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»Eine unprätentiöse, gallig-witzige Erzählerin der Tragödien des Alltags und der Liebe.« - Deutschlandradio Kultur Als einzige Tochter eines NVA-Offiziers und einer Schuldirektorin hätte Tanja die besten Voraussetzungen, ein Musterprodukt der DDR-Gesellschaft zu werden. Aber Tanja hat anderes im Sinn, Tanja sucht die Liebe. Und so nutzt sie jede Gelegenheit, das sozialistische Bilderbuchleben gegen aufregendere Erfahrungen einzutauschen. Zum Beispiel gegen das kuschelige Auf-dem-Sofa-Sitzen mit Onkel Rolf, dem Nachbarn, nach dem sie auch ihren Hamster benennt. Ihr größtes Glück allerdings verdankt sie Karl, »dem sanftwütigsten aller Schauspieler, Karl, der sich mit mir auf der Erde kugelt, Karl, der mich in den Schlaf brummt, Karl, in dessen Bärentatzen mein Gesicht passt; dieser Karl ist für Vater und Mutter ein Schlag in die Fresse«.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Halbschwimmer
Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, ist in Berlin aufgewachsen und arbeitete als Dramaturgin. Ihr Buch Marzahn, mon amour entwickelte sich zu einem großen Bestseller und wurde mit dem Dublin Literary Award 2023 ausgezeichnet. Bei den Ullsteim Buchverlagen erscheint ihr dritter Roman Die vorletzte Frau sowie die früheren Werke Halbschwimmer und Die Staubfängerin in Neuauflage.
»Ein glänzendes Debüt«Süddeutsche ZeitungAls einzige Tochter eines NVA-Offiziers und einer Schuldirektorin hätte Tanja die besten Voraussetzungen, ein Musterprodukt der DDR-Gesellschaft zu werden. Aber Tanja hat anderes im Sinn, Tanja sucht die Liebe. Und so nutzt sie jede Gelegenheit, das sozialistische Bilderbuchleben gegen aufregendere Erfahrungen einzutauschen. Ihr größtes Glück verdankt sie Karl, dem sanftwütigsten aller Schauspieler, der »für Vater und Mutter ein Schlag in die Fresse« ist.»Mit knapper, klarer Sprache erfasst Katja Oskamp das Komische des durchpolitisierten DDR-Alltags.«KulturSPIEGEL
Katja Oskamp
Erzählungen
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Dezember 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor. Umschlaggestaltung und Titelabbildung: Hermann Huelsenberg, Huelsenberg Bücher, Berlin Foto der Autorin: © Mathias BothorE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3282-6
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Rolf und Mucki
Halbschwimmer
Herr O
Der Brief
Ruckedigu
Was die Mode streng geteilt
Zweiundsiebzig Schritte
Schnitt
Noch mal reden
Leseprobe: Die vorletzte Frau
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Rolf und Mucki
Der Hamster meiner Kindheit hieß Rolf. Meine Eltern kauften ihn, weil ich ohne Geschwister auskommen musste. Rolf saß unter einem Haufen Holzwolle im Glaskäfig neben der Tür. Meistens schlief er, manchmal fraß er. Das Laufrad benutzte er nie. Das Beste an Rolf war, dass er meinen Vater dazu bringen konnte, sich bäuchlings auf den Boden zu werfen und den Kopf unter die Schrankwand zu klemmen. Ansonsten war Rolf eine Enttäuschung und starb bald.
Ich bekam zwei schwarze Zwergkaninchen, Mucki eins und zwei. Der Kaninchenstall stand auf dem Balkon, und der farblose Lack platzte von seinen Brettern. Ich machte den Stall nur sauber, wenn mein Vater mich dazu zwang. Dafür holte ich die Zwergkaninchen jeden Nachmittag für Stunden ins Wohnzimmer, um sie vor mich auf den Teppich zu setzen und ihnen die Hinterläufe lang zu ziehen. Schubkarre hieß das und war ein bekanntes Kinderspiel.
Gegen die einfallslose Wiederkehr des Kaninchennamens Mucki finde ich den Hamsternamen Rolf recht originell. Ich nannte den Hamster nach dem Vater unserer Nachbarsfamilie, Wiedemeyers, mit denen wir befreundet waren. Zu Wiedemeyers gehörten Onkel Rolf, Tante Elke und die Kinder Jan und Fanny. Onkel Rolf freute sich nicht, als ich ihm den Namen meines Hamsters verriet. Eigentlich hätte ich damals schon stutzig werden müssen. Aber ich fragte mich nicht, ob er seinen Namen so wenig mochte, dass er ihn nicht noch vervielfältigt haben wollte, oder ob ihm sein Name zu schade war, um an einen Hamster verschwendet zu werden.
Ich schiebe die Zigarettenschachtel hinter den Heizkörper auf halber Treppe. So ein unsinniger Platz ist ein sicheres Versteck. Manchmal überlege ich mir, ob ich meinem Vater später, wenn er mit dem Erziehen aufgehört hat, davon erzählen soll, dass er jeden Morgen an den Zigaretten vorbeilief, nach denen er am Abend vorher meine Sachen erfolglos durchsucht hatte.
Ich steige die letzten elf Stufen bis zur dritten Etage. Die Wohnungstür meiner Eltern liegt links in einer tiefen Nische verborgen. Beim Einzug hielten sie es für ein Privileg, nicht auf dem Präsentierteller zu sitzen; jetzt habe ich immer einen Rest Angst davor, ins Ungewisse abzubiegen. Es könnte jemand vor dem Fahrstuhl lauern oder hinter dem Müllschlucker. Auf der rechten Seite ist Wiedemeyers Tür. Ihre Umrisse kann ich dank des orangen Lämpchens über dem Lichtschalter deutlich erkennen. Ich brauche kein Licht. Höchstens zwei Finger breit unter dem Lichtschalter ist die Klingel mit dem Schriftzug Fam. Dr. Wiedemeyer – weiße Buchstaben, auf ein schwarzes Plasteband gestanzt. Unseren Familiennamen hat mein Vater mit Hand in das weiße Feld neben dem Klingelknopf geschrieben, aber es sieht fast aus wie gedruckt. Wir haben so eine Buchstabenmaschine nicht. Wir haben überhaupt eine ganz andere Klingel. Bei Betätigung ertönt ein anhaltendes Schnarrgeräusch. Eigentlich kann man das nicht Klingeln nennen. Manchmal bleibt der Knopf auch stecken. Wenn meine Mutter im Stress ist, kann der feststeckende Knopf das Fass zum Überlaufen bringen. Mein Vater versucht dann, mit dem Kartoffelschälmesser den Knopf wieder freizuhebeln, während sich jeder, der will, durch die geöffnete Wohnungstür gut ein Bild von meiner tobenden Mutter machen kann. Im Lauf der Jahre ist unsere Klingel, vielleicht vom vielen unfreiwilligen Dauergebrauch, immer leiser geworden. Ich weiß nicht, warum meine Eltern nichts dagegen unternehmen. Wahrscheinlich meinen sie, dass es sich nicht mehr lohnt. Es kommt nicht oft vor, dass jemand außer Wiedemeyers bei uns klingelt. Wiedemeyers Klingel macht ein fröhliches Ging-Gong. Ich habe mich in letzter Zeit darauf spezialisiert, die Klingel zu überlisten, und kann sie jetzt genauso heiser und gebrechlich klingen lassen wie unsere. Der Trick besteht darin, das Ging zu unterdrücken und nur das Gong zuzulassen, das dann wegen des fehlenden Gings wie herausgewürgt klingt. Man darf auf keinen Fall frontal mit dem Daumen auf den Knopf drücken. Vielmehr muss der Knopf an seiner äußersten Kante schräg angetippt werden, mit wenig Druck, aber natürlich nicht mit so wenig, dass gar nichts zu hören ist. Es ist nicht nur die Technik, es ist auch die innere Einstellung. Wenn ich mir vorstelle, bescheiden oder lustlos zu sein, gelingt mir das gequälte Klingelgeräusch am besten. So, wie Tante Elke unseren Knopf doppelt drückt, um uns über ihre gute Laune zu informieren, kann ich bei Wiedemeyers garantiert ein halbes, an manchen Tagen sogar ein drittel bis ein viertel Mal klingeln. Daran können sie mich erkennen.
Ich schaffe ein viertel Mal. Es kommt mir noch zu laut vor für diese Uhrzeit. Ich mache schnell ein ängstliches Kindergesicht. Schon stehe ich im Dunkeln vor Onkel Rolf; der steht im Schlafanzug vor mir und sieht aus, als ob er sich freut. Komm rein, sagt er. Es ist nicht das erste Mal.
– Guckst du Fernsehen?
– Bloß nebenbei.
Alle schlafen schon, alle müssen früh raus. Nur Onkel Rolf hat trotzdem ein Nachtleben nach zehn. Er schiebt die Decke beiseite, unter der er vorhin gelegen haben muss, und wir setzen uns auf die Ledercouch. Überall liegen Bücher herum und auch diese Zeitschrift mit den schönen nackten Frauen, die Wiedemeyers, glaube ich, abonniert haben.
– Warst wohl wieder tanzen?
– Donnerstags, weißt du doch.
– War’s gut?
– Öde.
Manchmal freut er sich einfach so über mich. Dann nimmt Onkel Rolf meinen Kopf in seine Hände und zerstrubbelt Haare und Ohren und alles. Er ist auch der Einzige, der immer gesagt hat, dass das mit meinen dicken Oberschenkeln Quatsch ist, dass ich aufhören soll zu jammern, weil die doch gut sind, so wie sie sind. Onkel Rolf lacht so oft wie kein anderer. Früher hat er mich über die Schulter geworfen, sich mit mir gedreht und in meine Oberschenkel gekniffen, dass ich vor Lachen schreien musste. Einmal habe ich geblutet, weil wir aus Versehen die Kletterhilfe einer Tomatenpflanze geschrammt hatten; die Narbe habe ich noch.
– Na komm her.
Ich rutsche heran und ziehe die Füße hoch. Die Haut von Onkel Rolf hat große Poren und ist immer von einem feinen Glanzfilm überzogen; es ist fettige Haut. Ein bestimmter Geruch geht von ihr aus, wenn man ganz nah an sein Gesicht kommt. In unserer Familie hat niemand fettige Haut. Meine Haut zum Beispiel ist so trocken, dass sie im Winter an manchen Stellen einreißt, wenn ich sie nicht immerzu eincreme. Es wäre gut, Onkel Rolfs und meine Haut zu mischen, wir wären dann Typ Mischhaut.
– Hast du Schokolade?
Onkel Rolf lacht schon wieder und greift schräg hinter sich nach der Porzellanschale, die Tante Elke immer gut gefüllt hält mit Luftschokolade und Nougatpralinen.
Als wir uns vor ein paar Wochen in seinem Arbeitszimmer unterhalten haben, hat er meinen Kopf gestreichelt und gesagt Mensch, du denkst ja schlaue Sachen! Leider weiß ich nicht mehr, was ich Schlaues gedacht habe, aber ich will, dass seine Hände mich wieder streicheln. Sie sind warm, weich und sauber, richtige Arzthände.
Die Schokolade zergeht in meinem Mund. Seine Fingerkuppen befühlen meine Rippen und streifen irgendwo meine Brust. Er achtet darauf, dass sie nie wirklich ganz in seiner Hand liegt. Ich atme tief, damit meine Brust seine Hand erreicht. Jetzt weiß ich, wie lästig mir die Jungs mit ihren klumpigen Zungen sind. Onkel Rolf macht mich glücklich. Ich muss mich an ihn pressen, ihn festhalten und wissen, wie es weitergeht. Ich spüre einen kleinen Ruck. Onkel Rolf nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände, strubbelt wieder meine Haare und schiebt mich von der Couch hoch.
Los jetzt, nach Hause ins Bett.
Vorbei an der schlafenden Tante Elke und den Kindern bringt er mich zur Tür; ich lache ihn zum Abschied groß an, was Besseres fällt mir nicht ein. Im Dunkeln stehe ich mit glühenden Wangen.
In der Couchecke meiner Eltern sitzen Wiedemeyers auf ihren Stammplätzen. Meine Mutter hat beschlossen, heute reinen Tisch zu machen. Ich habe mir aus meinem Bett ein gemütliches Nest gebaut und höre zu, wie sie sich im Wohnzimmer fetzen. Allerdings weiß ich nicht, für wen ich bin.
Meine Mutter redet erst in energischem Tonfall auf Wiedemeyers ein und schreit dann, dass diese Freundschaft doch schon lange nicht mehr auf Gegenseitigkeit beruht, dass sie es satthat, nur noch ausgenutzt zu werden, und dass Tante Elke aufhören soll, ihr immer gebrauchte Lippenstifte zu schenken. Onkel Rolf lacht öfter auf und stört den Ausbruch meiner Mutter mit frechen Zwischenrufen. Tante Elke schluchzt und sagt, dass Onkel Rolf und sie das nicht verdient haben, aber niemand geht darauf ein. Von meinem Vater höre ich gar nichts; ich nehme an, er füllt die Gläser nach.
Ich frage mich, ob sich Wiedemeyers hinter verschlossener Tür auch über uns aufregen oder ob sie von dem Angriff wirklich überrascht sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Freundschaft jetzt beendet. Aber wie soll das mit Onkel Rolf und mir weitergehen? Ich kann doch nicht einfach beim Feind klingeln.
Es ist zwei Uhr. Die Zeit ist sehr schnell vergangen. Ich sitze unverändert in meinem Bett, habe aber von dem Gebrüll drüben die Schnauze voll. Ich kann morgen nicht ausschlafen. Ich muss um sechs am Busbahnhof sein. Unsere Klasse hat sich bereit erklärt, den ganzen Sonntag Busse zu waschen. Friedensschicht nennt sich das. Ich lege mich hin und versuche zu schlafen. Vom Flur höre ich halblautes Gemurmel und das Zuknallen der Wohnungstür. Die Männer sind bestimmt besoffen, vielleicht sogar die Frauen. Das Bett meiner Eltern knarrt kurz, dann ist Ruhe.
Plötzlich klingelt es Sturm und schlägt an die Tür. Ich muss wohl geschlafen haben. Tante Elke ist außer sich. Der Rolf, der Rolf, liegt im Flur wie tot, mit Schaum vor dem Mund. Es fällt mir schwer, in meinem Zimmer zu bleiben, denn ich möchte Onkel Rolf so daliegen sehen. Mein Vater ruft den Notarzt, doch als der eintrifft, ist Onkel Rolf schon wieder auf den Beinen. Zu viel Alkohol, die Aufregung, da macht der Kreislauf leicht mal schlapp, das kommt vor bei Cholerikern, sagt der Notarzt und verschwindet wieder. Die Wohnungstüren stehen noch eine Weile offen, der Lichtschalter im Hausflur wird immer wieder betätigt. Endlich gehen alle schlafen, es ist fünf Uhr, ich stehe auf.
– Ich bringe dich hin.
– Willst du nicht schlafen?
– Hast du denn geschlafen?
– Nein.
Mein Vater putzt sich nach mir die Zähne und nimmt aus der Küche zwei Äpfel mit. Er steckt den Schlüssel ins Schloss, um die Wohnungstür geräuschlos zu schließen. Auf halber Treppe halte ich an. Bestimmt wird es bei der Friedensschicht eine Pause geben, und in der werden wir rauchen. Ich greife hinter den Heizkörper und hole die Zigarettenschachtel hervor. Mein Vater gibt mir mit der einen Hand einen Klaps auf den Hinterkopf, mit der anderen einen Apfel und grinst.
Die Luft draußen ist mild. Zu Fuß sind es zwanzig Minuten bis zum Busbahnhof. So früh fährt noch kein Bus. Schon gar nicht am Sonntag. Wahrscheinlich müssen die erst gewaschen werden.
In der Schule lernen und wiederholen wir den Satz Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln, der mir so imponiert, dass ich versuche, ihn auf mein Leben anzuwenden. Ich entwerfe für die neue Situation zu Hause den Satz Kinder sind die Fortsetzung ihrer Eltern mit jüngeren Mitteln. Wenn ich Jan und Fanny im Flur treffe, blödeln wir nie mehr herum, weil sie jedes Mal eilig irgendwo hinmüssen. Und dass sie mal wieder bei mir klingeln, daran ist gar nicht zu denken. Meine Eltern sagen, dass es früher oder später ohnehin so gekommen wäre.
Um Jan tut es mir nicht wirklich leid, denn ich habe nie verstanden, warum Onkel Rolf so einen dämlichen Sohn hat.
Bei Fanny ist die Lage komplizierter. Abgesehen vom Königin-im-Gefängnis-Spiel, bei dem wir einander abwechselnd ins Klo einsperren, das Licht ausmachen und von draußen unter Androhung noch härterer Strafen Gelöbnisse zur Besserung erzwingen, haben wir uns ausgedacht, ein Wort so oft und schnell hintereinander zu sprechen, bis es jeden Inhalt verliert und nichts als eine fremde, monotone Melodie übrig bleibt. Wir amüsieren uns köstlich dabei, derart orientierungslos zu sein. Eigentlich haben wir diese Spiele schon ewig nicht mehr gespielt.
Ich wende mich verstärkt der Schule zu, das heißt Herrn Bading, meinem Klassen- und Mathematiklehrer. Seine Schülersprechstunden nehme ich ganz für mich allein in Anspruch; von den anderen geht ja doch keiner freiwillig hin. Herr Bading heißt mit Vornamen Peter, hat zwei große Kinder und ist geschieden. Jetzt lebt er mit einer neuen Frau zusammen, mit der er aber nicht verheiratet ist. Am Wochenende fährt er immer auf sein Grundstück am See. Manchmal versucht Herr Bading, mit mir über meine Probleme in Mathe, Physik und Chemie zu reden, aber ich habe ihm schon gesagt, dass mich diese Dinge nur sehr bedingt interessieren und man sie in einem größeren Zusammenhang sehen muss. Zu guter Letzt philosophieren wir über das Leben, und er erzählt mir was aus seinem. Zum Abschied hat er mir öfter die Hand gegeben, die fasst sich an, als wär noch Kreide dran. Einmal hat er mir sogar mit der Hand auf den Rücken geklopft. Das war irgendwie kraftvoll, aber ich hatte Angst, mit einem weißen Abdruck auf dem Rücken durch die Schule zu laufen, und hab gleich meine Jacke übergezogen. Ich kann mir schon vorstellen, dass ich Herrn Bading nicht ganz geheuer bin, weil er ja auf der Hut sein muss als Lehrer, aber es gefällt ihm auch. Auf all so was kann ich keine Rücksicht nehmen. Mir fallen immer wieder Fragen ein, die ich ihm bei der nächsten Schülersprechstunde stellen muss. Außerdem träume ich jedes Mal danach von Herrn Bading, wie er mich mit auf sein Grundstück nimmt und wir zusammen im See schwimmen, und eine Zwei in Mathe hab ich jetzt auch.
In dem Brief an Onkel Rolf schreibe ich, dass ich mich nach sechs Jahren aus Altersgründen von meinem Mann Karl getrennt habe. Ich schreibe auch, dass ich immer noch zu Wiedemeyers Balkon aufschauen muss, wenn ich meine Eltern besuche, und dass ich ihn gern wiedersehen will.
Es dauert viele Wochen, dann ruft Onkel Rolf bei mir an. Gut gelaunt sagt er, wie stolz es ihn mache, einen so langen, schönen Brief von mir zu bekommen, gerade heutzutage, wo nur noch Rechnungen im Briefkasten lägen. Es gehe ihm gut und er habe sehr viel um die Ohren, deshalb sei es zurzeit ungünstig mit einem Treffen. Er würde mich natürlich gern sehen, vielleicht in zwei, drei Wochen, wenn der Stress vorbei sei, und er würde sich auf jeden Fall wieder melden.
Ich lege den Hörer auf und habe ein blödes Gefühl. Meine Mutter hat schon früher gesagt, man muss sich als Mädchen ein bisschen rar machen. Ich kann es nicht, ich kann nicht mal das Wort aussprechen: rar. Onkel Rolf ruft nicht an, nicht nach einem, nicht nach zwei Monaten. Er hat mich vertröstet auf Nimmermehr.