Die Wespe - Bernd Storz - E-Book

Die Wespe E-Book

Bernd Storz

0,0

Beschreibung

San Francisco im Winter. Eigentlich dürfte LKA-Kommissarin Francesca Molinari in den USA gar nicht ermitteln. Sie ist erschöpft. Alle Spuren verloren sich im Netz der Organisierten Kriminalität, das bis ins Ermstal reicht. Monate davor bei ElringKlinger in Dettingen an der Erms. In einem unterirdischen Gang des weltweit agierenden Automobilzulieferers wird ein Mitglied des Reinigungstrupps tot aufgefunden. Firmenintern stand er unter Verdacht, aus dem Labor eine Liste entwendet zu haben. Als noch nach seinem Tod Unbekannte Angriffe auf sensible Daten der Entwicklungsabteilung starten, ist für die Ermittler klar, dass sie es mit Industriespionage zu tun haben. Wenn der bisher unbescholtene Hellmuth Michaelis im Auftrag einer Organisation unterwegs war – warum musste er sterben? Und warum ist sein Sohn Lukas verschwunden? Auf verschlungenen Pfaden rückt Francesca mit ihrem bewährten Kollegen Tomislav Özcan immer näher an die Hintermänner heran. Und doch scheinen die Ermittlungen letztlich vergebens. Da spielt Francesca auf der Golden Gate Bridge jemand einen letzten Trumpf zu.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 362

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Mord bei der Firma ElringKlinger in Dettingen an der Erms: In einem unterirdischen Gang des weltweit agierenden Automobilzulieferers wird ein Reinigungsmann tot aufgefunden. Firmenintern stand er unter Verdacht, aus dem Labor eine Liste entwendet zu haben. Als Unbekannte noch nach seinem Tod Angriffe auf sensible Daten der Entwicklungsabteilung starten, ist für die LKA-Ermittler, Francesca Molinari und ihren türkisch-kroatisch-deutschen Kollegen Tomislav Özcan, klar, dass sie es mit Industriespionage zu tun haben.

Wenn der bisher unbescholtene Hellmuth Michaelis im Auftrag einer Organisation unterwegs war – warum musste er sterben? Und warum ist sein erwachsener Sohn Lukas, mit dem er gerade noch eine Albwanderung unternommen hatte, verschwunden?

Während zu Hause ihre Familie über Weihnachten auf sie verzichten muss und sich ihre sechzehnjährige Tochter Lisa in der Flüchtlingshilfe engagiert, rückt Francesca auf geheimer Mission in San Francisco immer näher an die Hintermänner heran. Und doch scheinen ihre Ermittlungen letztlich vergebens. Da bekommt sie auf der Golden Gate Bridge eine allerletzte Chance.

Bernd Storz

lebt als Schriftsteller und Universitätsdozent für Szenisches Erzählen und Drehbuch in Reutlingen. Bisher sind von ihm sechs Kriminalromane erschienen, zuletzt bei Oertel+Spörer: MORD IM OUTLET und QUADRATISCH KÄUFLICH TOT. Darüber hinaus veröffentlichte er Kurzkrimis, TV-Drehbücher, Hörspiele, Bücher und Essays zur zeitgenössischen Kunst, Lyrik und Bücher zur Geschichte. Sein Theaterstück »Ein Deal à la Hitchcock« wurde 2014 uraufgeführt, Schweizer Erstaufführung 2015. Mitbegründer des »STORY-CAMP«.

Bernd Storz

Die Wespe

Oertel + Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sowie die das IT-Sicherheitskonzept der Firma ElringKlinger betreffenden Details sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2015Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.

Titelbild: © pixbro, FotoliaUmschlaggestaltung + Satz: Oertel+Spörer Verlag, Bettina MehmedbegovićISBN 978-3-88627-681-3

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

»Der Faktor Mensch, das größte Risiko«

Christian Schaaf

»Strange days indeed!«

John Lennon

»Offenbar haben wir in ein Wespennest gestochen«

Francesca Molinari

»On a warm San Franciscan night«

Eric Burdon

»Fragt sich, wer hier wirklich die Verrückten sind: die Patienten einer psychiatrischen Klinik oder der Verfassungsschutz«

Tomislav Özcan

»Ich habe mich wohl schon tausendmal über diese Fähigkeit des Menschen gewundert, das höchste Ideal neben der niedrigsten Gemeinheit in seiner Seele hegen zu können, und beides mit vollkommener Aufrichtigkeit«

Fjodor Dostojewski

»Down in Monterey«

Eric Burdon

Vielleicht tauchte ein Delphinrücken auf – aus den Wogen der Bucht. Doch die bleigraue Oberfläche des Pazifischen Ozeans, dessen Wildheit von der bergenden Weite der San Francisco Bay nach und nach besänftigt zu werden schien, gab sich hermetisch geschlossen. Sie gab nichts anderes preis als ihre sich kräuselnden Wellenkämme, die der entfernten Kulisse der Stadt zutrieben. Zumindest sah es von hier oben so aus, siebenundsechzig Meter über dem Meer.

Jetzt stehe ich hier auf der Golden Gate, zum ersten Mal in meinem Leben, dachte Francesca Molinari nicht ohne eine gewisse Verbitterung. Bei all ihren Urlauben mit Andreas oder auf Wanderungen zu Hause auf der Schwäbischen Alb, in den Tälern von Neckar und Donau, am Bodensee und am Rhein – immer wieder hatte es diese unwiderruflichen Augenblicke gegeben, in der Landschaftserleben und ein intensives Gefühl menschlicher Verbundenheit für sie eins wurden. Auch wenn die Kinder dabei waren, gab es solche Momente und manchmal wagte sie es dann, von Glück zu sprechen. Aber wenn diese Augenblicke das Glück bedeuteten – was war dann das hier? Allein auf dieser Selbstmörderbrücke und alle Spuren im Nichts versandet?

Sie hätte sich gar nicht darauf einlassen sollen. Ohne offizielle Genehmigung der Amis in den USA Ermittlungen durchzuführen, war für eine Kommissarin beim Landeskriminalamt Stuttgart sowieso nicht möglich. Aber wie hatte Hermann Blöchle sich ausgedrückt, ihr Vorgesetzter, nachdem sie ihn in einem – abhörsicheren – Vier-Augen-Gespräch im Stuttgarter Schlossgarten über den Stand der Ermittlungen im Mordfall ElringKlinger unterrichtet hatte: »Auch wenn es mir für Ihre Familie ehrlich leid tut, wenn Sie über die Feiertage verreisen müssen – aber haben Sie nicht noch Resturlaub?«

Dieser in stillem Einvernehmen geäußerte Fragesatz, der in keinem Protokoll, in keiner Aktennotiz Eingang gefunden hatte, war am 19. Dezember gefallen. Die einzige wirkliche Spur hatte in die Nähe von San Francisco zu einem vom Verfassungsschutz – angeblich – ausgemusterten Ex-Agenten geführt, einem Mann namens Artur Glenn. Und Blöchle und sie waren einer Meinung gewesen: Wenn es bei dem Mordfall bei dem global agierenden Automobilzulieferer im Ermstal tatsächlich um einen Fall von Industriespionage ging, dessen Fäden in den Staaten zusammenliefen, dann war die Angelegenheit nicht nur hinsichtlich politischer Konsequenzen delikat. Vor allem musste man damit rechnen, mit einem Amtshilfeersuchen an das FBI oder andere Polizeiinstitutionen womöglich den Bock zum Gärtner zu machen. Resturlaub also.

Merkwürdig war nur, dass sie Blöchle seit dem 19. Dezember nicht mehr erreicht und er sich auch nicht wieder bei ihr gemeldet hatte – und heute schrieb man bereits den 26. Aber vielleicht wollte er sich über die Feiertage und den Jahreswechsel einfach ein paar Tage Auszeit auf seiner Hütte im Bregenzerwald gönnen.

Erschöpft lehnte sich Francesca gegen die Brüstung, die ihr bis zu den Schultern reichte. Langsam ließ sie ihre Handflächen auf der orangeroten Balustrade auseinandergleiten, während ihr Blick nachdenklich über die Bucht schweifte. Im Südosten die einzigartige Skyline, im Norden über der Horseshoe Bay die zu dieser Jahreszeit graubraunen Grashügel von Marin County. Östlich, hinter Treasure Island, lösten sich in der milden Wintersonne allmählich die restlichen Nebelschwaden über den Häfen von Oakland. Die vom Meer her wehende steife Brise fuhr ihr in den Rücken. Francesca nahm die Hände vom Geländer, prüfte den Sitz ihres kleinen schwarzen Pferdeschwanzes und erhaschte in den Augenwinkeln das Gesicht eines vorbeiziehenden Joggers, der sie anlächelte.

Alcatraz, die ehemalige Gefangeneninsel, erinnerte sie jetzt an ihre letzte Begegnung mit Glenn. Vor zwanzig Minuten erst hatte er sich auf dem Parkplatz vor der Brücke, auf dem sie ihren Mietwagen abgestellt hatte, plötzlich zu erkennen gegeben. Der Mann, nach dem sie so lange gesucht hatte, hatte Kontakt zu ihr aufgenommen und ihr Informationen geliefert, die ihr bisheriges Bild über die Zusammenhänge vervollständigten, sie aber nicht weiterbrachten. Und sie war sich nach wir vor im Unklaren darüber, welche Rolle er wirklich spielte.

Die Vibrationen der sechsspurig über die Brücke schleichenden Pkw setzten sich kribbelnd in ihrem Bauch fort und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es da noch etwas geben müsse, etwas, das sie nur noch nicht sah. Aber ihr letzter Zeuge hatte sich gestern Nacht hier irgendwo von der Brücke gestürzt. Lukas Michaelis. Einer von über eintausend Suizidenten, die von den leuchtendgelben Notrufanlagen in ihren letzten Minuten keinen Gebrauch gemacht hatten. Also was sollte es noch geben? Es war vorbei!

Eine Autohupe riss sie aus ihren düsteren Gedanken; als sie sich umwandte, blieb ihr Blick an einem langen Stück schwarzen Stoffes hängen, der auf der Höhe des nächstgelegenen, etwa zwanzig Meter von ihr entfernten zweiten der beiden Zwillingstürme wie ein verlorener Schal im Meerwind flatterte. Ein Trauerflor, fragte sie sich und ging auf den nächsten Pylon zu.

Drei Monate davor

Eigentlich genoss Lukas die in den vergangenen Jahren immer seltener werdenden gemeinsamen Stunden mit seinem Vater. Seit er sein Studium der Informatik in Stuttgart abgebrochen, sich an der Uni Hohenheim für Nachwachsende Rohstoffe und Bioenergie eingeschrieben hatte und in eine WG in Esslingen a.N. gezogen war, wollten sie sich ursprünglich noch jeden ersten Sonntag im Monat treffen. Aber in letzter Zeit hatte sein Vater ihn mehrfach versetzt. Wenn Lukas ihn dann anrief, um nachzufragen, drückte er ihn entweder weg oder schützte eine Erkältung, allgemeine Erschöpfung oder sonst irgendeine Krankheit vor. Jedenfalls schien er mehr und mehr abzubauen, zumindest was seine Zuverlässigkeit betraf.

Das war nicht immer so gewesen. Früher, vor der schweren Erkrankung seiner Mutter und der Trennung seiner Eltern, als sein Vater noch als Diplomingenieur voll im Berufsleben stand, hatte er ihn immer als den sprichwörtlichen Fels in der Brandung erlebt. Wenn seine Versetzung wackelte, hatte er sich bei den Lehrern für ihn eingesetzt. Sogar regelmäßig – für Väter damals nicht unbedingt selbstverständlich – an Elternabenden teilgenommen. Auch war er ihm gegenüber stets offen, so hatte er es jedenfalls immer empfunden. Eine Offenheit, die ihm manchmal auch zu weit ging, wenn er allzu detailliert über die Probleme mit seiner Mutter sprach, ihn zuweilen damit sogar belastete.

So wie heute. Nur dass sich heute Abgründe auftun würden, von deren Existenz er bisher nur in Zeitungen und Filmen erfahren hatte.

»Optimales Wanderwetter!«, rief Lukas aus, als sie den Lerchentalweg am Waldrand entlangstapften, »das habe ich schon heute Morgen beim Aufwachen gedacht!«

Er blinzelte in die Septembersonne, die ein spätsommerliches Licht verströmte, das jetzt am frühen Nachmittag die Luft über den Grashängen flirren und Bäume, Sträucher und die fernen Häuser des Dorfes harte Schlagschatten werfen ließ. Buchen und Lärchen standen in herbstlicher Farbigkeit, ihre betörende Pracht eingerahmt vom sanften Blaugrün dicht stehender Fichten.

Sein Vater nickte nur beiläufig und hielt den Blick gesenkt auf den Weg unter seinen alten Wanderschuhen. Im Gegensatz zu sonst schien er von der Schönheit der Landschaft keine Notiz zu nehmen. Schon auf der Herfahrt war er ungewöhnlich wortkarg gewesen und in Lukas verfestigte sich der Eindruck, ihn bedrücke etwas.

Auf der Fahrt nach Bad Urach, wo sich sein Vater nach der Scheidung von seiner Mutter gegenüber der Buchhandlung am Markt eine kleine Dachgeschoss-Wohnung gemietet hatte, war in Lukas die Befürchtung aufgestiegen, er könne im letzten Moment noch absagen. Dann war er aber doch zum vereinbarten Zeitpunkt in voller Wandermontur unter der Tür gestanden, hatte auch, wie immer, die Tour ausgesucht und ihn auf die Schwäbische Alb nach Gomadingen dirigiert. Dort hatten sie am Sportplatz am Lerchenberg Lukas’ weinroten Fiat Panda stehen lassen und waren losmarschiert in Richtung Sternberg zu einer Rundwanderung, die er vor vielen Jahren schon einmal mit beiden Eltern unternommen hatte.

Ein steil nach oben führender, gewundener Waldpfad zweigte vom Weg ab. Lukas suchte an den grauen Fichtenstämmen nach dem Wanderzeichen mit dem roten Balken, aber da wies sein Vater schon mit einer Kopfbewegung nach links und schritt voran. Im gemächlichen Bergaufgehen fand Lukas langsam zu seinem Rhythmus. Normalerweise lösten sich im Gehen nach und nach alle Alltagsgedanken; der Kopf wurde frei und er nahm in der kühler werdenden Luft nur noch den erdigen Duft des Waldbodens wahr, das Sirren der Insekten und die sich im leichten Wind bewegenden Blätter und Zweige und ihr Spiel mit Licht und Schatten. Heute aber ertappte er sich dabei, wie er zunehmend ins Grübeln verfiel. War sein Vater wieder auf dem Weg, in die Depression abzurutschen wie vor Jahren, als seine Schwester Miriam sich von ihm abwandte, weil sie ihm die Schuld gab an der Trennung seiner Eltern? Weil sie ihm vorwarf, seine Mutter im Stich gelassen und sich in eine Affäre gestürzt zu haben? Eine depressive Erkrankung, die ihn letztlich den Job gekostet hatte.

Als sie oben aus dem Wald traten, öffnete sich vor ihnen der Ausblick auf die Wacholderheide. Jetzt erinnerte sich Lukas daran, wie sein Vater damals bei der Familienwanderung an dieser Stelle stehen geblieben war und ausgerufen hatte:

»Kinder, jetzt schaut euch nur mal an, in welch schöner Welt wir leben!«

Heute dagegen begann er, ohne auch nur einen Moment innezuhalten, den rechter Hand abzweigenden Weg aufzusteigen.

Lukas schloss zu ihm auf. Als er neben ihm war, wandte er sich ihm zu und fragte:

»Wo bist du eigentlich gerade mit deinen Gedanken?«

Ohne zu antworten, wies sein Vater zu einer Bank, wo der Wald wieder begann.

»Da«, sagte er schließlich, nahm seinen Rucksack ab und setzte sich. Lukas tat es ihm gleich. Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander.

»Was macht das Studium?«, fragte sein Vater endlich.

Sonst ging Lukas gerne auf die obligatorische Frage ein. Sie war immer der Startschuss für längere Unterhaltungen, für die sein Vater Beiträge aus seinem erstaunlichen Wissensreservoir als Ingenieur einbrachte und die seine eigenen Gedanken und Ansichten vertieften. Heute aber klang seine Stimme abwesend.

»Und das Kickboxen? Trainierst du noch immer?«

Lukas bewegte verneinend den Kopf. Sein Vater starrte auf den hellen, spitzen Kies zu seinen Füßen, während Lukas seinen Blick jetzt über die hohen Wacholderbüsche gleiten ließ, die den Sternberg hochwanderten.

»Ich will dich damit eigentlich nicht belasten«, brachte sein Vater schließlich hervor, ohne aufzusehen. Er murmelte die Worte mehr, als dass er sie aussprach.

Lukas schwieg, als befürchte er, ihn mit einer Nachfrage wieder zum Verstummen zu bringen.

»Ich hab einen Riesenfehler gemacht.«

Lukas wartete weiter mit einer Antwort ab.

»Ich hab was mitgehen lassen aus dem Betrieb.«

Lukas spürte seine Hände feucht werden.

»Ich denke, du lebst von deinem Taxi seit deiner Kündigung?«, hakte er endlich nach und sah seinen Vater von der Seite an.

Dieser erwiderte seinen Blick nicht.

»Das reicht ja nicht mal für die Miete.« Er stützte den Kopf in die Hände. »Ich geh abends noch ein paar Stunden … putzen …«

Lukas verspürte den Impuls, seine Hand auf die Schulter des Vaters zu legen. Wie unangenehm musste ihm dieses Eingeständnis sein.

»Du hast schon schlimmere Zeiten erlebt«, antwortete er einfühlsam. »Seit wann machst du das?«

»Guckst du nie in Facebook nach?«

Beschämt biss sich Lukas auf die Unterlippe. Er war mit seinem Vater zwar auf Facebook befreundet, aber was dieser dort so alles postete, las er schon lange nicht mehr. Dass er seine privaten Sorgen mit ewigem Jammern öffentlich machte, war ihm einfach nur peinlich.

»Warum?«, gab er zurück, um der Frage auszuweichen.

»Seit drei Monaten.«

»Nein, warum du was mitgehen lässt?«

»Ja, gegen Geld.«

»Was kann man denn so Wertvolles aus ’nem Betrieb mitgehen lassen, das sich dann auch verkaufen lässt?«

Lukas’ Vater verfiel wieder ins Schweigen. Nach einiger Zeit erklärte er:

»Vor vierzehn Tagen ungefähr hat sich ein Kunde am Reutlinger Hauptbahnhof zu mir ins Taxi gesetzt und sich auf die Achalm fahren lassen. Unterwegs hat er mich gefragt, ob ich einen Auftrag für ihn erledigen könne. Irgendwoher wusste er, dass ich auch einen Job bei ElringKlinger habe …«

»Na, wenn du das auch in Facebook gepostet hast? Dass du dort putzen gehst?«

»War vielleicht ein Fehler, im Nachhinein …«

»ElringKlinger in Dettingen? Die machen doch Zylinderkopfdichtungen für die Automobilindustrie?«

Lukas’ Vater nickte und ließ die Hände auf seine Schenkel gleiten.

»Unter anderem, ja … Die beliefern fast alle großen Automobilhersteller. Auf der ganzen Welt.«

»Und wie kamen die ausgerechnet auf dich?«

Lukas’ Vater zuckte die Achseln. Wieder geriet das Gespräch ins Stocken. Schließlich schob er das Gesäß nach vorne, umfasste die Kante der Holzbank mit den Händen und lehnte sich zurück.

»Er war auf sensible Daten aus der Entwicklungsabteilung aus«, erklärte er.

»Industriespionage?«

Lukas grinste ungläubig

Wie aus dem Nichts umschwirrte plötzlich eine Wespe den Kopf seines Vaters. Der sprang auf und schlug um sich.

»Damit machst du sie erst recht aggressiv!«, rief Lukas.

Offenbar zeigte das wilde Fuchteln dennoch Wirkung. Sein Vater sah sich noch ein paar Mal suchend um, dann nahm er seinen Sitzplatz wieder ein und sagte übergangslos:

»Ich hab bloß eine Liste mitlaufen lassen. Aus dem Labor …«

»Und was stand da drauf?«

»Irgendwelche Formeln. Ich bin ja kein Chemiker.«

»Und jetzt hast du Angst, dass es rauskommt!«

»Ich glaube nicht, dass es jemand aufgefallen ist. Das Problem liegt woanders …« Abrupt wandte Lukas’ Vater seinen Kopf und sah seinen Sohn offen an. »Sie wollen mehr!«

»Sie?«

»Du glaubst doch nicht, dass dieser Typ, der mich angesprochen hat, alleine agiert!«

Lukas kräuselte die Stirn.

»Und jetzt hängst du mit drin …«

Sein Vater senkte den Blick.

»Ich hab ihm gesagt, ich mach da nicht mehr mit.«

»Wie gesagt? Wie kommuniziert ihr denn? Triffst du dich mit diesem Typen?«

Lukas’ Vater schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn seit der Taxifahrt nicht mehr gesehen. Er hat mich angerufen …«

»Du hast ihm deine Handynummer gegeben?«

»Er hat seine Rufnummer natürlich unterdrückt. Das mit der Liste war nur der Anfang. Sie wollen ins Firmennetz.«

Lukas ließ die Luft zwischen den Zähnen entweichen.

»Du musst zur Polizei gehen!«

»Das habe ich ihm auch gesagt. Wenn er mich nicht in Ruhe lässt.«

Eine Pause entstand. Dann sagte Lukas nachdenklich:

»Aber du hast nichts gegen ihn in der Hand …«

Sein Vater holte schnappend Luft.

»Er hat mich gefragt, ob ich meine Familie liebe«, antwortete er, um schnell weiterzureden. »Und aufgelegt. Einfach aufgelegt. Aber ich lass ihn auffliegen. Das weiß er.«

»Wie denn?«, hakte Lukas nach. Und als sein Vater nicht reagierte: »Die Liste?«

Sein Vater nickte leicht mit dem Kopf.

»Wie hast du sie denn weitergeleitet?«, wollte Lukas wissen. »Hast du sie eingescannt und gemailt? Hast du eine Mailadresse? Oder auf einen Stick kopiert?«

»Es gibt einen Toten Briefkasten.«

Lukas verstummte.

»Wenn irgendwas passiert, lass ich den Toten Briefkasten hochgehen.«

»Und wo?«, fragte Lukas. »Wo ist der?«

Langsam wiegte sein Vater den Kopf.

»Ich will dich da nicht noch mehr mit hineinziehen. Ich hab dich schon viel zu sehr belastet mit der ganzen Scheiße! Und … ich schaff das jetzt auch nicht mehr auf den Aussichtsturm.«

Abrupt stand er auf.

Lukas schluckte. Das Gespräch schien beendet. Für einige Sekunden kam ihm die herrliche Aussicht wieder in Erinnerung, die er als Kind dort oben vom Sternbergturm aus genossen hatte. Der weite Blick über die Kuppen- und Flächenalb. Von Schloss Lichtenstein bis zu den Schweizer Alpen, vom Bussen bis zur Zugspitze und den dahinter liegenden Österreichischen Alpen. Dann erhob auch er sich und schulterte seinen Rucksack.

Mit dem Daumen deutete sein Vater nach rechts.

»Zurück nehmen wir den alten Burgenweg«, erklärte er mit einer Stimme, als sei nichts zwischen ihnen vorgefallen. »Das tut uns beiden, glaub ich, ganz gut. Noch etwas zu laufen.«

Der Rückweg zog sich hin. Schweigend stapften sie den Wald hinab, vorbei an aufragenden Kalkfelsen, dann in einer großen Schleife bis zu zwei mächtigen Buchen, einem in der Gegend bekannten Naturdenkmal, dem Lukas keinen Blick mehr schenkte. Er spürte die Angst in sich hochkriechen wie Säure, die sich vom Magen aus in seinem Oberkörper ausbreitete und ihm das Atmen erschwerte. Endlich erreichten sie das Wolfstal, das sie auf abfallendem Weg zum Parkplatz zurückführte.

Als sie sich wieder bei Lukas’ Wagen einfanden, sagte sein Vater:

»Eigentlich wollten wir ja noch was essen gehen.«

Unschlüssig zuckte Lukas mit den Schultern. Er steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und kramte nach seinem Feuerzeug in der Hosentasche.

Sein Vater versetzte ihm einen kumpelhaften Stoß mit dem Ellbogen.

»Ich hab reserviert …«

Jetzt bemüht er sich, wieder ganz den Alten zu geben, dachte Lukas und zündete sich die Zigarette an. Und dabei weiß er doch selbst nicht weiter.

»Der Gestütsgasthof Offenhausen hat geschlossen«, fuhr sein Vater fort, »aber ich hab was Neues entdeckt.«

Eine knappe halbe Stunde später saßen sie im gut gefüllten »Hotel Gasthof Herrmann« der Familie Autenrieth in Münsingen. Das rustikal eingerichtete Restaurant warb mit regionalen Produkten aus dem Biosphärengebiet. Lustlos hatte Lukas die Speisekarte durchgeblättert, war dann aber doch – obwohl er keinen richtigen Hunger verspürte – neugierig geworden auf die Lammleber mit Ehestetter Champignons und hausgemachten Dinkel-Sticks. Doch sein Vater war offenbar nicht bei der Sache. Immer wieder sah er von der Karte auf und ließ den Blick über ihn hinweg und über die übrigen Gäste gleiten.

»Kannst du dich nicht entscheiden oder hast du keinen Appetit?«, fragte Lukas schließlich.

Sein Vater legte den Zeigefinger an die Lippen.

»Ich glaube, wir werden beobachtet!«

Lukas widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Der Blick seines Vaters senkte sich. Er begann zu flüstern.

»Vorne neben der Tür. Der Gast am Einzeltisch. Nicht umdrehen!«

»Kennst du ihn?«

Sein Vater deutete ein Kopfschütteln an. Steigerte er sich schon in eine Verfolgungsparanoia hinein oder hatte sein Verhalten wirklich etwas mit der Sache zu tun?

Um selbst einen Blick auf den Verdächtigen werfen zu können, gab Lukas vor, auf die Toilette zu müssen. Als er aufstand und seinen Blick wie nach dem Toilettenschild suchend durch den Gastraum schweifen ließ, trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde ihre Blicke. Mit seinem dunkelblonden Bürstenhaarschnitt, seinem kantigen Gesicht und dem stämmigen Oberkörper sah der Mann aus wie ein Marine, der soeben aus einem Hollywood-Streifen getreten war. Lukas wandte den Blick ab und nahm den Eingang zum WC. Er sah sich selbst von außen, wie in einem Film, als er jetzt im Korridor vor der Toilette stehen blieb und kurz überlegte. Er nahm sein Smartphone aus der Tasche und drückte den Kamera-Button. Dann ging er den Gang zurück, zwängte sich durch den Spalt der Tür zum Gastraum und schob die Linse zwischen die schmiedeeisernen Verzierungen des kleinen Paravent am Durchgang, bis die gegenüberliegende Eingangstür und der Einzeltisch mit dem Unbekannten auf dem Display erschienen. Nach dem Klick ließ er das Gerät in die Hosentasche gleiten, richtete sich wieder auf und schlenderte zu seinem Vater zurück.

»War die Bedienung schon da?«, fragte er so harmlos wie möglich.

»Mir ist das unheimlich hier. Ich muss raus!«

Lukas gab zu verstehen, dass er verstanden hatte, wandte sich um und ging mit seinem Vater auf die Eingangstür zu. Der Mann am Einzeltisch stellte seine Apfelschorle ab und sah Lukas mit einem erstaunten Grinsen an.

Draußen fragte er:

»Bist du dir sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast gerade?«

Sie bewegten sich auf den Wagen zu.

»Ich weiß selber nicht mehr, was ich glauben soll«, kam als Antwort.

Lukas klemmte sich hinter das Steuer und zog sein Smartphone hervor.

Als sein Vater zugestiegen war, warf er einen Blick zurück zur Eingangstür des Lokals.

»Was ist, warum fährst du nicht?«, knurrte er ungeduldig mit Blick auf das Handy in der Hand seines Sohnes, die auf dem Display herumtippte. »Telefonieren kannst du auch später noch!«

»Ach nichts!«, antwortete Lukas, schaltete das Gerät aus und schob es in seine Hosentasche zurück. Dann startete er den Motor.

Langsam ließ er den Fiat durch die verkehrsberuhigte Zone der Innenstadt gleiten, über den von Fachwerkhäusern gesäumten Marktplatz und vorbei am Alten Rathaus mit seinem Arkadengang.

»Tut mir leid wegen des Essens«, sagte sein Vater.

»Jetzt schlag ich mal was vor«, erwiderte Lukas, als er an der nächsten Vorfahrtsstraße stoppte. »Wir holen uns was vom ›Bambus‹ und essen bei dir zu Hause. Da haben wir unsere Ruhe. Oder hast du keinen Bock auf Chinesisch?«

Bis nach Seeburg blieb Lukas’ Vater eine Antwort schuldig. Auf der ganzen Fahrt die Serpentinen des Steilabfalls hinunter ins Seeburger Tal hatte er sich wieder in Schweigen eingekapselt. Erst auf der Höhe der Abzweigung Richtung Hengen sagte er endlich mit müder Stimme:

»›Bambus‹. Von mir aus. Hauptsache, was im Magen …«

In dem kleinen chinesischen Lokal in der Stuttgarter Straße in Bad Urach besorgten sie sich beide dasselbe Gericht – Knusprige Ente mit Ananas. Doch anstatt in die Wohnung von Lukas’ Vater zu fahren, rissen sie, kaum im Wagen zurück und ohne sich abgesprochen zu haben, die knisternden Aluminiumabdeckungen von den Plastikschalen und schlangen heißhungrig ihr Essen hinab.

»Weißt du noch«, begann Lukas schließlich, als er seine Mahlzeit beendet hatte, »früher, wenn Mama mal unterwegs war und du keine Lust zum Kochen hattest? Wie wir dann zum Burger King gefahren sind und im Auto gegessen haben?«

Lukas’ Vater nickte stumm, ohne ihn anzuschauen, und schob seine Imbissverpackung unter den Beifahrersitz.

»Und wenn es dann geregnet hat und die Tropfen an der Windschutzscheibe heruntergelaufen sind«, fuhr Lukas träumerisch fort, »und du hast das Radio angemacht …«

Jetzt sah sein Vater zu ihm hinüber. Ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund.

»Und einmal kam She Smiled Sweetly von den Stones«, schwelgte Lukas.

»Ja, vom Album Between the Buttons. Leg ich heute noch manchmal auf …«

»Es geht doch nichts über die guten, alten Vinylscheiben, was?!«, schwärmte Lukas. »Den Refrain haben wir sogar zweistimmig mitgesungen!«

»War unser Lieblingssong …«, bestätigte sein Vater und sah Lukas zärtlich an. Dann sagte er plötzlich:

»Ist was? Du bist so rot im Gesicht.«

Lukas fasste sich an den Hals. Er spürte sein Herz, wie es plötzlich schneller und stärker pochte.

»Was ist los?«

»Ich weiß nicht … Mein Magen.«

Sein Vater nahm ihm die Imbissschale ab. Lukas fasste sich mit beiden Händen an den Bauch und beugte sich vornüber.

»Musst du dich über…«

Lukas schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. Seine Atmung beschleunigte sich.

Ratlos sagte sein Vater:

»Also ich spüre nichts. Wir haben doch das Gleiche gegessen …«

Mit beiden Händen umfasste Lukas jetzt das Lenkrad und drückte seinen Rücken in den Sitz, um tief durchzuatmen. Seine Gesichtsfarbe hatte gewechselt. Die Haut wirkte seltsam fahl und wie erstarrt.

»Ich fahr dich besser ins Krankenhaus. Ist ja hier gleich um die Ecke.«

Lukas schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment aber stieß er die Fahrertür auf, beugte sich zur Seite und erbrach sich auf die Straße.

Sein Vater verließ seinen Platz und ging um die Kühlerhaube herum. Er reichte ihm ein Papiertaschentuch.

»So hat das keinen Wert!«

Als sich Lukas den Mund abgeputzt hatte, fasste er seinen Unterarm und nötigte ihn zum Aussteigen. Lukas ließ es geschehen, dass er ihn nun um den Wagen herumführte und ihn auf den Beifahrersitz bugsierte.

Sein Vater setzte sich hinter das Steuer und sagte:

»Schnall dich an bitte. Wahrscheinlich hast du ja nur ein China-Restaurant-Syndrom. Aber vielleicht steckt ja auch was Ernstes dahinter.«

»China…, was?«, keuchte Lukas. »Noch nie gehört …«

Mit verlangsamten Bewegungen legte er den Sicherheitsgurt an.

Keine drei Minuten später steuerte Lukas’ Vater den kleinen Fiat auf den Parkplatz der Ermstalklinik. Es dämmerte bereits. Lukas schien seinen Widerstand aufgegeben zu haben, doch als sein Vater Anstalten machte, ihn zum Eingang zu begleiten, machte er ihm deutlich, dass er das allein schaffe und er sich nicht weiter zu kümmern brauche. Für einen Moment ließ sein Vater ratlos die Arme sinken, doch dann hievte er sich wieder hinter das Steuer.

»Hast du dein Handy?«, fragte er noch.

Lukas nickte.

»Dann ruf mich an, wenn ich dich wieder abholen kann.«

Mit einem letzten besorgten Blick auf seinen Sohn schloss er die Fahrertür, startete wieder den Motor und fuhr los.

Mit einer schwachen Handbewegung winkte Lukas seinem Fiat hinterher und sah ihm nach, bis er auf der Stuttgarter Straße verschwunden war. Dann holte er tief Luft und drehte sich zu dem Weg um, der zum Klinikeingang führte.

In diesem Moment preschte von hinten ein weißer Lieferwagen heran und bremste dicht neben ihm abrupt ab. Lukas sah verwundert zu dem Fahrzeug auf. Die Beifahrertür wurde aufgerissen. Ein Mann mit nach hinten gekämmten schwarzen Haaren sprang aus dem Wagen, kam rasch mit drahtigen Schritten auf ihn zu und fragte, ob er Lukas Michaelis sei.

Verwundert bejahte Lukas.

Noch ehe er etwas fragen konnte, spürte er einen heftigen Schlag in die Magengrube. Lukas’ Oberkörper krümmte sich vornüber. Ein kräftiger Arm nahm seinen Kopf in die Zange und schleppte ihn zur Rückseite des Lieferwagens, dessen Türen bereits offen standen. Eine zweite Gestalt schlang ein braunes Klebeband um seinen Kopf und verklebte ihm jetzt die Augen, dann spürte er eine Hand in seine Hosentasche vorstoßen und sein Smartphone entwenden. Auf dem Bauch liegend wurde er grob auf die Ladefläche gezerrt. Sein Schienbein schlug gegen eine Kante – Lukas schrie vor Schmerz auf. Jemand drückte ihm sein Knie ins Kreuz, während seine Arme auf den Rücken gezogen wurden. Dann spürte er, wie dünne Fesseln um seine Handgelenke festgezurrt wurden.

Alles war so schnell gegangen, dass er weder ein Gefühl noch einen Gedanken zulassen konnte. Doch als sie jetzt auch noch seinen Mund abklebten, erfasste ihn Todesangst. Hoffentlich lassen sie die Nasenlöcher frei, flehte er in Gedanken. Vergeblich bäumte er sich auf.

Die Hintertüren wurden verriegelt. Lukas hörte die Vordertüren zuknallen, der Motor wurde gestartet, das Fahrzeug brauste mit hoher Geschwindigkeit davon.

Diese Leute haben also ihre Drohung wahr gemacht, war der erste Gedanke, den er wieder fassen konnte. Die Reaktion des Spionagerings auf die Weigerung seines Vaters, weitere Aufträge zu erfüllen! Dann würden sie ihn also von der Entführung seines Sohnes unterrichten, um ihn – mit ihm als Pfand – zu erpressen! Und? Und dann? Was hatten sie vor? Was würden sie mit ihm machen? Ihn irgendwo wieder aussetzen, wenn sein Vater nachgegeben hatte? Denn dass er nachgeben würde, daran hatte Lukas keinen Zweifel. Oder würden sie sich seiner entledigen, mit einem Genickschuss, weil sie keinen Zeugen brauchen konnten, und seine Leiche auf irgendeiner Müllkippe entsorgen?

Seine Gedanken wirbelten durcheinander wie sein Körper, der in den ersten Kurven von einer Seite zur anderen geschleudert wurde. Lukas stöhnte vor Schmerz. Seine gefesselten Handgelenke drückten ihm ins Kreuz. Wenn er eine Chance haben wollte, zu überleben, musste er sich trotz allem jetzt fassen und überlegen, wie er diesem Albtraum entkommen konnte. Mit einer Drehbewegung – seine Füße hatten die Täter von der Fesselung ausgenommen – gelang es ihm, sich auf die rechte Seite zu legen und den Körper quer zur Ladefläche zu verspannen.

Den Fahrgeräuschen nach zu urteilen, mussten sie die Stadt verlassen haben und sich auf einer der Hauptstraßen befinden. Offenbar ging es nicht in Richtung Schwäbische Alb, denn das würde er registrieren: die zunehmenden Kurven, die Serpentinen des Albaufstiegs, das Runterschalten in niedrigere Gänge, die Verminderung der Drehzahlen des Motors, dann wieder sein Anschwellen. Stattdessen glitt der Lieferwagen mehr oder weniger gleichmäßig dahin. Vermutlich auf der B 28 Richtung Metzingen. Auf dieser Strecke befanden sich zwei Ampelanlagen, wenn er es richtig im Kopf hatte. Oder, je nachdem, auch drei. Eine an der Ecke Max-Eyth-Straße, die sie vermutlich schon passiert hatten, die nächste bei den Thermen und dann die an der Abzweigung nach Dettingen. Aber vermutlich hatten sie überall Grün und sonntagabends um diese Zeit geriet man wohl auch kaum mehr in einen Stau.

Mit den Fingerspitzen seiner Rechten ertastete er die Fesselung an seinem Rücken, dünne, biegsame Streifen, die sich wie Plastik anfühlten – vermutlich Kabelbinder. Er drehte sich auf die linke Seite, hob die Hüfte an und zog seinen linken Arm bis zur Schmerzgrenze über den Rücken nach rechts, griff nach seinem Gürtel und zerrte mit der Rechten den Hosenbund ebenso nach rechts, so weit es ging. Dann krallte er seine Fingerspitzen in den Jeansstoff und riss das Hosenbein über den Hüftknochen, bis es im Schritt heftig zog. Mit der flachen rechten Hand versuchte er in die rechte Hosentasche zu gelangen, schob sie Stück für Stück weiter, wobei die Hose durch das Vorschieben wieder nach unten glitt. Doch irgendwann gelang es ihm, an seinem Schlüsselbund vorbei die Spitze seines Einwegfeuerzeugs zu ertasten. Noch ein Stück weiter – und er konnte Zeige- und Mittelfinger krümmen und einen Fingernagel über das Flammenregulierungsrädchen schieben. Nach unendlich vielen Versuchen befand sich das Feuerzeug endlich in seiner Handkuhle.

Die zunehmende Neigung des Wagens verriet Lukas, dass sie sich in einer lang gezogenen Rechtskurve befanden, und wenn er sich nicht täuschte, hatten sie auf der Höhe von Metzingen die Richtung nach Stuttgart eingeschlagen. Er konnte nur der Sensorik seiner Finger und seiner Handfläche vertrauen und versuchen, das Handgelenk so weit zu verdrehen, bis er mit dem Fingergelenksknochen der Rechten ein Stück des Kabelbinders erspürte. Dann knipste er das Feuerzeug an.

Sofort stach ein brennender Schmerz ins linke Handgelenk. Er ließ den Daumen am Kopf des Feuerzeugs los. Schließlich biss er die Zähne zusammen. Als er wieder die Hitze an seiner Haut spürte, gelang es ihm, sein Schmerzempfinden zu reduzieren und die Flamme dem Streifen der Fessel langsam und vorsichtig entgegenzuführen, bis er durch den aufsteigenden Gestank nach verbranntem Plastik endlich wusste, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.

Überrascht stellte er fest, wie plötzlich der Druck um seine Handgelenke abfiel. Er schob das Feuerzeug zurück in die Hosentasche und löste vorsichtig das Klebeband um seine Augen. Sein Kopf lag jetzt neben dem halbkreisförmigen Radkasten und sein Blick richtete sich direkt auf eine Blechbeule, an deren ausgefransten Rändern der weiße Lack abblätterte. Während er sich die Einschnittstellen an den Gelenken rieb, blinzelte er in seine Umgebung. Der Laderaum war fensterlos. Nur durch eine kleine Scheibe zur Fahrerkabine hin fiel spärliches Licht, das von der zunehmenden Dunkelheit, die sich draußen breitmachte, nahezu völlig verschluckt wurde. Nun zog er auch das Klebeband vom Mund ab, knüllte es zusammen und warf es neben sich. Tief atmete er durch und lauschte.

Das Fahrgeräusch blieb konstant. Wenn sie sich tatsächlich auf dem Weg nach Stuttgart befanden, würde er sich spätestens ab Degerloch bestätigt finden. Die kurzen Ampelphasen am Ortseingang zur Landeshauptstadt, die den Verkehr immer nur portionsweise vorließen, hatte er im Gefühl. Noch vor einem Jahr war er die Strecke mehrmals wöchentlich gefahren, um seine damalige Freundin in Feuerbach zu besuchen. Doch vor Degerloch lagen noch einige mäßige Kurven, bevor die B 312 in die B 27 einmündete. Als sich das Geräusch eines Flugzeugs näherte, wusste er endlich genau, wo er sich befand.

Angestrengt dachte er darüber nach, wie er sich für seine Flucht präparieren könnte, und er sah nur eine Chance. Er konnte nicht warten, bis ihn die beiden Typen aus seinem Gefängnis befreiten, um ihn in ein anderes zu überführen. Aber er musste sie dazu bringen, die Wagentür zu öffnen. Und es müsste an einer Stelle sein, von der aus der Wagen ihm nicht folgen könnte. Also irgendein Stau, in dem der Lieferwagen festsitzen würde, eingeklemmt zwischen anderen Autos, und um ihn herum eine Menge von Zeugen. Wenn sie zuvor nicht noch irgendwo abbogen. Doch hier, spätestens auf der Höhe des Übergangs der Neuen Weinsteige in die Hohenheimer Straße, verdichtete sich auch um diese Uhrzeit und an einem Sonntag der Verkehr und kam am Bopser zum Erliegen. Und zwischen Bopser und Charlottenplatz gab es mehrere Fußgängerampeln mit langen Phasen. Lukas lockerte seine Hand- und Fußgelenke und rief sich die Übungen ins Gedächtnis, die er beim Kickbox-Training erlernt hatte.

Als der Wagen nach den ersten Stopps die Fahrt wieder aufnahm, bemerkte er an der Verringerung der Geschwindigkeit und der Gewichtsverlagerung seines Körpers, dass sie sich auf dem Weg hinab in den Talkessel befanden. Im Kopf markierte er die Stationen. Nachdem der Wagen häufiger stehen bleiben musste und offenbar nur noch im Schritttempo vorwärtskam, traf Lukas seine Entscheidung.

Beim nächsten Halt sprang er auf, trommelte mit aller Kraft mit den Fäusten gegen die Tür und schrie um Hilfe. Als er kurz darauf die Entriegelung hörte, suchten seine Fußsohlen einen festen Halt auf dem Boden. Er spannte seinen Körper an und sammelte seine ganze Konzentrationskraft. Die Wagentür wurde aufgerissen. Der Schwarzhaarige, der ihn angesprochen hatte, stand vor ihm. Dann ging alles sehr schnell. Mit der Schuhspitze versetzte Lukas ihm einen heftigen Tritt ins Gesicht. Der Mann schrie auf und fiel nach hinten, während Lukas sich im nächsten Moment mit den Füßen auf dem Asphalt abfederte.

Ein kurzer Blick verriet ihm, dass er sich im Ampelstau am Charlottenplatz befand. Ohne sich umzudrehen, preschte er an den Kühlerhauben zweier Pkw vorbei und entdeckte eine Lücke im Verkehr der gegenüberliegenden Fahrspuren. Als die Wagenkolonnen sich vom Tunnel her wieder in Bewegung setzten, hatte er bereits die andere Straßenseite erreicht und rannte, ohne sich umzudrehen, die Hauptstätter Straße entlang ins Bohnenviertel. Er konnte nicht darauf bauen, dass der andere Entführer sich um seinen verletzten Kumpan kümmerte, auch nicht darauf, dass sie beide ihr Fahrzeug nicht im Stich ließen – eingeklemmt zwischen anderen Fahrzeugen, direkt vor der Kreuzung. Das aufkeimende Hupkonzert, das an sein Ohr drang, als er jetzt die Esslinger Straße nahm, bestätigte seine Befürchtung, dass sie seine Verfolgung zu Fuß aufgenommen haben mussten.

Der Taxifahrerstand an der Leonhardskirche, schoss es ihm durch den Kopf. Aber wenn der Taxifahrer zu langsam reagierte, würden sie seinen Verfolgern in der Einbahnstraße direkt entgegenfahren, und wenn nur einer von beiden schnell genug war, könnte dieser das Taxi erreichen, ehe sie sich in den Verkehrsstrom Richtung Bad Cannstatt einfädeln würden… Er ließ Rosen- und Brennerstraße hinter sich liegen und bog in die Wagnerstraße ein, wo es seiner Erinnerung nach ein, zwei Restaurants oder Kneipen gab. Aber Restaurants oder Kneipen sind ebenso Fallen wie ein Zimmer in einem der nahe liegenden Bordelle, dachte er, als er über das Kopfsteinpflaster an zwei Prostituierten vorbeirannte, die ihn erstaunt ansahen. Erst auf der Höhe des Bischof-Moser-Hauses, einer Caritas-Begegnungsstätte für ältere Menschen, verlangsamte er seine Schritte und wagte einen kurzen Blick zurück. Die beiden Prostituierten waren verschwunden, die kleine Straße war leer. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, an der Glastür der Begegnungsstätte zu rütteln, aber dahinter lag alles im Dunkeln. Es wäre zwecklos.

Als er sich auf der Höhe der Weberstraße einen Moment umsah, entdeckte er wenige Meter entfernt drei Frauen, die sich rauchend vor einer Stahltür unterhielten, die einen Spalt offen stand. Diesmal kam ihm vielleicht seine Ortskenntnis zugute, hoffte er. Bei der Tür musste es sich um den Hintereingang zur Begegnungsstätte handeln. Als er sich den Rauchenden näherte und den Holzkeil am Boden entdeckte, der das Schließen der Stahltür verhinderte, entschloss er sich, die Frauen anzusprechen. Er begrüßte sie und murmelte eine Entschuldigung, er habe etwas liegen lassen, und als die Damen nur abwesend nickten, drückte er die Tür auf und verschwand in dem Gebäude.

Über einen gewundenen Gang, in dem ein Notlicht brannte, erreichte er ein Foyer, von dem aus eine Treppe zu einer Galerie führte. Von oben schien heruntergedimmtes Licht. An einigen Tischchen vorbei ging er zielstrebig, als würde er sich hier auskennen, den schmalen Gang an der Balustrade entlang und suchte die seitlich abgehenden Räume nach einem WC-Zeichen ab.

Als er sich kurz darauf einschloss, spürte er sein Herz im Hals klopfen. Er sah auf seine zitternden Hände und rieb sich die Handgelenke. Ein Ort der Sicherheit, dachte er, wenn auch nur ein vorübergehender. Er trat zum Waschbecken, trank gierig aus der Schale seiner Hände und benetzte sein Gesicht. Dann löschte er das Licht, tastete sich zum WC vor, setzte sich auf den Klodeckel und lauschte in die Stille. Im selben Moment hörte er, wie jemand die Türklinke herunterdrückte.

Bittermandel, riechen Sie das nicht?«, fragte der Notarzt mit Blick auf Francesca Molinari und fächerte sich, neben der entkleideten Leiche eines Mannes stehend, mit seinem Klemmbrett Luft zu.

Montag, 21 Uhr. Die LKA-Ermittlerin und ihr Kollege Tomislav Özcan hatten sich nach einem langen Arbeitstag in Stuttgart auf dem Heimweg nach Reutlingen befunden, als sie der Anruf von Stefan Schmid von der Kripo Reutlingen erreichte. Auf dem Gelände des Unternehmens ElringKlinger in Dettingen an der Erms sei der Hausmeister bei seinem Rundgang auf einen Toten gestoßen. Todesursache ungeklärt. Bei ersten Befragungen hätten sich etwas mysteriöse Zusammenhänge herausgestellt, die es zwingend erscheinen ließen, das LKA einzuschalten. Genaueres wollte er persönlich mitteilen.

Also waren sie mit ihrem Dienstfahrzeug von der B 27 nach Metzingen abgebogen und hatten den Weg nach Bad Urach eingeschlagen, nicht ohne dass Francesca ihrem Mann Andreas zu Hause noch telefonisch Bescheid gegeben hatte. Der vollbärtige Oberstudienrat für Deutsch und Geschichte unterrichtete seit der Einschulung Salvatores – ihres Jüngsten – im letzten September wieder am Johannes-Kepler-Gymnasium in Reutlingen, mit halbem Deputat. Die Jahre zuvor hatte er – mit Unterstützung ihrer Mutter Maria – sich als Hausmann engagiert und sich neben Salvatore auch um den dreizehnjährigen Silvio gekümmert und um die Älteste, die sechzehnjährige Lisa. Dass es heute wieder einmal besonders spät werden würde, nahm er offenbar gelassen, was Francesca, die immer unterschwellig ein schlechtes Gewissen mit sich herumschleppte, erleichterte.

Die Kommissarin hielt dem Blick des Arztes stand. Obwohl sie sich am liebsten angewidert abgewandt hätte, antwortete sie mit einem süffisanten Grinsen:

»Es riecht hier überhaupt ein wenig muffig …«

Sie ließ den Blick durch den langen Korridor gleiten, der das Gebäude, in dessen Untergeschoss sich das Entwicklungslabor befand, unterirdisch mit den Produktionsstätten gegenüber verband. Versorgungsrohre unterschiedlicher Größe zogen sich unter der Decke hin.

»Aber bei Bittermandel muss ich passen …«, fügte sie hinzu. »Was soll das sein?«

»Kaliumzyanid«, sprang Stefan Schmid für seine Ex-Kollegin ein.

Der Kriminaltechniker hatte mit Francesca Molinari, bevor sie zum LKA nach Stuttgart gegangen war, erfolgreich bei der Kripo Reutlingen zusammengearbeitet und bezeichnete sich gerne als »der einzige Kollege mit fränkischem Migrationshintergrund«. Damals hatte ihr Fall in Metzingen als »Mord im Outlet« für überregionale Schlagzeilen gesorgt.

»Man kann es angeblich bereits an der Leiche riechen«, sagte er mit rollendem »R«.

»Eine geübte Nase vielleicht«, wandte Özcan ein und rieb seinen gebogenen Nasenrücken.

»Also eine Vergiftung, falls Ihre Vermutung zutrifft«, stellte die Kommissarin nachdenklich fest und sah auf den entkleideten Leichnam. Sie war froh, nicht mehr im Kriminaldauerdienst arbeiten zu müssen. Früher war ihr die Aufgabe zugefallen, bei ungeklärter Todesursache die Leichen zu entkleiden und die ersten Untersuchungen am Körper vorzunehmen.

»Keine Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung«, erklärte der Notarzt. »Keine Abwehrverletzungen. Aber Genaueres wird ja dann Ihr Rechtsmediziner feststellen.«

»Und er lag so?«, fragte Özcan. »Auf dem Rücken?«

»Nein, wir mussten ihn bewegen, um ihn zu untersuchen«, erwiderte Stefan Schmid. »Er lag auf dem Bauch.«

Francesca und Özcan nickten.

»Todeszeitpunkt?«, hakte die Kommissarin nach.

»Maximal eine Stunde«, antwortete der Notarzt und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Also von meinem Eintreffen aus gerechnet. Gehen Sie mal von 19, 19 Uhr 30 aus.«

Stefan Schmid reichte Özcan einen braunen Umschlag.

»Das Opfer heißt Hellmuth Michaelis, zweiundsechzig, wohnhaft Bad Urach. War hier als Reinigungskraft beschäftigt.«

Özcan kniff die Augen zusammen.

»Eine männliche Putze?«

Schmid warf dem Kollegen einen kurzen, irritierten Blick zu. Dann fuhr er fort, indem er auf den Umschlag deutete:

»Außerdem besitzt er eine Taxikonzession und einen Taxischein.«

»Dann ist er mit seinem eigenen Taxi rumgefahren und hat abends hier noch geputzt?«, dachte Özcan laut nach. Er glitt mit der Hand über seinen schwarzen Dreitagebart.

Stefan Schmid zuckte die Achseln.

»Mobiltelefon haben wir keines bei ihm gefunden. Sein Wagen mit den Reinigungsutensilien steht noch drüben im chemischen Labor. Da befinden sich übrigens noch ein paar Zeugen in den Startlöchern. Den Abteilungsleiter haben wir aus dem Feierabend holen müssen. Speziell für euch!«

Er zwinkerte Francesca und Özcan zu.

»Die sind am möglichen Tatort – alleine?«, staunte die Kommissarin.

»Ein Streifenbeamter hält sie in Schach«, grinste Stefan.

»Dann war Michaelis also allein hier unten mit seinem Job?«

»Vermutlich«, antwortete Stefan Schmid. »Bis auf … Na ja, denjenigen, der ihm das Zeugs …«

»Kann er das Mittel auch selbst geschluckt haben?«, fragte Özcan mit der ihm eigenen Betonung der Silben und sah den Notarzt an.

»Für Sie vielleicht einfacher: Zyankali«, grinste der Arzt die Anwesenden an. »Das Gift findet übrigens auch in der Industrie Verwendung.« Dann wiegte er seinen Kopf. »Es kann mit Wasser oder auch über die Haut in den Körper gelangen. Aber dass sich jemand damit umbringt? In Gangsterfilmen vielleicht. Andererseits …« Er stockte.

»Andererseits?«, drängte Francesca.

»Es geht zwar schnell. Zwei, drei Minuten, bei entsprechender Dosierung. Dann ist Schluss. Aber es ist auch brutal. Im Magen bildet sich Blausäure. Man erstickt innerlich. Also ich würde lieber vom Fernsehturm springen.«

Die Kommissarin legte die Stirn in Falten.

»Das heißt aber dann auch, dass er … Also wenn sein Reinigungswagen noch im Labor steht …«

»… dann kann er dort mit dem Gift irgendwie in Berührung gekommen sein und dann hat er sich noch in den Gang geschleppt und ist dann hier zusammengebrochen«, führte Özcan den Gedanken der Kollegin weiter.

Der Notarzt nickte.

»Wie weit ist es denn vom Labor hierher?«, fragte Francesca.

Stefan Schmid zeigte mit dem Arm nach hinten zur Durchgangstür, die zum Treppenhaus führte.

»Wir sind vorhin dran vorbeigegangen. Fünfzehn, zwanzig Meter vielleicht?«

Der Notarzt überreichte Francesca den Totenschein und packte das Klemmbrett in seinen Koffer.

»Moment!«, rief die Kommissarin aus. »Wenn Sie noch ein paar Minuten entbehren können?«

Aus der Hocke heraus warf der Arzt ihr einen verwunderten Blick zu.

»Vielleicht brauche ich ja Ihre Nase noch mal …«

F