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Geraldine von Soltenau ist ein recht unscheinbares Mädchen von achtzehn Jahren, deren ganze Liebe dem schwer kranken Vater und ihrer Stute Agda gehört - bis eines Tages Fürst Immo von Falkenroth in ihr Leben tritt.
Da fliegt das Herz der scheuen Baroness dem gut aussehenden Mann zu, und er erwidert ihre Gefühle. Doch die Hochzeitsglocken für das junge Paar sind kaum verklungen, als etwas eintritt, was Geraldine veranlasst, noch in der gleichen Stunde aus dem Schloss zu fliehen. Eine Tragödie nimmt ihren Anfang ...
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Fern der Heimat
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Impressum
Fern der Heimat
Ein bewegendes Frauenschicksal um eine lange Reise ins Glück
Geraldine von Soltenau ist ein recht unscheinbares Mädchen von achtzehn Jahren, deren ganze Liebe dem schwer kranken Vater und ihrer Stute Agda gehört – bis eines Tages Fürst Immo von Falkenroth in ihr Leben tritt.
Da fliegt das Herz der scheuen Baroness dem gut aussehenden Mann zu, und er erwidert ihre Gefühle. Doch die Hochzeitsglocken für das junge Paar sind kaum verklungen, als etwas eintritt, was Geraldine veranlasst, noch in der gleichen Stunde aus dem Schloss zu fliehen. Eine Tragödie nimmt ihren Anfang ...
In Unterweiden, einem idyllischen Städtchen nördlich des Teutoburger Waldes, hielt man auf Tradition. Im Mai erwachte die kleine, verträumte Stadt für eine Woche zu regem Leben, ehe sie für den Rest des Jahres wieder in eine Art Dauerschlaf zu versinken schien.
So jedenfalls musste es jeden anmuten, der sich zufällig nach Unterweiden verirrte, was gar nicht einmal so einfach war, da sämtliche Verkehrsstraßen in großem Bogen um den Ort herumführten. Dies war nicht etwa auf schlechte Planung der Verantwortlichen zurückzuführen – und ebenso wenig hatten die Spötter recht, die behaupteten, man habe beim Straßenbau Rücksicht auf den Schlaf der Ortsbewohner genommen.
Die Unterweidener lachten nur, wenn ihnen solche Sprüche zu Ohren kamen, und versicherten, ihnen genüge die alte, holprige Landstraße, die in die Stadt herein und auch wieder hinausführte.
Tatsache war jedoch, dass die Lage des Städtchens keine andere Möglichkeit zuließ, da es rings um Unterweiden nur Heide und vor allem Moor gab. Dabei hatte die Landschaft einen ganz besonderen Reiz, wie die Menschen, die einmal jährlich zu dem Städtchen strömten, stets erstaunt feststellten. Zum Viehmarkt im Mai kamen die Bauern von nah und fern, und die Gasthöfe im Ort hatten Hochbetrieb. Krönender Abschluss dieses Spektakels bildete ein Reitturnier.
Die Meldungen der Reiter lagen wochenlang vorher fest, und da auch die adligen Gutsbesitzer daran teilnahmen, war das Turnier so etwas wie ein gesellschaftliches Ereignis.
Jeder, der in der Stadt Rang und Namen hatte, trachtete danach, eine Eintrittskarte für den großen Abschlussball zu ergattern, und der Wirt des »Goldenen Adler« haderte mit dem Schicksal, dass sein Saal dem Andrang nicht gewachsen war. Dass das Reitturnier von gutem Wetter begünstigt war, gehörte ebenfalls zur langgewohnten Tradition.
Auch an diesem Sonntag schien die Sonne warm und wolkenlos vom blauen Himmel und vergoldete alles mit ihren Strahlen. Rings um den abgezäunten Platz scharten sich die Schaulustigen, die den Reitern auch dann applaudierten, wenn die Hürden nur so purzelten.
Der schlanke, hochgewachsene Mann im Reitdress, der gerade zum Sattelplatz hinüberschritt, zog ungewollt die Blicke auf sich – vor allem der Damen, die ihm schwärmerisch nachschauten.
Immo Fürst Falkenroth bemerkte allerdings nichts davon. Er hatte nur Augen für den kleinen Stefan Graf Dausenberg, einem der kleinen Turnierteilnehmer, und seiner Schwester Biggi, als deren Beschützer er an diesem Tag fungierte.
»Alles in Ordnung?«, rief der Fürst den Geschwistern zu, die sich, wie auch die anderen Kinder, um ein Kuchenbüfett scharten.
»Klar!«, gab der Siebenjährige zurück. »Die Biggi hat zwar eine Schramme abgekriegt, aber sie hat nicht geheult.«
»Es tut ja auch gar nicht weh«, beteuerte die kleine Komtess, indem sie Immo ihren lädierten Daumen hinhielt. Die Kratzer waren wirklich nicht der Rede wert, im Gegensatz zu einer klaffenden Wunde, die ein zehnjähriger Bub davongetragen hatte. Er stand etwas abseits, und der junge Fürst sah im Vorübergehen, dass er die Zähne zusammenbiss, um sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen.
»Wie ist denn das passiert, Uli?« Immo betrachtete den Arm des Jungen, der Mühe hatte, seine Tränen zurückzuhalten.
»Ich ... ich wollte den Pferden Zucker geben, und da hat mich der Schimmel in den Arm gebissen.«
»Ein Pferdebiss tut scheußlich weh, das weiß ich aus eigener Erfahrung.« Der Fürst klopfte dem Jungen aufmunternd die Wange, ehe er den diensthabenden Arzt aufsuchte. »Hier gibt's Arbeit für Sie, Doktor Porten ...«
Kurz erklärte Immo die Umstände des Unfalls und stürzte so plötzlich davon, dass der Arzt ihm lachend nachrief: »Haben Sie etwa schon den nächsten Verletzten entdeckt?«
Nein, ein Verletzter war es nicht, dem die Aufmerksamkeit des jungen Fürsten galt. Ihm war ein weißhaariger Herr aufgefallen, der sich auf einen Stock stützte und dem das lange Stehen augenscheinlich schwerfiel. Gleichzeitig bemerkte Immo eine Gruppe junger Leute, die Klappstühle mit sich trugen, und auf die ging er nun entschlossen zu.
»Darf ich mir eine Sitzgelegenheit ausborgen?«, fragte er mit jenem liebenswürdigen Lächeln, das ihm den Ruf eingetragen hatte, auf Frauen unwiderstehlich zu wirken. In diesem Fall waren es halbwüchsige Jungen und Mädchen, die ihm bereitwillig ihre Klappstühle entgegenstreckten.
»Danke vielmals – einer genügt!« Wie eine Siegestrophäe hielt Immo ihn hoch, bis er sich zu dem weißhaarigen Herrn durchgekämpft hatte. Mit den Worten »Bitte, nehmen Sie Platz!«, forderte er den etwa Sechzigjährigen zum Sitzen auf und wunderte sich, dass dieser zögernd darum bat, den Stuhl hinter ein Buschwerk zu stellen.
Dort setzte er sich aufatmend.
»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar. Das Stehen ist doch recht anstrengend. Lange werde ich mich auch nicht aufhalten. Mich interessiert hauptsächlich das L-Springen, bei dem meine Tochter mitreiten wird.«
»Von dieser Stelle werden Sie nichts sehen können«, gab Immo zu bedenken. »Soll ich Sie mitsamt dem Stuhl näher zum Parcours führen?«
»Bitte nicht«, wehrte der vornehm wirkende, weißhaarige Herr ab. »Meine Tochter darf nicht wissen, dass ich mich hier unter den Zuschauern befinde.«
»Macht es sie nervös, wenn sie sich beobachtet fühlt?«, erkundigte sich der Fürst belustigt.
»Nein, aber sie würde mir Vorhaltungen machen, dass ich den Anordnungen des Arztes wieder einmal ein Schnippchen geschlagen und mich selbstständig gemacht habe. Lassen Sie sich meinetwegen nicht aufhalten. Ich vermute, dass Sie ebenfalls am L-Springen teilnehmen.«
»Der Himmel bewahre mich!«, entfuhr es dem Fürsten. »Oder sehe ich etwa so aus, als hätte ich Spaß daran, mich an dieser Hüpferei zu beteiligen? Vor nicht allzu langer Zeit habe ich auf keinem der großen Kreisturniere gefehlt und beim S-Springen manchen Preis geholt. Das hier ...« Immo machte eine weit ausladende Bewegung, »ist doch eher eine Art Volksbelustigung, bei der Reiter und Zuschauer auf ihre Kosten kommen.«
»Sonderlich schmeichelhaft ist Ihr Urteil gerade nicht«, stellte der Fremde fest.
»Jetzt halten Sie mich gewiss für arrogant«, vermutete Immo, was dem Älteren ein Schmunzeln abnötigte.
»Allein Ihre Art zu fragen, beweist mir, dass es Ihnen völlig gleichgültig ist, was und wie ich über Sie denke«, ließ er sich nachsichtig lächelnd vernehmen. »Sie scheinen zu den jungen, vom Leben verwöhnten Leuten zu gehören, die sich dank ihres angeborenen Charmes viel herausnehmen können, ohne dass man ihnen etwas übel nimmt. Eine beneidenswerte Gabe übrigens, die ich selbst leider nie besaß. Mir fehlt beispielsweise Ihr sonniges Wesen, und ganz sicher hätte ich einen alten, hilfsbedürftigen Mann am Stock übersehen, statt ihm eine Sitzgelegenheit zu verschaffen.«
Bevor Immo etwas erwidern konnte, hatte Uli ihn entdeckt und zeigte seinen dick verbundenen Arm vor.
»Donnerwetter – der steht dir ja prächtig«, versicherte der Fürst, wobei er in seiner Jackentasche zu suchen begann. »Hier, die Fruchtbonbons gibt's als Trostpflaster obendrauf, und wenn du wieder zum Sattelplatz gehst, dann mach um Nautilus einen großen Bogen. Der Schimmel ist futterneidisch und hat noch dazu die üble Angewohnheit, auszukeilen.«
»Aber böse ist Nautilus dennoch nicht«, erklärte Uli ernsthaft. »Pferde, die beißen und keilen, haben es als Fohlen meistens nicht gut gehabt.«
»Woher stammt denn diese Weisheit?«, wollte Immo wissen.
»Von der jungen Dame, die meinen Arm festgehalten hat, als ich verbunden wurde. Sie heißt Geraldine und reitet gerade ein.«
»Meine Tochter – da ist meine Tochter!« Der ältere Herr war mit einem Mal ganz aufgeregt und erhob sich mühsam von seinem Klappstuhl. Erleichtert nahm er den Arm des Fürsten und konnte es dennoch nicht verhindern, dass ihm die Knie zitterten.
»Ob sie es schafft, alle Hürden fehlerfrei zu nehmen?« Er sagte es mehr zu sich selbst und war dennoch erstaunt, als sein aufmerksamer Begleiter nickte.
»Sie schafft es bestimmt.«
Mit Interesse verfolgte Immo den Ritt des etwa achtzehnjährigen Mädchens, das man aus dieser Entfernung ebenso gut für einen Jungen halten konnte. Aus dem Programm ersah er, dass die Reiterin Geraldine Baroness von Soltenau hieß und ihre Stute auf den Namen Agda hörte.
Ross und Reiterin schienen wie aus einem Guss, als sie scheinbar mühelos die Hindernisse nahmen. Durch den Lautsprecher schallte die Ansage, dass die Startnummer 7 nicht nur fehlerfrei geritten war, sondern auch die bis dahin beste Zeit erreicht hatte.
»Fantastisch«, stieß Immo aus, »und dazu diese Anmut – das verhaltene Temperament ...« Seine Bewunderung galt einzig der rassigen Stute Agda, wogegen Baron Soltenau die Begeisterung des Fürsten der Tochter zuschrieb.
»Geraldine ist ein liebenswertes Mädchen«, erklärte er denn auch mit väterlichem Stolz. »Schade, dass ich Sie beide nicht miteinander bekannt machen darf.«
»Das ist wirklich bedauerlich«, warf Immo höflich ein, obwohl ihm wenig an der Bekanntschaft mit Geraldine von Soltenau lag. Aber das konnte er natürlich dem sympathischen Baron nicht sagen, dem die Freude über die sportliche Leistung der Tochter nur so aus den Augen leuchtete.
Im Übrigen hatte dieser es jetzt eilig die Festwiese zu verlassen, um, wie er dem Jüngeren augenzwinkernd verriet, vor Geraldine daheim zu sein.
»Ihre Tochter wird doch sicher noch an der Preisverleihung teilnehmen«, mutmaßte der Fürst, der dem gehbehinderten Baron auch jetzt wieder behilflich war.
Uli war schon mit dem ausgeliehenen Klappstuhl unterwegs, um ihn seinem Eigentümer zurückzugeben, und für Immo bedurfte es keiner Frage, dass er den Baron bis zu dessen Wagen begleitete.
»Ach so – die Preisverleihung ...« Baron Soltenau verhielt den Schritt und dachte nach. »Nein, ich glaube nicht, dass Geraldine darauf wartet. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt und findet es nicht so wichtig, eine Auszeichnung zu erhalten.«
»Aber den Reiterball heute Abend im Goldenen Adler wird sie doch gewiss besuchen, oder?« Auch diese Frage stellte Immo nur höflichkeitshalber, wusste er doch, dass für die Turnierteilnehmer die besten Plätze im Saal reserviert waren.
Umso mehr musste ihn die Antwort des Barons erstaunen, der ein wenig bekümmert erklärte: »Geraldine ist viel zu schüchtern, um allein zu einem Fest zu gehen. Sie kennt hier niemanden, hat keine Freunde und ist Fremden gegenüber sehr verschlossen. Ja, wenn sie einen netten Bekanntenkreis hätte – wenn beispielsweise Sie meine Tochter dazu überreden könnten, mit Ihnen den Ball zu besuchen.«
»Mit mir?«, kam es verblüfft über Immos Lippen, ehe er lachend hinzusetzte: »Leider muss ich auf die Ehre, Ihrer Tochter meine Kavaliersdienste zur Verfügung zu stellen, verzichten, da ich bis morgen zwei lebhafte Kinder zu betreuen habe – eine Aufgabe, die ebenso amüsant wie anstrengend ist.«
»Ach, Sie haben Kinder?«, wunderte sich der Baron. »Auf den Gedanken, Sie könnten verheiratet sein, bin ich merkwürdigerweise gar nicht gekommen, Herr ...« Er stockte, als ihm bewusst wurde, dass sein ritterlicher Helfer sich ihm bisher nicht vorgestellt hatte.
»Ich heiße Falkenroth – Immo Falkenroth«, machte der Fürst sich bekannt, »und um sogleich einen Irrtum richtigzustellen: Die Kinder, von denen ich sprach, sind nicht meine eigenen, sondern Sohn und Tochter des Grafen Dausenberg, bei dem ich seit Kurzem tätig bin.«
»Als Erzieher für die Kinder?«, wollte Baron Soltenau wissen.
»Nein, das ist nur ein Wochenendjob, den ich freiwillig bis zur Rückkehr der Eltern übernommen habe«, gab Immo Auskunft. »Mir macht's vor allem deshalb Spaß, weil Stefan und Biggi heute bei den Kindervorführungen dabei waren.«
»Und welche Tätigkeit üben Sie sonst aus?«, forschte der Baron weiter, ohne sich seine Spannung anmerken zu lassen.
»Das ist schwer zu erklären«, behauptete der Jüngere mit einem Auflachen, das nicht ganz sorglos klang. »Graf Dausenberg ist ein begeisterter Reiter und Pferdeliebhaber, dessen größter Wunsch es seit Langem ist, eine eigene kleine Zucht aufzubauen. Ihm fehlt jedoch die Zeit, sich um sein Hobby zu kümmern, und so bat er mich, vorübergehend nach Schloss Dausenberg zu kommen.«
»Also ist es mehr ein Freundschaftsdienst dem Grafen gegenüber«, meinte der Baron verstehend.
»Durchaus nicht«, widersprach Immo lebhaft. »Es handelt sich um eine bezahlte Arbeit, die nur den einen Nachteil hat, dass sie zeitlich begrenzt ist. Im Übrigen verbindet mich mit dem Grafen keine Freundschaft, wie Sie glauben. Die Anstellung verdanke ich ausschließlich meinem Pferdeverstand, der sich bis Schloss Dausenberg herumgesprochen hat. Als der Graf mir das Angebot machte, saß ich gerade wieder einmal ohne einen Cent Geld in der Tasche und griff dankbar zu. Sie sehen, Baron, dass Sie mich vorhin nicht ganz richtig eingestuft haben. Ihrer Meinung nach gehöre ich doch zu den vom Leben verwöhnten jungen Leuten, was völlig unzutreffend ist.«
»Das überrascht mich«, gestand Baron Soltenau, dem die freimütige Art des jungen Fürsten ausnehmend gut gefiel. »Ich verfüge über eine recht gute Menschenkenntnis, die mich bisher nie im Stich gelassen hat.«
Das Gespräch wurde unterbrochen, als ein Diener in schlichter, dunkelblauer Livree herbeikam, um seinem Herrn beim Einsteigen in den Wagen zu helfen.
»Einen Augenblick noch, Bruno«, bat der Baron, nachdem er aufatmend in dem weichen Polster Platz genommen hatte. Dann reichte er Immo seine Visitenkarte. »Falls Sie einmal Zeit finden, mich zu besuchen, würde ich mich sehr freuen«, sagte er dabei so bittend, dass es Immo geradezu herzlos erschienen wäre, eine Absage zu geben.
♥♥♥
»Du willst weg, Geraldine, bei diesem Wetter?« Die vorwurfsvolle Frage des Vaters bewirkte, dass das sonst so ernste junge Mädchen belustigt auflachte.
»Ich will nicht – ich muss«, stellte sie gleich darauf richtig. »Agda braucht Bewegung, ob die Sonne nun scheint oder ob es wie heute Bindfäden regnet.«
»Sonst reitest du doch immer in der Mittagszeit, wenn ich ruhe«, beharrte Baron Soltenau unzufrieden.
»Gerade da gab es ein heftiges Gewitter, Vati, und ich wollte weder Agda noch mich selbst dem Unwetter aussetzen.«
»Das Donnern muss ich überhört haben«, entfuhr es dem Baron, der stets über Schlaflosigkeit klagte, ein wenig beschämt, um gleich darauf hinzuzusetzen: »Deine Stute wäre bestimmt nicht böse, wenn du ihr heute einen Ruhetag gönnen würdest.«
»Da ist Agda anderer Meinung«, behauptete Geraldine, die den Grund für die Hartnäckigkeit des Vaters zu kennen glaubte.
Seit Tagen sprach er von nichts anderem als von dem angekündigten Besuch eines gewissen Herrn Falkenroth, von dessen außergewöhnlichen Eigenschaften er der Tochter fast überschwänglich vorgeschwärmt hatte.
Auf Geraldines Frage, ob es sich um einen Geschäftsbekannten handele, war der Baron die Antwort schuldig geblieben, um später wie beiläufig zu erwähnen, er habe den sympathischen jungen Mann bei einem Spaziergang getroffen.
»... wir kamen ins Gespräch, und da Herr Falkenroth mich interessiert, habe ich ihn gebeten, uns gelegentlich zu besuchen.«
»Uns?«, hatte Geraldine stirnrunzelnd wiederholt und mit aller Entschiedenheit erklärt, auf die Bekanntschaft keinen Wert zu legen. Wie schon so oft war der Baron Soltenau auch dieses Mal zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die scheue Zurückhaltung der Tochter ausschließlich auf ihr fremde Menschen bezog, wogegen sie sonst ihre Meinung recht energisch zu vertreten wusste.
»Den Gefallen, später mit Herrn Falkenroth und mir ein Glas Wein zu trinken, wirst du mir hoffentlich tun, Kind«, meinte der Vater aus seinen Gedanken heraus.
»Wozu?«, fragte die Achtzehnjährige leicht gereizt. »Der Besuch gilt dir, und ich würde mich dabei absolut überflüssig fühlen.«
Geraldine küsste den Vater auf die Wange und verließ das Zimmer durch die weit geöffnete Tür, die zur Terrasse hinausging. Von hier aus führte eine breite Steintreppe in den parkartigen Garten, der die alte Villa umgab.
Seit Jahresfrist war Baron Soltenau Besitzer dieses herrlichen Anwesens, für das sich – der abgelegenen Lage wegen – lange kein Käufer gefunden hatte. Die Idee, sich aus der Großstadt aufs Land zurückzuziehen, stammte übrigens von Geraldine, deren Wunsch es von Kind an war, ein möglichst naturverbundenes Leben zu führen.
Trotz des andauernden Regens dachte sie nicht daran, den Ausritt zu verkürzen.
»So ein Regenspaziergang macht Spaß, nicht wahr?« Geraldine klopfte dem schönen Tier den Hals. »Aber hier müssen wir umkehren, sonst geraten wir geradewegs ins Moor ...«
Pferd und Reiterin befanden sich vor einem der großen Warnschilder, die man in dieser Gegend allenthalben fand.
Platz zum Reiten gab es dennoch mehr als genug, und da der Regen in dem sandigen Heideboden schnell versickerte, konnte Geraldine sogar einige Sprünge wagen. Sicher und elegant nahm Agda die Hindernisse und schüttelte unmutig die regennasse Mähne, als die Baroness nach einer Weile verkündete: »Jetzt ist's genug.«
Den Heimweg legte Geraldine in gestrecktem Galopp zurück, und dann dauerte es noch geraume Zeit, bis sie die Stute im Stall trocken gerubbelt hatte. Dass sie selbst triefend nass war, störte das Mädchen nicht, und als sie durch den Garten der Villa zuschritt, ging sie so langsam, als herrsche strahlender Sonnenschein.