Die wilde Wut des Wellensittichs - Peter Probst - E-Book

Die wilde Wut des Wellensittichs E-Book

Peter Probst

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Beschreibung

So witzig wie liebevoll erzählt Peter Probst von einer Generation im Aufbruch, die sich mit dem, was sie vorfindet, nicht mehr abfinden will, und zeichnet ein Sittenbild der bundesdeutschen Gesellschaft der 70er-Jahre, so fern und doch so nah. Wir müssen hier raus, das ist die Hölle. Wir leben im Zuchthaus. Wir sind geboren, um frei zu sein – der Song von Ton Steine Scherben bringt Peter Gillitzers Lebensgefühl auf den Punkt. Sein Vater verbietet ihm alle Freiheiten, es sei denn, sie finden unter Aufsicht oder in der Pfarrgemeinde statt. Peter würde sein konservatives Elternhaus am liebsten sofort verlassen, aber er ist zu jung. Und wo findet das freie Leben wirklich statt? In einer Kommune in Gräfelfing vielleicht, die er heimlich besucht? Zum Glück lernt er ein Mädchen kennen, das sich nicht einmal daran stört, dass er einen unsichtbaren Freund an seiner Seite hat: Peter Gabriel, den exzentrischen Sänger der Band Genesis. Die wilde Wut des Wellensittichs erzählt mit scharfem Blick für Situationskomik und hinreißenden Dialogen vom Erwachsenwerden, von den Höhen und Tiefen, von Selbstbehauptung und Niederlagen, vom Einbruch der Politik in das private Leben, vor allem aber von der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, die so, wie sie ist, nicht bleiben kann.

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Seitenzahl: 384

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Über das Buch

So witzig wie liebevoll erzählt Peter Probst von einer Generation im Aufbruch, die sich mit dem, was sie vorfindet, nicht mehr abfinden will, und zeichnet ein Sittenbild der bundesdeutschen Gesellschaft der 70er-Jahre, so fern und doch so nah.

Wir müssen hier raus, das ist die Hölle. Wir leben im Zuchthaus. Wir sind geboren, um frei zu sein – der Song von Ton Steine Scherben bringt Peter Gillitzers Lebensgefühl auf den Punkt. Sein Vater verbietet ihm alle Freiheiten, es sei denn, sie finden unter Aufsicht oder in der Pfarrgemeinde statt. Peter würde sein konservatives Elternhaus am liebsten sofort verlassen, aber er ist zu jung. Und wo findet das freie Leben wirklich statt? In einer Kommune in Gräfelfing vielleicht, die er heimlich besucht? Zum Glück lernt er ein Mädchen kennen, das sich nicht einmal daran stört, dass er einen unsichtbaren Freund an seiner Seite hat:

Peter Gabriel, den exzentrischen Sänger der Band Genesis.

Die wilde Wut des Wellensittichs erzählt mit scharfem Blick für Situationskomik und hinreißenden Dialogen vom Erwachsenwerden, von den Höhen und Tiefen, von Selbstbehauptung und Niederlagen, vom Einbruch der Politik in das private Leben, vor allem aber von der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, die so, wie sie ist, nicht bleiben kann.

Über den Autor

Peter Probst ist 1957 in München geboren. Er studierte Deutsche und Italienische Literatur sowie Katholische Theologie. Bald begann er mit dem Schreiben von Drehbüchern, etwa für Tatort. Für seine Fernsehspiele erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Ab 2006 schrieb Probst erst Kinderkrimis, dann Kriminalromane wie Blinde Flecken oder Im Namen des Kreuzes. Bei dem Sachbuch Verliebt, verlobt… verrückt? arbeitete er mit seiner Frau Amelie Fried zusammen, mit der er in München lebt. Zuletzt erschien von ihm Wie ich den Sex erfand

(Kunstmann 2020).

Peter Probst

DIE WILDE WUT DES WELLENSITTICHS

Roman

Verlag Antje Kunstmann

Für Paulina und Leo

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

1

Die Rechnung klang einleuchtend. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sich jeder der fünf Musiker nach dem Auftritt zehn Groupies angeln sollte, würde für uns vier Münchner bei geschätzt fünfhundert Zuschauerinnen eine gigantische Auswahl übrig bleiben. Sonst wären wir nie zu einem Konzert der Bay City Rollers gegangen, die den Fotos in der Bravo nach zu schließen fast ausschließlich weibliche Fans hatten.

Ich war in den Osterferien mit meinen Klassenkameraden Markus und Hans-Jürgen zu einem Sprachaufenthalt ins britische Seebad Worthing geschickt worden. Holger, der schon fast siebzehn war und in die Klasse über uns ging, hatten meine Eltern beauftragt, während meines ersten unbegleiteten Auslandsaufenthalts auf mich aufzupassen – ausgerechnet ihn.

»That’s your big chance, Gillitzer, do you understand?«, hatte er beim Ticketkauf gesagt. »Wenn nichts mit einem Roller läuft, werden die Mädels sich auf dich stürzen und, heißgetanzt wie sie sind, sofort Sex haben wollen.«

Ich hatte zwar Sorge, bei einem solchen Ansturm den Überblick zu verlieren und aus Versehen mit einer Engländerin am Strand zu landen, die mir nicht gefiel, oder mit mehreren, die sich nicht einigen konnten, wer mich kriegte, und mich in Stücke rissen. Trotzdem hatte ich keinen Moment gezögert, mich meinen Freunden anzuschließen, denn der Southern Pavilion am Ende der Landungsbrücke war eine Kirche der Rockmusik. Hier hatten schon Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, The Who, Janis Joplin und Genesis gespielt.

Genesis mit Peter Gabriel als kreativem Kopf und Frontmann!

Nachdem meine Liebe zu Franz Josef Strauß in letzter Zeit deutlich abgekühlt war, war Gäib, wie ich ihn nannte, wenn ich mit ihm allein war, mein neuer heimlicher Gesprächspartner geworden.

Peter Gabriel. Ich hielt es für keinen Zufall, dass er genauso hieß wie der Erzengel Gabriel, der Maria verkündet hatte, dass sie vom Heiligen Geist schwanger geworden war. Unser Klassenlehrer, Herr Habermann, der uns in Deutsch und katholischer Religionslehre unterrichtete, hatte Gabriel als Engel des Wachstums, der Wiederauferstehung und der Visionen bezeichnet. Allein deswegen konnte ich mir keinen besseren Ratgeber vorstellen als Gäib.

Eingequetscht zwischen fünfhundert Mädchen kämpften wir uns über das Promenadendeck voran, da fing mein Herz plötzlich wild zu pochen an. Es gab keinen anderen Zugang zum Pavilion, also musste auch Peter Gabriel über diese Planken zu seinem Konzert geschritten sein. Ich wäre am liebsten auf die Knie gefallen, um das Holz zu berühren oder sogar zu küssen, aber dann hätten mich die schon ziemlich aufgekratzten Engländerinnen niedergetrampelt und es wäre wieder mal nichts mit dem Sex geworden.

Seit meinem ersten Mal vor eineinhalb Jahren war auf diesem Feld nichts mehr passiert. Hetti hatte mich zwar von meiner lästigen Unschuld befreit, aber mir schon bald danach gestanden, dass sie erfahrenere Partner bevorzugte. Bei meinen folgenden Anbahnungsversuchen stellte ich mich eher ungeschickt an. Ich schrieb für Mädchen, die sich einen Rocker wünschten, Gedichte und spielte vor denen, die auf Kuschelsex standen, den bösen Buben. Es war, als wolle etwas in mir verhindern, dass meine mich ununterbrochen heimsuchenden erotischen Fantasien Wirklichkeit wurden.

»Magst du nicht ausnahmsweise dein blödes Käppi absetzen?«, sagte Markus, der als Sohn einer SPD-Stadträtin sonst eher kein Spießer war.

Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Das schwarze Käppi, in das rundum zierliche Edelweiße und Enziane und vorne das Wort Sustenpass und das Schweizer Wappen eingestickt waren, war mein Markenzeichen.

»Du willst doch auch mal eine richtig knallen, oder?«, hatte Gäib eines Nachts zu mir gesagt. Er stand in einem schwarz glitzernden Umhang gehüllt vor meinem Bett. Sein Gesicht war weiß geschminkt, die Augen mit Kajalstift umrandet.

»Na ja, knallen …«

»Dann halt rammeln oder bumsen.«

Gäib war eigentlich überhaupt nicht vulgär, er wählte diese Sprache nur, um die meist aus Arbeiterfamilien stammenden Musikerkollegen seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund nicht spüren zu lassen. Ich erklärte ihm, dass er bei einem Arztsohn wie mir keine derartige Rücksicht nehmen müsse, und wir hatten uns auf »vögeln« geeinigt.

Mal richtig vögeln wollte ich tatsächlich mit jedem Tag dringender trotz der Stolpersteine, die ich mir selbst in den Weg legte.

»Dann musst du erst mal was an deinem Styling verbessern, Pete«, hatte Gäib gesagt.

»Wieso an meinem Styling?«

Was war schlecht an meiner ausgefransten Jeans mit dem mit Kuli aufgemalten Peace-Zeichen? Oder an meiner weinroten Cordjacke mit dem von unserer Hausangestellten Hertha auf den Ärmel genähten Regenbogen?

»Das reicht nicht, wenn du dich von der grauen Masse abheben willst. Die Girls müssen auf den ersten Blick checken, dass du nicht nur ganz okay, sondern exceptional bist.«

»Na ja, exceps …«

»Nimm dir ein Beispiel an mir.«

Ich kannte Fotos von Genesis-Konzerten, bei denen Peter Gabriel im roten Kostüm mit einer Fuchsmaske, mit Fledermausflügeln am Kopf oder als Blume aufgetreten war. Aber dafür war der Münchner Westen im Jahr 1974 noch nicht reif. Gäib hatte ja grundsätzlich recht, dass ich mehr aus mir machen sollte, aber dafür musste ich etwas finden, das zu mir, Untermenzing, Pasing und vielleicht sogar zu Allach passte.

Das Sustenpass-Käppi hatte in einem Abfallcontainer neben unserer Einfahrt gelegen. Unsere Nachbarin, Herlinde, hatte endlich einen Mann zum Heiraten gefunden und ausgemistet, bevor sie zu ihm aufs Land zog. Ich fragte sie nicht nach dem ursprünglichen Besitzer des Käppis, weil ich nicht hören wollte, dass sie mal was mit einem Senn gehabt oder in ihrer Funktion als Personalchefin bei der Caritas einen Schweizer eingestellt hatte. Lieber stellte ich mir vor, dass Gäib das Käppi zwischen den verblichenen Ausgaben der Münchner Katholischen Kirchenzeitung und einer Sammlung verstaubter Trockenblumensträuße versteckt hatte.

Für mich.

Noch am Container nahm ich all meinen Mut zusammen, platzierte das Sennen-Käppi auf meinem Scheitel und ging so zur Schule.

Erste Stunde, Geschichte. Der Lehrer, der im Krieg einen Arm verloren hatte, rief in seinem Vortrag über Bismarck mit vibrierender Stimme: »Blut und Eisen! Blut und Eisen!« und lief vor lauter Begeisterung in den Gang zwischen unseren Bänken.

»Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Blut und Eisen.«

Das war das dritte Mal, dachte ich. Da bemerkte er mein Käppi.

»Runter damit, Gillitzer!«

Ich reagierte nicht.

»Bist du schwerhörig?«

Ich seufzte. Einer wie er würde nie begreifen, dass ich exzeptionell war und deswegen ein Zeichen setzen musste.

»Oder ist das …?«

Er begann zu stammeln.

»Du bist doch kein …?«

Er sprach das Wort nicht aus und beschrieb stattdessen mit dem Zeigefinger einen Bogen über seiner Stupsnase, als wäre sie krumm. Ich verstand nicht, was er mit dieser Geste meinte, konnte aber spüren, wie seine Autorität mit jeder Sekunde mehr schrumpfte. Deswegen sagte ich »doch«.

»Aber, gehst du nicht in den katholischen Religionsunterricht beim Kollegen Habermann?«

Ich konnte mir nicht erklären, was das mit der Schweiz zu tun haben sollte, und sagte wieder nur »doch«.

»Eigentlich wurde für solche wie dich doch der Ethikunterricht eingeführt … und für die Ungläubigen natürlich.«

Langsam ging mir sein Gestammel auf die Nerven.

»Ich muss das tragen.«

»Ich weiß schon. Tja.«

Er murmelte noch etwas von »Religionsfreiheit«, zog sich hinter sein Pult zurück und rettete sich mit Bismarck. Begeistert von der magischen Kraft meines Sustenpass-Käppis setzte ich es von diesem Tag an nur noch zum Schlafen ab.

»Ihr müsst unbedingt auf einen High Tea in den Pavilion gehen«, hatte unser Englischlehrer, Herr Bergmüller, uns eingeschärft, »da könnt ihr reinstes, britisches Art déco bewundern. Allein die filigranen Schmiedearbeiten auf der Galerie mit dem Sonnenzeichen und die hohen, bleiverglasten Fenster! Ihr ahnt nicht, wie sehr ich euch beneide. Leider war ich ewig nicht mehr da.«

»Seit dem Krieg wahrscheinlich«, hatte Markus gesagt, aber dafür war Herr Bergmüller zu jung.

Die Fenster, die er so gern wiedergesehen hätte, waren an diesem Abend hinter dicken, braunen Vorhängen versteckt, die nach Zigaretten und Schweiß rochen und sich klebrig anfühlten. Ich bahnte mir mit Markus, Holger und Hans-Jürgen den Weg zu einer Stelle am Rand des Saals, wo sich die Mädchen etwas weniger ballten. Wir waren kaum angekommen, da flammten Scheinwerfer auf, die Bay City Rollers tänzelten auf die Bühne und ein infernalisches Geschrei hob an, das während des gesamten Konzerts noch anwuchs und höchstens kurz abebbte, wenn einer der Musiker zu seinen Fans sprach. Die fünf waren nur wenige Jahre älter als wir und traten in kurzen Hosen im Schottenkaro und in weißen Turnschuhen auf. Ihre Föhnfrisuren sahen wie schlecht sitzende Perücken aus. Einer trug einen weißen Kuschelpulli mit braunem Querstreifen, den ich bisher nur bei Großmüttern gesehen hatte, ein anderer eine cremefarbene Lacklederweste und nichts drunter, der Dritte eine Uniformjacke mit aufgenähten, karierten Taschen. Wenn sie im Chor sangen, lächelten sie wie kleine Kinder, die zum ersten Mal vor einem Weihnachtsbaum stehen.

Hans-Jürgen äffte die Fistelstimmen der Rollers nach, Markus steckte sich den Finger in den Mund, als wolle er gleich kotzen. Da drängte sich eine Riesin vor mich. Weil sie mit ihrem breiten Kreuz die Bühne komplett verdeckte, schaute ich mir die liebeshungrigen Fans, die mich nach dem Konzert vernaschen sollten, genauer an. Mir fiel auf, dass es deutlich mehr blasse, rothaarige Mädchen gab als in Untermenzing. Das hatte Holger, der, wie er gern erwähnte, schon Massen von Weibern aufs Kreuz gelegt hatte, natürlich längst registriert. Er packte mich am Arm und brüllte mir ins Ohr. Ich verstand nur »Haut hundert Mal sensibler« und »Orgasmusgarantie«. Ich bezweifelte nach wie vor, dass ich nach dem Konzert die freie Wahl haben würde. Bei meinem Glück schleppte mich die Riesin ab, um am Strand festzustellen, dass ich ihr in jeder Hinsicht zu klein war. Sie machte jetzt Trampelschritte, immer vor und zurück und nach jedem zweiten Mal einen Hüftschwung, mit dem sie mich gegen das Mädchen hinter mir stieß. Ich drehte mich um, um mich zu entschuldigen, blickte in helle, fröhliche Augen und spürte, wie mein Nacken sich versteifte. Das passierte mir bei Begegnungen mit Mädchen mit Zahnlücke oder Grübchen immer. Sie hatte beides und außerdem kastanienbraune Locken. Auch schrie sie nicht so verrückt wie die anderen, sondern bewegte nur sanft ihren Oberkörper im Rhythmus der Musik.

Ich rief: »Excuse me!«

Sie deutete Richtung Bühne. Aber was interessierte mich der Rücken der Riesin, wenn hinter mir so ein wunderbares Mädchen stand.

»My name is Pete. I komm, no come, from Munich.«

Sie machte mir ein Zeichen, dass sie mich nicht verstand.

»Out of Untermenzing, exactly«, schrie ich.

Sie hob bedauernd die Schultern, da brüllte ich eben auch.

»Do you like Germany?«

Ihr Lächeln erlosch. Herr Bergmüller hatte uns darauf vorbereitet, dass wir als Deutsche nicht bei allen Engländern beliebt seien. Es könne vorkommen, dass wir als Krauts oder Nazis bezeichnet würden. Das sei aber nicht so böse gemeint, wie es klinge, und in gewisser Weise verständlich angesichts der deutschen Luftangriffe auf England.

»Und was ist mit Dresden?«, hatte Thomas wütend eingeworfen. Sein Opa, der angeblich einen Bosniaken durch einen einzigen Hieb mit dem Totschläger getötet hatte, redete mit ihm ständig über den Krieg.

Herr Bergmüller hatte darüber hinweggehört und Markus, Hans-Jürgen und mir ans Herz gelegt, uns in Worthing als Botschafter eines friedlichen Deutschlands zu verstehen. Ich deutete auf den Regenbogen auf meinem Jackenärmel.

»This a is a sign for peace!«

Da machte das Mädchen mir einen Wink. Offenbar wollte auch sie im Dienste der Völkerverständigung wirken und sich anhören, was ich ihr so dringend zu sagen hatte. Ich konnte es nicht glauben. Sie hatte eine teure Karte gekauft, hatte sich, auch wenn sie vielleicht kein ganz so fanatischer Fan war, sicher wochenlang auf die Rollers gefreut, sie kannte ihre Songs und wollte keinen versäumen. Und jetzt verzichtete sie wegen mir womöglich auf die größten Hits. Da ich vor Staunen wie angewachsen dastand, nahm sie meine Hand.

»I’m Cathy.«

Holger sah es und machte große Augen, obwohl sie nicht rothaarig war, Markus wäre, so wie er schaute, am liebsten mitgekommen. Cathys Hand fühlte sich warm und weich an und zog mich zu einer gusseisernen Wendeltreppe.

»Art deco, or?«, schrie ich und ärgerte mich im nächsten Moment, in solchen Situationen grundsätzlich etwas Blödes zu sagen.

Plötzlich blieb Cathy stehen.

»Wait! Listen!«

Die Band hatte zu spielen aufgehört. Im Saal herrschte angespannte Stille, nur ab und zu kreischte jemand »Allen!« oder »Woody!« oder »Les«!

Der Leadsänger mit dem Kuschelpulli war an den Bühnenrand getreten und wandte sich an seine Fans. Es klang überhaupt nicht englisch, fand ich, jedenfalls nicht wie das Englisch, das Herr Bergmüller uns beizubringen versuchte. Trotzdem glaubte ich zu verstehen, dass wir etwas auf die Bühne schmeißen sollten, »on the stage«. Und zwar was Wichtiges, »important«. Aber wieso »body«?

Vielleicht was von unserem wichtigsten Körperteil?

Ich schaute fragend zu Cathy. Sie hob grinsend die Schultern.

Im Saal entstand Unruhe, verlegenes Kichern, aufgeregtes Wispern. Die Mädchen huschten nach allen Seiten auseinander.

Blitzartig wurde mir bewusst, dass das meine Big chance war, Cathy nicht nur mit Deutschland zu versöhnen, sondern vielleicht sogar für mich zu gewinnen.

Mein Sustenpass-Käppi landete als Erstes vor den Füßen des Sängers. Cathy starrte mich ungläubig an. Erst da fiel mir das hektische Durcheinander hinter den langen, braunen Vorhängen auf. Ich sah Füße, die Ballerinas und Pumps abstreiften, Röcke, die hochgeschoben wurden, nackte Schenkel, dann Mädchen, die kreischend Richtung Bühne stürzten und mein Käppi unter einem Berg Unterhosen begruben.

So freundlich Cathy bis dahin zu mir gewesen war, so gemein reagierte sie jetzt. Sie schüttete sich aus vor Lachen und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Wenn sie zwischendurch kurz Atem holte, klärte sie die Mädchen, die uns mit fragenden Gesichtern umringten, darüber auf, dass ich ein Kraut sei, der seinen Kopf für das wichtigste Körperteil hielt. Die rotwangige, schwitzende Meute, die sich über mich lustig machte, wurde immer größer.

Shang-a-lang rettete mich. Als die Bay City Rollers ihren Hit anstimmten, stürzte alles Richtung Bühne und ich nutzte die Gelegenheit zur Flucht.

Ich stand hinter dem Southern Pavilion an der Spitze der Landungsbrücke, starrte ins Wasser tief unter mir und fragte mich, welcher Teufel mich geritten hatte. Ich war doch gar kein Kopfmensch, seit Jahren beschäftigten mich überwiegend Fragen unterhalb der Gürtellinie. Gut, um hinter die Geheimnisse unter den Unterhosen zu kommen, hatte ich natürlich meinen Kopf gebraucht. Ich nutzte ihn auch fürs Lesen, Gedichteschreiben und immer häufiger Diskutieren, aber mein wichtigster Körperteil lag genauso wie bei diesen englischen Mädchen eindeutig achtzig Zentimeter tiefer. Ich hätte ahnen müssen, dass Typen wie die Rollers Unterhosen sammelten, keine Schweizer Sennen-Käppis. Bei einem Genesis-Konzert wäre das etwas anderes gewesen. Da hätte Peter Gabriel mich nach meinem Käppi-Wurf wahrscheinlich auf die Bühne geholt und zu meinem exzeptionellen Mut beglückwünscht.

Warum hatte ich das getan?

Hatte ich Cathy meine Unabhängigkeit beweisen, ihr zeigen wollen, dass ich nicht zur grauen Masse gehörte, die willfährig dem Ruf eines affigen Sängers folgte? Oder hatte ich mich aus Ängstlichkeit absichtlich blöd gestellt?

Ich bekam nicht mit, dass die Bay City Rollers ihre letzte Zugabe gespielt hatten und der Southern Pavilion sich zu leeren begann. Das Gelächter der Mädchen dröhnte immer noch in meinen Ohren und mein Gesicht glühte vor Scham. Worthing hätte meinen Durchbruch bei den Frauen bedeuten können, hier war ich ein unbeschriebenes Blatt. Keiner kannte die Geschichte mit meiner erfundenen Freundin oder die meiner Selbst-Aufklärung mithilfe von Sexkino-Werbung aus dem Münchner Merkur und dem Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. Jetzt hatte ich mich in aller Öffentlichkeit bis auf die Knochen blamiert. Ich war der Loser aus Germany, der Krautfresser mit dem Käppi, die lächerliche Figur. Ich rief leise nach Gäib, aber er antwortete nicht und der Sog des schwarzen Wassers unter mir wurde immer stärker. Da legte sich ein Arm um meine Schulter.

»Gäib?«

»Hä?«

»Ah, Holger.«

»Guter Fick?«

Ich versuchte, meine erstarrten Gesichtsmuskeln zu lockern, und rang mir ein schiefes Lächeln ab. Er boxte mich gegen die Brust.

»Sau.«

»Bei dir?«

»Nichts dabei. Man wird wählerisch, wenn man so viel Sex gehabt hat wie ich. Außerdem muss ich ja auf dich aufpassen.«

»Nein, musst du nicht.«

»Doch. Job ist Job.«

Er gestand mir, dass meine Mutter ihm vor der Abfahrt einen Fünfziger zugesteckt hatte, damit er seine Aufgabe auch wirklich ernst nahm.

»Ist ja heftig«, sagte ich.

Er zuckte bedauernd die Achseln.

»Wo sind eigentlich Hans-Jürgen und Markus?«

»Mit zwei Chicks Richtung Strand abgeschoben. Aber die Sensation des Abends ist eine andere, Gillitzer. Der Witzbold von Drummer hat sich mit deinem Käppi auf dem Kopf von seinen Fans verabschiedet. Und die haben getobt.«

»Mit … meinem … Käppi? Und wo ist er jetzt?«

»Lässt sich mit seinen Groupies zum Hotel chauffieren, schätze ich.«

»Zu welchem?«

Ich malte mir aus, wie ich eine Polizeiabsperrung durchbrach, Hotelboys und Bodyguards zur Seite stieß und die Suite stürmte, in der sich der Drummer verwöhnen ließ. Ich war fest entschlossen, mir mein Markenzeichen zurückzuholen, aber Holger meinte, in Worthing gäbe es sicher nur Scheißhotels und die Band wäre wahrscheinlich direkt zum nächsten Tourstop in Portsmouth oder Bournemouth gefahren.

»Scheiße. Scheiße. Scheiße.«

Ich hatte mein Sustenpass-Käppi mit so viel Stolz getragen, es war das Zeichen meiner Exzeptionalität gewesen, seine magischen Kräfte sollten mir in Worthing Glück bringen. Jetzt war es unwiederbringlich weg und landete wahrscheinlich gerade im Abfalleimer irgendeines Edelhotels.

2

Die Willards wohnten ein ganzes Stück vom Stadtzentrum entfernt im dritten von acht braunen, schmalen Reihenhäuschen und vermieteten zwei ihrer vier Zimmer an Sprachschüler. Vater Willard machte, wenn ich es richtig verstanden hatte, irgendetwas mit alten Autos und redete nicht mit seinen jungen Gästen. Vermutlich war er beleidigt, weil er ihretwegen auf die Wohnzimmercouch verbannt worden war. Im Ehebett schliefen seine Frau, Rose, die als Barfrau in einem Nachtclub tätig war, und der neunjährige Greg. Denise aus Montpellier war am selben Tag bei den Willards eingetroffen wie ich. Zur Begrüßung hatte Rose Willard uns erklärt, dass sie nicht unsere Mama sei, und dabei auf ihre riesigen Brüste getippt. Uns zuliebe untermalte sie jeden Satz mit solchen Gesten und redete sehr langsam. So verstand ich, dass sie auch nicht unsere Reiseführerin oder Lehrerin war und wir sofort rausflogen, wenn wir in ihrem Haus Sex hatten, miteinander oder mit anderen, oder wenn wir ins Bett kotzten. Außerdem, sagte sie, sollten wir nicht glauben, dass »Little Greg« bescheuert sei. Er sei smarter als wir beide zusammen, könne aber leider nicht hören und nur Englisch, aber kein Französisch oder Deutsch von den Lippen ablesen. Denise gähnte, sie verstand nicht nur kein Wort, sie hasste England und die Engländer. Deswegen verbrachte sie ihren Sprachaufenthalt vor allem im Bett und zählte die Tage bis zu ihrer Abfahrt. Ich hatte den Eindruck, dass sie auch die Deutschen hasste, weil sie nie »hello« und nicht mal »Bonjour« zu mir sagte. Die Gefahr, dass Rose mich wegen Sex mit Denise rausschmiss, war also gering.

Am ersten Unterrichtstag in der Sprachschule mussten wir uns mit Namen, Alter und Heimatort auf Englisch vorstellen. Unsere junge Lehrerin, Ann, die noch studierte und auf eine charmante Weise unsicher war, fragte auch, welchen Beruf wir später mal ergreifen wollten. Ich war nach einer Ärztin (doctor), einem Raumfahrttechniker (space technician) und einer Stewardess (stewardess) an der Reihe. Als ich »I will become writer« sagte, schmunzelten einige meiner Mitschüler. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen Träumer oder Angeber. Ich war froh, nicht, um mich interessanter zu machen, Rockmusiker gesagt zu haben. Nach mir war ein Mädchen dran, das Felicitas Wegener hieß, aber Zita genannt werden wollte. Sie sagte, sie komme aus Augsburg und wolle »car mechanic« werden. Da lachten alle. Mir fiel auf, dass sie ihre dunkelblonden Haare nicht wie die Mehrzahl der Schülerinnen mit dem Föhn aufgeplustert hatte. Sie trug weite Hosen und einen verwaschenen Pulli. Nach der Vorstellungsrunde zog sie ein Buch aus der Tasche – Unterm Rad von Hermann Hesse. Ann hatte nicht den Mut, ihr das Lesen zu verbieten, vielleicht war sie auch froh, sich auf die wenigen Eifrigen konzentrieren zu können, die ihr Englisch verbessern wollten. Meine Freunde und ich hatten uns schon vor der Abreise darauf verständigt, dass wir nicht zum Lernen nach England fuhren. Holger hatte es auf den Punkt gebracht.

»Lernen können wir auch daheim. We go to England to fuck the chicks.«

Weil er der Erfahrenste von uns war, waren wir auf sein Urteil über unsere Mitschülerinnen gespannt. Er machte einen Mund wie eine depressive Kröte.

»Ganz, ganz schlechtes Material.«

»Diese Sabine ist doch sexy«, meinte Markus.

»Zehn Jahre älterer Freund, mindestens.«

»Und Elfriede?«, sagte Hans-Jürgen.

»Frigide.«

»Das sagt du nur, weil es sich reimt.«

»Probier’s aus.«

»Was ist mit Zita?«, sagte ich.

Wenn eine Frau Autoschrauber werden wolle, meinte Holger, sei sie hundertprozentig lesbisch. Er schlage vor, sich ganz auf die englischen Chicks zu konzentrieren. Deutsche Weiber könnten wir noch genug haben.

»Stimmt«, sagte ich und ärgerte mich, dass meine Stimme kiekste.

Als ich am frühen Nachmittag nach Hause kam, wartete Little Greg schon auf mich. Sein Vater war den ganzen Tag auf dem Schrottplatz, seine Mutter ging neben ihrem Job im Nachtclub einer weiteren Tätigkeit nach, über die sie nicht redete. Ich fand bis zum Ende meines Aufenthalts nicht raus, ob sie als Altenpflegerin, Kassiererin oder Prostituierte arbeitete. Klar war nur, dass es sich um eine anstrengende Aufgabe handelte, denn sie kam immer sehr erschöpft nach Hause. Bevor sie zwei Stunden später parfümiert und dick geschminkt zu ihrer Bar aufbrach, schluckte sie ein Medikament namens Ritalin. Als ich sie einmal dabei beobachtet hatte und sie es merkte, hatte sie augenzwinkernd »Wake up litte Susie« gesungen.

Greg lotste mich in die Küche, in der gerade so Platz für zwei Personen war. Er wärmte für mich Baked Beans und kleine, schrumpelige Würstchen auf und servierte dazu labbriges Weißbrot. Zum Trinken gab es Leitungswasser mit einem Teelöffel grünen Sirups. Greg schaute mir von der Tür aus beim Essen zu und verdrückte ein Lachen. Was fand er denn so lustig? Benutzten Engländer etwa nicht Messer und Gabel? Kauten sie nicht so lange, bis jeder Bissen gut zerkleinert und mit Speichel durchweicht war? Wischten sie sich nicht ab und zu die Lippen mit der Serviette ab? Oder war Greg einfach nur gut gelaunt? Ich öffnete meine Arme zu einer fragenden Geste, da zog er sich schnell zurück. Meine Mutter hatte mir eine Menge Tipps auf die Reise mitgegeben, zum Beispiel, dass ich mein Geschirr immer selbst abspülen sollte. Damit würde ich den Gastgebern zeigen, dass ich ein freundlicher, hilfsbereiter Bub sei. Das erkannte offenbar auch Little Greg, denn am nächsten Tag war er schon deutlich zutraulicher. Er stellte sich direkt vor den mit roter Plastikfolie bezogenen Klapptisch und wartete, bis ich aufgegessen hatte. Als ich meinen Teller zur Spüle trug, machte er mir ungeduldig Zeichen, ihm ins Wohnzimmer zu folgen.

Der Raum war düster, durch das schmale Fenster zum Hinterhof drang kaum Licht. Greg knipste eine Stehlampe an und richtete sie, um besser Lippen lesen zu können, auf mein Gesicht. Er deutete auf den Plattenspieler.

»Thank you, Greg, but I don’t want music now.«

Er zeigte auf sich.

»But Greg, you cannot hear.«

Er hielt mir trotzig eine Platte hin.

»Your mother has said, you are …«

Ich hatte schon wieder vergessen, was taub hieß.

Greg wedelte mit der Platte. Ich fragte mich, wieso er sie nicht selbst auflegte. Hatten seine Eltern es ihm verboten?

»The wings. Band on the run«, las ich.

Greg runzelte die Stirn.

»That was English.«

Er schüttelte den Kopf. Herrn Bergmüllers inzwischen zweieinhalb Jahre dauernden Bemühungen, meine bayerisch gefärbte Aussprache zu verbessern, bildeten sich offenbar nur unzureichend auf meinen Lippen ab. Da setzte Greg ein so flehentliches Gesicht auf, dass ich nicht anders konnte, als ihm seinen Wunsch zu erfüllen.

Der erste Song begann mit einem Gitarrenriff, das interessanter klang als das gesamte Bay-City-Rollers-Konzert. Greg machte mir aufgeregt Zeichen, dass ich lauter drehen sollte, und gab sich erst zufrieden, als der Regler auf Maximum stand. In dem Moment begann der Refrain.

If I ever get out of here, thought of giving it all away

To a registered charity, all I need is a pint a day

If I ever get out of here

If we ever get out of here.

Greg machte Bocksprünge und schrie vor Begeisterung.

»Hey, Greg, you are hearing!«

Er nahm meine Hand und legte sie sich auf den Bauch.

Das war die Erklärung! Er spürte die Vibrationen. Wir hörten den Song noch einmal von vorne und hüpften beide zum Refrain. Leider mochte Greg nur diese eine Platte und auf ihr auch nur den ersten Song. Das war auf Dauer etwas eintönig, trotzdem freute ich mich jeden Tag schon beim Essen auf unseren gemeinsamen Tanz.

If I ever get out of here.

Unser harmloses Vergnügen endete jäh an meinem sechsten Tag in Worthing. Von da an waren meine Schmerzen so heftig, dass an Bewegungen wie Tanzen und Hüpfen nicht mehr zu denken war.

3

Ich hatte schon ein ungutes Gefühl gehabt, als Hans-Jürgen vorschlug, wir könnten ja mal in einem Pub »auflaufen«, in das sich normalerweise keine Ausländer und schon gar keine noch nicht sechzehnjährigen Sprachschüler trauten. Das wusste er von Lucy, mit der er nach dem Bay-City-Rollers-Konzert in einer Fischerhütte am Strand rumgemacht hatte. Sie hatte ihn auch informiert, dass man uns nicht mit Lederjacken, Jeans oder Turnschuhen ins White Hart lassen würde. Meine Mutter hatte mir für den Fall, dass zum Abschluss unseres Sprachaufenthalts eine feierliche Zeugnisverleihung stattfinden sollte, meine schwarzen Halbschuhe und die graue Flanellhose eingepackt, die ich nur einmal bei meiner Firmung im letzten Jahr getragen hatte. Um nicht zu spießig zu wirken, kombinierte ich sie für unseren Pub-Besuch mit meiner weinroten Cordjacke.

»Du schaust ja mal wieder super aus, Gillitzer«, sagte Holger, der uns am Eingang erwartete. »In dem Aufzug lässt der Türsteher dich garantiert nicht rein.«

Aber der kleine, nahezu quadratische Mann war nicht an Modefragen interessiert, sondern ausschließlich daran, ob sich einer an die Kleiderordnung hielt. Er begrüßte Markus, Hans-Jürgen und mich mit einem herzlichen »Welcome to the party« und versperrte Holger den Zutritt. Der schnappte nach Luft.

»These are Basketball Shoes, no sneakers. Look here: Converse.«

Aber dem Türsteher war es egal, wie Holger seine Schuhe nannte.

»Sorry Sir, members only.«

»Okay, then I am a member«.

Holger wollte sich an ihm vorbeidrängen, da hatte der Türsteher ihm schon den Arm auf den Rücken gedreht und ließ nicht los, bis er wimmernd aufgab.

Es war der erste Abend in Worthing ohne meinen Aufpasser. Das Pub war gesteckt voll mit Gästen jeden Alters, der Lärmpegel in den Spitzen fast so hoch wie beim Bay-City-Rollers-Konzert. Ich stand eine Weile wie blind da, weil zu viele Eindrücke gleichzeitig auf mich einstürzten. Als ich mich wieder einigermaßen orientieren konnte, entdeckte ich hinter einer Männerrunde den Tresen, über dem Biergläser hingen. Ich steuerte auf den Zapfhahn mit der Aufschrift Skol zu und verlor dabei den Kontakt zu meinen Klassenkameraden, die von Lucy und ihrer Mutter, einer Frau mit wilder, blonder Mähne und sehr kurzem Rock, zu einem Tisch am anderen Ende der Kneipe gezogen wurden. Ein Mann, dessen hellblaues Hemd sich über einen leicht hängenden Bauch spannte, legte den Arm um mich, als wären wir gute Bekannte, und fragte, ob ich ein Bier wolle.

»I love beer. I’m a Bavarian.«

Diese Auskunft war ein Fehler, denn jetzt wollten der Hängebauch und seine Kumpel sehen, wie viel ein Bavarian vertrug. Alle redeten gleichzeitig auf mich ein. Es ging um Biersorten, um Hitler, den sie nachmachten, indem sie zwei Finger auf die Oberlippe legten und »Achtung!« riefen, um »Frolleins«, Mercedes und Beckenbauer. Ich verstand kaum etwas und nach der dritten Runde gar nichts mehr, weil wir von Skol Lager auf Long John Whisky umgestiegen waren. Die Männer umarmten mich abwechselnd und kitzelten mich dabei mit ihren buschigen Koteletten. Die trug auffälligerweise jeder. Vielleicht, dachte ich schon ziemlich benebelt, kommen sie ja aus derselben Familie. Einer kinderreichen Familie.

»Are you brothers?«

Einer packte mich und funkelte mich an.

»What do you mean, Bavarian boy? Gay brothers?«

Aber er spielte nur den Wilden, ließ mich los und alle lachten. Oder sie gehörten zu einer Band. Ich sah die Männer auf der Bühne eines verrauchten Clubs. Sie spielten Tutti Frutti.

»Now I know«, sagte ich, »you are members of a band. A Rock’n’Roll band!«

Darüber freuten die Männer sich so, dass sie Sweet little sixteen grölten und mir noch mehr Whisky einflößten. Bei der Liedzeile All the cats wanna dance with Sweet Little Sixteen passierte ein Wunder.

Cathy stand vor mir.

Sie sagte: »Hey you« und zum Mann mit dem Hängebauch: »Hi, dad.«

Ich konnte nicht anders, ich musste auf ihre Grübchen und die Zahnlücke starren.

»Good to see you, Pete.«

Von ihrem honigsüßen Lächeln wurde mir schwindlig. Oder war es der Alkohol und Cathy womöglich nur eine Wunschvorstellung? Um herauszufinden, ob sie echt war, küsste ich sie. Wirklich nur deswegen. Auf den Mund.

Da spürte ich im Nacken einen heftigen Schmerz und fiel um. Ich sah Schuhe, den fleckigen Holzboden, eine Bierlache und versuchte mir zu erklären, wieso mich Männer, die mich gerade noch gastfreundlich behandelt hatten, auf einmal niederschlugen. War es der Hängebauch gewesen? Reagierten englische Väter möglicherweise mit Nackenschlägen, wenn Fremde ihre Töchter auf den Mund küssten? Ich wurde auf die Beine gezogen und blickte in das Gesicht eines jungen Typen mit kurzen, pechschwarz gefärbten Haaren. Er holte schon wieder aus, aber Cathy fiel ihm in den Arm.

»Trevor, you bloody wanker, stop it!«

Ich hatte keine Zweifel, dass Trevor mich nicht mochte, trotzdem blieb ich höflich.

»Why did you do this?«

»Why do you think?«

Er legte den Arm um Cathy und grinste dreckig, aber sie riss sich los und stürzte davon. Trevor folgte ihr fluchend. Ein Glas Long John schob sich vor meine Augen. Dahinter erkannte ich Cathys Vater, der sich so für den Freund seiner Tochter entschuldigte. Ich wollte mich bedanken, da wurde mir auf einmal wahnsinnig schlecht.

Ich fand mich fröstelnd unweit des Piers am Strand wieder, wusste weder, wie ich dorthin gekommen war, noch, wie lang ich schon im Kies lag. Bei der grünlichen Masse mit den gelben Einsprengseln neben meinem Kopf handelte es sich wohl um die Fish and Chips vom frühen Abend. Obwohl nicht sie an meinem Zustand schuld waren, wollte ich diese englische Spezialität in Zukunft lieber meiden. Wenigstens, dachte ich, werde ich heute Nacht nicht bei meiner Gastmutter ins Bett kotzen. Ich setzte mich auf und starrte trübsinnig aufs Meer. Von dem ewigen Auf und Ab der Wellen wurde mir wieder schlecht. Ich drehte mich weg, da fiel mir siedend heiß ein, was Rose Willard gesagt hatte.

»Never never never miss the last night bus!«

Ich sprang auf, stolperte, schlug hin, rappelte mich wieder auf und rannte wie von Hunden gehetzt zum Bus Stop.

4

Der Bus war proppenvoll, aber ganz hinten fand ich noch einen freien Gangplatz. An jedem anderen Tag wäre ich wegen des Lochs in meiner Firmungshose untröstlich gewesen und hätte mir Ausreden für meine Mutter überlegt.

Ich habe ein Kind gerettet, das fast vor ein Auto gelaufen wäre. Die Eltern wollten mir sofort eine neue Hose kaufen, aber ich habe drauf verzichtet. Wegen der Völkerverständigung, weißt du?

In dieser besonderen Nacht drehten sich meine Gedanken um Trevor. Wieso, dachte ich, lässt du dich von einem Kerl wie ihm einschüchtern? Er kann dir doch nicht das Wasser reichen. Du bist zwar drei, vier Jahre jünger als er, aber viel interessanter. Worthing, wer kennt schon Worthing? Du kommst aus der Weltstadt München.

»Bravo, so gefällst du mir«, sagte Gäib. »You can do it!«

Trevor glaubt doch nur, sagte ich zu mir, dass Cathy seine Freundin ist, in Wirklichkeit ist sie längst auf dem Absprung. Sonst hätte sie auf dem Bay-City-Rollers-Konzert doch nicht mit dir geflirtet und dich im White Hart so verführerisch angelächelt. Ja, genau, sie hatte sich in mich verliebt – trotz der Sache mit meinem Sustenpass-Käppi. Oder vielleicht sogar genau deswegen.

Englische Mädchen, das hatte Holger uns vor der Reise versprochen, kamen deutlich schneller zur Sache als deutsche. Wäre Cathys Ex-Freund nicht im White Hart aufgetaucht, hätte sie mir garantiert nach ein, zwei Bier »I wanna fuck you« ins Ohr geflüstert und sich mit mir verdrückt. Andererseits hätten wir dann, weil ich Fish and Chips in Kombination mit Alkohol offenbar schlecht vertrug, nicht viel Spaß gehabt. Im Grunde musste ich Trevor dankbar sein, dass er rechtzeitig aufgetaucht war und meine nächste Blamage nach dem Käppi-Wurf verhindert hatte. So konnte ich morgen Abend noch mal in den Pub gehen und absichtlich wenig trinken, um für Cathy fit zu sein. Ich war mir sicher, dass sie noch einmal auftauchen würde und wir endlich das machten, worauf ich seit ewigen Zeiten wartete.

Sex. Und zwar echten Sex!

Mein erstes Mal mit Hetti hatte mich zwar umgehauen, war aber, wie Holger mir in der Zwischenzeit klargemacht hatte, gar kein richtiger Sex gewesen. Sex wäre nicht zärtlich, hatte er gesagt, und schon gar nicht romantisch. Beim Sex ginge es mächtig zur Sache, da würden die Körper aufeinanderklatschen, man würde keuchen und schreien. Manche kratzten und bissen sogar. Oder würgten sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich dazu begabt war, die zentrale Botschaft Holgers in diesem Aufklärungsgespräch aber war mir im Ohr geblieben.

»Sex ist es, wenn du zum Tier wirst.«

»I want to become a fucking animal, Gäib, do you understand?«

Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich nicht sah, wie er einstieg. Ich bemerkte ihn auch nicht, als er sich neben mich stellte. Das leichte Unwohlsein, das ich plötzlich spürte, schrieb ich meinem strapazierten Magen zu.

»What’s that?«

Ein Finger mit abgekautem Nagel bohrte sich in den Aufnäher am Ärmel meiner Cordjacke. Ich blickte auf.

Trevor!

Er lächelte schief. Ich konnte nicht einschätzen, wie gut er wirklich aufgelegt war, dazu spürte ich die Wirkung der Skol Lager-Biere und Long John-Whiskys noch zu sehr. Bedeutete sein Lächeln Entspannung oder wollte er, dass ich mich fälschlich in Sicherheit wiegte? Trevor wiederholte seine Frage und ich antwortete höflich.

»This is a rainbow.«

Der Schlag kam von der Seite. Mit der geballten Faust. Er war so heftig, dass mein Kopf gegen die Schulter meines Nachbarn krachte. Mir wurde schwarz vor Augen.

»Du musst dich in Sicherheit bringen, Pete! Beim Busfahrer!«

Es war Gäib, der das flüsterte.

Ich stemmte mich aus dem Sitz hoch, schubste den überraschten Trevor mit letzter Kraft zur Seite und stürzte nach vorne.

»Excuse me«, schrie ich, »excuse me!«

Ich schmeckte etwas Metallisches. Blut!

Passagiere wichen erschrocken zur Seite. Kurz vor dem Führerstand hielt mich jemand fest. Es war die Frau, die meinen Fahrschein kontrolliert hatte. Als ich mich zu ihr drehte, erschrak sie. Ich stammelte, ich sei unschuldig, und als sie mich verständnislos anblickte, noch einmal.

»I am not guilty!«

Da breitete die Frau ihre Arme aus, ihre blaue Uniformjacke öffnete sich und sie zog mich an ihre Brust, die sich wie ein weiches Kissen anfühlte. Ich wünschte mir mit aller Kraft, dass die Kontrolleurin sich in meine Mutter verwandelte und mein Vater käme, um Trevor fertigzumachen. Stattdessen hörte ich Passagiere »Stop!« und »Need to get out« rufen. Der Fahrer hatte offenbar eine Haltestelle ausgelassen. Das machte er auch mit der nächsten und übernächsten so. Obwohl die Proteste immer heftiger wurden, fuhr er unbeirrt auf direktem Wege zum Polizeipräsidium. Dort erwarteten uns Polizisten, die er über Funk informiert hatte. Trevor, der mir noch einen hasserfüllten Blick zuwarf, wurde zu einer Baracke mit vergitterten Fenstern geführt, mich bat ein junger Mann, ihm ins Hauptgebäude zu folgen.

»One moment, please«, sagte ich und versuchte vergeblich, den zähen Schleim in meiner Nase hochzuziehen. Unter vielen Thank yous bedankte ich mich beim Fahrer und vor allem der Kontrolleurin, deren weiße Bluse ich komplett versaut hatte.

»Sorry for the blood. Very sorry sogar.«

»It’s us who have to say sorry«, sagte sie und wünschte mir alles Gute.

Der junge Mann führte mich in ein Zimmer und zog sich einen weißen Kittel über.

Ein Arzt!

Panische Angst befiel mich. War er womöglich Chirurg? Chirurgen wollten immer gleich operieren, das wusste ich von meinem Vater, und die meisten waren Metzger. Ich musste versuchen, den englischen Doktor milde zu stimmen, vielleicht konnte ich so das Schlimmste verhindern.

»My parents are doctors too. If I don’t become a writer, I will become a doctor as you. Doctor is a very good job. You can heal men and women. And children. And dogs, if you are a animal doctor.«

Der Arzt schrieb symptoms of shock auf einen Zettel und forderte mich auf, mich für die Untersuchung ruhig zu verhalten. Er begann mit dem Kiefer, der im Gelenk neben meinem rechten Ohr stark schmerzte, stellte aber, wenn ich ihn richtig verstand, zum Glück keinen Bruch fest. Zu meinen Wangen notierte er severe swelling/haematoma. Als er an meiner Nase ruckelte, traten mir Tränen in die Augen und begannen wegen der Stromschläge beim Abklopfen meiner oberen Schneidezähne zu sprudeln.

»That’s it!«, sagte der Arzt. Jetzt müsse mich nur noch jemand sauber machen, sonst glaubten die Cops ja, ich wäre ein Ripper. Er lachte über seinen Witz und überließ mich einer Krankenschwester. Die hielt mir erst einmal einen Spiegel hin, aus dem mich ein blutverschmierter Fremder mit Knollennase anblickte. Als sie einen Wattebausch mit Alkohol beträufelte, fing ich wieder zu zittern an. Sie legte mir die Hand auf die Schulter und brummte dazu wie unsere Hündin, wenn sie sich auf ihrer Decke einrollte. Dann reinigte sie mein Gesicht mit so viel Gefühl, dass ich ihr vor Dankbarkeit am liebsten gesagt hätte, dass ich eine Frau wie sie mal heiraten wolle.

Ein Mann, der sich als Inspector, und eine junge Frau, die sich als Victim care officer vorstellte, betrachteten mich schweigend. Ich sagte wieder: »I was not guilty«, aber der Inspector meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, dank der Aussage der Kontrolleurin und des Busfahrers sei bereits alles geklärt. Ihn interessiere eigentlich nur noch, ob der bösartige Angriff eine Vorgeschichte gehabt habe. Ich zögerte.

War es klug, von Cathy zu erzählen?

Womöglich würde der Inspector es mir negativ auslegen, dass ich sie auf den Mund geküsst hatte, und nicht glauben, dass ich mich nur vergewissern wollte, dass sie real und keine Erfindung meines alkoholvernebelten Gehirns war. Ich fing gar nicht erst an, zu überlegen, was alkoholvernebelt wohl auf Englisch hieß. Die entscheidende Frage war, was Trevor gesagt hatte, der in der Zwischenzeit sicher bereits verhört worden war. Wenn er nicht völlig bescheuert war, hatte er Stillschweigen über den Vorfall im White Hart bewahrt und behauptet, sein Angriff wäre ein spontaner Einfall, kein gezielter Racheakt gewesen.

Ich schüttelte den Kopf.

»The attack came out of the nothing.«

Der Inspector nickte und übergab das Wort an seine Kollegin. Sie sprach, wohl aus Rücksicht auf meinen Zustand, sehr leise und erkundigte sich besorgt, ob ich die Engländer jetzt hasse. Ich dachte an Cathy, mit der ich gern geknutscht und noch lieber gevögelt hätte. Das konnte ich jetzt vergessen, selbst wenn Trevor noch eine Weile in der Baracke eingesperrt blieb.

»I love the English people.«

Das war eine glatte Lüge, hatte ich doch gerade schmerzlich erfahren, dass es hier wie überall Arschlöcher gab. Aber ich wollte unbedingt die Sympathie des Inspectors und seiner Kollegin gewinnen, war mir doch eine geniale Idee gekommen.

Laut unserem Lehrer, Herrn Bergmüller, war in England seit der Magna Carta die Gerechtigkeit eine der wichtigsten Säulen der Zivilisation. Folglich musste es hier so etwas wie ein Schmerzensgeld geben, das mir angesichts des Massakers in meinem Gesicht ohne jeden Zweifel zustand. Ich malte mir schon aus, wie meine Schmerzen jeden Tag weniger werden würden, ich aber so viel Geld besaß, dass ich Peter Gabriel auf seiner Konzerttour hinterherreisen konnte. Das Problem war, dass mir die Vokabel für Schmerzensgeld fehlte. Ich versuchte es trotzdem.

»I have a lot … I knew the English word, but now I don’t know. But I feel it a lot, here in my face. On my nose. Dolor, you know, dolor.«

Als langjähriger Ministrant hatte ich nur das lateinische Wort parat. Ich versuchte, es englisch auszusprechen, aber es klang wie Dollar.

»Much dolor. And I want dolor pay for this!«

Der Inspector warf seiner Kollegin einen besorgten Blick zu. Sie unterstrich auf der vor ihr liegenden Diagnose des Arztes die Wörter symptoms of shock. Eine Polizistin in Uniform trat ein und informierte die beiden, dass Rose Willard eingetroffen sei.

Ich rief noch einmal verzweifelt: »Dolor pay.«

Der Inspector reagierte mit der Versicherung, dass ich bis zu meiner Abreise unter dem besonderen Schutz der Polizei von Worthing stehen werde. Zum Abschied wollte die Frau von der Opferbetreuung mitfühlend meine Wange tätscheln, als ich erschrocken auswich, entschuldigte sie sich verlegen. Ich war schon an der Tür, da fiel dem Inspector noch etwas ein. Er bat mich, an der Sprachschule besser nichts von dem Angriff im Bus zu erzählen. Die Schüler könnten verunsichert sein und fälschlich denken, Worthing hätte etwas gegen Ausländer.

5

Rose Willard, die eine transparente Bluse, einen roten Spitzen-BH und einen pinkfarbenen Minirock trug – offenbar ihre Arbeitskleidung, die sie erst im Nachtclub anlegte –, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie mich sah. Sosehr sie sich sonst bemühte, ihren jungen Gästen gegenüber kultiviert aufzutreten und anständiges Englisch zu sprechen, so hemmungslos schimpfte sie während der Heimfahrt. Ich verstand nichts, glaubte aber zu erraten, dass sie irgendwas mit Trevors Eiern (»balls«) machen wollte. Sie kannte ihn offenbar, denn in ihren wilden Flüchen tauchte mehrfach der Name Trevor Nigel Clarke auf. Als meine Gastmutter sich endlich einigermaßen beruhigt hatte, bat sie mich wie der Inspector, niemandem von der Geschichte zu erzählen. Die jungen Menschen, die aus ganz Europa nach Worthing reisten, würden sonst ein völlig falsches Bild der Stadt und ihrer Bewohner bekommen. Sie blickte mich streng an und fragte, ob sie mich etwa nicht gastfreundlich aufgenommen habe.

»Doch, sure, very.«

Im Wohnzimmer der Willards erwarteten mich Little Greg im Schlafanzug und Roses Mann. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, schaute er sich meine Verletzungen genau an. Als er meine Oberlippe umdrehen wollte, um die Zähne zu betrachten, bremste ihn Rose. Er nickte und sprach die ersten Wörter seit meiner Ankunft.

»That bloody bastard.«

Nach einem Klaps auf meine Schulter widmete er sich wieder dem Transistorradio, das er zerlegt hatte. Rose war durch ihre Arbeit in der Bar offenbar Expertin für Opfer von Schlägereien und hatte sogar Kamillentee zu Hause. Seit einer Mandeloperation vor vielen Jahren hasste ich den Geschmack, aber an diesem schmerzensreichen Tag wollte ich keine weiteren Aggressionen auf mich ziehen. Rose ermahnte mich, unbedingt zu warten, bis der Tee abgekühlt war, und gab mir eine Tablette gegen die Schmerzen. Mit der, sagte sie, würde sogar ein Elefant wie ein Baby schlafen. Da lachte Greg, der die ganze Zeit besorgt zwischen seiner Mutter und mir hin- und hergeschaut hatte, zum ersten Mal wieder.

Im Bett stellte ich fest, dass ich zwei Probleme hatte: Ich konnte grundsätzlich nur auf dem Bauch einschlafen, was wegen meiner sich trotz der Pille übers ganze Gesicht ausbreitenden Schmerzen unmöglich war. Außerdem mussten meine Atemwege frei sein. Meine Nase aber war nicht nur verstopft, sie war mit getrocknetem Blut wie zubetoniert. Ich lag röchelnd auf dem Rücken und sehnte mich so nach zu Hause, dass ich hätte schreien können.

München und vor allem Menzing kamen mir in meinem Elend wie das Paradies vor. Wenn ich anstatt ins White Hart in den Alten Wirt gegangen wäre, hätte ich garantiert keinen Nackenschlag kassiert, und im 76er-Bus hatte mir in vier Jahren auf dem Weg zur Schule und zurück nie jemand die Faust ins Gesicht geschlagen. Selbst mein Vater erschien mir trotz mancher Zweifel an seinen Erziehungsmethoden plötzlich als äußerst liebenswerter Mensch. Ich vermisste seine schlechten Witze und sogar die erfundenen Fakten, mit denen er mich in Diskussionen zu widerlegen versuchte. Meine Brüder schliefen jetzt sicher selig und wurden morgen zum Frühstück mit einem Schälchen feinster Köllnflocken in Milch und einem Esslöffel Nesquik darüber begrüßt. Sie durften tun und lassen, was sie wollten, weil Ferien waren. Meine Mutter würde Berti zwar beknien, wenigstens eine halbe Stunde am Tag Latein zu lernen, weil er auf einer Fünf stand. Aber sie würde nicht schimpfen, wenn er lieber Fußball spielte oder bei Regen mithilfe des Großen Shell Atlas für Deutschland und Europa möglichst viele Städte auswendig zu lernen versuchte. Sigi verwunderte vielleicht alle, weil er heimlich auf seiner Zither das Lied Fein sein, beinander bleibn