Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 648 - Yvonne Uhl - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 648 E-Book

Yvonne Uhl

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Beschreibung

Nadja von Thorwaldt ist bildhübsch, und das ist ihr auch bewusst. Auf romantische Gefühle legt sie keinen Wert, ebenso wenig sucht sie nach der großen Liebe. Für sie zählen nur der Reichtum eines Mannes und seine gesellschaftliche Stellung.
Ihre unvergleichliche Schönheit betrachtet sie als ihr wertvollstes Kapital, das sie einsetzen will, um sich ein Leben in Luxus und Wohlstand zu verschaffen. Unbeirrt steuert Nadja auf ihr Ziel zu. Doch dann begegnet sie der wahren Liebe und verliert ihr Herz an einen Grafen, der nicht nur völlig verarmt, sondern zudem noch von tiefer Trauer um seine verstorbene Frau erfüllt ist ...


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Inhalt

Cover

Er war ein einflussreicher Mann

Vorschau

Impressum

Er war ein einflussreicher Mann

Nur in der Liebe traf er eine falsche Entscheidung

Nadja von Thorwaldt ist bildhübsch, und das ist ihr auch bewusst. Auf romantische Gefühle legt sie keinen Wert, ebenso wenig sucht sie nach der großen Liebe. Für sie zählen nur der Reichtum eines Mannes und seine gesellschaftliche Stellung.

Ihre unvergleichliche Schönheit betrachtet sie als ihr wertvollstes Kapital, das sie einsetzen will, um sich ein Leben in Luxus und Wohlstand zu verschaffen. Unbeirrt steuert Nadja auf ihr Ziel zu. Doch dann begegnet sie der wahren Liebe und verliert ihr Herz an einen Grafen, der nicht nur völlig verarmt, sondern zudem noch von tiefer Trauer um seine verstorbene Frau erfüllt ist ...

Im letzten Augenblick erreichten sie den Zug nach Hamburg. Atemlos verstauten sie ihre Koffer und ließen sich auf die Sitzbänke nieder.

»Jetzt«, sagte Pia Schöller und schlug die großen träumenden Augen auf, »fängt für uns alle ein neues Leben an.«

Thekla Seelbach und Nadja von Thorwaldt, ihre beste Freundin, waren bei ihr.

Sie hatten alle ihr Reifezeugnis in der Tasche. Endlich lag die Schule hinter ihnen.

»Für mich gibt es keinen Zweifel: Ich will meine Zukunft der Kunst widmen«, sagte Thekla.

Sie war immer versponnen und schwebte ständig in den Wolken. Wenn man mit ihr sprach, hatte man das Gefühl, dass sie stets an etwas anderes dachte.

Thekla war dunkelblond und trug das Haar im Nacken zusammengeknotet. Nur mit Mühe hatte sie ihre Prüfung geschafft. Sie lebte von einem monatlichen Scheck aus dem Erbe ihrer verstorbenen Eltern.

Nadja beneidete Thekla. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Niemand machte ihr Vorschriften.

Auch Pia, dachte Nadja, ist besser dran als ich. Oh, wie ich Pia ihr Glück missgönne! Sie sieht so unscheinbar und schlicht aus, so klein, zierlich und durchschnittlich! Wer könnte bei ihrem Anblick ahnen, dass ihr Vater ein steinreicher Reeder ist? Pia weiß sich nicht elegant anzuziehen, und so, wie sie aussieht, würden ihr auch die teuersten Roben nichts nützen. Ich würde in das Haus des Reeders Schöller passen, nicht Pia!

Nadja wusste, dass sie schön war. Schlank und ebenmäßig war ihre Figur. Sie hatte eine Wespentaille und schmale Schultern. Langes kastanienbraunes Haar rahmte ihr schönes Gesicht ein.

»Wie sind deine Pläne, Nadja?«, fragte Pia aufgeregt.

»Ich weiß noch nicht!«, erwiderte Nadja.

Ich habe kein Geld. Bei meinen Pflegeeltern bin ich nur geduldet, dachte sie. Und ich denke nicht daran, auf eine fortbildende Schule zu gehen. Ich hab das Lernen satt.

Ich werde meine Schönheit dazu benutzen, mir einen gehörigen Zipfel des großen Glücks einzufangen. Nachher werde ich mir alle Hamburger Zeitungen kaufen und sie durchsehen nach Namen einflussreicher, bedeutender Männer in Hamburg. Und ich werde genau wählen, wenn ich mir einen Mann aussuche. Er muss ledig sein. Er muss reich sein. Und er muss gut aussehen.

Und er muss mir das Leben bieten können, das ich mir wünsche. Ich will nicht mehr ohne Luxus leben. Ich will Pelze, Schmuck und schöne Kleider im Überfluss. Ich will reisen und die Welt sehen. Ich will auf der Erfolgsleiter steil nach oben klettern, bis hinauf zu den Sternen.

Eine halbe Stunde später fuhr der Zug in den Hauptbahnhof Hamburg ein.

»Wird eine von euch abgeholt?«, fragte Thekla.

»Nein«, sagte Nadja. »Meine Pflegeeltern erwarten mich zu Hause.«

»Ich werde abgeholt«, meldete sich Pia. Ein verträumtes Lächeln glitt über ihre Züge. »Von Marcel Offenbach. Er ist kein Franzose«, erklärte sie, »seine Mutter war Luxemburgerin.«

»Wer ist Marcel Offenbach?«, fragte Nadja erstaunt. Nie hatte Pia ihr von diesem Mann erzählt.

»Ein entfernter Cousin von mir. Er lebt bei uns im Herrenhaus, weil er seit einem Monat in Hamburg studiert.«

Nadja überschwemmte heißer Neid auf Pia Schöller.

»Ist er reich?«, fragte sie.

»Marcel? Ich glaube, ja. Sein Vater ist Rennstallbesitzer. Er ist der einzige Sohn und wird einmal das ganze Vermögen erben. Marcel genießt das Leben in vollen Zügen. Er hat eine Jacht im Hafen von Amsterdam.«

»Bist du in ihn verliebt?«, fragte Thekla Seelbach neugierig.

»Ach, Thekla, was du alles wissen willst«, erwiderte Pia errötend.

Das Tempo des Zuges verringerte sich, und dann hielt er an.

Pia lehnte sich aus dem Fenster.

»Marcel!«, schrie sie übermütig und winkte.

Nadja starrte hinaus. Sie sah unter den vielen Menschen nur einen jungen Mann. Er trug eine weiße Sportjacke und eine blaue Hose, und er hatte dunkles, fast schwarzes Haar. Er lief am Bahnsteig entlang und warf beide Arme aufgeregt durch die Luft.

»Ist das dein Cousin?«, fragte Nadja.

»Ja!«, rief Pia.

Nadja schloss die Augen. Marcel Offenbach war genau der Mann, den sie sich gewünscht hatte. Er sah gut aus. Er war reich. Und er war ledig.

Sie betrachtete Pia von der Seite. Tut mir leid, mein Liebling, dachte sie spöttisch. Ich werde dir Marcel Offenbach fortnehmen müssen.

Ich habe beschlossen, dass er mich lieben soll. Nicht dich.

♥♥♥

»Pia!«

Marcel Offenbach hob das junge Mädchen von der Plattform des Waggons.

»Lass mich runter!«, schrie Pia fröhlich.

Die beiden jungen Menschen strahlten sich an. Marcel setzte Pia ab und gab ihr einen Nasenstüber.

»Nun, hast du dein Reifezeugnis?«

Nadja stieg hinter Thekla aus dem Waggon und setzte schwer atmend den großen Koffer ab.

»Marcel«, rief Pia voller Freude, »darf ich dir meine beiden besten Freundinnen vorstellen? Thekla Seelbach und Nadja von Thorwaldt. Wir waren in derselben Klasse.«

Marcel verneigte sich tief vor Thekla und drückte ihre Hand. Dann wandte er sich Nadja zu.

Nadja lächelte. Sie hatte dieses Lächeln tausendmal vor dem Spiegel einstudiert. Sie wusste, dass es auf Männer wirkte.

Auch Marcel Offenbach schien von ihr verzaubert zu sein. Seine Augen verdunkelten sich, und auf dem hübschen Jungengesicht stand ungläubiges Staunen. Noch nie, schwor er sich, hatte er ein so schönes Mädchen gesehen, und er kannte wahrhaftig Mädchen genug.

»Sind Sie in Hamburg zu Hause?«, fragte er.

»Jetzt schon! Früher habe ich in Kiel gelebt!«, erwiderte Nadja. »Hamburg ist viel schöner als Kiel.« Sie sah zur Seite. Pia blickte ihren Marcel mit schwärmerischen Augen an.

Mit keinem Gedanken kam es Nadja in den Sinn, ihr Interesse von Marcel Offenbach abzuwenden, nur Pias wegen. Pia sollte sehen, wo sie blieb. Sie war reich und verwöhnt, und ihr Vater würde sich schon darum kümmern, dass sie einen einflussreichen Mann bekam.

Ich muss selbst sehen, wo ich bleibe, dachte Nadja. Mit Schaudern dachte sie an die kleine Vierzimmerwohnung ihrer Pflegeeltern. Sie wollte heraus aus dieser armseligen Umgebung und das Leben genießen. Sie war bereit, für diesen Preis jeden Mann zu nehmen, der sie heiraten wollte, auch wenn sie ihn nicht liebte.

»Sie müssen uns bald einmal besuchen«, sagte Marcel mit heiserer Stimme. Er wusste nicht, wie lange er in die tiefblauen Augen Nadjas geblickt hatte.

Pia merkte nicht, was zwischen Marcel und Nadja vorging. Sie hängte sich in Nadjas Arm.

»Natürlich werden wir uns oft sehen, nicht wahr, Nadja? Zu dem großen Sommerball, den Papa mir zuliebe kommenden Freitag veranstaltet, werden natürlich auch du und Thekla kommen. Ich freue mich schon so!«

Nadja sah sekundenlang in Pias freudig bewegtes Gesicht. Es war herzförmig geschnitten und nicht ohne Reiz, aber natürlich würde jeder Mann ihre Schönheit Pias Durchschnittlichkeit vorziehen.

»Klar, Pia. Thekla und ich kommen gern. Aber jetzt muss ich mich verabschieden. Meine Eltern warten, wie du weißt.«

»Ich habe den Wagen draußen. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen, gnädiges Fräulein?«, erbot sich Marcel eifrig.

Sekundenlang nur überlegte Nadja, doch dann schüttelte sie den Kopf.

»Vielen Dank, Herr Offenbach. Thekla und ich nehmen uns ein Taxi. Sie fahren ja in die andere Richtung, nach Blankenese. Wir müssen nach Uhlenhorst und Wandsbek.«

»Aber das macht doch nichts«, beteuerte Marcel. »Ich kann gerne einen Umweg fahren.«

»Nein. Ich möchte es nicht!« Nadjas Stimme wurde unpersönlich. Das hätte noch gefehlt! Ihre Pflegeeltern wohnten in der Humboldtstraße in einem alten Haus mit abgeblätterter Fassade. Marcel sollte nicht sehen, in welch armseligen Verhältnissen sie lebte.

Sie reichte Pia die Hand.

»Bis bald, Kindchen. Wir telefonieren noch.« Dann wandte sie sich Marcel zu. »Herr Offenbach? Es hat mich gefreut.«

Er neigte sich über ihre Hand.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, murmelte er verwirrt.

»Träger!«, rief Thekla Seelbach. Ein Dienstmann kam heran und lud die Koffer auf.

Schnell gingen die beiden jungen Mädchen auf die Sperre zu. Sie gaben ihre Fahrkarten ab. Thekla lief hinaus auf den Bahnhofsvorplatz und suchte ein Taxi, während Nadja beim Gepäck blieb.

Endlich waren die Koffer verstaut, und Thekla und Nadja saßen im Fond.

Erst jetzt fiel es Nadja auf, dass Thekla ein mürrisches Gesicht machte.

»Bist du nicht froh, dass wir in Hamburg sind?«, fragte sie überrascht. »Was ist los mit dir, Thekla?«

»Es passt mir nicht, wie du diesen Marcel Offenbach behandelt hast«, erklärte Thekla.

»Ist das nicht allein meine Sache?«

»Pia ist unsere Freundin, Nadja. Und Gnade dir Gott, wenn du ihr den Mann fortnimmst, den sie liebt.«

Heiße Empörung wallte in Nadja hoch.

»Thekla, hüte deine Zunge!«, sagte sie. »Ich kann schließlich nichts dafür, dass ich Marcel Offenbach sofort gefiel.«

»Ich kenne dich, Nadja. Du hast es darauf angelegt, ihm zu gefallen. Du darfst die beiden nicht auseinanderbringen.«

»Hör doch auf, mir auf die Nerven zu gehen«, murmelte Nadja zornig. »Deine Fantasie schlägt Purzelbäume, wie?«

»Ich kenne dich«, wiederholte Thekla. »Pia ist ein kleines Dummchen. Die merkt in ihrer Gutmütigkeit gar nicht, wenn man ihr den Mann ausspannt. Aber ich werde wachsam sein.«

»Thekla, die Moralpredigerin«, spottete Nadja. »Marcel Offenbach ist nicht der Besitz von Pia, merke dir das. Sie sind noch nicht miteinander verheiratet. Und deshalb sind alle Tricks erlaubt, ihn ihr auszuspannen. Hab doch nicht immer Mitleid mit Pia! Sie hat doch alles, was sie zum Leben braucht. Die Männer werden ihr reihenweise zu Füßen liegen, nur um Schwiegersohn eines reichen Reeders zu werden.«

»Ich finde dich abscheulich!«, empörte Thekla sich. »Pia ist doch deine beste Freundin.«

Dass Nadja gefallsüchtig, eitel und berechnend war, wusste Thekla längst. Ein paarmal schon hatte sie Pia gegenüber zu verstehen gegeben, welchen Charakter Nadja hatte, doch Pia war blind in ihrer Freundschaft zu Nadja. Sie betete Nadja an und war stolz, eine so schöne, attraktive Freundin zu haben.

Ich muss auf Pia und ihr Glück achtgeben, dachte Thekla. Sie überlegte, was sie wohl tun würde, wenn Nadja ihr eines Tages einmal den Mann ausspannen würde, den sie liebte. Kampflos, dachte Thekla, würde ich ihn Nadja nicht überlassen. Außerdem wird es nie dazu kommen, denn ein Mann, der mich liebt, würde sich nie in Nadja verlieben. Wir sind zwar beide blond und äußerlich fast derselbe Typ, aber wir sind so verschieden wie Sonne und Mond.

Noch gab es aber keinen Mann in Theklas Leben. Sie war auch nicht sicher, ob sie sich jetzt schon die Liebe wünschte. Das hatte noch Zeit.

♥♥♥

»Nadja, mein Herzchen, wie hübsch du geworden bist!« Eloise Kamperdiek breitete die Arme aus und zog Nadja an ihre Brust. »Wir freuen uns sehr, dass du endlich wieder bei uns bist, Kind.«

Nadja lächelte gezwungen. Im Alter von sechs Jahren war sie zu den Kamperdieks gekommen, nachdem ihre Mutter gestorben war und niemand sich um die kleine Nadja kümmern konnte. Eloise Kamperdiek war ein mütterlicher Typ. Sie hatte ein Kind gehabt, das im Alter von vier Jahren gestorben war. Ein kleines Mädchen namens Gudrun.

Ihr Kleid ist unmodern, dachte Nadja gereizt. Und es riecht in der ganzen Wohnung nach Bohnerwachs und gebratenem Fett. Nadja hasste diese Geruchsmischung, die so typisch für die Kamperdieks war. Sie starrte Eloise Kamperdiek an.

Sie war eine Frau von fast fünfzig, ein bisschen rundlich und mittelgroß, mit einem gutmütigen Gesicht und kurzem Haar. Lippenstift und Puder verabscheute Eloise Kamperdiek, in deren Leben sich alles um ihre Wohnung, ihren Mann und Nadja drehte.

»Dein Zimmer ist fertig. Es wurde sogar vorige Woche frisch tapeziert«, verriet Eloise stolz. »Komm. Hast du dem Taxifahrer auch ein anständiges Trinkgeld gegeben? Wir wollen uns doch nicht lumpen lassen. Papa hat eine Gehaltszulage bekommen.«

Sie hatte eine hohe, zwitschernde Stimme, die Nadja auf die Nerven ging. Obwohl Eloise Kamperdiek sie immer wie ihre eigene Tochter behandelt hatte, war Nadja niemals fähig gewesen, sie wie eine Mutter zu lieben.

Ihre eigenen Eltern waren adlig gewesen. Sie hatten aus Österreich gestammt, und bis heute wusste Nadja nicht, warum es ihre Mutter und sie eigentlich nach Norddeutschland verschlagen hatte.

Widerwillig folgte sie ihrer Pflegemutter den Korridor entlang bis zu ihrer Zimmertür. Eloise stieß die Tür auf.

»Hier«, sagte sie und wartete auf eine Reaktion von Nadja.

Was ist schon Besonderes an meinem Zimmer?, dachte Nadja. Pia hat ein ganzes Appartement im Hause ihrer Eltern, und sie hat ein Badezimmer, das ihr allein gehört. Und das Frühstück bringt ihr eine Zofe ans Bett, wenn sie klingelt.

»Hübsch«, sagte Nadja gepresst.

»Nicht wahr?« Eloise Kamperdiek nickte. »Auch die Vorhänge sind neu! Du kannst nachher auspacken. Komm jetzt mit in die Küche. Ich habe frische Waffeln gebacken, und der Kaffee steht unter der Haube. Es gibt auch Schlagsahne!« Geschäftig lief Eloise vor Nadja her.

Nadjas Widerwillen stieg. Ich muss bald hier heraus, dachte sie. Immer hier zu leben, das wäre mein Tod. Es ist alles so kleinbürgerlich!

Sie folgte ihrer Pflegemutter. Damals, als ihre Mutter gestorben war, hatte sich das Jugendamt um eine Pflegestelle für sie bemüht. Die Kamperdieks waren die eifrigsten Bewerber gewesen. Nadja entsann sich einer schönen Kindheit, die sie bei ihren Pflegeeltern verlebt hatte. Sonntags waren sie mit Fahrrädern immer an die Elbe gefahren und hatten am Ufer Picknick gemacht.

Je älter ich aber wurde, dachte Nadja, umso tiefer wurde die Kluft zwischen ihnen und mir. Ich bin eben eine gebürtige Komtess Thorwaldt und gehöre nicht in diese kleinkarierte Umgebung.

Als sie dann aber am Küchentisch saß und die frischen Waffeln roch, erwachte die Kindheit in ihr. Sie hatte einen unbändigen Appetit auf diese Waffeln, die keine so gut backen konnte wie ihre Pflegemutter.

»Ich wusste, dass es dir schmecken wird«, sagte Eloise zufrieden. »Es ist prima, nach dem Pensionatsleben wieder zu Hause zu sein, nicht wahr? Und wir sind so froh, dass wir dich endlich wieder hierhaben! Du hast uns so gefehlt, Nadja!«

♥♥♥

Heinrich Kamperdiek kam abends gegen sechs Uhr nach Hause. Er war in einem großen Kabelwerk Hauptbuchhalter und hatte kürzlich sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert.

Er zog Nadja an sich und begrüßte sie herzlich.

»Vorhin, als ich raufkam«, erzählte er später, »bin ich dem neuen Mieter von der unteren Etage begegnet. Er ist ein sehr vornehmer Mann. War der Möbelwagen schon da?«

»Nein!«, erwiderte Eloise. »Wohnt der Mann etwa in einer leeren Wohnung?«

»Keine Ahnung«, brummte Kamperdiek. »An den Fenstern gibt es keine Gardinen. Und er kann doch nicht auf der nackten Erde schlafen.«

»Was ist das für ein neuer Mieter?«, erkundigte sich Nadja.

»Die Petermanns sind doch nach Eppendorf gezogen«, berichtete Eloise eifrig. »Die untere Vierzimmerwohnung wurde völlig renoviert und diesem Herrn ... Wie heißt er doch gleich, Hein?«

»Wallner«, entgegnete Kamperdiek. »Mehr weiß ich auch nicht. Soll aus der Gegend vom Bodensee kommen. Hat mir der Postbote erzählt. Die Post wird nämlich von Lindau am Bodensee hierher nachgeschickt.«

»Und was ist das für ein Mann? Hat er hier in Hamburg eine Arbeit gefunden?«, fragte Nadja.

»Wir wissen nichts über ihn, Kindchen. Wenn wir ihm im Treppenhaus begegnen, grüßt er höflich, aber sonst lebt er sehr zurückgezogen. Bisher sind noch keine Möbel gekommen. Zwei Wochen ist er jetzt schon in der Wohnung. Ist das nicht seltsam?«

»Ist er ein alter Mann?«, wollte Nadja wissen.

Heinrich Kamperdiek lachte behäbig.

»Nein, er ist noch jung und sieht sehr gut aus. Er ist schlank und groß, hat ein markantes Gesicht und dunkles Haar. Ein Geheimnis umgibt ihn. Vielleicht ...« Er murmelte etwas Undeutliches.

»Was meinst du, Papa?« Nadja hatte nichts verstanden.

»Ach, Unsinn! Es ist nur so ein Verdacht.« Kamperdiek räusperte sich entschieden.

»Was denn für Verdacht, Papa?«

»Ich dachte«, sagte Heinrich Kamperdiek, »ob dieser Mann vielleicht ein Verbrechen plant.«

»Ein Verbrechen?«

»Es ist doch sehr merkwürdig, dass er die Wohnung mietet, aber keine Möbel hineinstellt. Vielleicht soll die Wohnung ein Hauptquartier für eine Bande werden.«

»Hein, du bist verrückt!«, rief Eloise kopfschüttelnd. »So ein feiner, zurückhaltender Herr! Der ist doch kein Verbrecher.«

»Man sieht den meisten Verbrechern nicht an, dass sie Verbrecher sind«, meinte Nadja. »Vielleicht ist er ein Heiratsschwindler.«

Heinrich Kamperdiek schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Das Mädel hat's erfasst. Klar! So sieht der auch aus! Immer wie aus dem Ei gepellt, der ist ein Typ für Frauen. Ob wir zur Polizei gehen sollen?«