DIE WAHRE GESCHICHTE - Anton Soja - E-Book

DIE WAHRE GESCHICHTE E-Book

Anton Soja

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Beschreibung

Ein schräges modernes Märchen voller schwarzen Humor a la Tim Burton über die Liebe zweier Teenager in einer verrückten Welt. Warum bist du so allein? Bist du besonders oder einfach nur ein Freak? Sogar einer mit der roten Kartoffelnase kann eine andere einsame Seele treffen. Und das ist ja kein Problem, dass sie alle für eine Hexe halten. Und was fängt da an? Na, richtige Abenteuer von einem Menschenwurm, Schneewittchen, einem kriminellen Mammut und dem im Grab schlafenden Zauberzwerg Rumpelstilzchen. Dieser abenteuerliche Jugendroman, so unvorhersehbar wie rasant, voller Humor und überraschender Ideen, macht Lust auf Abenteuer, Zirkus und aufs Verlieben.

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Was haben ein trauriger Clown, ein Menschenwurm, Schneewittchen, ein kriminelles Mammut und Rumpelstilzchen gemeinsam? Sie sind die seltsamen Helden dieser wahren Geschichte über die Liebe zweier Teenager in einer verrückten Welt.

Mit einer spektakulären Freak-Zirkusshow reisen die Rafinellis durchs Land und begeistern ihr Publikum. Aber was sie in der kleinen Stadt Lüneburg erleben, ist auch für deren Riesen, Zwerge und Artisten eine Sensation.

Diese abenteuerliche Geschichte, so unvorhersehbar wie rasant, voller Humor und überraschender Ideen, macht Lust auf Zirkus und aufs Verlieben.

Booktrailer hier

Prolog

Fred – so hatte sich der kleine Clown selbst genannt. Eigentlich hieß er ja Federico, nach seinem Urgroßvater, einem echten Menschenfresser, der die Zirkusdynastie der Rafinellis begründet hatte. Aber der Junge bestand darauf, dass alle ihn einfach Fred nannten. So hatte nämlich sein erster Freund geheißen, der früher bei ihnen im Zirkus Dompteur gewesen war. Im Gegensatz zu seinen Nachfolgern, den Wolkow-Brüdern, und anders, als es sein Spitzname „Bärenfresser-Fred“ vermuten ließ, war er ein sehr gutmütiger Mann gewesen. Doch das Leben drehte den Spieß grausam um: Am Ende bissen die Bären ihn – und zwar tot. Seit diesem Vorfall hielt sich der Zirkus nur noch pflanzenfressende Raubtiere, und der Einzige, der die Mitarbeiter beißen durfte, war der Zirkusdirektor. Dem kleinen Clown ging der Verlust seines Freundes sehr nahe, und so nahm er Freds Namen an und nannte sich nur noch in der Manege Federico. Gut möglich, dass die Ereignisse, von denen ich hier erzählen will, ohne diese Namensänderung gar nicht passiert wären. Denn schließlich weiß jedes Kind, welche Bedeutung ein Name hat, und dass jeder, der ihn eigenmächtig ändert, damit unweigerlich auch sein Schicksal vor eine schwierige Wahl stellt.

Heute war Freds alias Federicos fünfzehnter Geburtstag. Frühmorgens erreichte ihre Zirkuskarawane Lüneburg und passierte das römische, mittlerweile ziemlich verfallene Stadttor. Wie durch ein Wunder hatte die Salzstadt beide Weltkriege unbeschadet überstanden und ihr mittelalterliches Antlitz bewahrt. Sie fuhren durch enge Kopfsteinpflastergassen, vorbei an schiefen Fachwerkhäusern mit Wetterhähnen auf den ausgebleichten Ziegeldächern, vorbei an gotischen Kirchen, die von der Zeit schwarz geworden waren, und vorbei an einem Mühlrad, durch das ein kleiner Bach rauschte. Schließlich gelangten sie auf den großen Marktplatz am Rathaus, wo ein alter Uhrenturm mit Zinnen stand. Dort bauten die Artisten nun das Zirkuszelt auf, das schon bessere Tage gesehen hatte und an vielen Stellen geflickt war. Die Bewohner des Städtchens schlummerten noch friedlich, während sich draußen der Nebel rasch verflüchtigte.

Auch wenn er heute Geburtstag hatte, arbeitete Fred genauso hart wie alle anderen. Auf seinem Kopf flatterte eine nigelnagelneue lila Perücke im Takt der morgendlichen Windstöße. Als er heute Morgen lustlos aufgestanden war, hatte er sie auf dem Hocker neben seinem Bett entdeckt. Die achte Perücke in seiner Sammlung – seine Eltern hatten sich nicht lange den Kopf zerbrochen, was sie ihm schenken könnten. Aber heute Abend nach der Vorstellung würden ihm bestimmt die anderen Artisten gratulieren, und sicherlich würden sie sich für ihren Liebling etwas Originelleres einfallen lassen. Der kleine Clown war wegen seiner Liebenswürdigkeit und Zuverlässigkeit im ganzen Zirkus beliebt.

Alle hatten ihn gern und bemitleideten ihn, denn als Stammhalter der Rafinelli-Dynastie bekam er von seinen Eltern, den Zirkusdirektoren Bim und Bom, mehr ab als die anderen. Aber ehrlich gesagt, bekamen sie alle ganz ordentlich was ab.

Auch jetzt fläzten sich die beiden riesenhaften Zirkusdirektoren, beide mit Bart und Dickwanst, in ihren Liegestühlen und schrien die Artisten an, die dabei waren, schnaufend die Plane über das Zelt zu ziehen. Oh ja, ihr habt ganz richtig gehört – beide mit Bart! Freds Mama war nämlich niemand anders als Bim, die weltberühmte Starke Frau mit Bart. Sie trieb nicht nur als Clownin ihre Scherze in der Manege, sondern jonglierte auch noch mühelos mit zentnerschweren Gewichten und pfiff dazu ihre Lieblingsarien von Wagner. Sie war so stark, dass sie mit bloßen Händen den Zirkuselefanten Mammut hochheben konnte, der vom Rüssel bis zur Schwanzspitze bunt tätowiert war. Man munkelte, der Elefant habe eine dunkle Vergangenheit: Freds Vater, der Zirkusdirektor und Clown Bom Rafinelli, hatte ihn einst aus dem Elefantengefängnis von Dschaipur freigekauft, wo Mammut für etliche dreiste Raubüberfälle eine Haftstrafe absaß. In jugendlichem Leichtsinn hatte sich der Elefant einst mit bösen Jungs aus Mumbai eingelassen, knallharten Sikhs, die ihre bodenlangen, niemals geschnittenen Haare unter Turbanen verbargen und Mammuts mächtigen Schädel mit den abgebrochenen Stoßzähnen als Rammbock verwendeten, um die dünnen Wände indischer Banken zu Kleinholz zu machen.

Mammut war der wohl einzige böse Elefant auf der Welt (da machte sich seine kriminelle Vergangenheit bemerkbar), doch selbst er war netter zu Fred als Bim und Bom. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Und trotz alledem liebte Fred seine Eltern. Jeder andere Sohn wäre vor solchen Monstern längst davongelaufen, so weit er nur konnte. Er aber arbeitete weiterhin für sie als Purzelclown. Ganz genau, ihr habt richtig gehört: Purzelclown – denn er besaß ein ausgeprägtes Talent zum drolligen Hinfallen.

Warum finden die Leute es eigentlich komisch, wenn jemand plötzlich hinfällt und „Au!“ schreit, weil er sich das Knie oder Steißbein wehgetan hat? Das ist überhaupt nicht komisch, sondern schmerzhaft und unangenehm. Und tut gleich doppelt weh, wenn die anderen dann noch darüber lachen. Fred zermarterte sich schon sein ganzes Leben lang den Kopf über diese Frage. Genauer gesagt, seit er das erste Mal hingefallen war. Dieses denkwürdige Ereignis geschah laut Bim und Bom folgendermaßen: Die anständigen Eltern zogen ihn aus seinem Babybettchen und stellten ihn auf die Füße. Dabei konnte Fred damals weder laufen noch stehen. Deshalb kippte er um, wie er stand, platt aufs Gesicht und mit der Nase voran auf den Boden. Der kleine Fred heulte los, und seine Eltern mussten so sehr lachen, dass sie ebenfalls umfielen und sich neben ihrem Sohn auf dem Boden wälzten. Dabei brüllten sie vor Lachen.

„Was für ein Clown!“, schrie Bom und hielt sich den dicken Wanst.

„Ist der komisch! Genau wie du“, wieherte Bim.

„Noch komischer“, begeisterte sich Bom, „guck mal seine Nase an! Da sparen wir uns glatt die Schminke! Das wird der beste Clown der Welt. Ein richtiger Purzelclown!“

Den Eltern liefen vor Lachen Tränenbäche aus den Augen. Fred weinte auch, allerdings vor Schmerz und Wut. Von dem Aufprall schwoll seine Nase an, wurde rot und blieb für den Rest seines Lebens eine runde rote Tomate. Das ulkige Hinfallen aber wurde mit der Zeit zu seinem Beruf.

„Niemand sonst auf der Welt kann so herrlich purzeln wie unser Federico. Er ist wie geschaffen für den Zirkus“, pflegten seine Eltern voller Stolz zu sagen und dachten sich immer neue Arten aus, wie ihr Sohnemann noch raffinierter hinfallen könnte. Sie stellten ihm ein Bein, schubsten und erschreckten ihn, zogen ihm den Teppich unter den Füßen weg, hoben Gruben aus, ließen ihm Katzen und Hunde zwischen die Füße laufen und spannten heimlich Schnüre über seinen Weg. Und Fred fiel, fiel und fiel. Er brüllte vor Schmerz, schimpfte und tobte. Doch seine Eltern gaben nicht auf, denn das dankbare Publikum lachte jedes Mal aus vollem Hals, wenn Fred in der Manege zu Boden ging. Wenigstens war der Boden dort mit Sägespänen bestreut, sodass es nicht ganz so wehtat wie bei seinen Stürzen zu Hause oder anderswo. Seine Eltern ließen nämlich netterweise keine Gelegenheit aus, um mit ihrem Sohn die komischsten Arten hinzufallen zu trainieren. Es war schon ein schweres Los, einen Wunderknaben zum Sohn zu haben, keine Minute hatte man Ruh – da hieß es üben, üben, üben. Nur nicht seinen Gefühlen nachgeben, man musste ja schließlich in Form bleiben. Schwupp, klatsch, plumps!

Im Übrigen purzelte und fiel Fred auch ohne elterliche Fürsorge (wohl aus lauter Gewohnheit) ständig an den denkbar ungeeignetsten Stellen und brach sich dabei oft einen Arm oder ein Bein. Ironischerweise waren das die glücklichsten Tage seines Lebens, denn so weit gingen seine Eltern dann doch nicht, dass sie ihn im Gips auftreten ließen, und so konnte er die Zeit bis zur Genesung stattdessen bei den Zirkustieren verbringen. Die Tiere machten sich nicht über ihn lustig, sie konnten keine Witze reißen oder lachen und waren ihm bedeutend lieber als Menschen. Fred liebte die Affen und Ponys, das Schwein, die Tiger und selbst den bösen Elefanten Mammut. Und sie erwiderten seine Zuneigung, denn im Unterschied zu den Dompteuren quälte, schikanierte und schlug er sie nicht und zwang sie auch nicht, demütigende Kunststückchen in der Manege aufzuführen. Eigentlich war er genauso im Käfig gefangen wie sie, der kleine unglückliche Clown aus dem Monster-Zirkus von Signor und Signora Rafinelli.

Der Wanderzirkus war seit fünfzehn Jahren Freds Zuhause. Ein Zuhause auf Rädern: drei Transporter, ein Lkw und drei Zirkuswagen (zwei für die Artisten und einer für die Tiere) – das war das ganze Königreich des Zirkusprinzen, mit dem er um die halbe Welt fuhr und das Publikum mit seinen drolligen Stürzen unterhielt.

Fred hasste seine Arbeit, aber er machte sie gut. Und das Zirkusleben hatte schließlich auch seine Vorteile: Er hatte einen eigenen Zirkuswagen, er kam viel herum, kannte jede Menge Sprachen und hatte mehr Wunder gesehen, als ihr euch träumen könnt. Außerdem hatte er Freunde unter den Artisten – die Zwerge, Schneewittchen und Pinkie, den menschlichen Wurm. Und Freunde zu haben ist schließlich nicht schlecht.

„Und überhaupt“, dachte sich Fred oft, „angenommen, ich laufe davon, wer braucht mich denn schon in der normalen Welt? Etwa all diese Leute, die sich in der Vorstellung über mich kaputtlachen? Wohl kaum. Für die bin ich doch nur ein Freak aus dem Wanderzirkus, und solche wie ich gehören genau hierhin, zu den anderen Monstern, die Bim und Bom überall aufgegabelt haben. Vielleicht haben sie mich auch irgendwo gefunden und tun bloß so, als ob ich ihr Sohn wäre, damit sie mich umsonst auftreten lassen können. Es kann doch nicht sein, dass Eltern ihr eigenes Kind so verhöhnen. Oder etwa doch? Diese bescheuerten Perücken zum Beispiel, die erinnern mich doch extra jeden Geburtstag wieder daran, dass ich ein glatzköpfiges Ungeheuer bin und mich außer ihnen niemand braucht.“

Der Arme! Durch den Dauerstress waren Fred schon mit sieben Jahren die Haare ausgefallen. Eines furchtbaren Morgens wachte er einfach mit einer Glatze auf. All seine Haare lagen auf dem Kopfkissen, genau wie die Wimpern und Augenbrauen.

„Ein richtiger Eierkopf! Hervorragend“, freute sich Bom, „jetzt müssen wir dir nicht mehr die Haare schneiden, und die Perücken sind auch bequemer zu tragen. Und Augenbrauen tätowieren wir dir einfach.“

„Nichts da, die male ich ihm selber vor der Vorstellung auf, zusammen mit dem Lächeln“, sagte Bim und kitzelte Fred mit ihren pummeligen Fingern den mageren Bauch. „Jetzt lach doch mal, Junge! Freu dich doch, jetzt bist du noch komischer.“

Aber Fred lachte nicht. Aus irgendeinem Grund lachte er überhaupt nie.

„Was sind das nur für Eltern?“, dachte er, als er sich wieder einmal voller Entsetzen seine Geschichte durch den Kopf gehen ließ. „Ich sollte wirklich diesen Abstammungstest machen lassen, von dem mir der Besserwisser Pinkie erzählt hat. Aber wie und wo sollte ich das tun, wo ich doch ständig unter Aufsicht bin?“

Während er über sein schweres Schicksal nachgrübelte und sich wie immer tüchtig selbst bemitleidete, blieb Fred mit seinem riesigen Clownsschuh versehentlich an einer dicken Schnur hängen und quetschte sich die rote Nase an der Zeltleinwand platt. Sogleich erscholl das donnernde Gelächter seiner Eltern.

„Bravo, Federico!“, brüllte der dicke Bom. Mit seinem langen schwarzen Bart, der ihm bis zum Gürtel reichte, und seinem ausladenden Schnurrbart glich er ohne Schminke eher einem durchgeknallten zottigen Metzger als einem Clown.

„Federico, komm lieber her zu uns. Ohne dich wird das Zelt schneller fertig. Da ist ja selbst der Wurm eine größere Hilfe als du!“, schrie ihm seine beleibte Mutter zu. Sie fand doch immer die richtigen Worte, um ihren Sohn aufzumuntern.

Fred schwante nichts Gutes, dennoch trottete er gehorsam zu seinen Eltern.

„Federico, mein Sohn, es gibt Grund zur Freude! Gerade hat uns unser Wohltäter Herr Blum angerufen, der Bürgermeister von Lüneburg. Zur Feier des Tages darfst du heute gleich zweimal auftreten. Mittags findet nämlich im Rathaussaal der Kindergeburtstag von Lilli, der Tochter des Bürgermeisters, statt. Kaum zu glauben, aber sie wird heute auch dreizehn“, verkündete Bim und sah ihren Sohn vielsagend an.

„Ich bin schon fünfzehn, Mama. Fünf-zehn! Letztes Jahr bin ich vierzehn geworden, auch wenn du mir hartnäckig zum Dreizehnten gratuliert hast.“

Bom brach mit seiner tiefen Bassstimme in Gelächter aus, und Bim antwortete unbeirrt: „Na und, was macht das für einen Unterschied? Ich mag halt die dreizehn. Wie kannst du bloß denken, mein Purzelchen, dass wir dich weniger lieb haben, nur weil du so schnell älter wirst. Immer verdirbst du alles, Federico. Du könntest doch deiner Mama den Gefallen tun und mitspielen. Also, jedenfalls hat uns der alte Blum gebeten, seine Gäste zu unterhalten, und wir finden, dass das niemand so gut kann wie du, mein Lieber. Aber fall nur mit halber Kraft, denk dran, dass wir abends noch die richtige Vorstellung haben. Da musst du fit sein, also brich dir nichts!“

„Mach doch bis dahin noch ein Nickerchen“, fügte sein Vater fürsorglich hinzu, „ich weck dich dann auf. He, Harun al Raschid, du Möchtegern-Fakir! Was guckst du? Mach sofort die Schnur wieder fest und binde den Knoten neu! Immer diese Artisten mit ihren zwei linken Händen!“

Zwei linke Hände hat er nun nicht gerade, dachte Fred über den Zauberer nach, während er zu seinem Wagen ging, jedenfalls immer noch besser als der Wurm!

Er nahm die Perücke ab, zog das Clownskostüm aus und hüpfte – allez hopp! – ins Bett. Schlafen war seine Lieblingsbeschäftigung. Dort, in seinen Träumen, fiel er nie hin, und keiner lachte über ihn. Im Traum konnte er sogar selbst lachen, und zwar einzig und allein aus Freude und über lustige Witze, die keinem wehtaten. Solche, wie Schneewittchen, ihre schon etwas angejahrte Akrobatin, sie immer erzählte.

Kapitel 1

Der Geburtstag von Lilli Blum

Mittags, als die Julisonne das rissige graue Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz schon regelrecht zum Glühen brachte, kam Fred, begleitet von Glockengeläut, zum Rathaus. Er trat durch die hohen Türen des Rathaussaals, deren blaugrüne, bleigeäderte Buntglasfenster matt glänzten. Im ganzen Saal ertönte die laute Musik des Stadtorchesters. Die erwachsenen Gäste hatten sich trotz der frühen Stunde in ihre beste Abendgarderobe geworfen und wirbelten ausgelassen über den Mosaikfußboden, während die Jugendlichen gelangweilt an den gedeckten Tischen saßen und die Nase ins Handy steckten. Wie immer, dachte Fred. Er kannte solche Vormittagsvorstellungen zur Genüge. Die Eltern orderten Clowns für ihre Sprösslinge, die für so was eigentlich schon viel zu alt waren, und die Jugendlichen ließen es stoisch über sich ergehen und verbrachten die gesamte Vorstellung im Internet. „Von wegen, jetzt hol ich euch da raus!“, beschloss Fred. Er winkte seinen bärtigen Eltern zu, die sich zusammen mit den anderen Erwachsenen zu den Klängen von Polka und Mazurka munter drehten, dann nahm er sein Einrad von der Schulter, stieg geschickt auf und fuhr geradewegs in die tanzende Menschenmenge hinein, wobei er auch noch mit einem Dutzend bunter Bälle jonglierte.

„Na endlich“, freute sich ein grauhaariger Herr im Frack, der aussah wie ein Pinguin und niemand anders als Bürgermeister Blum sein konnte. „Lilli, guck doch mal, was für ein großartiger Clown!“