Die Weltportale (Band 4) - B. E. Pfeiffer - E-Book

Die Weltportale (Band 4) E-Book

B. E. Pfeiffer

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Beschreibung

Eleonora bleibt kaum Zeit, sich von den schweren Verlusten der letzten Kämpfe zu erholen. Sie muss auf ein Wunder hoffen, denn jetzt kann ihr nur noch das verschollene Volk der Pigmentera dabei helfen, mehr über den Schatten herauszufinden und ihn zu besiegen. Der Berg, auf dem diese Wesen leben sollen, ist allerdings auf keiner Karte verzeichnet. Auf der Suche nach der Wahrheit decken Eleonora, Lucius und ihre Freunde Geheimnisse auf, die all ihre Überzeugungen ins Wanken bringen. Und der Welt droht einmal mehr das Schicksal, in Dunkelheit zu versinken.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Prolog - Solana

Kapitel 1 - Aestus

Kapitel 2 - Lucius

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8 - Lucius

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19 - Aestus

Kapitel 20

Kapitel 21 - Raksha

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 - Lucius

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28 - Aestus

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32 - Lucius

Kapitel 33

Kapitel 34 - Aestus

Kapitel 35

Epilog - Lucius

Die Geschichte von Raksha und Lapidia

Personenverzeichnis

Dank

 

B. E. Pfeiffer

 

 

Die Weltportale

Band 4

 

 

Fantasy

 

 

Die Weltportale (Band 4)

Eleonora bleibt kaum Zeit, sich von den schweren Verlusten der letzten Kämpfe zu erholen. Sie muss auf ein Wunder hoffen, denn jetzt kann ihr nur noch das verschollene Volk der Pigmentera dabei helfen, mehr über den Schatten herauszufinden und ihn zu besiegen. Der Berg, auf dem diese Wesen leben sollen, ist allerdings auf keiner Karte verzeichnet. Auf der Suche nach der Wahrheit decken Eleonora, Lucius und ihre Freunde Geheimnisse auf, die all ihre Überzeugungen ins Wanken bringen. Und der Welt droht einmal mehr das Schicksal, in Dunkelheit zu versinken.

 

Die Autorin

Bettina Pfeiffer wurde 1984 in Graz geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Baden bei Wien.

Seit ihrer Kindheit liebt sie es, sich Geschichten auszudenken. Besonders als Ausgleich zu ihrem zahlenorientierten Hauptjob taucht sie gern in magische Welten ab und begann schließlich, diese aufzuschreiben. So entstand recht schnell die Idee für die ›Weltportale‹ und andere magische Geschichten im Genre Fan-tasy/Romantasy.

Inspiration dafür findet sie immer wieder durch ihre Kinder, mit denen sie gern auf abenteuerliche Entdeckungsreisen geht.

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Juni 2022

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2022

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-245-8

ISBN (epub): 978-3-03896-246-5

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für alle, die immer noch daran glauben, dass Träume wahr werden.

 

»Der kühle Ritter trägt Magie im Blut,

Zu löschen vermag er die dunkle Glut.

Doch ist sein Schicksal geprägt von Leid,

Wähnt er sich und das Licht auch in Sicherheit.

Seinen wahren Wert muss er beweisen,

Doch könnte es ihm das Herz in Stücke zerreißen.«

 

Prolog - Solana

 

Sie blickte in den schwarzen Schlund. Irgendwo, jenseits der Dunkelheit, musste das Schattenreich liegen. Man konnte es nicht mehr sehen, nur erahnen. Sie selbst hatte dabei geholfen, es an jenen Ort zu verbannen, an dem es jetzt lag.

Fern von der Welt, die sie einst gemeinsam erschaffen hatten, fristete Raksha sein Dasein. Solana konnte seine Wut fühlen, seinen Rachedurst … und seine Einsamkeit.

Sie stieß den Atem aus und ließ ihren Kopf sinken. Solana wusste längst, dass ihre Zeit sich dem Ende neigte. Sie hatte ihren endgültigen Tod, so lange sie konnte, hinausgezögert. Aber nun schwanden ihre Kräfte immer mehr, während die des Schattens immer stärker zu werden schienen.

»Ich fühle deine Dunkelheit«, flüsterte sie in die Schwärze des Abgrunds. »Und ich weiß, dass du mein Ende spüren kannst. Aber damit bist du noch nicht am Ziel, Bruder. Es wird jemanden geben, der deinen Schatten ausgleicht, wie ich es einst tat. Es gibt keine Dunkelheit ohne Licht.«

Solana seufzte und betrachtete ihre fast durchsichtigen Hände. Sie hatte längst vergessen, wie lange es zurücklag, dass sie einen menschlichen Körper besessen hatte. Oder wie viele Generationen es her war, dass sie diesen Ort vor den Augen der Menschen verbarg, die am Fuß des Berges eine Siedlung errichtet hatten, die sie Erzstadt nannten. Und die Menschen dort waren anders als alle anderen. Etwas Seltsames ging in dem Ort vor sich. Aber Solana hatte die Kraft nicht mehr, dem auf den Grund zu gehen. Sie hoffte nur, dass die Mächte, die in der Stadt wirkten, keinen Einfluss auf den Ausgang dieser Geschichte hatten.

Wenn Solana einmal nicht mehr war, musste sie sich auf das Licht jenes Wesens verlassen können, das dazu ausersehen war, das Gleichgewicht zu bringen. Es gab bereits so vieles, das dieses Licht zu trüben drohte. Und Solana wusste nur zu gut, dass ihr Bruder alles daransetzen würde, um seine Rache zu bekommen.

»Es wird Zeit«, flüsterte Solana. »Wir werden uns wohl in diesem Leben nicht wiedersehen. Und ich weiß nicht, ob du mich überhaupt hören kannst. Aber …«, sie atmete tief aus, »es tut mir leid. Ich weiß nicht, ob ich dich hätte retten können. Aber ich hätte es versuchen sollen. Ich vergebe dir das, was du aus mir gemacht hast. Und ich hoffe, du kannst mir auch eines Tages vergeben.«

Sie blickte in den tiefschwarzen Schlund. Eine Antwort hatte sie ebenso wenig erwartet wie Rakshas Vergebung. Er hasste sie. Und er hatte jedes Recht dazu. Sie hatte ihn im Stich gelassen, als er sie am meisten brauchte.

Trotzdem würde sie nicht zulassen, dass er die Welten verdunkelte. Sie würde dem Licht helfen, ihn aufzuhalten.

Solana schloss die Augen. Sie wünschte sich, dass ihr Bruder nicht sterben musste. Aber sie ahnte, dass auch seine Zeit sich dem Ende neigte, auch wenn er nie die Freude gefunden hatte, die er eigentlich verdiente.

Kapitel 1 - Aestus

 

Er stand vor dem Geysir und wartete darauf, dass dieser erneut ausbrach. Der sengend heiße Dampf war sein einziges Fenster zur Außenwelt, die einzige Möglichkeit, sie zu sehen.

Aestus bewegte seinen Kopf, bis seine Halswirbel knackten, dann blickte er auf die Öffnung im Boden vor sich.

»Komm schon«, zischte er und ballte die Hände zu Fäusten.

»Was treibst du hier?«, fragte Raksha, der wie immer völlig lautlos hinter ihm aufgetaucht war.

Aestus wollte ihn nicht ansehen. Raksha war der Schatten, und er sah aus wie Aestus selbst.

»Deine gefallene Königin lässt sich Zeit, uns das dritte Artefakt zu bringen und uns damit die Flucht aus dem Schattenreich zu ermöglichen. Ich wollte sehen, was sie treibt«, erwiderte er mit beherrschter Stimme.

»Wirklich? Du wolltest Lapidia nachspionieren? Nicht Eleonora?«

Bei der Erwähnung ihres Namens verkrampften sich Aestus’ Muskeln und er presste die Kiefer fester aufeinander. Es kostete ihn Mühe, seinen Atem unter Kontrolle zu behalten. Raksha sollte nicht wissen, dass es genügte, von ihr zu sprechen, um seine Wut anzufachen. Oder seine Sehnsucht. Aestus wollte Eleonora an seiner Seite haben. Doch er saß hier im Schattenreich fest und sie hatte sich geweigert, Lucius zu opfern, um ihn, Aestus, zu befreien.

»Warum sollte ich nach ihr suchen? Nina wird sie zu mir bringen, weil es dein Befehl war«, sagte Aestus nach einiger Zeit und dachte daran, wie leicht Raksha Eleonoras ehemalige Freundin auf seine Seite gezogen hatte.

»Weil du von diesem Mädchen besessen bist«, knurrte Raksha und berührte ihn. Eisige Klauen bohrten sich ein wenig in die Haut von Aestus’ Unterarm, ließen einen Schauer durch seinen Körper gehen. »Sie hat dich verraten und du nutzt trotzdem jede Möglichkeit, sie zu sehen. Ich sagte doch, sie wird dir gehören. Aber wenn ich befürchten muss, dass du unseren Plan zum Scheitern bringst, weil du einer dummen Hoffnung hinterherläufst …«

»Ich weiß, dass ihr Herz nicht mir gehört«, fuhr Aestus ihn an und schlug die Hand des Schattens von seinem Arm. »Aber das ist nicht wichtig. Weil sie dennoch an meiner Seite sein wird, wenn wir sie erst in die Dunkelheit geführt haben.«

Rakshas leere Augen ruhten auf ihm und Aestus schauderte noch einmal. Er war immer noch nicht sicher, ob der Schatten noch etwas sah oder nicht. Doch es spielte keine Rolle. Raksha wusste nämlich auch ohne Augenlicht stets, was Aestus tat.

»Aber erst, wenn sie das Siegel bricht. Denn ich befürchte, ohne ihre Kräfte werden wir auch mit allen fünf Artefakten nicht in der Lage sein, den Kristall endgültig zu zerstören und daraus freizukommen.« Raksha hob das Kinn. »Also verlass diesen Ort nicht vorzeitig. Du wirst nicht mehr viele Möglichkeiten haben, dich aus dem Kristall zu befreien, weil du mir mit jedem Tag ähnlicher wirst. Wähle die Zeitpunkte, da du die Außenwelt betrittst, daher weise. Sonst könnte es sein, dass wir für immer hier festsitzen.«

»Ich habe diesen Ort bisher ein einziges Mal verlassen und das war, als du mich in ihre Welt geschickt hast«, erwiderte Aestus zornig. »Im Gegensatz zu anderen kann ich Befehle befolgen, also musst du dich nicht um mich sorgen.«

»Du sprichst von Lapidia«, meinte Raksha ruhig. »Ja, sie stellt sich im Augenblick nicht besonders geschickt an, da stimme ich dir zu. Aber sie wird uns nicht hintergehen. Dazu habe ich sie zu sehr mit meiner Magie an mich gebunden. Sie denkt, dass ich der Einzige bin, der sie wirklich versteht.«

»Ich dachte, sie wird dich nicht hintergehen, weil sie dich liebt.«

Raksha legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Das glaubst du, ja? Nun, ich denke, sie liebt mich wirklich, aber dennoch hat sie sich gegen mich entschieden, als es darum ging, diese Welt zu retten. Das ist jetzt allerdings vorbei. Sie wird von nun an immer mich wählen, auch wenn mich diese Bindung viel Kraft gekostet hat. Doch Lapidia nimmt mittlerweile an, dass nur ich fest zu ihr gehalten habe und dass ihre eigene Familie ihr das Glück, das sie mit mir hätte haben können, nicht gönnte.«

»Du hast also ihren Geist verwirrt«, stellte Aestus fest.

»Nenn es, wie du willst. Aber sie wird uns nicht verraten, sondern alles tun, was ich von ihr fordere.«

»Ich will trotzdem sichergehen, dass sie in unserem Sinne handelt.«

Raksha klopfte ihm auf die Schulter. »Vertreib dir die Zeit an diesem Ort, wie immer du möchtest. Aber hör auf meinen Rat, wenn es um die Kleine geht, die deine Belohnung sein soll. Sie wird versuchen, dich aus der Dunkelheit zu führen. Lass das nicht zu, um euer beider willen.«

Das Gesicht des Schattens hatte sich zu einer finsteren Maske verformt und Aestus unterdrückte erneut ein Schaudern. Er war Raksha freiwillig gefolgt, aber er wusste, dass der Schatten ihn töten würde, wenn er das Gefühl hatte, Aestus würde ihn verraten.

»Ich weiß, dass ich ihr keinen Glauben schenken darf. Ihre Taten beweisen, dass ich ihr nichts wert bin«, erwiderte Aestus.

»Gut, ich wollte nur, dass es zu keinen Missverständnissen kommt«, meinte Raksha. »Dann viel Vergnügen bei deinen Beobachtungen.«

Noch während er sprach, löste er sich vor Aestus’ Augen auf und verschwand in der Dunkelheit.

Aestus stieß den Atem aus und wandte sich dem Geysir zu, der brodelnd begonnen hatte, heißen Dampf auszustoßen. Er hob seine Hand bis knapp vor den Nebeldunst und murmelte Worte in einer Sprache, die er nie gelernt hatte und die ihm dennoch altbekannt vorkam.

Kaum war die letzte Silbe über seine Lippen gekommen, lichteten sich die Schwaden und er erblickte ein Gesicht. Ihr Gesicht.

Eleonora lächelte, obwohl er wusste, dass es nur ein Höflichkeitslächeln war, denn es erreichte ihre Augen nicht.

»Zeig mir mehr«, forderte er den Nebel auf.

Das Bild veränderte sich und er erkannte einen Raum, der ihm vertraut war. Eleonora befand sich also wieder an der Akademie für Magie in Eirini. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das er nicht kannte. Es schimmerte, wenn sie sich bewegte, genauso wie der Stirnreif, den sie auf ihrem Kopf trug. So einen hatte er ihr einmal gereicht, damals, als er noch dachte, sie würde ihn lieben.

Wie hatte sie ihn so täuschen können?

Er wünschte, er könnte hören, was sie sagte. Denn außer ihr und dem Raum konnte er sonst nichts erkennen. Aber da sie ihre Lippen bewegte, ging er davon aus, dass sie ein Gespräch führte. Er hätte zu gerne gewusst, mit wem und worum es ging. Eleonora wirkte immer noch angespannt und das Lächeln sah verkrampft aus.

Wie viel Zeit wohl in ihrer Welt vergangen war, seit sie sich zum letzten Mal gegenübergestanden hatten? Er wusste es nicht.

Ein seltsames Gefühl regte sich in seiner Brust. Ja, er war dem Schatten freiwillig gefolgt, weil es sich richtig angefühlt hatte. Weil er wusste, ihm blieb keine andere Wahl, um zu bekommen, was er wirklich wollte. Und er wollte nichts außer Eleonora. Der Preis war ihm gleichgültig, und wenn die Welt dafür in Dunkelheit versinken musste, sollte es so sein.

Aber etwas war ihm längst bewusst geworden. Raksha durfte er nicht blind vertrauen. Nina tat es, und er wusste, dass der Schatten sie opfern würde, sobald sie ihm lästig wurde oder nicht mehr helfen konnte. Vielleicht hatte Aestus eine Sonderstellung, aber darauf wollte er sich nicht verlassen.

Und so nahm er sich vor, trotz allem über Eleonora zu wachen und Raksha nicht die Möglichkeit zu geben, sein Versprechen zu brechen. Noch nicht einmal der Schatten selbst würde ihm diesmal im Weg stehen, dafür würde er sorgen.

Kapitel 2 - Lucius

 

Er sah ihr zu, wie sie mit dem Magierkönig einige Menschen begrüßte, die aus Erzstadt stammten und in Eirini Schutz gesucht hatten. Eleonora wirkte angespannt und so, als würde sie sich in dem Kleid, das Ignia ihr als Prinzessin der Auronen für diesen Anlass geschenkt hatte, nicht wohlfühlen.

Immer wieder wanderten ihre Finger hinauf zum Stirnreif, den sie trug, bevor sie sich daran zu erinnern schien, dass sie ihn nicht ständig berühren sollte.

Sie sah atemberaubend aus, aber er musste zugeben, dass ihr eindeutig das Strahlen fehlte, das sie sonst begleitete.

»Ihr solltet nicht so offensichtlich zu ihr hinstarren«, raunte Valeria, die neben ihn getreten war. »Sie wird es bemerken und im Augenblick muss sie sich konzentrieren.«

»Ich weiß«, erwiderte Lucius, ohne die Direktorin der Akademie anzusehen. Er nippte stattdessen an dem Zorbia, das er trinken musste, seit er sich im Kristallfluss verletzt hatte.

Drei Tage war es her, dass sie aus der Auronenstadt Galene zurückgekehrt waren. Sein rechter Arm schmerzte immer noch. Erst hatte Nina, die einmal Eleonoras Freundin gewesen und jetzt mit dem Schatten verbündet war, ihn dort verwundet und dann ein Kristall aus dem unterirdischen Fluss im Auronenschloss. Aber der Schmerz war gut. Es bedeutete, dass es Hoffnung gab. Lucius trainierte jeden Tag bis zur Erschöpfung, um seine Muskulatur zu stärken. Doch er machte bei Weitem nicht die Fortschritte, die er wollte. Dazu hatte er nicht genug Zeit, denn er wollte in Eleonoras Nähe bleiben und sie beschützen.

Sein Blick wanderte zu Fyria, der ehemaligen obersten Aurone der Windkräfte. Sie stand dicht hinter Eleonora und hatte ebenfalls deren Schutz übernommen. In ihrem hellblauen Gehrock und mit den blonden, langen Haaren wirkte sie selbst eher wie eine Prinzessin als eine Kämpferin. Doch Lucius wusste längst, dass er die Aurone nicht unterschätzen sollte. Fyria war mächtig und sie wollte Eleonora helfen.

Er schob die Gedanken beiseite und stellte den mittlerweile leeren Becher mit dem Zorbia ab. Dann sah er sich im Raum um und ließ seine linke Hand zu dem Schwertgürtel an seiner Hüfte wandern.

Er war in der Lage, auch mit dem linken Arm zu kämpfen. Wirklich sicher fühlte er sich damit aber nicht, deswegen berührte er seine Waffe, um sich selbst zu beruhigen. Lucius würde das Schwert rechtzeitig ziehen können, falls etwas geschah. Er hoffte dennoch, dass es nicht nötig werden würde. Dieser Abend war wichtig. Also versuchte er, sich zu entspannen. Vermutlich sah er schon überall Gefahr, obwohl es keine gab.

Die Musik, die sich dezent im Hintergrund hielt, kam ihm vertraut vor, aber er hätte nicht sagen können, woher. Der Duft von Essen stieg ihm ebenso in die Nase wie das schwere Parfum mancher Damen, und doch konnte er unter all den Eindrücken einen Geruch genau wahrnehmen: jenen von Eleonora nach Wald und frischen Tannennadeln.

»Ihr sorgt Euch, dass sie dem Druck nicht standhält, nicht wahr?« Valeria flüsterte so leise, dass er sich konzentrieren musste, um sie zu verstehen.

»Ich weiß, dass sie dem Druck standhalten wird«, meinte Lucius ebenso leise. »Ich sorge mich aber um ihre Sicherheit. Mir ist von den Rittern meiner Burg berichtet worden, dass einige Menschen aus Erzstadt nicht gut finden, was die Akademie und Eleonora in den letzten Tagen getan haben. Sie sind der Meinung, dass wir den Magiern helfen, ihre Macht auszuweiten, weil der Angriff auf die Hauptstadt Lumeno nur eine List war.«

Valeria stieß den Atem aus. »Lasst mich raten, wer ihnen diese Idee in den Kopf gesetzt hat.«

Lucius wandte sich ihr zu, ein zynisches Lächeln auf den Lippen. »Ihr müsst nicht raten, wir beide kennen den Namen.«

Er sprach von Justus von Erzstadt. Der Ritter war dem Bürgermeister begegnet, aber er hatte gehört, wie er sich bei der Versammlung vor wenigen Monden benommen hatte. Von Verschwörung der Magier hatte er gesprochen und dass die Bedrohung durch den Schatten nur ihre Erfindung gewesen war. Viele Menschenstädte weigerten sich deswegen, im Kampf gegen den Schatten auf die Seite des Magierkönigs und Eleonoras zu treten.

Dabei hätten sie die Unterstützung der Menschen ebenso gebraucht wie jene der anderen Völker. Besonders, da Lumeno in Trümmern lag und viele Magier umgekommen waren. Die Auronen und die Lunara standen ihnen bei. Aber ohne den Zusammenhalt aller Völker würde es schwierig werden, einen weiteren Kampf gegen den Schatten auszufechten, wenn es dazu kam.

»Haben wir schon Nachricht aus Nives?«, fragte Lucius noch leiser.

Er wollte nicht riskieren, dass irgendjemand sie belauschte und ihre nächsten Schritte kannte.

»Leider nicht. Die Fürstin Elana von Dragonis hat ihre Brüder ausgeschickt, um die Elfen in Nives zu informieren und den ehemaligen Wächter dieses Volkes zu suchen. Aber bisher sind sie nicht zurückgekehrt oder haben sich auf andere Weise gemeldet.«

Lucius stieß den Atem aus. Zwei Tage waren die Prinzen bereits fort. So lange konnte es nicht dauern, den alten Wächter der Elfen ausfindig zu machen. Falls er überhaupt noch lebte … Er war die einzige Hoffnung, die sie hatten, um das Artefakt der Elfen vor dem Schatten aufzuspüren.

»Mit dem Hinweis der Auronen sind wir im Übrigen auch nicht wirklich weitergekommen«, fuhr Valeria fort und Lucius neigte seinen Kopf, um ihr besser zuhören zu können. »Niemand in Erzstadt, den wir befragt haben, scheint jemals etwas von dem König der Berge gehört zu haben. Und auch in unseren Archiven sind wir nicht fündig geworden.«

»Wenn dieser Name in einer Zeit gebräuchlich war, in der die Portale noch offen standen, wundert mich das nicht«, erwiderte Lucius und fixierte einen älteren Mann in aufwendiger Kleidung, der auf Eleonora zuschritt.

Etwas an ihm wirkte seltsam. Dunkel. Nicht menschlich. Der Mann verneigte sich vor Eleonora und legte eine Hand an seine Hüften, wo sich auch ein Schwert befand.

Lucius reagierte sofort, war mit zwei Schritten bei ihm und packte ihn am Handgelenk. Jetzt wusste er auch, was an ihm befremdlich wirkte.

»Was erlauben Sie sich!«, fuhr der Mann ihn an.

Sein Gesicht hatte sich rot wie ein reifer Apfel gefärbt, während er den Ritter anfunkelte.

»Ich fühle Schattenmagie an Euch«, verkündete Lucius.

Der Mann schnaubte, doch dann hob er seine Mundwinkel und begann zu lachen. Er legte den Kopf in den Nacken und schüttelte sich, wand sich im Griff des Ritters. Dabei veränderte sich sein Äußeres. Dunkle Rinnsale breiteten sich über seine Haut aus wie ein Spinnennetz und er verrenkte sein Handgelenk, um sich von Lucius loszureißen.

Aus den Augen war jegliches Leben gewichen, als er einen Schritt zurück machte und eine Schriftrolle herauszog. Mit zitternder Hand hielt er das hintere Ende umklammert und hob das Schriftstück, als wollte er Eleonora auffordern, es zu nehmen.

Die Musik war längst verstummt und alle Augen richteten sich auf den Mann, der offensichtlich dem Schatten zum Opfer gefallen war. Fyria hob ihre Hände und machte sich kampfbereit. Die Magier hingegen, die um Seratus standen, hielten sich zurück.

Erst da bemerkte Lucius, dass der Magierkönig selbst den Befehl dazu gab. Wieso griff er nicht ein?

»Mein Meister schickt dem Licht eine Botschaft«, krächzte der Mann, während er die Schriftrolle ein Stück höher hob.

Lucius sah ihn finster an.

Als Eleonora sich nicht rührte, sondern zu Lucius sah, der einen Arm schützend vor sie hielt, zischte die Kreatur: »Nimm es endlich, Elfenbalg!«

Die Haut des Mannes schmolz rund um die Schriftrolle wie Schnee in der Sonne. Die Flüssigkeit roch ätzend und brannte Löcher in den Boden, sobald sie diesen berührte.

Zitternd schritt der Mann auf Eleonora zu, an deren Fingerspitzen bereits Magie knisterte. Lucius zog das Schwert und baute sich vor Eleonora auf.

»Bleib, wo du bist, wenn dir dein Leben lieb ist«, fuhr der Ritter den Mann an.

Der verzog sein Gesicht zu einer grotesken Maske. »Welches Leben, Junge?«, fragte er und sank auf seine Knie.

Röchelnd kroch er weiter, die Schriftrolle immer noch umklammert.

Lucius sah sich unter den anderen Anwesenden um. Wut stieg in ihm auf, weil Seratus immer noch nicht den Befehl gab, Eleonora zu schützen. Immerhin würde Fyria eingreifen. Das beruhigte ihn.

»Wenn du mutig sein willst«, keuchte der Mann und hob sein Gesicht, oder vielmehr das, was davon noch erkennbar war. Denn die Haut dort war ebenso geschmolzen wie die an seiner Hand. Lucius schluckte gegen den Brechreiz an. »Dann nimm du die Rolle«, beendete der Mann den Satz und hielt sie dem Ritter hin.

Lucius stieß den Atem aus. Er steckte das Schwert weg und machte einen Schritt auf den Mann zu.

»Nicht!«, rief Valeria, aber es war zu spät.

Fauchend erhob sich, was von dem Körper des Mannes übrig war. Er schleuderte Lucius die Rolle entgegen und verspritzte dabei ätzende Flüssigkeit. Der Ritter krümmte seine Finger und ein Schild aus Lichtmagie erschien, groß genug, um sich und Eleonora hinter ihm damit abzuschirmen.

Fyria ließ einen Vortex entstehen und fing damit den beißenden Sprühnebel ab, bevor jemand verletzt wurde.

»Wachen!«, rief Seratus endlich.

Die Magier setzten sich in Bewegung, erschufen Seile aus Lichtmagie in ihren Händen und ließen sie auf den Angreifer zuschnellen. Der krümmte sich und sank leblos zu Boden, kaum, dass die Seile ihn trafen. Die Schriftrolle fiel aus seiner schlaffen Hand.

Lucius rang nach Atem und sah sich nach Eleonora um, die ihn kaum merklich am Arm berührte. Ihre Magie floss durch seinen Körper und er wusste, ohne ihre Hilfe hätte er den Schild nicht so schnell erschaffen können, obwohl er mittlerweile mit den Kräften vertraut war.

»Geht es dir gut?«, fragte sie ihn und fügte tadelnd hinzu: »Das war leichtsinnig. Er hätte dich töten können.«

»Lieber mich als dich«, erwiderte Lucius ernst. »Wie konnte dieses Ding hier hineingelangen?«

Sein Blick wanderte zu Valeria, Fyria und Seratus, die sich über die Überreste des Mannes beugten.

»Er war ein Mensch«, verkündete die rothaarige Direktorin mit belegter Stimme. »Und was auch immer ihn befallen hat, scheint schnell gewirkt zu haben. Denn bis zu dem Moment, in dem er zu Eleonora trat, habe ich keine Schattenmagie an ihm wahrgenommen.«

»Ich ebenfalls nicht«, fügte Seratus hinzu. »Und das beunruhigt mich mehr, als ich zugeben möchte. Aber genau aus dem Grund wollte ich so spät wie möglich eingreifen, um die Magie besser zu enttarnen. Es tut mir leid, dass ich euch damit in Gefahr gebracht habe.«

Im Saal begannen die Menschen zu tuscheln und die Worte ›Verschwörung‹ und ›Verrat‹ fielen immer wieder.

Eigentlich hätte dieses Treffen dazu dienen sollen, mehr über Erzstadt zu erfahren, Kontakte zu knüpfen und zu hoffen, dass die Menschen, die von dort geflüchtet waren, überzeugt werden konnten, zu helfen. Doch jetzt schienen sie noch misstrauischer zu sein.

»Bringt die Menschen bitte in ihre Unterkünfte«, sagte Seratus an die Magier gewandt und diese führten alle Anwesenden aus dem Raum, bevor sie die Türen schlossen.

Lucius war froh, dass jetzt neben Eleonora nur noch der Magierkönig, Fyria und die Direktorin hier waren. Die ängstlichen Blicke der Menschen hatten ihm einmal mehr bewiesen, dass sie noch nicht so weit waren, in den Kampf mit dem Schatten einzugreifen. Sie sollten nicht alles sehen und hören, was nun hier geschah.

»Wenn der Schatten solche Magie einsetzen kann«, flüsterte Eleonora, und Lucius sah sie an. Ihre grünen Augen wirkten dunkel, fast braun und er wusste, dass sie Angst hatte. »Dann ist er jetzt unglaublich mächtig.« Sie schluckte schwer. »Haben wir zu viel Zeit damit vergeudet, Informationen über Nives und Erzstadt zu sammeln? Hätten wir sofort aufbrechen und nach dem Artefakt und den Pigmentera suchen sollen?«

»Nein«, sagte der Ritter sanft und hob eine Hand.

Wie immer musste er sich davon abhalten, sie zu berühren. Er wollte ihr nahe sein, aber er achtete ihren Entschluss, erst Aestus zu befreien und anschließend zu klären, wie es wirklich um ihre Gefühle zu ihm stand. Leicht fiel ihm das nicht.

Zwischen Lucius und Eleonora gab es eine Verbindung, die sie zusammengeführt hatte, als der Ritter noch verflucht war. Er hatte immer gewusst, dass sie zusammengehörten. Aber der Schatten hatte Aestus in Eleonoras Leben gebracht und dafür gesorgt, dass sie ihr Herz auch an ihn verlor.

Mittlerweile hatten sie erkannt, dass viele Entscheidungen, die Eleonora getroffen hatte, durch den Schatten beeinflusst worden waren. Doch Eleonora fühlte sich dennoch schuldig, weil Aestus in der Schattenwelt gefangen war.

Deswegen drängte Lucius sie nicht dazu, zu ihren Gefühlen für ihn zu stehen. Es wäre ungerecht gewesen und er respektierte, dass sie nichts überstürzen wollte.

Also wischte er sich über den Nasenrücken, statt sie mit seiner Hand zu berühren, und räusperte sich.

»Wir haben getan, was am sinnvollsten war«, erklärte er entschlossen. »Blind in ein Gebiet zu reisen, das wir nicht kennen, und nach etwas zu suchen, ohne wirklich zu wissen, wonach genau, wäre leichtsinnig. Es würde uns vielleicht noch mehr Zeit kosten, als hier Nachforschungen anzustellen. Und außerdem hast du versucht, neue Verbündete zu finden. Das ist wichtig.«

»Aber bisher haben wir in den Büchern nichts über einen König der Berge oder das Volk der Pigmentera gefunden. Und was die Auronen wissen, haben sie mit uns geteilt, nur ist das nicht besonders viel gewesen.«

Lucius nickte nachdenklich. Das Volk der Pigmentera konnte Licht brechen und dadurch Portale öffnen oder schließen. Sie hüteten viele Geheimnisse und konnten ihnen vermutlich mehr über Niall, das fünfte Element, beibringen. Eleonora wollte sie finden, weil sie hoffte, mit ihnen Aestus retten zu können. Und weil sie jede Hilfe im Kampf gegen den Schatten brauchte, besonders, wenn die Magie tatsächlich ihr Licht verstärkte.

Aber die Auronen wussten nicht, wo sich die Pigmentera, die sich lange vor allen anderen Völkern aus der Menschenwelt zurückgezogen hatten, versteckten. Der einzige Hinweis, den es gab, war ein Ort namens ›König der Berge‹ und dass dieser wohl in der Nähe von Erzstadt, vermutlich jenseits des Erzgebirges, lag. Nur hatte noch nie jemand den Berg erklommen und war zurückgekehrt …

»Wir werden bestimmt noch etwas erfahren«, meinte er schließlich. »Und wenn nicht, dann haben wir zumindest genug Hinweise über mögliche Pfade den Berg hinauf erhalten. Mit etwas Glück finden Malfor und Trustan auch den alten Elfenwächter in Nives und wir können das Artefakt in Sicherheit bringen.«

»Ich bin nur unschlüssig, ob es bei uns wirklich sicher ist«, erwiderte sie leise.

»Was meinst du?«

Eleonora sah sich um, als würde sie nach jemandem Ausschau halten, dann trat sie näher an ihn heran. Sein Herz schlug schneller, als ihr Körper seinen berührte, und wieder kämpfte er den Impuls, seine Hände auf ihre Arme zu legen, nieder.

»Ich fühle mich beobachtet«, flüsterte sie nah an seinem Ohr. »Seit wir von den Auronen zurück sind, kommt es mir vor, als würde mich jemand überwachen.«

Lucius beugte seinen Kopf ein Stück. »Ich weiß, was du meinst. Mir geht es ganz genauso«, sagte er so leise wie möglich. »Seit wir zurück sind, habe ich ständig die Befürchtung, von jemandem belauscht zu werden.«

»Ich frage mich nur, warum mir der Schatten diese Schriftrolle zukommen lassen wollte«, murmelte Eleonora und sah das Pergament auf dem Boden an.

»Finden wir es heraus«, meinte Lucius und wollte darauf zugehen.

Eleonora griff nach seiner Hand und hielt ihn zurück. »Nicht, es könnte vergiftet sein oder einen Zauber in sich tragen, der dich verflucht.«

Er hob die Mundwinkel. »Dann wirst du meinen Fluch erneut lösen.«

Eleonora blieb ernst. »Lucius, bitte.«

Ihr Blick wanderte zu seinem rechten Arm. Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. Er wusste, dass sie sich schuldig fühlte, weil er verletzt worden war. Aber jedes Mal, wenn sie ihn mit diesem mitfühlenden Ausdruck betrachtete, kam er sich nutzlos vor, weil er nicht mehr richtig kämpfen konnte.

»Wir sollten uns die Schriftrolle dennoch ansehen«, meinte er und wandte sich von ihr ab.

»Aber …«

»Er hat recht«, mischte sich Fyria ein. »Wir sollten nachschauen. Ich kümmere mich darum.«

Die Aurone richtete sich auf und krümmte ihre Finger. Wind kam auf und hob das eingerollte Pergament hoch.

»Valeria, würdet Ihr bitte einen Schutzschild errichten?«, fragte Fyria.

Die Direktorin nickte und breitete die Arme aus. Ein strahlend heller Schild aus Magie umgab die Gruppe. Trotzdem rief Lucius die Kräfte, die er in sich fühlte, und machte sich bereit, sie einzusetzen.

Der Auronenstein direkt über seinem Herzen ließ Wärme durch seinen Körper strömen und Funken von Magie über seine Finger knistern. Vielleicht konnte er nicht richtig kämpfen, doch seine Kräfte wurden mächtiger.

Es kam ihm seltsam vor, aber … es fühlte sich erstaunlich gut an, diese Macht in sich zu tragen und sich darauf verlassen zu können.

»Dann finden wir heraus, was der Schatten uns mitteilen wollte«, murmelte Fyria und brach das Siegel.

Kapitel 3

 

Eleonora blickte gebannt auf das dunkle Pergament, das sich langsam entrollte. Sie konnte die Anspannung unter den wenigen Anwesenden spüren, ebenso wie Lucius’ Magie, die sich schützend um sie legte. Der Ritter wusste erst seit Kurzem von seinen Kräften und doch konnte er sie erstaunlich gut einsetzen. Sie war stolz auf ihn, weil es ihm intuitiv gelang, die Magie zu nutzen, und er täglich Fortschritte darin machte.

Das Papier öffnete sich, und Eleonora ließ den Atem entweichen, den sie die ganze Zeit über angehalten hatte. Das Pergament war vollkommen leer.

Fyria senkte ihre Hände und legte den Kopf schief. »Ich kann keinen Zauber daran fühlen, der ausgelöst werden muss, um den Inhalt preiszugeben«, meinte die Aurone.

Valeria löste ihre Magie und der Schutzschild verblasste. Sie machte einen Schritt auf die geöffnete, schwebende Schriftrolle zu und musterte sie. »Es sieht auch nicht so aus, als wäre etwas mit einer geheimen Tinte aufgemalt worden.«

»Wozu dann dieses Auftauchen des Menschen?«, fragte Seratus.

Eleonora betrachtete den Mann, der ihr die Schriftrolle hatte überreichen wollen. Ihr Magen zog sich bei seinem Anblick zusammen. Die Schattenmagie hatte schnell gewirkt. Von einem Moment auf den anderen hatte der Mann sich verwandelt und seinen Willen verloren.

Wie war Raksha das gelungen? Eleonora hätte die Anwesenheit von Nina doch bemerken müssen, sollte jene diesen Fluch gewirkt haben. Oder wer auch immer von Raksha geschickt worden war, um diesen Zauber auszusprechen. Aber Eleonora hatte die Magie erst wahrgenommen, als der Mann sich direkt vor ihr veränderte.

Ihr Blick wanderte zu Lucius, der die Schriftrolle anstarrte. Er hatte es vor ihr gefühlt. Schließlich stellte er sich schützend vor sie, bevor sie überhaupt bemerkte, was los war.

»Das frage ich mich auch«, murmelte Fyria. »Vielleicht wollte Raksha uns seine Macht demonstrieren und uns damit einschüchtern.«

Seratus atmete geräuschvoll aus. »Er hat Lumeno trotz der Anwesenheit unzähliger Magier in Schutt und Asche gelegt. Wir wissen mittlerweile, wie mächtig er ist.«

Eleonora rieb sich über die Arme. Sie konnte den Anblick des brennenden Magierschlosses nicht vergessen. Oder die vielen Toten, die in den Straßen von Lumeno gelegen hatten. Der Schatten hatte das Volk der Magier tief getroffen. Und dort würde er nicht Halt machen.

»Vielleicht wollte er einfach verhindern, dass wir uns mit den Menschen von Erzstadt austauschen«, überlegte sie laut und biss sich auf die Unterlippe, da alle Blicke mit einem Mal auf ihr ruhten. »Möglicherweise fürchtet er, dass wir etwas herausfinden, das uns helfen könnte.«

»Er hat jedenfalls geschafft, dass die Menschen sich fürchten«, meinte Fyria. »Wer weiß, ob sie noch einmal mit uns reden wollen.«

»Das werden sie«, sagte Lucius entschlossen. »Ich bitte sie in die Burg und versuche, dort mit ihnen zu reden.«

»Hm«, machte Valeria und rang sich ein Lächeln ab. »Ich denke, das ist eine gute Idee. Ihr seid ein Mensch und vermutlich für die ehemaligen Bewohner von Erzstadt weniger angsteinflößend als Magier und Auronen.« Sie wandte sich Seratus zu. »Wie denkt Ihr darüber, Sire?«

»Ich bin einverstanden«, meinte der König. »Nach dem heutigen Abend ist es vielleicht wirklich am besten so.«

Lucius neigte seinen Kopf. »Dann werde ich die Menschen in den nächsten Tagen zu einem Gespräch bitten. Sie sollten nur genug Zeit haben, sich von den Geschehnissen dieses Abends zu erholen.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Seratus und hob die Mundwinkel. »Ihr seid ein wahrer Anführer, Sir Lucius. Wenn diese Kämpfe vorbei sind, hoffe ich, Euch für meinen Rat zu gewinnen.«

Eleonora schluckte schwer. Lucius war kein Magier. Die Kräfte, die er in sich trug, hatte er von Eleonora erhalten, als sie beide Kinder waren. Aber vermutlich waren viele Ratsmitglieder der Magier in dem Kampf umgekommen und Seratus brauchte jemanden, auf den er sich verlassen konnte.

Ihre Gedanken schweiften einen Moment zu ihrem Vater Lordor. Er war ebenfalls Mitglied im Rat des Königs. Allerdings hatte der Schatten ihn bei einem Kampf auf der Lunara-Insel verwundet und Lordor dadurch seine magischen Kräfte eingebüßt. Dano, Eleonoras Großvater, hatte seine Unsterblichkeit gegeben, um seinen Sohn zu retten. Und jetzt litten beide an den Folgen, auch, wenn sie es nicht zugeben wollten.

»Euer Angebot ehrt mich, Hoheit«, sagte Lucius und brachte Eleonoras Aufmerksamkeit damit wieder zurück. »Aber mein Platz ist hier.«

Sie hob den Kopf, bis ihre Blicke sich trafen. Wärme breitete sich in Eleonoras Brust aus.

Hatte Lucius gemeint, dass sein Platz an ihrer Seite war? Oder sprach er von der Burg Ravenport, deren Herr er war?

Sie wusste es nicht sicher, aber an der Art, wie er sie ansah, meinte sie, die Antwort zu erraten.

Ihr Herz schlug schneller und im selben Moment spürte sie einen bitteren Schmerz. Eleonora gab sich die Schuld für das, was Aestus widerfahren war. Sie hatte das Gefühl, als würde sie ihn verraten und aufgeben, wenn sie jetzt zu ihrer Zuneigung zu Lucius stand.

Deswegen wollte sie zuerst ihre Freunde, Aestus und Nina, aus den Fängen des Schattens befreien und diesen Kampf ein für alle Mal beenden. Dann würde sie einen Weg finden, mit Lucius zusammen zu sein, der sich richtig anfühlte.

Der Ritter wandte sich den beiden Magiern und Fyria zu. »Wenn Ihr erlaubt, begleite ich Eleonora jetzt zu ihren Räumlichkeiten.«

Seratus nickte. »Da wir heute keine Gespräche mehr führen werden und die Schriftrolle uns nicht wirklich weiterhilft …«

»Ich untersuche sie dennoch«, unterbrach Fyria den König. »Graies altes Labor hinter der Küche ist ein sicherer Ort für die Schriftrolle, falls wir doch einen Zauber übersehen haben sollten. Vielleicht steckt etwas in dem Pergament, das wichtig wäre.«

»Sei vorsichtig«, sagte Eleonora viel zu ängstlich. Aber sie hatte in den letzten Tagen so viele Personen sterben sehen.

Conlaed, der Gefährte ihrer Großtante Ignia, die jetzt die Königin der Auronen war, war im Kampf gegen den Schatten gefallen. Ebenso zwei Wächter. Sie hätte beinahe ihre Großmutter Sarina verloren. Und ihr Vater war dem Tod auch nur knapp entronnen.

Der Schatten hatte die Insel der Lunara verwüstet und viele Opfer gefordert. Und er hatte Lumeno zerstört. Nein, Eleonora wollte nicht noch jemanden wegen des Schattens verlieren.

»Mach dir um mich keine Sorgen«, entgegnete Fyria mit einem sanften Lächeln. »Ich bin vorsichtig. Besonders, wenn es um Schattenmagie geht.«

»Trotzdem«, murmelte Eleonora.

Fyria schritt auf sie zu und legte die Hände auf deren Schultern. »Mir wird nichts geschehen. Und zum Beweis komme ich morgen zu dir und wir frühstücken zusammen.« Die Aurone zwinkerte. »Ich werde auch etwas anderes als Süßigkeiten mitbringen. Aber das elfische Frühstück deiner Mutter muss ich doch ablehnen.«

Eleonora rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin sicher, wir finden etwas anderes für dich.«

Fyria nickte und wandte sich Lucius zu. »Ich vertraue sie dir an.«

Wieder neigte der Ritter seinen Kopf und verabschiedete sich dann von den beiden Magiern. Auch Eleonora wünschte ihnen eine gute Nacht und verließ gemeinsam mit Lucius den Saal.

Kaum waren die Türen hinter ihnen geschlossen, atmete Eleonora auf. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte an die dunkle Decke des Schulkorridors.

Sie zuckte leicht zusammen, als Lucius ihr seinen Umhang um die Schultern legte. Sie musste ihm helfen, weil er den rechten Arm kaum benutzen konnte.

Wieder nagten Schuldgefühle an ihr. Lucius war ihretwegen so schwer verletzt worden. Wo auch immer sie hinging, andere wurden verletzt oder starben. Weil der Schatten ihr schaden wollte und ihre Freunde und Familie sie beschützten und deswegen litten.

Sie wandte sich zu ihm um und musterte ihn. Er legte den Kopf schief.

»Du hast ausgesehen, als wäre dir kalt«, erklärte er. »Entschuldige, falls ich dir den Umhang nicht hätte geben sollen.«

Eleonora blinzelte. »Das ist sehr nett von dir«, sagte sie leise.

»Warum siehst du mich dann so verlegen an?«

Sie konnte nicht verhindern, noch einmal auf seinen Arm zu schauen. Lucius stieß den Atem aus.

»Ich werde lernen, mit meinem linken Arm geschickter zu sein«, meinte er. »Mir ist bewusst, dass ich mich etwas tollpatschig angestellt habe. Wenn ich dich also irgendwie unsittlich berührt haben sollte …«

»Lucius«, unterbrach sie ihn mit brüchiger Stimme. »Du hast nichts falsch gemacht.«

Er zog die Augenbrauen zusammen. Eleonora ertrug es fast nicht, ihm in die dunkelblauen Augen zu sehen. Sie hatte ihm erzählt, wie schuldig sie sich auch seinetwegen fühlte. Lucius war immer verständnisvoll gewesen. Aber deswegen plagten sie die Vorwürfe, die sie sich selbst machte, nicht weniger.

»Danke für den Umhang«, rang sie sich ab und wandte sich dem Fenster zu.

Trotz der nächtlichen Dunkelheit erkannte sie, dass es wieder zu schneien begonnen hatte. Zwar fiel der Schnee nicht so stark wie vor ihrem Aufbruch nach Aquaris, aber die Wege waren dennoch kniehoch mit der weißen Pracht überzogen.

Das war einer der Gründe, warum sämtliche Schüler und Lehrer in der Akademie untergebracht worden waren. Ein anderer war, dass man dieses Gebäude am besten verteidigen konnte, wie sich bei dem letzten Angriff des Schattens bewiesen hatte. Zwar waren die Schäden an allen Häusern ebenso beseitigt worden wie jene an der Akademie selbst. Aber sie alle wussten noch genau, was hier geschehen war. Deswegen war das Schulgebäude das sicherste, besonders, wenn alle hier versammelt waren und es gemeinsam beschützten.

»Vielleicht solltest du heute nicht zur Burg zurückkehren«, sprach Eleonora ihren Gedanken aus, ehe sie sich davon abhalten konnte.

»Der Schnee stört mich nicht«, entgegnete Lucius mit seiner tiefen Stimme, die eine Gänsehaut auf Eleonoras Körper auslöste.

Sie drehte sich wieder zu ihm um. Er musterte sie mit ernstem Blick. Alles in ihr wollte zu ihm. Sie wollte nur einmal ihre Arme um ihn legen und seine Wärme fühlen. Nur einmal von ihm gehalten werden. Lucius schenkte ihr eine Kraft, die sie beinahe verloren geglaubt hatte.

Doch wenn sie diese Nähe zuließ, würde sie es sein, die mehr davon wollte. Und so sehr sie es sich wünschte, wusste sie genau, dass sie die Gefühle, die sie jetzt schon für den Ritter empfand, noch nicht offen zeigen durfte.

»Ich mache mir auch Sorgen um dich«, sagte sie. »Der Weg zur Burg ist vielleicht nicht weit. Aber falls der Schatten dich angreifen will …«

»Du vergisst, dass ich seine Magie fühlen kann«, warf er ein. »Und im Moment spüre ich sie nicht.«

»Jene Kräfte, die diesen armen Mann aus Erzstadt umgebracht haben, hast du auch erst sehr spät gespürt«, entgegnete sie aufgebrachter, als sie vorgehabt hatte. »Was, wenn du es nicht rechtzeitig bemerkst? Meinetwegen hast du bereits deinen Arm eingebüßt …«

»Ich habe ihn nicht verloren«, unterbrach er sie.

»Ja, aber wenn es mich nicht gäbe, wärst du nicht verletzt worden.«

Tränen brannten in ihren Augen und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Sie wollte nicht weinen. Aber das Gewicht der Schuld, die auf ihr lastete, schien jeden Tag schwerer zu werden.

Es fiel ihr alles andere als leicht, darüber zu reden. Doch sie musste Lucius anvertrauen, wie es in ihr aussah.

»Eleonora«, sagte Lucius sanft und verringerte die Entfernung zwischen ihnen. »Was redest du da?«

Er hob seine Hand an ihre Wange und strich zärtlich darüber. Sie hielt den Atem an und versank im dunklen Blau seiner Augen. Dort, wo Lucius sie berührte, prickelte die Magie zwischen ihnen. Und seine Wärme tat ihr so unendlich gut. Sie hatte nicht erwartet, dass sie sich so nach ihm sehnte. Da war es wieder, dieses Gefühl, das nur er ihr geben konnte. Lucius verstand sie. Er tadelte sie nicht, sondern suchte mit ihr nach Lösungen.

»Wenn es dich nicht gäbe, würde ich noch heute in einer Ruine, die um mich zerfällt, sitzen und mit meinem Schicksal hadern«, sprach er leise weiter. »Ich wäre immer noch durch einen Fluch an eine verwunschene Burg gebunden und könnte nichts tun, um die Welt, in der ich eigentlich leben möchte, zu retten.«

Er lächelte und ihr Herz schlug höher. Lucius wirkte mit seinem kantigen Gesicht und dem strengen Blick manchmal etwas respektgebietend. Aber wenn er lächelte, schmolz die Kälte, die ihn oft umgab, dahin, und sie erkannte, was für ein gutes Herz er doch besaß.

»Ich bereue nichts von dem, was geschehen ist«, erklärte er. »Weil ich jeden Moment mit dir schätze und ihn für nichts in der Welt eintauschen möchte.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Worte wären dem, was sie empfand, nie gerecht geworden.

Also stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte einen flüchtigen Kuss auf seine Lippen. Lucius schloss die Augen und Eleonora legte ihre Arme um seine Taille, um sich näher an ihn zu ziehen. Sie wollte den Kuss nicht beenden und doch zog sie sich nach einem Atemzug zurück und seufzte.

Vielleicht hätte sie das nicht tun dürfen. Aber dieser kurze Moment war alles, wonach sie sich gesehnt hatte.

Lucius legte seine Stirn an ihre. Viel zu schnell machte er einen Schritt zurück und hielt ihr seine Hand hin. Wortlos ergriff Eleonora sie und ging neben Lucius durch die verwaisten Gänge der Akademie.

Erst an der großen Treppe, die in den Hauptteil des Schulgebäudes führte, trafen sie auf andere Personen.

Die Lunara, die ihre eigene Welt verlassen hatten, um zu helfen, die magischen Linien zu retten, hatten angeboten, sie zur Akademie zu begleiten. Anders als jene Lunara, die schon seit vielen Generationen hier lebten, waren sie frostige Temperaturen gewöhnt. Deswegen störte der Winter sie nicht.

Die meisten Lunara von der Insel waren in Aquaris geblieben. Nur Sarina und Hector waren mit Eleonora gekommen. Sie standen jetzt mit Wyn, einem etwas brummigen Lunara, und ein paar Magiern in der großen Halle und bereiteten sich auf die Nachtwache vor.

Als Sarina sie entdeckte, lief sie auf Eleonora zu. »Geht es euch gut?«, fragte sie atemlos. »Ich habe von den Menschen gehört, was geschehen ist. Seid ihr verletzt worden, oder …«

»Uns ist nichts geschehen«, sagte Eleonora schnell und erzählte, was genau sich zugetragen hatte. »Fyria will die Schriftrolle untersuchen«, beendete sie ihre Ausführungen.

»Vielleicht biete ich ihr meine Hilfe an«, überlegte Sarina laut und sah über ihre Schulter zurück zu den anderen. »Dieser Wyn scheint mich ohnehin loswerden zu wollen. Er meint, ich sei zu menschlich.«

Eleonora riskierte einen Blick auf die Lunara. Sie waren deutlich größer als die Magier und ihre Haut sonnengebräunt, während ihre Haare weiß wie Schnee waren und die Augen so hell wie der wolkenlose Frühlingshimmel. Es hieß, Lunara besaßen kaum Gefühle. Für die meisten traf das vermutlich zu, für Sarina, Eleonoras Großmutter, jedoch nicht. Es wunderte Eleonora also nicht, dass Wyn mit Sarina nicht wirklich zurechtkam. Immerhin war der Lunara alles andere als emotional.

»Sie ist noch im Bankettsaal«, sagte Eleonora. »Ich bin sicher, sie freut sich über deine Hilfe.«

»Gut, dann muss ich das nur mit Wyn klären«, murmelte Sarina und seufzte. »Wünscht mir Glück.«

»Viel Glück«, sagten Eleonora und Lucius.

Sarina ging die Treppe wieder hinunter und begann, mit Wyn zu sprechen. Lucius führte Eleonora inzwischen zu dem Aufgang in die oberen Stockwerke, wo die Schüler untergebracht waren.

Für gewöhnlich teilten sich drei bis vier Schüler ein Zimmer. Nur Eleonora hatte einen Raum für sich allein.

Sie ließ die Schultern sinken. Früher hatte sie sich eine Unterkunft mit Daphne und Nina geteilt. Aber Nina war zum Schatten übergelaufen, weil sie sich von ihren Freunden verraten gefühlt hatte. Und Daphne suchte nach wie vor in Lumeno nach ihrer Mutter.

»Hast du etwas Neues von Daphne gehört?«, wollte Lucius wissen, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Eleonora verneinte. »Seit gestern nicht mehr«, antwortete sie. »Bisher haben sie ihre Mutter nicht gefunden. Aber sie meinte in ihrer letzten Nachricht, dass sie die Hoffnung noch nicht aufgibt. Sie will in den unterirdischen Tunneln suchen, die man in Lumeno angelegt hat. Dort könnten sich einige Magier versteckt haben. Vielleicht wissen sie noch nicht, dass der Kampf zu Ende ist.«

»Ich hoffe sehr, dass Daphne bald ihre Mutter findet«, meinte Lucius.

»Ich auch. Diese Sorge muss sie um den Verstand bringen.« Eleonora atmete geräuschvoll aus. »Außerdem fehlt sie mir.«

Lucius drückte ihre Hand. Er sagte nichts mehr, aber sie wusste, dass er sie auch jetzt verstand. Daphne war manchmal schnippisch und etwas aufbrausend. Aber Eleonora liebte sie wie eine Schwester. Sie hätte gern mit ihr über alles gesprochen. Hoffentlich würde Daphne sie begleiten, wenn sie nach Nives aufbrachen. Wann auch immer das sein würde.

Vor ihrer Tür angekommen, blieb Lucius stehen. Allerdings ließ er ihre Hand nicht los, sondern strich mit dem Daumen darüber.

»Ich halte hier Wache, bis der Tag anbricht«, sagte er.

»Das musst du nicht«, erwiderte sie. »Die Magier schützen die Akademie. Deswegen wäre es mir lieber, du würdest bleiben. Hier bist du sicher.«

Er schmunzelte. »Ich sagte schon, du musst dich nicht um mich sorgen. In der Burg kann mir auch nichts geschehen.«

»Trotzdem«, murmelte sie. »Ich hätte ein besseres Gefühl, wenn du hier wärst.«

Lucius bewegte sich ein Stück auf sie zu. Eleonora schmiegte sich an ihn.

»Ich war nur schon so lange fort«, sagte er leise. »Und wie es aussieht, werden wir bald wieder aufbrechen. Ravenport ist für die Sicherheit der Akademie zuständig. Ich muss mich darum kümmern, dass die Ritter wissen, was zu tun ist, falls es zum Angriff kommt.«

»Das verstehe ich«, erwiderte sie heiser. »Aber die Nacht ist längst angebrochen. Heute kannst du ohnehin nichts mehr machen.«

Er lachte leise. »Doch, es gibt noch genug zu tun, selbst bei Nacht.«

Sie löste sich von ihm und sah auf. Das Schmunzeln auf seinen Lippen verblasste und er wurde ernst.

»Außerdem gibt es kein Zimmer für mich«, brachte er vor.

»Du wolltest gerade vor meiner Tür Wache halten«, warf sie ein. »Die Ausrede lasse ich also nicht gelten. Wenn du nicht schlafen willst, gibt es die Bibliothek, in die wir gehen könnten …«

»Wir?«, unterbrach er sie.

»Glaubst du, ich lasse dich allein?«, hakte sie nach.

»Und wenn ich schlafen wollen würde?«, fragte er ernst.

»Es stehen vier Betten in meinem Zimmer«, meinte sie.

Die magischen Lichter spendeten hier nur schwaches Licht. Trotzdem konnte sie erkennen, wie sich seine Wangen färbten.

»Ja, aber wir wären im selben Zimmer …«

»Darf ich dich daran erinnern, dass wir bei den Auronen sogar im selben Bett geschlafen haben?«

»Das war eine Ausnahme«, entgegnete er und räusperte sich.

Eleonora seufzte. Lucius hatte immer auf sie aufgepasst. Und als er verletzt worden war und durch die Magie des Kristallflusses fror, hatte sie sich zu ihm gelegt und ihn gewärmt.

»Ich will dich zu nichts überreden«, sagte sie. »Aber ich würde mich besser fühlen, wenn du hier wärst, bis der Tag anbricht.«

»Eigentlich müsste ich dich wirklich beschützen.« Lucius presste seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Gut, ich bleibe.«

Ihr fiel eine schwere Last vom Herzen. In der Akademie würde der Schatten nicht so leicht an ihn herankommen wie auf dem verschneiten, nächtlichen Weg zur Burg.

»Danke«, wisperte sie und drückte seine Hand.

»Zieh dich bitte um«, entgegnete er und löste sich von ihr. »Ich werde inzwischen eine Nachricht schreiben, damit die Ritter nicht nach mir suchen.«

Eleonora nickte und verschwand in ihrem Zimmer. Sie schlüpfte aus dem Kleid und zog sich ihre Schlafkleidung an. Dann bürstete sie ihre Haare, damit Lucius genug Zeit für seine Nachricht hatte, bevor sie ihn holen ging.

Er folgte ihr in den Raum und ließ sich auf einem Bett nieder. Eleonora setzte sich auf ihr Nachtlager und musterte Lucius, der sich die Stiefel auszog und das Schwert ablegte. Er wollte es sich wahrscheinlich nicht anmerken lassen, aber selbst das fiel ihm mit nur einer Hand sichtlich schwer.

Eleonora stand auf und gab ihm den Umhang zurück, den er um ihre Schultern gelegt hatte. Lucius nahm ihn entgegen und betrachtete sie einen Moment.

»Möchtest du morgen zur Burg kommen und ein wenig mit dem Schwert üben?«, fragte er schließlich.

Sie lächelte. »Ja, das würde ich gern.« Eleonora hielt inne. »Oh, aber morgen wollte Duno vorbeikommen. Er wollte mir helfen, Niall besser zu verstehen.«

»Bring ihn mit«, schlug Lucius vor. »Ich könnte auch ein wenig Unterricht in Magie gebrauchen.«

Eleonora ließ sich neben ihm auf der Matratze nieder und lehnte sich an ihn. Lucius hätte vermutlich den Arm gehoben, wenn sie nicht auf seiner rechten Seite gesessen hätte.

»In Ordnung, ich bringe Duno mit«, meinte sie und griff nach seiner Hand.

Die Haut fühlte sich eiskalt an. Eleonora war sich nicht sicher, ob Lucius überhaupt etwas mit seinen Fingern spürte oder sie bewegen konnte.

»Es ist gut«, murmelte er und seine Lippen streiften ihre Schläfe. »Mach dir bitte keine Vorwürfe.«

Sie nickte nur und schmiegte sich an ihn. Allerdings sagte es sich leichter, als es war. Eleonora musste einen Weg finden, wie sie Lucius helfen konnte. Und sie würde bis dahin nicht aufgeben. Genauso wenig, wie sie Aestus und Nina je aufgeben würde.

Kapitel 4

 

Eleonora hatte nicht bemerkt, dass sie eingeschlafen war. Das Letzte, das sie wusste, war, dass sie neben Lucius gesessen und sich an ihn gelehnt hatte. Jetzt lag sie auf ihrem Bett und durch die Vorhänge drang das erste Licht des Tages.

Sie drehte ihren Kopf und atmete auf, als sie Lucius auf einem der anderen Betten entdeckte.

Er ruhte auf dem Rücken, hielt mit der linken Hand seinen rechten Arm und blickte an die Decke.

»Guten Morgen«, murmelte Eleonora.

Beim Klang ihrer Stimme wandte er sich ihr zu. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

»Guten Morgen«, erwiderte er. »Es ist noch früh.«

»Und doch bist du wach«, hielt sie dagegen.

Er zuckte mit den Schultern. »Du weißt, dass ich immer noch nicht wirklich viel schlafe.«

Lucius hatte während seines Fluchs keinen Hunger oder Müdigkeit verspürt. Valeria hatte vermutet, dass Lucius auch jetzt, nachdem der Bann gebrochen war, nicht wirklich wie ein Mensch lebte. Auch Dano hatte so etwas angedeutet. Lucius schien etwas zwischen einem Menschen und einem unsterblichen Wesen zu sein. Und die Magie, die er wegen Eleonora in sich trug, wurde auch mit jedem Tag stärker.

»Ein Goldstück für deine Gedanken«, sagte Lucius und setzte sich auf.

Er rieb sich über den verwundeten Arm und streckte sich.

»Bist du sicher, dass du hören willst, was mir im Kopf herumspukt?«, hakte Eleonora nach und rang sich ein Lächeln ab.

Lucius erwiderte es nicht. »Natürlich möchte ich wissen, worüber du nachdenkst.«

Auch Eleonora richtete sich auf und zog ihre Decke glatt, weil sie Lucius dann nicht ansehen musste. »Du hast nur selbst so viel, worum du dich kümmern musst. Und ich drehe mich mit meinen Gedanken ständig im Kreis.«

Ihre Matratze gab ein wenig nach, als Lucius sich neben Eleonora niederließ. Er griff nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Rede trotzdem mit mir«, sagte er leise. »Wenn du deine Sorgen für dich behältst, wird es nicht einfacher. Und ich möchte für dich da sein.«

Eleonora holte tief Luft. »Ich mache mir Sorgen um Daphne, Nina und Aestus«, begann sie. »Genauso wie um meinen Vater und Großvater. Und um dich.« Lucius hob eine Augenbraue, unterbrach sie aber nicht. »Ich denke ständig an die Pigmentera und den König der Berge. Und ich frage mich, wie wir das Elfenartefakt finden sollen, wenn der alte Elfenwächter nicht mehr am Leben ist. Ich habe immer das Gefühl, dass wir zu spät kommen könnten. Und dann ist da noch die Bedrohung durch den Schatten. Dass er uns gestern so nah gekommen ist, ohne dass jemand es bemerkt hat, macht mir Angst.«

Lucius strich über ihren Handrücken. »Der Schatten kann nicht aus dem Kristall entkommen, solange er nicht alle Artefakte hat«, sagte er ruhig. »Jenes der Lunara ist in deinem Besitz und er kann es nicht an sich bringen, ohne dass wir es mitbekommen. Zumindest darüber musst du dir keine Gedanken machen.«

»Ja, das schon«, murmelte sie. »Aber je länger wir hier sitzen und nichts tun, umso mehr fürchte ich, dass wir zu spät kommen werden. Lapidia hatte viel Zeit, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Was, wenn sie längst weiß, wie sie den König der Berge erklimmen kann und was sie tun muss?«

Die ehemalige Königin der Auronen hatte sich vor vielen Menschengenerationen in den Schatten verliebt. Obwohl er sie hintergangen und schwer verletzt hatte, liebte sie ihn immer noch und war sogar bereit gewesen, ihr eigenes Volk zu verraten, um Raksha zu befreien. Sie war geflohen, als Eleonora und die fünf Obersten der Elemente sie stellen wollten, und es war ihr gemeinsam mit dem Wächter der Auronen gelungen, den Schattenkristall zu stehlen. Allerdings konnte sie ihn nicht öffnen und den Schatten befreien. Zumindest nicht ohne die fünf Artefakte. Oder die Hilfe der Pigmentera.

»Wenn sie gewusst hätte, wie sie zu den Pigmentera kommt … meinst du nicht, sie hätte dieses Volk längst aufgesucht und gezwungen, ihr zu helfen?«, warf Lucius ein.

Eleonora musterte ihn. »Vermutlich«, gab sie zu.

Lucius schmunzelte. »Sie wird uns nicht zuvorkommen. Zumindest nicht bei diesem Rätsel. Und falls Seratus uns nicht bald auffordert, nach Nives zu reisen, sollten wir ihn darum bitten. Ich stimme dir zu, dass wir hier nicht mehr viel ausrichten können. Was wir tun konnten, haben wir versucht. Morgen werde ich noch um ein Gespräch mit den Menschen aus Erzstadt nachsuchen. Und danach sollten wir aufbrechen.« Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. »Wir sollten nur überlegen, wen wir bitten, uns zu begleiten.«

Eleonora legte den Kopf schief. »Wen würdest du denn auf diese Mission mitnehmen?«

»Die Frage ist eher, wer dazu bereit ist«, entgegnete Lucius. »Daphne und Cerim sind vielleicht nicht rechtzeitig aus Lumeno zurück. In dem Fall ist es unwahrscheinlich, dass sie zu uns stoßen werden, wenn wir in Nives sind oder nach Erzberg aufbrechen.«

Eleonora nickte. Sie wollte ungern auf die beiden Magier verzichten, aber sie verstand, dass Daphne ihre Mutter suchte und Cerim sie nicht allein ließ.

»Seratus würde uns vermutlich begleiten«, fuhr der Ritter fort. »Aber da Lumeno in Trümmern liegt, wird er nicht auf eine Reise gehen können, bei der ungewiss ist, wie lange er fort sein wird. Die Magier brauchen ihn. So sehr ich Dano und Lordor schätze, denke ich, dass die beiden ebenfalls ungern an dieser Reise teilnehmen möchten.«

Wieder stimmte Eleonora schweigend zu. Dano kämpfte immer noch damit, sterblich zu sein, und Lordor mit dem Verlust seiner Kräfte. Beide würden sie mit Sicherheit begleiten, wenn Eleonora sie darum bäte. Aber diese Reise war anders als jene ins Reich der Auronen. Sie wussten nicht, was sie erwartete.

»Damit blieben Fyria, Valeria und die Lunara«, schloss Lucius und atmete geräuschvoll aus. »Abgesehen von Valeria besitzt niemand wirklich offensive Kampfkräfte. Aber Fyria ist weise und die Lunara sind gute Kämpfer. Hector und Sarina würden uns bestimmt begleiten. Und ich würde Wyn mitnehmen.«

»Wyn?«, fragte Eleonora überrascht.

Der Krieger stammte aus der Welt der Lunara. Im Gegensatz zu Hector und Sarina war er eher ruppig und meist einsilbig.

»Er ist ein überragender Kämpfer«, erklärte Lucius. »Ich habe beobachtet, wie er den Magiern Angriffe beigebracht hat. Er ist schnell und seine Attacken sind präzise. Ich bin sicher, er würde uns helfen, wenn wir ihn fragen.«

»In Ordnung«, murmelte Eleonora. »Vielleicht können wir auch die Auronen um zusätzliche Unterstützung ersuchen.«

Sie schluckte. Am liebsten hätte sie Ignia und Scio gebeten, sie zu begleiten. Aber Ignia war jetzt die Königin der Auronen und Scio ein Oberster. Fyria konnte nur bei ihnen sein, weil sie die Pflichten der Obersten Windaurone abgelegt hatte.

»Ja, es wäre eine Überlegung wert«, meinte Lucius und strich wieder über ihren Handrücken. »Möglicherweise können uns auch ein paar Magier begleiten. Je mehr offensive Kräfte wir bei uns haben, umso sicherer sind wir.«

Eleonora rückte näher an ihn heran. »So lange du bei mir bist, fühle ich mich immer sicher.« Lucius’ Augen weiteten sich. Eleonora räusperte sich. »Ist es unverschämt, wenn ich dich bitte, mit mir zu kommen?«

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich habe es gestern ernst gemeint. Mein Platz ist an deiner Seite. Und wenn dein Weg dich bis ans Ende der Welt führt, werde ich ihn mit dir gehen.«

Ihr Herz begann zu rasen. »In dem Fall werden wir wirklich bis ans Ende der Welt gehen«, sagte sie atemlos. »Und vielleicht stehen wir dann auf dem Gipfel des Erzgebirges und blicken in einen endlosen schwarzen Abgrund.«

»Dann wirst du ihn mit deinem Licht erhellen.« Lucius neigte sich nach vorn, bis seine Stirn ihre berührte. Seine Lippen strichen so zart wie Schmetterlingsflügel über Eleonoras. »Ich glaube an dich. An dich und dein Licht.«