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Die Geschichte einer großen Liebe und ihrer Verwandlung Sie lernt ihn kennen, als sie noch jung ist und er beinahe schon alt. Er, der berühmte Schriftsteller. Sie, die mit dem Schreiben gerade anfängt und Mutter einer kleinen Tochter ist. Sie wird seine Schülerin, seine Geliebte, seine Vertraute, und beide schwören, sich einander zuzumuten "mit allen Meisen und Absonderlichkeiten". Eine Beziehung voller Lust und Hingabe und Heiterkeit. Dann aber, als die Tochter mitten in der Pubertät steckt, erhält er eine Diagnose, die alles ändert. Die Beziehung wird zum Ausnahmezustand und sie von der Geliebten zur Pflegerin. Sie will helfen, sie hilft, doch etwas schwindet, ihr Lebensmensch entfernt sich, die Zeit der Abschiede beginnt. Und noch etwas: ein neues Leben. Katja Oskamp erzählt zärtlich und rückhaltlos von den Verwandlungen, die das Dasein bereithält, von brüchigen Lebensläufen, von den Rollen einer Frau und den Körpern in ihrer ganzen Herrlichkeit und Hässlichkeit. Vor allem aber erzählt sie die Geschichte einer großen Liebe.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Die vorletzte Frau
Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, ist in Berlin aufgewachsen. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft arbeitete sie als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisher wurden von ihr der Erzählungsband Halbschwimmer und die Romane Die Staubfängerin und Hellersdorfer Perle veröffentlicht. 2019 erschien bei Hanser Berlin Marzahn, mon amour, für dessen englische Ausgabe sie 2023 zusammen mit der Übersetzerin den Dublin Literary Award erhielt.
Sie lernt ihn kennen, als sie noch jung ist und er beinahe schon alt. Er, der berühmte Schriftsteller. Sie, die mit dem Schreiben gerade anfängt und Mutter einer kleinen Tochter ist. Sie wird seine Schülerin, seine Geliebte, seine Vertraute, und beide schwören, sich einander zuzumuten »mit allen Meisen und Absonderlichkeiten«. Eine Beziehung voller Lust und Hingabe und Heiterkeit. Dann aber, als die Tochter mitten in der Pubertät steckt, erhält er eine Diagnose, die alles ändert. Die Beziehung wird zum Ausnahmezustand und sie von der Geliebten zur Pflegerin. Sie will helfen, sie hilft, doch etwas schwindet, ihr Lebensmensch entfernt sich, die Zeit der Abschiede beginnt. Und noch etwas: ein neues Leben.
Katja Oskamp
Roman
Ullstein
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© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Porträt der Autorin: © Mathias BothorUmschlag: Huelsenberg StudioISBN: 978-3-8437-3244-4
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
Epilog
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Als ich Tosch begegnete, war ich dreißig, er neunundvierzig. Neunzehn Jahre betrug der Altersunterschied. Neunzehn Jahre währte auch unsere Beziehung, eine merkwürdige Übereinstimmung. Im ersten Fall galt neunzehn als viel, im zweiten als wenig. Neunzehn läppische Jahre. Neunzehn von, sagen wir, achtzig Jahren, die ein durchschnittliches Frauenleben heutzutage dauert. Ich hatte bis fast zum Schluss das Gefühl, wir hätten uns gerade erst kennengelernt, würden aber bald, in naher Zukunft, zum Kern vordringen. Später dachte ich darüber nach, ob der Satz Tosch war der Mann meines Lebens zutraf und ab welchem Alter man einen solchen Satz sagen durfte. Ich pflegte eine Schwäche für simple Zahlenspiele, nichts Aufwendiges, eher Milchmädchenrechnungen nach Hausfrauenart. Ich rechnete in Gedanken vor mich hin und umkreiste die Frage, ob alles so gekommen wäre, wie es gekommen war, wenn Tosch während der neunzehn Jahre nicht krank und ich während der neunzehn Jahre nicht alt geworden wäre.
Tosch war Schweizer. Er kam als Gastdozent an das Leipziger Institut, an dem ich studierte. Er wurde mein Lehrer, ich seine Schülerin. Ich saß in seinem Dramatik-Seminar und blieb stumm vor Begeisterung. Tosch sprach über das Theater. Kein Student verstand seine Geschichten so, wie sie es verdienten. Ich schon. Ich kannte das Theater.
Als ich ein halbes Jahr später eine Prüfung bei ihm ablegen musste, steckte ich allen Ehrgeiz, allen Mut in die Vorbereitung. Nicht der Benotung wegen. Ich wollte Tosch imponieren, ihn als Freund gewinnen, bis auf den Grund durchschaut werden. Ich stellte, indem ich Parallelen zwischen Shakespeares Der Sturm und Becketts Warten auf Godot sammelte, ein paar steile Thesen auf. Tosch gab mir eine glatte Eins. Danach lud er mich zum Essen ein. Wieder sprachen wir vom Theater, erzählten uns Geschichten, ein Abgleich, der einer Verschwörung ähnelte. Wir zogen weiter in eine Kneipe und tranken viel. Als Tosch das volle Schnapsglas auf dem hölzernen Tisch von A nach B schob, um den Genuss hinauszuzögern, sah ich in ihm Karl wieder, den dreißig Jahre älteren Schauspieler, meine erste Liebe. Von da an vertraute ich Tosch wie ein Tier. Ich weidete mich an seinem Anblick, an diesem nicht sonderlich großen, aber kräftigen Kerl mit Bart, Bauchansatz und Bauarbeiterhänden. Er bot mir eine Zigarette an. Nach dem ersten Zug wurde mir schwindlig, ab dem dritten schmeckte es phänomenal. Als wir die Kneipe verließen, griff ich Tosch zwischen die Beine. Das war neu.
Tosch legte mich vor dem Joseph Pub mit Krawumm auf die Motorhaube eines parkenden Autos. Er stellte den Anschluss an die her, die ich vor der Geburt meines Kindes gewesen war. Ich half mit, wo ich konnte.
Tosch sagte: Bevor ich dich traf, war ich tot. Mein Schwanz war tot.
Er lebte in einer Ehe mit einer Schauspielerin ohne Rollen. Sie bewohnten ein Haus in einem Schweizer Dorf, das Tosch gekauft hatte, Stein für Stein zusammengeschrieben. Das Angebot aus Leipzig kam Tosch wie gerufen, nachdem er zuvor schon an einer amerikanischen Universität unterrichtet hatte. Er wollte weg von der Frau. Sie drohte regelmäßig damit, sich umzubringen, und schaffte es mehrmals fast. Einmal rief Tosch in seiner Verzweiflung seinen Analytikerfreund an. Der brüllte in den Hörer.
Ich schätze es überhaupt nicht, im Urlaub gestört zu werden! Ich stehe hier am Strand, und da draußen auf dem Wasser schaukelt ein Gummiböötli! Darin sitzen deine Frau und du! Sie sticht mit einem Messer auf das Gummiböötli ein! Du kannst entweder mit ihr untergehen oder versuchen, ans Ufer zu schwimmen! Deine Entscheidung! Tschüss!
Tosch hat diese Geschichte oft erzählt und sich an ihr festgehalten, wenn die Schauspielerin ohne Rollen ihn terrorisierte. Ihr Zerstörungswille schwebte wie ein Schatten über Tosch. Er bemühte sich, den Schatten zu verbergen. Vor mir und vor Paula, meiner Tochter. Aber die Schauspielerin ohne Rollen hatte eine psychische Krankheit, keine Kinder und viel Zeit, in der sie mir E-Mails schrieb, meistens nachts, ordinäre Beschimpfungen voller Hass, mit zeilenweise roten Ausrufezeichen versehen. Ich hatte nie zuvor Post solcher Art erhalten. Anfangs überlachte ich das Erschrecken, schließlich waren es Grüße aus dem Land des Irrsinns. Dann gewöhnte ich mich daran und sammelte die E-Mails in einem Ordner für Toschs Scheidung. Als diese viele Jahre später vollzogen war, löschte ich alles.
Ich sagte: Ich war toter als du, Tosch.
Mit fünfundzwanzig hatte ich mir am Rostocker Theater Paulas Vater, den holländischen Generalmusikdirektor, geangelt. Im Orchestergraben gebärdete er sich wie ein wütender Dompteur. Schwarzer Frack, schweißnasse Haare – eine furiose Rückansicht. Ich dachte, es sei Liebe, und wurde schwanger. Mein Bauch und meine Brüste wuchsen schnell. An einem Freitag nach der Probe sagte ich zur Regisseurin, dass ich mich komisch fühle; nur zu meiner Beruhigung wolle ich mich in der Frauenklinik vorstellen. Zur Abendprobe sei ich zurück.
Ich erzählte dem Arzt von dem komischen Gefühl, wurde untersucht, durfte nicht mehr aufstehen, bekam Wehenhemmer durch eine Kanüle, eine Leberwurststulle zum Abendbrot und dann, nach nochmaliger Untersuchung, ein OP-Hemd angezogen, eine Rasur und eine Betäubung. Man rollte mich irgendwohin, wo alles grün war. Das Letzte, was ich hörte und auch noch merkte: Die Fruchtblase ist geplatzt.
Die Geburt, die keine war, sondern ein Notkaiserschnitt in der zweiunddreißigsten Woche, katapultierte mich aus allen Zusammenhängen. Paula wog 1620 Gramm und lag im Brutkasten, zwischen Schläuchen und Kabeln kaum zu finden. Ich konnte nichts tun als bei ihr sitzen, Milch abpumpen und auf Sauberkeit achten. Ich tauchte tief in die Welt der Desinfektion ein. Niemand sagte mir, wie Paulas Chancen stehen. In dieser schwachen Stunde erwischte mich der GMD, und ich stimmte einer Heirat zu.
Noch lange spürte ich die Mixtur aus Panik und Bitternis. Ich habe kein einziges Mal geweint in jenen Wochen, als ich jeden Tag zweimal in die Frühchen-Abteilung der Kinderklinik fuhr. Auf den wenigen Fotos, die es gibt, sehe ich freundlich aus, weich sogar, mit abwesendem Blick. Ein Tarnlächeln. Ich habe alles richtig gemacht. Ich habe gut funktioniert. Ich habe bloß kein bisschen verstanden, was los ist. Sicher war nur, dass ich die Schuld trug an Paulas miserablem Start ins Leben.
Vermutlich stand ich unter Schock. Auch dann noch, als Paula schon anderthalb Jahre alt und gut genährt war und wir von Rostock weg in ein Dorf in Sachsen-Anhalt zogen, weil ich die Zusage für den Studienplatz in Leipzig erhalten hatte. Spätestens nun sei Paula aus dem Gröbsten raus, sagten die Ärzte, sagte der Generalmusikdirektor, sagten meine Eltern und die Freunde. Es sei Zeit, zur Normalität zurückzukehren. Das misslang mir. Ich traute dem Frieden nicht. Die Angst um Paula blieb.
Die Ehe mit dem GMD entpuppte sich als Desaster. Er war inzwischen arbeitslos, nur deshalb konnte er mit mir in die Nähe von Leipzig ziehen. Eine großzügige Geste der Treue und ein Beweis dessen, was er immer wieder verkündete: Ihm sei es egal, wo er wohne, er sei überall zu Hause. Er könne sich an jedem Ort auf Erden eine Heimat schaffen. Ein Mann von Welt und ohne Wurzeln. Mich verhöhnte er für meine DDR-Herkunft, dabei lebte er im Osten, der ihn finanzierte und den er für ein riesiges Provinznest voller Idioten hielt. Im Gegenzug verlachte ich den GMD dafür, dass er mit fünfzig noch immer seine schreckliche Kindheit in einem calvinistischen Pfarrhaus beschwor, um mildernde Umstände für sich zu erwirken. Er leide an Depressionen, gegen die nichts helfen würde, weder eine Therapie noch Tabletten, er habe alles schon versucht.
Den Dirigierstab hatte er gegen den Kochlöffel getauscht und schmadderte in der Küche herum, während sich mein Kampf um Keimfreiheit verselbständigte. Er kochte, ich putzte. Bis zur totalen Erschöpfung. Ein Reihenendhaus ist groß. Keller, Erdgeschoss, erste Etage, Dachgeschoss. Terrasse, Garten, Carport. Und täglich dieses Schlachtfeld von Küche.
Die Putzerei sollte Paula hygienisch einwandfreie Bedingungen bieten und die Spuren des GMD beseitigen. In Wahrheit wollte ich eine perfekte äußere Ordnung herstellen, in der irrationalen Hoffnung, dass die innere endlich zurückkäme.
Der GMD hasste mich nicht. Der GMD hasste seine Eltern, die schon viele Jahre tot waren. Auch ich hasste den GMD nicht, höchstens verachtete ich ihn. Doch es gab jemanden, den ich hasste. Mich.
Mein Körper war mir fremd geworden und geblieben: eine aufgedunsene Person ohne Augen zum Weinen, mit zertrennten Nerven und viel totem Gewebe um die Narbe am unteren Bauch. Ich schnitt mir die Haare kurz wie eine Schaffnerin der Deutschen Bahn und fand, es geschehe mir recht, so beschissen auszusehen. Das Leben war versaut, von mir selbst versaut, fertig.
Als Tosch neu war am Literaturinstitut und ich noch tief in Ehefrust und Reihenendhaus steckte, stellte er uns im Seminar eine Aufgabe. Wir sollten uns in Zweiergruppen zusammenfinden und in die weitläufigen Räume des Instituts zurückziehen, um einen kleinen Auftritt vorzubereiten. Tosch verteilte Kopien. Frei und ungezwungen sollten wir Tonka von Robert Musil auseinandernehmen, vertanzen oder aufessen. Ich verabscheute solche Mitmach-Projekte, und die sogenannte Performancekunst hielt ich für ein Sammelbecken für Dilettanten. Ich griff mir den Mitstudenten, der übrig blieb, weil er besonders faul und uninspiriert war. Übellaunig betrachtete ich den Text. Tosch rannte mit einem Tablett durch das Institut und verteilte Kaffee aus dem Automaten an die Grüppchen. Die Zeit verstrich. Mir fiel nichts ein. Die Ablehnung der Aufgabe höhlte mein Hirn aus. Kurz vor Schluss riss ich alle wörtlichen Reden aus dem Text, lauter ausgefranste Papierbahnen, und ranzte den Mitstudenten an, gefälligst zu helfen. Dann trafen sich die Studenten im Seminarraum wieder, um die Ergebnisse zu präsentieren. Als der Mitstudent und ich an die Reihe kamen, stellten wir uns in die Mitte. Ich schmiss den Haufen Papierschnipsel auf den Boden. Immer abwechselnd fischten wir einen Schnipsel aus dem Haufen und lasen den Satz vor. Ich ärgerte mich über meine blöde Idee, die dafür sorgte, dass ich mich bücken und allen das ausladende Hinterteil entgegenstrecken musste, das ich stets sorgsam unter langen Pullovern versteckte. Gleichgültig löffelte ich die Suppe aus, die ich mir eingebrockt hatte, und sagte mir, dass ich hier sowieso falsch und in Wahrheit nichts weiter als eine putzende Hausfrau sei.
Nach unserem Auftritt hielt Tosch eine etwas zu lange Lobrede auf den überaus aussagekräftigen Zufallsdialog aus Musil-Sätzen, der bei aller Absurdität zeige, dass ein guter, ein haltbarer Text sein Thema in jedem Satz mit sich führe, es würde sich überall auffinden und nicht kleinkriegen lassen. Dann war das Seminar zu Ende. Die Studenten verließen den Raum, aber Tosch blieb sitzen, rührte sich nicht vom Fleck. Das war untypisch, normalerweise war er einer der Ersten, die hinausgingen, um im Flur neben dem tonnenförmigen Aschenbecher eine Zigarette zu rauchen.
Später, als wir im Joseph Pub zusammenhockten und die Geständnisphase begonnen hatte, brauchte Tosch drei Schnäpse, bevor er mit der Geschichte herausrückte. Während ich mich ein ums andere Mal nach den Satzschnipseln gebückt hatte, sei sein Schwanz erwacht. Ich glaubte Tosch nicht; zu unattraktiv erschien mir der eigene Hintern. Du verarschst mich, sagte ich, erfreut über das Wortspiel. Tosch konterte: Du hast dich für mich zum Arsch gemacht.
Tosch unternahm einiges, um sich in meine Nähe zu spielen. Ich produzierte lauter Fehldeutungen. Die Schaffnerin mit dem leblosen Bauch bemerkte nichts von Toschs Avancen. Sie fühlte sich nicht geschmeichelt und kokettierte nicht. Das Neutrum reagierte nicht auf erotische Signale. Wo das Glitzern der Libido hingehört hätte, war in meinem Innern ein blinder Fleck, mit scharfen Putzmitteln dort hingeschrubbt.
Ich war toter als du, Tosch.
In dem seltsamen Wettstreit über die Ausmaße unserer Totheit einigten wir uns jeweils darauf, dass wir eben beide tot gewesen waren. Der Wettstreit diente ja bloß dazu, uns immer wieder erzählen zu können, wie dann, als wir im Joseph Pub aufeinanderprallten, die Liebe explodierte.
Als ich mir unter Aufbietung aller rationalen Kräfte bewusst gemacht hatte, dass ich demnächst nicht nur den kleckernden Generalmusikdirektor, sondern auch meine Tochter und am Schluss mich selbst wegputzen würde, fragte ich den Vater einer damaligen Freundin, der in Berlin Psychiater war, um Rat. Er empfahl einen Psychiater in Leipzig, der mich weiter zu Frau Dr. T. schickte.
Zuerst saßen wir uns gegenüber, bald schon lag ich auf der klassischen Sigmund-Freud-Couch, erst einmal, dann zweimal, dann dreimal pro Woche. Dr. T. saß hinter meinem Kopf in einem bequemen Sessel und schrieb mit.
Im Verlauf der drei Jahre warf ich Tonnen von Text bei Dr. T. ab. Das ganze erste Jahr schimpfte ich in einer Endlosschleife über meine Mutter. Dr. T. muss sich zu Tode gelangweilt haben. Aber wer auf der Sigmund-Freud-Couch liegt, der sieht nicht, ob die Frau im Sessel an ihren Fingernägeln pult oder ein Nickerchen hält. Es ist auch egal. Ein guter Therapeut ist einer, der an den richtigen Stellen aufwacht.
Während Dr. T. alles von mir wusste, wusste ich wenig von Dr. T. Sie hatte Physik studiert, auch als Physikerin gearbeitet, dann eine zweite Ausbildung zur Psychoanalytikerin absolviert. Sie hatte keine Kinder, was mir entgegenkam: So konnte ich ihr Kind sein, das einzige, das Lieblingskind. Später gestand ich mir tapfer ein, dass ich nicht ihre einzige Patientin war. Dr. T. war zwar kinderlos, aber in gewisser Weise auch kinderreich.
Einmal erzählte sie eine kleine Geschichte. Sie hatte früher erfolgreich Raucherentwöhnungskurse gegeben. In den Pausen ging sie vor die Tür, um die verdiente Fluppe durchzuziehen. Nicht heimlich, alle Kursteilnehmer konnten es sehen. Dr. T. wollte sich das Rauchen nicht abgewöhnen, sie wollte nur die Kurse geben. Mit dieser Geschichte gewann sie endgültig mein Herz. Und mit dem rauen Lachen, das ein aufrührerisches Potenzial verriet.
Als ich Tosch zwischen die Beine griff, hatte Dr. T. die erste tote Kruste in mir schon aufgeweicht. Ich war seit einigen Monaten in Behandlung und führte ab sofort ein Drei- bis Vierfachleben. Im klappernden R5 mit Choke und Kindersitz fuhr ich herum zwischen Toschs Junggesellenbude, dem Reihenendhaus, der Kita, Dr. T.s Praxis und dem Institut. Im Seminar, jetzt Prosa, wurde ich noch stummer. Starrte Tosch auf den geöffneten Hemdkragen, aus dem graue Brusthaare hervorlugten. Damals wusste ich noch nicht, dass Tosch erstens Klaustrophobiker war und zweitens alle Knöpfe dieser Welt als seine Feinde betrachtete. Als ich es erfuhr, liebte ich ihn nicht weniger. Tosch brauchte Luft am Hals und knöpfte nur das Allernötigste. Noch lieber ließ er knöpfen.
Wann immer es möglich war, verabredeten wir uns im Joseph Pub und hörten nicht mehr auf, Geständnisse abzulegen, uns nichts zu ersparen, uns keine Lügen aufzutischen, uns einander auf Gedeih und Verderb zuzumuten. Ich mute mich dir zu. Du mutest dich mir zu. Ich weiß noch, wie das Wort zu uns kam. Nachher, in der Junggesellenbude, fielen wir übereinander her.
Morgens um vier düste ich mit dem R5 ins Reihenendhaus, schlief zwei Stunden an der Seite meines Ehemannes, bis Paula mich weckte und der Tag begann. Frühstück, Kita, Institut, Analyse.
Ganz zu Beginn, in der Junggesellenbude, zeigte mir Tosch unter großer Überwindung seine Hörgeräte. Er schämte sich, sie zu tragen, und trug sie also nicht, wollte sich mir aber zumuten, mich wissen lassen, wie elend es um ihn stand, mit wem ich mich eingelassen hatte. Er war fünfzig; die Ersatzteilphase hatte begonnen.