Die Widerspenstigkeit des Glücks - Gabrielle Zevin - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Widerspenstigkeit des Glücks E-Book

Gabrielle Zevin

4,6
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein bezaubernder Roman und ein modernes Märchen

Amelia ist Verlagsvertreterin und lernt dabei die eigenwilligsten Buchhändler kennen. Genau so einer ist A. J. Fikry. In seinem Herzen haben nur turmhohe Bücherstapel Platz. Bis er einen ungebetenen Gast entdeckt: Eines Morgens sitzt die zweijährige Waise Maya in der Kinderbuchecke seiner Buchhandlung. Gegen seinen Willen nimmt sich A. J. des kleinen Mädchens an, das sein Leben kurzerhand auf den Kopf stellt. Und auch Amelia wird er nicht so schnell vergessen können …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 266

Bewertungen
4,6 (98 Bewertungen)
69
16
13
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Amelia ist Verlagsvertreterin. Sie ist ständig auf Reisen und muss unhandliche Bücherpakete herumschleppen. Dabei lernt sie die eigenwilligsten Buchhändler kennen. Genau so einer ist A. J. Fikry. Er ist Besitzer von Island Books, der etwas verstaubten Buchhandlung auf der abgelegenen Insel Alice Island. In seinem Herzen haben nur turmhohe Bücherstapel Platz. Bis er einen ungebetenen Gast entdeckt: Eines Morgens sitzt die zweijährige Waise Maya in der Kinderbuchecke seiner Buchhandlung. Gegen seinen Willen nimmt er sich des kleinen Mädchens an, das sein Leben kurzerhand auf den Kopf stellt und einen festen Platz an seiner Seite findet. Und auch Amelia kann A. J. nicht so schnell vergessen …

GABRIELLE ZEVIN

DieWiderspenstigkeitdes Glücks

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Renate Orth-Guttmann

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem TitelThe Storied Life of A. J. Fikry bei Algonquin Books of Chapel Hill,a division of Workman Publishing, New York

Deutsche Erstausgabe 06/2015

Copyright © 2014 by Gabrielle Zevin

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe© 2015 by Diana Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion  |  Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv  |  © shutterstock

Satz  |  Schaber Datentechnik, Wels

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-12632-2

www.diana-verlag.de

Für meine Eltern,die meine prägenden Lebensjahremit Büchern versehen haben,und für den Jungen,der mir vor so vielen Winterndie »Gesammelten Erzählungen vonVladimir Nabokov« schenkte

Komm, mein Liebstes,

lass uns einander bewundern,

ehe von dir und mir

nichts mehr bleibt.

RUMI

Inhalt

TEIL I

Lammkeule

Ein Diamant so groß wie das Ritz

Das Glück von Roaring Camp

Das Größte im Leben

Ein guter Mensch ist schwer zu finden

Der berühmte Springfrosch von Calaveras

Mädchen in Sommerkleidern

TEIL II

Gespräch mit meinem Vater

Ein herrlicher Tag für Bananenfisch

Das verräterische Herz

Eisenkopf

Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden

Der Antiquar

TEIL I

Lammkeule

1953 von Roald Dahl

Frau ermordet Ehemann mit gefrorener Lammkeule, entsorgt dann die »Waffe«, indem sie den Braten den Cops vorsetzt. Durchaus brauchbare Idee von Dahl, allerdings fragte sich Lambiase, ob eine fachkundige Hausfrau die Lammkeule wirklich auf die beschriebene Art zubereiten würde, nämlich ohne sie aufzutauen, zu würzen oder zu marinieren. Wäre dann das Fleisch nicht zäh und ungleichmäßig durch? Ich verstehe zwar nichts vom Kochen (oder von Straftaten), aber wenn man dieses Detail infrage stellt, gerät die ganze Geschichte aus den Fugen. Trotz dieses Vorbehalts kommt sie mit auf die Liste, eines Mädchens wegen, das ich kenne und das sich – lang, lang ist’s her – für »James und der Riesenpfirsich« begeistert hat.

A. J. F.

Auf der Fähre von Hyannis nach Alice Island lackiert Amelia Loman ihre Nägel gelb, und während sie darauf wartet, dass sie trocknen, überfliegt sie die Notizen ihres Vorgängers. »Island Books, Jahresumsatz ca. 350000 Dollar, hauptsächlich in den Sommermonaten durch Urlauber«, berichtet Harvey Rhodes. »Fünfundfünfzig Quadratmeter Verkaufsfläche. Keine Vollzeitmitarbeiter. Sehr kleine Kinderbuchabteilung. Äußerst dürftige Onlinepräsenz. Kaum Werbung. Gewicht liegt auf gehobener Literatur, was gut für uns ist, aber Fikry hat einen sehr speziellen Geschmack, und ohne Nic würde er so gut wie nichts verkaufen. Zu seinem Glück ist Island Books das einzige Geschäft dieser Art in der Stadt.« Amelia gähnt – sie kämpft mit einem leichten Kater – und überlegt, ob sich für einen armseligen kleinen Buchladen eine so lange Reise lohnt. Bis der Lack ausgehärtet ist, hat sich schon ihr gnadenlos optimistisches zweites Ich gemeldet: Natürlich lohnt sie sich! Ihre Spezialität sind armselige kleine Buchläden und die besondere Sorte Mensch, die sie betreibt. Zu ihren Talenten gehören auch Multitasking, die Wahl des passenden Weins zum Essen (und die damit zusammenhängende Fertigkeit, Freunde zu umsorgen, die zu viel getrunken haben), ein Händchen für Zimmerpflanzen, streunende Hunde und andere hoffnungslose Fälle.

Als sie von Bord geht, klingelt ihr Mobiltelefon. Sie erkennt die Nummer nicht, hat aber nichts gegen eine Ablenkung einzuwenden. Im Übrigen möchte sie sich nicht unter den Zeitgenossen wiederfinden, die sich gute Nachrichten nur von Anrufen erwarten, mit denen sie schon gerechnet haben, und von Anrufern, die sie schon kennen. Wie sich herausstellt, ist der Anrufer Boyd Flanagan, ihr dritter gescheiterter Versuch in Sachen Online-Dating, der sie vor einem halben Jahr in den Zirkus eingeladen hatte.

»Ich habe vor ein paar Wochen versucht, dir eine Nachricht zu schicken«, sagt er. »Hast du die nicht bekommen?«

Sie sagt ihm, dass sie kürzlich den Job gewechselt hat und vorübergehend nicht unter ihrer alten Nummer erreichbar war. »Außerdem hab ich mir die Sache mit dem Online-Dating noch mal überlegt. Ob das wirklich was für mich ist.«

Den zweiten Satz scheint Boyd nicht gehört zu haben. »Würdest du noch mal mit mir ausgehen?«, fragt er.

Ja, dieses Date … Zunächst hatte das Neuartige eines Zirkusbesuchs sie davon abgelenkt, dass sie keinerlei Gemeinsamkeiten hatten. Bis sie mit dem Essen fertig waren, lag ihrer beider Unvereinbarkeit klar zutage. Vielleicht hätte sie schon etwas merken müssen, als sie sich nicht über die Vorspeise hatten einigen können oder er beim Hauptgang gestanden hatte, dass er »alles, was alt ist« – Antiquitäten, Häuser, Hunde, Menschen –, nicht mochte. Trotzdem war sich Amelia ihrer Sache erst beim Dessert sicher gewesen, bei ihrer Frage nach dem Buch, das ihn in seinem Leben am stärksten beeindruckt hatte, und seiner Antwort: Grundlagen der Buchhaltung, Teil II.

Nein, sagt sie milde, sie möchte lieber nicht noch mal mit ihm ausgehen.

Sie hört Boyds Atem, flattrig und unregelmäßig. Weint er etwa? »Alles in Ordnung?«, fragt sie.

»Tu bloß nicht so herablassend.«

Amelia weiß, dass sie eigentlich das Gespräch beenden müsste, aber irgendwie will sie nun doch wissen, wie es weitergeht. Wozu sind unerfreuliche Treffen gut, wenn nicht die eine oder andere lustige Geschichte für die Freunde dabei herausspringt? »Wie bitte?«

»Dir wird aufgefallen sein, dass ich dich nicht sofort angerufen habe, Amelia«, sagt er. »Ich habe dich nicht angerufen, weil ich jemand Besseren kennengelernt hatte, und als das dann nicht geklappt hat, hab ich dir eine zweite Chance geben wollen. Also bilde dir bloß nicht ein, dass du was Besonderes bist. Du hast ein nettes Lächeln, zugegeben, aber deine Zähne sind zu groß, dein Hintern desgleichen, und du bist nicht mehr fünfundzwanzig, auch wenn du so trinkst, als wärst du es. Du solltest einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen.« Der geschenkte Gaul fängt an zu flennen. »Tut mir leid. Tut mir wirklich leid.«

»Ist schon gut, Boyd.«

»Was hast du gegen mich? War’s nicht nett im Zirkus? Und ich bin doch auch nicht so übel.«

»Du warst toll. Das mit dem Zirkus war sehr kreativ.«

»Aber es muss doch einen Grund geben, warum du mich nicht magst. Sei ehrlich.«

Genau genommen gibt es viele Gründe, ihn nicht zu mögen. Sie greift einen heraus. »Erinnerst du dich, wie ich dir erzählt habe, dass ich für einen Verlag arbeite, und du gesagt hast, dass du nicht viel liest?«

»Du bist ein Snob«, schlussfolgert er.

»In mancher Beziehung schon. Hör zu, Boyd, ich bin geschäftlich unterwegs und muss jetzt los.« Amelia legt auf. Sie ist nicht eitel, und sie pfeift auf die Meinung eines Boyd Flanagan, dem es ja sowieso nicht wirklich um sie geht. Für ihn ist sie nur seine neueste Enttäuschung. Sie hat auch Enttäuschungen erlebt.

Sie ist einunddreißig und findet, dass sie mittlerweile eigentlich jemanden hätte finden müssen.

Und doch …

Amelia, die Optimistin, glaubt, dass es besser ist, allein zu bleiben, als sich mit jemandem zusammenzutun, der ihre Empfindungen und Interessen nicht teilt. (Oder etwa nicht?)

Ihre Mutter pflegt zu sagen, dass Romane ihre Tochter für die reale Männerwelt verdorben haben. Diese Bemerkung kränkt Amelia, weil sie ihr unterstellt, dass sie nur Bücher mit klassisch romantischen Helden liest. Sie hat nichts dagegen, hin und wieder einen Roman mit einem romantischen Helden zu lesen, aber ihre Lektüre ist weitaus vielseitiger. Außerdem schwärmt sie für Humbert Humbert als literarische Figur, hat sich aber mit der Tatsache abgefunden, dass sie ihn sich nicht wirklich als Partner fürs Leben, Freund oder auch nur flüchtigen Bekannten wünschen würde. Das Gleiche gilt für Holden Caulfield und die Herren Rochester und Darcy.

Das Schild über der Veranda des lilafarbenen viktorianischen Häuschens ist verblasst, und Amelia wäre fast daran vorbeigegangen.

ISLAND BOOKS

Alice Islands alleiniger Anbieter ausgesuchter Literatur

Bestehend seit 1999

Kein Mensch ist eine Insel; jedes Buch ist eine Welt.

Im Haus bewacht ein junges Mädchen die Kasse und liest dabei die neuen Kurzgeschichten von Alice Munro. »Wie sind sie denn?«, fragt Amelia. Sie liebt Munro, hat aber außer im Urlaub selten Zeit, Bücher zu lesen, die nicht auf der Liste stehen.

»Es ist für die Schule«, gibt der Teenager zurück, als sei damit die Sache erledigt.

Amelia stellt sich als Verlagsvertreterin von Knightley Press vor, und das Mädchen deutet, ohne von ihrem Buch aufzusehen, unbestimmt nach hinten. »A. J. ist in seinem Büro.«

Schwankende Bücherstapel säumen den Gang, und in Amelia regt sich wie immer leise Verzweiflung. In der Tasche, deren Träger ihr in die Schulter schneiden, stecken neue Bausteine für A. J.s Türme und ein Katalog mit weiteren Büchern, die sie anpreisen soll. Sie schwindelt nie, wenn es um die Bücher auf ihrer Liste geht. Sie sagt nie, dass sie ein Buch liebt, wenn es nicht stimmt. Meist schafft sie es, etwas Positives über das Buch zu sagen oder zumindest über den Schutzumschlag oder den Autor oder die Website des Autors. Dafür zahlen sie mir ja das große Geld, witzelt Amelia manchmal. Sie verdient 37000 Dollar im Jahr, dazu kommt die Aussicht auf Boni, obgleich die Leute in ihrer Branche schon sehr lange keine Boni mehr gesehen haben.

Die Tür zu A. J.s Büro ist zu. Auf halbem Wege bleibt Amelia mit dem Pulloverärmel an einem der Stapel hängen, sodass hundert Bücher oder mehr mit peinlichem Getöse auf den Boden krachen. Die Tür geht auf, und A. J. Fikry sieht von dem Trümmerhaufen zu der dunkelblonden Riesin, die hektisch versucht, die Bücher wieder aufzustapeln. »Wer zum Teufel sind Sie?«

»Amelia Loman.« Sie stapelt weiter, und die Hälfte der Bücher fällt wieder herunter.

»Lassen Sie das«, befiehlt A. J. »Die haben alle ihre bestimmte Ordnung. Sie können da gar nichts machen. Bitte gehen Sie.«

Amelia bleibt stehen. Sie ist mindestens zehn Zentimeter größer als A. J. »Aber wir haben einen Termin.«

»Wir haben keinen Termin«, sagt A. J.

»Doch«, beteuert Amelia. »Ich habe Ihnen letzte Woche eine E-Mail wegen der Winterliste geschickt. Sie haben geantwortet, ich könne entweder am Donnerstag- oder Freitagnachmittag kommen. Ich habe Ihnen geschrieben, dass ich am Donnerstag kommen würde.«

Der E-Mail-Austausch war nur kurz, aber sie weiß, dass sie ihn nicht erfunden hat.

»Sie sind Vertreterin?«

Amelia nickt erleichtert.

»Bei welchem Verlag?«

»Knightley.«

»Knightley Press macht Harvey Rhodes. Als Sie mir letzte Woche die E-Mail geschickt haben, dachte ich, Sie wären vielleicht seine Assistentin.«

»Ich bin Harveys Nachfolgerin.«

A. J. seufzt tief. »Zu welchem Verlag ist Harvey noch mal gegangen?«

Harvey ist tot, und sekundenlang ist Amelia versucht, das Jenseits als eine Art Verlag und Harvey als einen seiner Mitarbeiter darzustellen – ein schlechter Witz, ganz klar. »Er ist gestorben«, sagt sie rundheraus. »Ich dachte, das wüssten Sie.« Die meisten ihrer Kunden hatten es schon erfahren. Harvey war eine Legende gewesen, soweit man das von einem Verlagsvertreter sagen kann. »Im ABA Newsletter war ein Nachruf, und vielleicht auch in Publishers Weekly«, bringt sie als Entschuldigung vor.

»Ich kümmere mich nicht groß um das, was sich im Verlagswesen tut«, sagt A. J. Er nimmt die dicke schwarze Brille ab und hat dann lange damit zu tun, die Gläser zu putzen.

»Es tut mir sehr leid, wenn das ein Schock für Sie ist.« Amelia legt A. J. eine Hand auf den Arm, die er abschüttelt.

»Was soll’s? Ich habe den Mann kaum gekannt, habe ihn dreimal im Jahr gesehen. Nicht oft genug, um ihn als Freund zu bezeichnen. Und jedes Mal, wenn er kam, hat er versucht, mir was zu verkaufen. Freundschaft ist was anderes.«

Amelia merkt, dass A. J. nicht in der Stimmung ist, sich die Winterliste anpreisen zu lassen. Sie sollte ihm anbieten, ein andermal wiederzukommen. Aber dann denkt sie an die zweistündige Fahrt nach Hyannis und die achtzig Minuten mit der Fähre nach Alice und den Fahrplan, der ab Oktober so unregelmäßig ist. »Hätten Sie etwas dagegen«, sagt sie, »wenn wir die Wintertitel von Knightley durchgehen, wo ich schon mal hier bin?«

A. J.s Büro ist ein begehbarer Schrank. Es hat keine Fenster, keine Bilder an der Wand, es gibt keine Familienfotos, keinen Schnickschnack, keinen Notausgang. Das Büro beherbergt Bücher, billige Metallregale, wie man sie in Werkstätten findet, einen Aktenschrank und einen uralten Computer, vielleicht noch aus dem 20. Jahrhundert. A. J. bietet ihr nichts zu trinken an, und obgleich Amelia Durst hat, bittet sie nicht darum. Sie räumt Bücher von einem Stuhl und setzt sich.

Dann nimmt sie sich die Winterliste vor. Es ist die kleinste Liste des Jahres, sowohl vom Umfang als auch von den Erwartungen her. Ein paar wichtige (oder zumindest vielversprechende) Erstlingswerke, ansonsten hat der Verlag all die Bücher hineingepackt, für die er die geringsten kommerziellen Hoffnungen hegt. Trotzdem mag Amelia oft gerade die Wintertitel besonders gern. Das sind die Underdogs, die Geheimtipps, die eher aussichtslosen Fälle. (Die Vermutung, dass auch sie sich zu dieser Kategorie zählt, dürfte nicht zu weit hergeholt sein.) Zum Schluss kommt sie zu ihrem Lieblingsbuch, den Memoiren eines achtzigjährigen lebenslangen Junggesellen, der mit achtundsiebzig geheiratet hat. Seine Frau ist zwei Jahre nach der Hochzeit mit dreiundachtzig gestorben. Krebs. Aus seiner Biografie geht hervor, dass der Verfasser als Wissenschaftsreporter für verschiedene Zeitungen im Mittleren Westen gearbeitet hat. Der Stil ist präzise, humorvoll, ganz und gar nicht weinerlich. Amelia hat im Zug von New York nach Providence geheult wie ein Schlosshund. Sie weiß, dass Späte Blüte ein kleines Buch ist und die Beschreibung arg nach Klischee klingt, aber sie ist überzeugt davon, dass auch andere Leute es mögen werden, wenn sie ihm eine Chance geben. Nach Amelias Erfahrung wären die meisten Probleme lösbar, wenn die Leute öfter mal Chancen zulassen würden.

Amelia ist mit der Beschreibung von Späte Blüte zur Hälfte durch, als A. J. laut aufseufzt und den Kopf auf den Schreibtisch legt.

»Ist was?«, fragt Amelia.

»Das ist nichts für mich«, sagt A. J.

»Probieren Sie’s einfach mal mit dem ersten Kapitel.« Amelia schiebt das Leseexemplar zu ihm hinüber. »Das Thema kann furchtbar kitschig sein, ich weiß, aber wenn Sie sehen, wie es geschrieb…«

Er fällt ihr ins Wort. »Das ist nichts für mich.«

»Okay, dann stelle ich Ihnen noch was anderes vor …«

A. J. seufzt wieder. »Sie machen einen sympathischen Eindruck, junge Frau, aber Ihr Vorgänger … Die Sache ist die: Harvey wusste, was ich mag. Wir hatten den gleichen Geschmack.«

»Geben Sie mir eine Chance, Ihren Geschmack kennenzulernen«, sagt sie und kommt sich ein bisschen vor wie eine Figur in einem Porno.

Er murmelt etwas, es hört sich an wie »Wozu das Ganze«, aber sie ist sich nicht sicher.

Amelia klappt den Knightley-Katalog zu. »Bitte sagen Sie mir einfach, was Sie mögen, Mr. Fikry.«

»Mögen?«, wiederholt er angewidert. »Ich kann Ihnen sagen, was ich nicht mag: Postmodernismus, postapokalyptische Schauplätze, Post-mortem-Erzähler, magischen Realismus. Vorgeblich clevere formale Stilmittel, unterschiedliche Schriftarten, Bilder an Stellen, wo sie nicht hingehören, im Grunde jede Art von technischem Schnickschnack – all das spricht mich nicht an … Fiktionales über den Holocaust oder andere große Tragödien der Welt finde ich abstoßend, das gehört ins Sachbuch. Was ich außerdem nicht mag, ist Vermanschtes wie literarische Krimis oder literarische Fantasyromane. Literarisch sollte literarisch und Unterhaltung Unterhaltung bleiben, bei Kreuzungen kommt selten etwas Vernünftiges heraus. Ich mag auch keine Kinderbücher, zumal solche mit Waisen, und ich habe keine Lust, meine Regale mit sogenannten Büchern für junge Erwachsene vollzustopfen. Ich mag nichts, was über vierhundert oder unter hundertfünfzig Seiten hat. Mich schaudert bei Romanen, die Ghostwriter für Stars des Reality-Fernsehens produzieren, bei Prominentenbildbänden, Sportmemoiren, im Verbund mit Kinofilmen entstandenen Ausgaben, Neuheiten und – das dürfte selbstverständlich sein – Vampiren. Ich führe selten Erstlingswerke, anspruchslose Frauenunterhaltung, Lyrik oder Übersetzungen. Ich würde am liebsten keine Serien anbieten, aber der Zustand meiner Brieftasche zwingt mich dazu. Sie brauchen mir von der ›nächsten großen Serie‹ erst zu erzählen, wenn sie auf der Bestsellerliste der New York Times angekommen ist. Und absolut unerträglich, Ms. Loman, finde ich dünne literarische Memoiren über unbedeutende alte Männer, deren unbedeutende alte Frauen an Krebs gestorben sind. Egal, wie gut sie nach Meinung der Verlagsvertreterin auch sein mögen. Egal, wie viele Exemplare davon ich Ihrer Ansicht nach am Muttertag verkaufen kann.«

Amelia wird rot, allerdings mehr aus Wut als aus Verlegenheit. Manchem, was A. J. gesagt hat, kann sie zustimmen, sein Gehabe aber findet sie unnötig kränkend. Die Art von Büchern, die er aufgezählt hat, macht sowieso höchstens die Hälfte des Programms von Knightley aus. Sie mustert ihn. Er ist älter als sie, aber nicht sehr viel älter, ein Unterschied von zehn Jahren vielleicht. Er ist zu jung, um so weniges zu mögen. »Was mögen Sie denn?«, fragt sie.

»Alles andere«, sagt er. »Ich gebe auch gern zu, dass ich hin und wieder eine Schwäche für Short-Story-Sammlungen habe. Die kaufen meine Kunden aber nicht.«

Amelia hat nur eine Short-Story-Sammlung auf ihrer Liste, ein Erstlingswerk, das sie nicht ganz gelesen hat und aus Zeitmangel wohl auch nicht zu Ende lesen wird, aber die erste Story hat ihr gefallen. Eine Gruppe amerikanischer und eine Gruppe indischer Sechstklässler nehmen an einem internationalen Brieffreundschaftsprojekt teil. Die Erzählerin ist eine Inderin aus der amerikanischen Gruppe, die den Amerikanern ständig skurrile Desinformationen über die indische Kultur unterjubelt. Amelia räuspert sich, denn sie hat immer noch einen schrecklich trockenen Hals. »Das Jahr, in dem Bombay zu Mumbai wurde. Interessieren würde das besonders …«

»Nein«, sagt er.

»Ich habe Ihnen doch noch gar nicht erzählt, wovon es handelt.«

»Nein. Ich bleib dabei.«

»Aber warum?«

»Wenn Sie ehrlich sich selbst gegenüber sind, müssen Sie zugeben, dass Sie mir davon nur erzählen, weil ich indische Wurzeln habe und Sie denken, dass mir das Thema besonders am Herzen liegt. Stimmt’s?«

Amelia malt sich aus, wie sie den Uralt-Computer auf seinem Kopf zertrümmert. »Ich erzähle Ihnen davon, weil Sie gesagt haben, dass Sie Short Storys mögen. Und es ist die einzige Short-Story-Sammlung auf meiner Liste. Und damit das klar ist«, schwindelt sie, »das Buch ist einfach toll, von Anfang bis Ende. Auch wenn es ein Erstling ist. Und soll ich Ihnen noch was sagen? Ich liebe Erstlinge. Ich finde es wunderbar, etwas Neues zu entdecken. Unter anderem auch deshalb mache ich diesen Job.« Amelia steht auf. Ihr Kopf dröhnt. Vielleicht trinkt sie wirklich zu viel? In ihrem Kopf hämmert es und – ja – in ihrem Herzen auch. »Legen Sie Wert auf meine Meinung?«

»Nicht besonders«, sagt er. »Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig?«

»Sie haben hier ein wirklich schönes Geschäft, Mr. Fikry, aber wenn Sie weiter auf diesem … diesem … diesem …« Als Kind hat sie gestottert, und wenn sie sich aufregt, kommt es wieder; sie räuspert sich. »… rückständigen Denken bestehen, dürfte es Island Books nicht mehr allzu lange geben.«

Amelia legt Späte Blüte zusammen mit dem Winterkatalog auf seinen Schreibtisch. Beim Gehen stolpert sie über die Bücher auf dem Gang.

Die nächste Fähre geht erst in einer Stunde, sie läuft deshalb langsam durch die Stadt zurück. Vor einer Bank of America erinnert eine Gedenktafel an den Sommer, den Herman Melville dort verbracht hat, als das Haus noch das Alice Inn war. Sie holt ihr Handy heraus und macht ein Foto von sich mit der Gedenktafel. Alice ist ein hübscher Ort, und sie wird kaum einen Grund haben, so bald wieder herzukommen.

Sie schickt ihrem Boss in New York eine SMS: Sieht nicht nach Bestellungen von Island aus :-(

Der Boss antwortet: Keine Sorge. Island ist nur ein kleiner Kunde, der größte Teil der Bestellungen kommt kurz vor Sommerbeginn, wenn die Urlauber eintrudeln. Ein schräger Typ, der Buchhändler dort, Harvey hatte mit der Frühjahrs-/Sommerliste immer mehr Glück. Dir wird’s ebenso gehen.

Um sechs sagt A. J. zu Molly Klock, dass sie gehen kann. »Wie ist die neue Munro?«, fragt er.

Sie stöhnt. »Warum fragen mich das heute alle?« Sie meint nur Amelia, neigt aber zu Übertreibungen.

»Wahrscheinlich, weil du sie liest.«

ENDE DER LESEPROBE