gaunergasse«, murmelte er.
Er trat in die Gasse. An den Gebäuden hingen weitere Schilder: PizzeriaPablo, Die Nudelstube, Brooklyns beste Burger. Aber die Restaurants sahen aus, als wären sie schon seit einer ganzen Weile mit Brettern vernagelt, genau wie das Gebäude am Ende der Straße. Es war höher und breiter als die anderen, und das Mauerwerk über der alten Holztür wirkte irgendwie elegant.
Zeb warf einen Blick auf das verblasste Schild – DERKRONLEUCHTER, stand darauf, und darunter befand sich eine Liste mit veralteten Vorstellungszeiten.
»Ein Theater«, murmelte Zeb. »So weit draußen.« Er betrachtete die Tür, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war. »Erwachsene denken immer nur an die Türen …«
Aber Zeb wusste aus Erfahrung, wenn es mehrere Wege gab, aus einem Gebäude hinauszukommen – durch ein Fenster, eine Dachluke, über die Feuertreppe –, dann gab es auch mehrere Wege hinein.
Er entschied sich für ein Fenster im Erdgeschoss, das mit morschen Brettern vernagelt war. Er schob die Bretter zur Seite, fand dahinter eine schmutzige Glasscheibe und rechnete eigentlich nicht damit, viel zu sehen, als er sein Gesicht dagegendrückte. Doch genau in diesem Moment schob sich der Mond hinter der Wolke hervor. Und weil das Dach des Theaters ziemlich löchrig war, fiel sein Licht durch die Ritzen und auf den größten Kronleuchter, den Zeb je gesehen hatte. Hunderte Glastropfen hingen von der kuppelartigen Decke und glitzerten silbrig wie die Krone eines Riesen.
Das Mondlicht war so hell, dass Zeb das Innere des Theaters deutlich sehen konnte. Hinter einem winzigen Eingangsbereich lag der Zuschauerraum mit den Sitzreihen, und darüber befand sich ein Balkon mit weiteren, von Spinnweben bedeckten Sitzen. Die Bühne war von einem zerschlissenen Vorhang gesäumt und voller Staub. Sie war leer, bis auf einen einzelnen Gegenstand. Als Zeb sah, was es war, zog ein kleines Lächeln über seine Lippen.
»Ein Klavier«, murmelte er.
Denn Zeb hatte in seinem Zimmer im Rechten Winkel Nr. 56 kein Gift gebraut oder Spraydosen geschüttelt. Er hatte sich beigebracht, auf dem Keyboard zu spielen, das er dort unter dem Bett gefunden hatte. Dabei hatte er die Erfahrung gemacht, dass Musik das Einzige war, womit er alles andere ausblenden konnte. Sobald die ersten Töne erklangen, war der Rest der Welt wie weggeblasen. Zugegeben, für den Panzer schien Musik keine große Rolle zu spielen, aber immerhin gab es eine Folge, in der er eine Art Alarmpfeife aus dem Oberschenkelknochen eines Ochsen schnitzte, und so war Zeb zu dem Schluss gekommen, dass wohl nichts dagegensprach, ab und zu ein paar Sonaten zu spielen.
Zeb starrte den Konzertflügel an, so glatt und schwarz, als wäre er aus Mitternacht gefertigt. Und plötzlich vergaß er alle Heulkrämpfe und Enttäuschungen. Er schob das Fenster nach oben, bis genug Platz war, um hindurchzuklettern, und warf einen letzten Blick in die Gaunergasse, um sicherzugehen, dass er nicht beobachtet wurde. Dann zwängte er sich in das Theater und zog das Fenster hinter sich zu.
Drinnen war es vollkommen ruhig, und Zeb zuckte zusammen, als seine Schritte durch die Stille hallten. Dennoch wagte er sich über das Parkett, unter dem Kronleuchter hindurch, in Richtung Bühne. Seitlich der Bühne konnte er alte Kulissen sehen, die übereinandergestapelt waren – Berge, Paläste und Palmen –, sowie haufenweise vergessene Requisiten: Vogelkäfige neben Stehlampen, zusammengeklappte Sonnenschirme auf durchgesessenen Sesseln und Schreibmaschinen auf alten Baumstümpfen. Zeb war erleichtert, dass er die Nacht zusammengerollt auf einem Sessel verbringen konnte und nicht draußen unter der Plane kauern musste. Aber erst einmal wollte er Klavier spielen – solange das Mondlicht am hellsten war und die ganze Welt schlief, damit das, was er spielte, ungehört blieb.
Er setzte sich auf den Schemel vor dem Klavier. Die Tasten waren mit Staub bedeckt – wie lange stand das Instrument wohl schon ungenutzt hier herum? Zeb pustete den Staub weg, und der Kronleuchter blitzte ihn an, als wollte er ihn zum Spielen ermuntern. Wenn Zeb gewusst hätte, dass die wahre Gefahr in dieser Nacht nicht auf der Straße lag, sondern darunter, wäre er auf der Stelle aufgesprungen und hätte das Weite gesucht. Aber Zeb wusste nicht, dass unter dem Theater eine Harpyie auf ihn wartete. Und so spielte er die Melodie, die er am meisten liebte und bei der er immer Zuflucht suchte, wenn er sich besonders einsam und verängstigt fühlte, weil sie ihm eine Erinnerung von vor langer, langer Zeit zurückbrachte. Leise und langsam begann er zu spielen, aber schon als die ersten Töne durch das leere Theater hallten, spürte Zeb, dass sich in ihm ein Gefühl der Ruhe einstellte.
Er vergaß die Wartner-Anstands. Er vergaß, dass er in der Schulkantine alleine zu Mittag gegessen hatte. Er vergaß die Nächte, die er weinend unter seiner Bettdecke verbrachte. Stattdessen dachte er an die Berge, Bäume und Paläste auf den Theaterkulissen, und während er spielte, stellte er sich vor, dass sie echt waren und dass er in fernen Ländern zwischen ihnen umherlief. Zeb spielte und spielte, ohne zu ahnen, dass sich tief unter dem Klavier Morgs dunkle Magie regte.
2
Die Kekse hielten nicht lange vor. Am nächsten Morgen hatte Zeb alle vierundzwanzig Stück aufgegessen und seine Wasserflasche leer getrunken. Ein kurzer Rundgang durch das Theater zeigte jedoch, dass es ein Badezimmer mit Waschbecken, fließendem Wasser und einer funktionierenden Toilette gab, und in einer Schachtel im Foyer fand er mehrere Tüten Gummibärchen. Das war vielleicht nicht genug, um damit eine Party zu veranstalten, reichte aber aus, um einen Elfjährigen für ein oder zwei Tage bei Laune zu halten.
Zeb wusste immer noch nicht genau, wie sein Plan aussah. Er wusste nur, dass er in diesem Theater ein Bett, ein Klavier und viele Verstecke hatte, falls jemand nach ihm suchte oder ein explosiver Heulanfall im Anmarsch war. Bis ihm die Gummibärchen ausgingen, gab es also keinen Grund, den Kronleuchter zu verlassen.
Er wühlte sich durch die Requisiten und verstaute alle auch nur ansatzweise gruseligen in einer Badewanne, die er im hinteren Teil des Theaters entdeckt hatte. Mitten in der Nacht aufzuwachen und in eine Hexenmaske zu blicken, die ihm von der Lehne seines Sessels entgegenstarrte, war keine Erfahrung, die er wiederholen wollte. Er verbrachte einen Großteil des Tages vor einem Garderobenspiegel, wo er seine mickrigen Bizepse anspannte, um sich auf Eindringlinge vorzubereiten. Vor allem aber wartete er auf den Mondaufgang und die silbrigen Stunden, die begannen, wenn der Rest der Welt sich schlafen gelegt hatte. Dann gab es nur noch ihn und den Flügel und die Gewissheit, dass niemand ihn hörte.
Jemand hörte ihn aber doch.
Einige Straßen weiter wohnte eine junge Frau mit feuerroten Haaren namens Fux Miese-Pampel. Als Elfjährige hatte ihre Hauptbeschäftigung darin bestanden, sich mit ihrem Zwillingsbruder Flunker zu zanken, aber das hatte sich nach einem Abenteuer im Verborgenen Reich von Dschungeltau geändert, wo sie Morg in einen bodenlosen Brunnen verbannt und den Regen in unsere Welt zurückgeholt hatten. Das war schon eine Weile her, und Fux war jetzt fast dreißig, aber sie erinnerte sich an den im Dunkeln leuchtenden Regenwald so gut, als wäre es gestern gewesen. Und jetzt, da das Klima auf der Erde sich wieder dramatisch veränderte, und zwar schneller, als alle Wissenschaftler vorhergesagt hatten, lag Fux abends wach und fragte sich, ob es in den Verborgenen Reichen wieder Ärger gab.
Fux war Sozialarbeiterin geworden. Sie verbrachte ihr Leben damit, anderen zu helfen. Aber sie wusste, dass sie, falls Morg hinter dieser jüngsten Klimakatastrophe steckte, in die Verborgenen Reiche zurückkehren musste, um die Sache in Ordnung zu bringen. Der Haken war nur, dass sie wie beim letzten Mal eine Träne des Phönix brauchen würde, um dorthin zu gelangen. Es gab nur noch fünf dieser Tränen, und wer wusste schon, wo sie waren? Beim ersten Mal waren Flunker und sie nur zufällig an eine gekommen, weil sie einem alten Antiquitätensammler namens Caspar Tock eine schimmernde Murmel aus der Hand gerissen hatten.
In dieser Nacht lauschte Fux den Klängen des Klaviers, die so leise waren, dass sie erst dachte, sie würde sie sich nur einbilden. Aber nein, sie waren da, ganz am Rande ihres Gehörs – eine wunderschöne Musik, die sie an Wellenrauschen erinnerte. So war es auch in der Nacht zuvor gewesen, als sie in ihrem Bett lag und nicht schlafen konnte. Wer setzte sich da mitten in der Nacht ans Klavier?
Sie stand auf, tappte durchs Schlafzimmer ihrer Dachgeschosswohnung und zog die Vorhänge zurück. Kam die Musik etwa aus der Gaunergasse? Das konnte nicht sein – dort wohnte niemand mehr. Als sie das Theater vor ein paar Jahren zuletzt besucht hatte, in der Woche vor der Schließung, hatte sie bei der Abschiedsvorstellung einen Flügel auf der Bühne gesehen, da war sie sicher. Aber nach all der Zeit war doch bestimmt niemand mehr im Kronleuchter?
Die meisten Menschen würden sich zweimal überlegen, ob sie sich nachts in ein mit Brettern vernageltes Theater wagen sollen. Aber wer es bereits mit verzauberten Bäumen und dämonischen Affen aufgenommen hat, ist mutiger als die meisten. Fux zog sich also ein paar warme Sachen über und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit.
Unterdessen war Zeb mit einem Musikstück beschäftigt, das er in der Woche zuvor selbst komponiert hatte. Es war ruhig und nachdenklich, von einer Folge des Panzers inspiriert, in der Zebs Held einen Elefanten hypnotisierte und nebenbei ein Lagerfeuer anzündete. Zeb konnte keine Noten lesen. Er hatte nie Klavierunterricht gehabt und spielte auf dem Keyboard der Wartner-Anstands immer mit Kopfhörern, damit niemand die Nase durch die Tür steckte und sagte, er solle still sein. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm die Musik, so seltsam es auch war, in den Knochen steckte.
Melodien schienen ihm jedenfalls leichter zuzufliegen als Familienmitglieder oder Freunde. Zeb hielt sein musikalisches Talent für einen merkwürdigen Glücksfall, aber es steckte mehr dahinter: Hier war Magie am Werk. Und diese Magie wusste, dass Zeb eines Tages sein geheimes Talent brauchen würde, um ein Wunder zu vollbringen und die Welt zu retten.
Zeb spielte mit geschlossenen Augen, ganz versunken ins Auf und Ab der Töne, und als er die Augen öffnete, schrie er laut auf. Im Foyer stand eine Frau mit leuchtend roten Haaren. Zeb rannte von der Bühne, schnappte sich ein Priestergewand von einem Kostümstapel und warf es über seinen Kapuzenpullover. Dann wartete er, am Boden kauernd und mit hämmerndem Herzen, dass Schritte näher kamen.
»Hab keine Angst, ich tue dir nichts«, sagte die Frau. »Ich möchte nur mit dir reden.«
Zeb vergrub sich tiefer in das Priestergewand, bereute, dass er es als Deckung gewählt hatte, und verfluchte sich dafür, dass er Klavier gespielt hatte. Der Panzer hätte sich bestimmt nicht durch ein Mitternachtskonzert verraten.
»Du spielst gut«, sagte die Frau. »Richtig gut.«
Zeb merkte, dass sie ganz nah war. Er riskierte einen Blick aus dem Priestergewand und quietschte. Die Frau stand auf der Bühne und sah ihn direkt an. Zeb hielt ihrem Blick stand und bemühte sich, grimmig auszusehen. Ein harter Kerl zu sein war anstrengend, vor allem, wenn man viel lieber in Tränen ausbrechen würde, aber im Moment war es absolut notwendig. Zeb starrte die Frau weiter an. Würde sein Bizeps der Herausforderung gewachsen sein, wenn sie handgreiflich wurde?
»Warum bist du hier, mitten in der Nacht und ganz allein?«, fragte die Frau.
Zeb schob die Unterlippe vor und schwieg. Es kam öfter vor, dass sich wohlmeinende Erwachsene an kritischen Punkten seiner Flucht einmischten, aber eigentlich interessierte sie nicht, was mit ihm geschah – nicht wirklich. Wenn sie erst die Polizei gerufen hatten und ein Beamter kam, um Zeb abzuholen, ging er sie nichts mehr an. Aber diese Frau griff nicht nach ihrem Handy. Sie hockte sich vor Zeb auf die Bühne. Und lächelte.
»Spielst du gern Klavier?«, fragte sie.
Zu seinem Entsetzen ertappte sich Zeb dabei, dass er nickte. Was machte er da? Wenn man auf der Flucht war, unterhielt man sich nicht über Musik! Er schob das Kinn vor und grunzte leise, wie um es zurückzunehmen.
Die Frau redete weiter, und Zeb merkte, dass ihre Stimme sanft war, ganz anders als das schneidende Keifen von Josephine und Gerald Wartner-Anstand und das dumpfe Dröhnen von Daniel Dummbatz.
»Ich bin musikalisch leider völlig unbegabt«, sagte sie. »Aber ich war vor ein paar Jahren mit meinem guten alten Freund Caspar Tock in Deutschland bei einem Konzert in einem kleinen Dorf namens Nieselgurk, und die Pianistin war unglaublich gut.« Sie hielt inne. »Fast so gut wie du. Sie kam aus Nigeria – und es hieß, wenn sie spielte, rissen die Wolken auf.«
Zeb wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Ein Heulkrampf schien sich nicht anzubahnen, aber er wollte sich auch nicht in ein Gespräch verwickeln lassen. Deshalb war er selbst überrascht, als er sich sagen hörte: »Sie waren bei Alaba Abadaki?«
Das Gesicht der Frau hellte sich auf. »Ja! So hieß sie!«
Zeb hatte die berühmte Pianistin schon einige Male im Radio gehört, und er konnte sich ungefähr vorstellen, wie sagenhaft es sein musste, sie live zu erleben. Aber daran wollte er jetzt nicht denken – er musste dieses Gespräch beenden und die Besucherin loswerden, bevor sie seine Flucht völlig vermasselte.
»Ich bin Fux«, sagte die Frau.
Zeb erstarrte in seinem Priestergewand. Das hörte sich nicht nach dem Ende des Gesprächs an. Aber warum schleppte ihn diese Frau nicht einfach auf die nächste Polizeiwache?
Und dann sagte Fux: »Ich bin Sozialarbeiterin und wohne ganz in der Nähe.«
Zeb kniff die Augen zusammen. Eine Sozialarbeiterin, die ihm die Flucht vereitelte, war wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte. Obwohl sie ganz anders aussah als Daniel Dummbatz. Ihre Stimme war weicher, ihre Augen waren heller und sie füllte die Stille nicht mit sinnlosen Vorschlägen.
»Ich möchte dir helfen«, sagte Fux.
Zeb warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Ich brauche keine Hilfe. Von niemandem.«
Fux hielt eine halbleere Packung Gummibärchen hoch und lächelte. »Sieht so aus, als wären die bald alle.«
Zeb schnappte sich die Packung und steckte sie unter sein Gewand.
»Hör zu«, sagte Fux. »Wie wär’s, wenn ich dich zu einem anständigen Essen einlade? Hier in der Nähe gibt es in paar Läden, die auch nachts geöffnet haben. Du kannst bestellen, was du möchtest: einen Burger, Pommes, einen Milchshake – was immer du willst. Und wir können ein bisschen plaudern.«
Zebs Magen knurrte bei der Erwähnung von Burgern. Aber »plaudern« klang gar nicht gut.
»Ich bleibe hier.« Zeb schlug dramatisch sein Gewand zurück, um seinen Standpunkt zu unterstreichen. »Ich gehe nie wieder hier raus – nicht zum Essen und schon gar nicht in eine Pflegefamilie.«
Fux sah den Jungen traurig an. Ihr Bruder und sie waren als Kinder auch einsam und unglücklich gewesen. Sie wusste, wie es war, sich von den Erwachsenen ungeliebt zu fühlen.
»Ich kann dich nicht zwingen, mit mir zu kommen, Zebedäus.«
Zeb verzog das Gesicht. »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
Fux nickte in Richtung Foyer. »Er steht auf deinem Rucksack.«
Zeb zupfte an seinem Gewand. Der Panzer hätte ihn ruhig warnen können, dass es keine gute Idee war, mit Namen versehene Gegenstände auf Abenteuer mitzunehmen.
»Gehen Sie einfach«, murmelte er nach einer Weile, obwohl ihn die Frage, was er essen sollte, wenn die Gummibärchen zur Neige gingen, langsam beunruhigte.
Er rechnete damit, dass Fux aufstehen, ihr Handy zücken und Verstärkung anfordern würde. Doch Fux wusste, dass Kinder komplizierte Wesen sind, und obwohl ihr klar war, dass sie Zeb zur nächsten Polizeiwache bringen sollte, spürte sie, dass er dazu noch nicht bereit war.
»Das Leben wird nicht immer so schwer sein«, sagte sie leise.
Zeb blinzelte. Er war Freundlichkeit nicht gewohnt, und Fux hatte ihn überrumpelt. Er versuchte, sich zusammenzureißen, aber es war zu spät. Ihre Sanftheit hatte einen Weinkrampf in Gang gesetzt, und obwohl er schluckte und schluckte, um den Kloß in seiner Kehle loszuwerden, musste er den Tatsachen ins Auge sehen: Die Tränen kamen, ob er wollte oder nicht.
»Eines Tages wird alles besser sein«, fuhr Fux fort. »Heller.« Zeb wischte sich die erste Träne weg, und Fux beugte sich etwas vor. »Eines Tages wirst du erkennen, dass du kein Niemand bist.«
Eine zweite Träne rann über Zebs Gesicht und zog einen Streifen über seine staubige Wange. Er wischte sie weg, aber es kamen immer neue, also vergrub er sich unter seinem Gewand und schluchzte. Und je mehr er schluchzte, desto wütender wurde er. Bis Fux aufgetaucht war, war alles in bester Ordnung gewesen. Doch jetzt hatte er einen Heulkrampf und die ganze Flucht geriet in Gefahr. Gleich würde sie ihn hochziehen und darauf bestehen, dass er mit ihr zur Polizeiwache kam. Aber das tat sie nicht, und einen verrückten Moment lang fragte sich Zeb, ob sie vielleicht wirklich anders war als die anderen Erwachsenen. Er verdrängte den Gedanken so schnell, wie er gekommen war – Heulkrämpfe schwächten sein Urteilsvermögen.
»Ich gehe jetzt nach Hause und hole mein Portemonnaie«, sagte Fux. »Und wenn ich zurückkomme, denken wir noch mal über den Milchshake nach, okay?«
Zeb schniefte. So wie er das sah, hatte er drei Möglichkeiten: hier unter dem Priestergewand warten, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Fux ihr Versprechen hielt und zurückkam, wieder in die Nacht hinausrennen oder New York auf einem Floß aus Theaterrequisiten verlassen, wie der Panzer es tun würde. Zeb wischte sich die Nase, verdrängte den Heulkrampf und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Doch eigentlich war es zwecklos, denn die Harpyie im Untergrund hatte alles mit angehört. Sie hatte ihre eigenen Pläne – und die hatte nicht das Geringste damit zu tun, was Zeb wollte.
Fux stand auf. »Ich komme gleich wieder und hole dich ab. Versprochen. Warte einfach hier.«
Sie drehte sich um und eilte aus dem Theater. Kaum war sie weg, begann das Geflüster.
3
Unter seinem Priestergewand bemerkte Zeb das Geflüster zunächst gar nicht. Er war viel zu sehr mit der Frage beschäftigt, was er von Fux halten sollte. Doch als er das Kostüm ablegte, hörte er leise Wortfetzen aus der Richtung des Klaviers.
»F-Fux?«, rief Zeb nervös. »Sind Sie das?«
Einen Moment lang war es ganz still. Der Kronleuchter funkelte im Mondlicht. Dann setzte das Geflüster wieder ein, lauter und eindringlicher als zuvor. Zeb runzelte die Stirn – es schien aus dem Inneren des Klaviers zu kommen.
Er beäugte das Instrument aus sicherer Entfernung. Das war gar nicht gut. Flüsternde Klaviere kamen im Überlebenstraining des Panzers nicht vor. Das Flüstern wurde lauter und Zeb merkte, dass es immer wieder dasselbe Wort war, das ihm einen eisigen Schauder über den Rücken jagte.
»Zebedäus. Zebedäus. Zebedäus.«
Zeb stöhnte entsetzt auf. Warum rief eine Stimme im Inneren des Klaviers seinen Namen? Vorhin hatte er hineingeschaut, als er den Staub von den Saiten gepustet hatte, und da war niemand gewesen. Schlimmer noch, die Stimme klang nicht so, als gehöre sie zu Zebs Welt – sie klang etwa so wie Rost, wenn der sprechen könnte, und außerdem klang sie weiblich. Zeb schluckte. Spukte es im Theater? Hauste im Inneren des Klaviers ein Geist?
Er versuchte, sich zu bewegen. Vielleicht sollte er doch weglaufen, denn jetzt, da sein Weinkrampf vorbei war, hielt er es für Wahnsinn zu glauben, er könne sich auf Fux verlassen. Warum sollte sie anders sein als die anderen Erwachsenen, die er kennengelernt hatte? Das ganze Gerede von Burgern und Milchshakes war wahrscheinlich nur ein Trick, um ihn aus dem Theater zu locken. Vermutlich war Fux schon längst auf dem Polizeirevier und meldete ihn dort. Aber als Zeb sich zur Tür bewegen wollte, rührten sich seine Beine nicht von der Stelle. Die Angst hielt ihn genau da, wo er war. Genau da, wo Morg, die flüsternde Harpyie, ihn haben wollte.
»Ich kann herbeizaubern, was auch immer du willst«, sagte die Stimme jetzt. »Ein Fluchtflugzeug, Reichtümer im Überfluss. Ein eigenes Haus, meilenweit entfernt von allem und jedem, damit du dich nie wieder mit anderen Menschen abgeben musst. Mit meiner Magie ist alles möglich.«
Zeb war immer noch viel zu verängstigt, um sich zu bewegen. Dieser Geist, oder was auch immer es war, schien ja ganz gut über ihn Bescheid zu wissen. Hatte er sein Gespräch mit Fux belauscht? Neben Zebs Angst kam auch Neugier auf. Noch nie hatte ihm jemand Fluchtflugzeuge, Reichtümer und abgelegene Häuser versprochen. Zeb schüttelte sich. Er hatte fast hundert Folgen vom Panzer gesehen, und nicht ein einziges Mal hatte sein Held Magie erwähnt. Und obwohl er wusste, dass es keine Magie gab, malte sich Zeb eine Zukunft aus, die aus Magie erbaut war: einen Palast im Himalaja, ein Schloss in einem abgelegenen Wald in Finnland, eine Festung in der Äußeren Mongolei … Zeb kniff die Augen zusammen, um sich nicht noch weiter hineinzusteigern.
Die Stimme fuhr fort, Zeb ihre Versprechungen vor die einsamen Füße zu legen. »Du könntest ein Schloss mit hundert Stockwerken und einem Flügel in jedem Zimmer haben. Du könntest ein Schwimmbecken auf dem Dach haben und ein Kino ganz für dich allein. Du könntest so stinkreich sein, dass es dir an nichts fehlen würde.«
Langsam fasste Zeb sich wieder. Der Glaube an etwas so Lächerliches wie Magie konnte nur in einer Katastrophe enden. Er versuchte, sich auf die Stimme selbst zu konzentrieren. Kam sie tatsächlich aus dem Klavier, oder bildete er sich das nur ein? Mit zitternden Knien stand er auf und machte sich auf den Weg dorthin. Er hielt den Atem an und spähte hinein. Kein Geist blickte ihn an, kein Gespenst sprang ihm entgegen. Im Inneren des Klaviers befand sich nichts außer den Saiten und Hämmern – und der Stimme.
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