Die Winde des Ararat - Leonid Zypkin - E-Book
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Die Winde des Ararat E-Book

Leonid Zypkin

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Beschreibung

Zypkins Meistererzählung über die Sowjetrealität in den siebziger Jahren 

Es grenzt an ein Wunder, dass die Manuskripte Leonid Zypkins in der Schublade überdauert haben: In der Sowjetunion durfte er nicht veröffentlichen, erst postum wurden seine Bücher weltweit entdeckt und gefeiert. Endlich erscheint seine wichtigste Erzählung auf Deutsch:

Als der sowjetisch-jüdische Jurist Boris Lwowitsch und seine Frau Tanja vom höchsten Punkt einer armenischen Grenzstadt auf den Berg Ararat blicken und die Winde aus allen Himmelsrichtungen spüren, wächst ihre Sehnsucht nach »drüben«, nach mehr Freiheit ins Unermessliche. Ihr Aufenthalt endet abrupt, als sie durch einen Fehler in der Hotelreservierung von der unnachgiebigen Direktorin rüde aus ihrem Zimmer geworfen werden. Findet Boris einen Weg, sich gegen die Willkür aufzulehnen? Eine literarische Imagination über die unvergleichliche Kraft, die aus der Hoffnung auf eine bessere Zukunft erwächst. 

»Ein kleines literarisches Werk von erstaunlicher Originalität.« NEW YORK REVIEW OF BOOKS

»Eine der schönsten Entdeckungen der jüngeren Literatur.« DIE ZEIT

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Seitenzahl: 185

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Über das Buch

»›Tanja, die Türkei‹ –, raunte er seiner Frau zu, nachdem er sich vorher umgesehen hatte, aber sie hatte ihn verstanden, und jetzt schauten sie schon beide zum Fenster raus, pressten ihre Stirn an die kalte Scheibe, drückten sich die Nase platt – um ans Fenster zu reichen, musste sie aufstehen und sich mit den Händen auf seinen Knien abstützen, und ihm schien sogar für eine Minute, dass das Flugzeug jetzt gleich auf ihre Seite kippen würde –«

Virtuos enthüllt Leonid Zypkin in seiner autobiographisch geprägten Erzählung die Einschränkungen und Schikanen, denen sich kritische, insbesondere jüdische Intellektuelle unter dem Breschnew-Regime ausgesetzt sahen; er spürt den schwankenden Boden, der sich in allen Lebensbereichen auftut, und die zarte, unerschütterliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ungeahnte Kraft freisetzt. 

»Eines der schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werke des vergangenen Jahrhunderts.« Susan Sontag über Leonid Zypkins Roman »Ein Sommer in Baden-Baden«

Über Leonid Zypkin

Leonid Zypkin (1926–1982), Sohn russisch-jüdischer Eltern, überlebte nur knapp den stalinistischen Terror und die Angriffe der Nazis auf die Sowjetunion. Er war Arzt und arbeitete als Pathologe in Moskau. Sein literarisches Werk blieb durch die Zensur bis zu seinem Tod unveröffentlicht, sein Roman »Ein Sommer in Baden-Baden« wurde postum zum Welterfolg.

Im Aufbau Verlag liegt neben »Ein Sommer in Baden-Baden« sein Roman »Die Brücke über den Fluss« vor. 

Susanne Rödel, geboren 1945 in Leicester (Großbritannien), nach einem Lehramtsstudium Russisch/Deutsch promovierte sie zur russischen Dramatik. Sie war lange Jahre Dramaturgin im Berliner Henschelverlag und übersetzt vor allem russische Theaterstücke, u. a. von Alexander M. Galin, Alexander I. Gelman und Ljudmila N. Rasumowskaja.

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Leonid Zypkin

Die Winde des Ararat

Aus dem Russischen von Susanne Rödel

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

I Der Terrorist

II König Davids Narbe

III Gott mit uns

IV Die Vertreibung

V Die Rache

VI Eine Fata Morgana

VII Eine Schweigeminute

Nachbemerkung des Verlages

Erläuterungen

Impressum

··· ruhte die Arche auf dem Gebirge Ararat.

Genesis 8:4

I Der Terrorist

Norartakir – so wurde der höchstgelegene Teil der Stadt genannt, offen für Winde aus allen Himmelrichtungen, auch für die, die vom Ararat-Tal wehten, obwohl unverständlich blieb, wie ein Wind von unten nach oben wehen kann, aber eigentlich war dieser Satz der Reiseleiter sehr beeindruckend und professionell – übrigens klang ihre Behauptung, das bergige Relief der Gegend, in der die Stadt lag, sei Ursache für den Temperaturunterschied und die Wechselhaftigkeit des Mikroklimas, weitaus überzeugender –, wenn es winters im tiefer gelegenen zentralen Teil der Stadt regnete, schneite es oben, und Norartakir war wahrscheinlich unter den Ersten, die das zu spüren bekamen, aber jetzt konnte man sich all das sehr schwer vorstellen: endlos lange und heiße Straßen fast ohne Schatten, umsäumt von vier- und fünfstöckigen Häusern aus Steinblöcken, die aus unerfindlichen Gründen Kalktuff genannt wurden, und eigentlich hätte dieser Tuff farbig sein müssen, war aber grau wie übliches Baumaterial, und dennoch schien es Boris Lwowitsch, als müsse es in den Häusern, hinter den dicken Steinwänden, kühl sein – die Straßen führten nach oben – offenbar zum höchsten, unsichtbaren Punkt Norartakirs, wohin man wohl kaum gelangen konnte – von früh bis spät rasten Autos über die Straßen, über die Hauptstraße, die den unteren Teil der Stadt mit dem unerreichbaren höchsten Punkt Norartakirs verband, in unaufhörlicher Reihe fuhren Busse und Trolleybusse, ratterten Straßenbahnen über die Schienen, die eher wie Eisenbahngleise anmuteten, weil das Gleisbett entweder zerlegt oder noch nicht gelegt worden war, und wenn man die Straße überquerte, musste man über die Schienen hüpfen – der Wind wirbelte den Staub auf, und der knirschte zwischen den Zähnen, und der Himmel, dem die Straße zustrebte, blieb hoffnungslos blau, und das Hotel, das sie bezogen, hatte fast den gleichen Namen – es hieß »Artakir«, das Präfix »Nor« bedeutete »Neu« – Neu-Artakir – ein Ortsansässiger oder ein Reiseleiter erklärte ihnen, dieses Viertel sei vor relativ kurzer Zeit errichtet worden und hier wohnten Remigranten aus dem Westen – ach deshalb hing an den Häusern dieses Viertels kaum Wäsche, sagte Tanja, das hätte sie sich gleich gedacht – morgens, wenn Boris Lwowitsch aufwachte, lief er in weißen Unterhosen auf den Balkon – der Balkon ging zum Hof raus, der mit Kisten, Fässern und rostigem Eisen vollgestellt war, und an dem Metallseil, das zwischen den fensterlosen Wänden der Nachbarhäuser, die ebenfalls zum Hotelhof zeigten, gespannt war, hingen Bettlaken und Steppdecken – in jede von ihnen hätte man eine ganze Familie einwickeln können mitsamt den schwarzbraunen Kindern, die mit mörderischem Geschrei auf dem Hof oder der Straße herumtobten – Boris Lwowitsch lief in diesem Aufzug auf den Balkon, um Tanja zu necken, zumal die übrigens immer zugehängte Tür des Nebenzimmers ebenfalls auf diesen Balkon führte. »Du bist verrückt geworden!«, rief sie ihm nach – er trat ganz dicht an das Balkongeländer heran und beugte sich sogar ein wenig darüber, wovon er in den Knien eine süße, Übelkeit auslösende Schwäche spürte – »Kann man ihn sehen?«, fragte Tanja und zog sich den Morgenmantel über, als ob es um einen Lebenden ging – und er war zu sehen, und das tröstete Boris Lwowitsch sogar, denn wenn ihre Fenster auf die Straße gingen, hätten sie ihn nicht sehen können, selbst wenn sie sich noch so sehr nach vorn beugten, damit die Wand des Hotels, in dem sie wohnten, sie nicht behinderte – »Sieh nur! Sieh nur!«, sagten sie einander, wenn sie auf dem Balkon standen und nach links, nach Süden blickten – »Komm doch dichter heran, von dort siehst du gar nichts« – er nahm ihre Hand und wollte sie dichter an das Geländer ziehen, aber sie hatte seit ihrer Kindheit Höhenangst – zumindest mehr als zwanzig Jahre, seit sie verheiratet waren – »Sieh! Sieh!« –, sie standen da und schauten nach links: Norartarkir mit all seinen Häusern, Höfen und Straßen brach ab, verschwand irgendwohin nach unten und verlor sich im Dunst, der den unteren Teil der Stadt und das Gebirgsplateau einhüllte, das wohl als Ararat-Tal bezeichnet wurde, hinter dem Gebirgsplateau jedoch, hinterm Horizont und über dem Dunst, hoch am Himmel, hing unbeweglich eine durchsichtige Wolke, die aussah wie zwei Schneegipfel – der eine, der nähere, höhere, der andere, kleinere, versteckte sich hinter ihm, war aber trotzdem zu sehen – je höher die Sonne stieg, desto mehr löste sich die Wolke auf, verwandelte sich in ein Phantom – in einer halben Stunde blieb nur noch der dunstverhangene hellblau-weißliche Himmel übrig – »Gib das Fernglas her!«, schrie er ihr zu, und sie rannte brav ins Zimmer, und am nächsten Morgen tauchte erneut mit der Unweigerlichkeit des Morgengrauens, der Nacht oder des Todes hoch am Himmel die silbrige Wolke mit den zwei Höckern auf – die zwei Schneegipfel des Ararat. Erst vor ein paar Tagen, vor drei oder vier vielleicht, waren sie angekommen, vorher hatten sie in dem Kurort, wo sie Urlaub gemacht hatten, eine Abschiedsrunde am Ufer gedreht, das Flugzeug hatte Kurs auf Süd-Ost genommen, denn man sah weder rechts oder links die Sonne – das heißt, sie flogen der Sonne entgegen, die gerade aufgegangen war, weil es früh am Morgen war – wenn man die Blende so weit zurückzog, wie es ging, den Hals vorstreckte und sein Gesicht an die kalte Scheibe des Bullauges presste, konnte man noch das Meer und den gewundenen Küstenstreifen sehen, der sich nach Süden in Richtung Staatsgrenze hinzog – über Dutzende Kilometer erstreckte sich der endlose Strand, den eine ebenso endlos lange Welle netzte, und Boris Lwowitsch schien sogar, dass am Ausgang dieser Welle, da, wo sie ans Ufer brandete, spitzenähnlicher Schaum hochkochte, aber Boris Lwowitsch verblüffte die Leere dieser unendlichen Strände, bis ihm plötzlich klar wurde, dass man aus dieser Höhe nicht einmal Häuser, geschweige denn Menschen erkennen konnte – unter ihm lag beinahe schon eine geografische Karte mit den Umrissen des Festlands – und Meer und Küste versanken im blauen Dunst, weil das menschliche Auge nicht weiter als hundert Kilometer sehen kann, doch durch die Fenster der gegenüberliegende Seite, besonders wenn das Flugzeug sich nach links neigte und Küste und Meer irgendwohin verschwanden und stattdessen der Himmel mit einer Nuance von unnatürlichem, sicher bereits kosmischem Blau aufleuchtete – zeigten sich durch die Fenster der gegenüberliegenden Seite plötzlich die Berge, ja wahrscheinlich der gesamte kaukasische Gebirgsrücken – Boris Lwowitsch wünschte sich sehr, gleichzeitig die Küste und die Berge zu sehen – er erhob sich sogar ein wenig von seinem Sitz, um aus dem hinter ihm liegenden Fenster zu blicken, aber das über seinem Kopf hängende Netz und die Sitzlehne behinderten ihn; wenn er jedoch aufstand, konnte er die Berge besonders gut sehen – »Tanja, der Elbrus!«, schrie er seiner Frau ins Ohr, weil er lauter sein wollte als das Motorengedröhn, sie aber hatte im Flugzeug immer Angst, ihr würde schwindlig, und sie presste ihren Rücken an die Lehne und hielt die Augen fest geschlossen, als würde sie in diesem Augenblick operiert, doch sie öffnete ihre Augen dennoch für eine Minute, drehte den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen – ein paar Jahre zuvor waren sie auf Urlaub in einem kaukasischen Kurort, und von dort aus konnte man bei gutem Wetter morgens die beiden Gipfel des schneebedeckten Elbrus sehen – auch über ihn sprach Tanja wie über einen Lebenden und sagte immer »er« – jetzt, von der Höhe aus, auf der sie sich befanden, schien er seltsam nah, und man sah den mittleren schneefreien Teil des Bergs und sogar seinen grünen Fuß – einfach ein Berg mit zwei schneebedeckten Gipfeln und daneben noch mehr Berge, nur kleiner und viele von ihnen ebenfalls schneebedeckt, »Schneehüte«, wie die Bergsteiger sie liebevoll nannten, oder einfach die Touristen oder sogar die Feriengäste, die man mit Bussen herumfuhr, um ihnen die Schluchten und Berge zu zeigen, und Boris Lwowitsch ertappte sich auch bei dem Wort, wenn er in Moskau erzählte, wie Tanja und er auf Ausflügen unterwegs waren – man sah noch den Elbrus und, wenn man sich aufrichtete und durch das vorderste Bullauge auf der gegenüberliegenden Seite schaute, erblickte man vorn und unten den Kasbek – Boris Lwowitsch erkannte ihn sofort, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte – lediglich auf den Schachteln der gleichnamigen Zigarettenmarke –, auf einem ihrer Ausflüge sollten sie ihn aus dem Busfenster sehen, und sie hatten angestrengt in die Ferne geblickt, zum Horizont, wohin der Reiseleiter gezeigt hatte, aber da war nur Himmel, und dann erklärte ihnen der Reiseleiter, dass dafür besondere atmosphärische Bedingungen nötig waren, jetzt aber, vom Flugzeug aus, konnte Boris Lwowitsch ihn endlich sehen – »Tanja, der Kasbek!«, genau so hatte er ihn sich vorgestellt: irgendwie unfertig, mit beschädigtem, angenagtem Gipfel, als habe jemand ein Stück vom Berg abgeknabbert – durch die hinteren Fenster sah man noch den Elbrus und vorn den Kasbek, die beiden höchsten Gipfel des Kaukasus, und er, Boris Lwowitsch, befand sich noch viel weiter oben, so als sähe er vom Everest auf sie hinunter, wie Tenzing, der Name fiel Boris Lwowitsch plötzlich ein, obwohl er sich nie für Bergsteigen interessiert hatte, aber er befand sich noch weiter oben als Tenzing, weil das Flugzeug etwa in einer Höhe von neuntausend Metern flog, und der Everest war etwas höher als achttausend, doch komisch, niemand wunderte sich darüber – die Passagiere schlummerten friedlich auf ihren Sitzen, schauten hin und wieder zerstreut aus dem Fenster, als führen sie mit dem Vorortzug zur Arbeit, oder blätterten ebenso zerstreut in den Illustrierten – Küste und Meer waren auch bei äußerster Anstrengung nicht mehr zu sehen, selbst dann nicht, wenn man seinen Kopf zwischen Fenster und Vordersitz klemmte, rechts aber erstreckten sich, so weit das Auge reichte, menschenleere Hügel – gewiss waren das gleichfalls Berge, wenn auch nicht so hohe wie die links nach Osten zu – doch aus dieser Höhe sahen sie wie Hügel aus, nur irgendwie gerippt, mit Schatten dazwischen – nicht einmal Hügel und Berge, sondern einfach Falten in der Erdkruste, die sich vor Hunderttausenden oder sogar Millionen von Jahren herausgebildet hatten, als es weder Menschen, ja nicht einmal Tiere gegeben hatte, erstarrt in ihrer Ursprünglichkeit, genau so kahl wie damals – der winzige Schatten des Flugzeugs glitt wie ein Kreuz über sie hinweg, tauchte hin und wieder in die Schatten ein – die Sonne stand irgendwo links vom Flugzeug –, also waren sie nach Süden abgedreht, und diese kahlen grauen Hügel gingen über in die Türkei, vielleicht war das sogar schon die Türkei, und der Flugzeugschatten glitt über türkische Erde – nur warum war diese Erde so kahl und menschenleer? – irgendwo dort, hinter den Hügeln verbargen sich fremde, unbekannte, laute Städte, mit greller Reklame in einer unbekannten Sprache – Städte, in denen Boris Lwowitsch nie war und höchstwahrscheinlich nie sein würde und in denen man mitten auf der Straße stehen bleiben und das herausschreien könnte, was man hier nicht zu flüstern wagte, nicht einmal in der eigenen Wohnung, und vor aller Augen, an der belebtesten Kreuzung könntest du die Zeitung in kleine Schnipsel zerreißen und darauf herrumtrampeln, und keiner würde von dir Notiz nehmen, und du könntest aus voller Kehle brüllen, welche Lügen man um das kleine Land gesponnen hat, das einen ungleichen Kampf gegen das riesige Kalifat führt, du könntest dir einfach ein Ticket kaufen, zum Flugplatz fahren und in eine x‑beliebige Stadt der Welt fliegen, wohin du willst, und dieses Land war ganz nah, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Kilometer von ihm entfernt, und er sah es, und der Schatten ihres Flugzeugs glitt über dieses Land hinweg, und er spürte, wie ein bittersüßer Kloß in seinem Hals hochstieg – »Tanja, die Türkei«, raunte er seiner Frau zu, nachdem er sich vorher umgesehen hatte, aber sie hatte ihn verstanden, und jetzt schauten sie schon beide zum Fenster raus, pressten ihre Stirn an die kalte Scheibe, drückten sich die Nase platt – um ans Fenster zu reichen, musste sie aufstehen und sich mit den Händen auf seinen Knien abstützen, und ihm schien sogar für eine Minute, dass das Flugzeug jetzt gleich auf ihre Seite kippen würde – »Das Anatolische Plateau«, sagte Tanja – in der Schule mochte sie Geschichte, und statt »Fürsten« sagte sie »Teilfürsten« oder »Flickenimperium« und statt »Disraeli« – »Lord Disraeli«, besonders oft wiederholte sie »Lord Beaconsfield« – Boris Lwowitsch hatte allerdings nicht begriffen, worin dessen historische Rolle bestand und ob er und Disraeli ein und dieselbe Person waren oder nicht – »Warum Plateau? Das sind doch Berge«, sagte Boris Lwowitsch – »Ein Großteil des Territoriums der Türkei liegt auf dem Anatolischen Plateau«, stellte Tanja fest – ihre Hände brannten auf seinen Knien, und außerdem tat es weh – »Gut, gut«, sagte er – »Na klar, wenn ich das sage …«, sie setzte sich wieder auf ihren Platz, gab seine Knie frei und lehnte sich beleidigt auf ihren Sitz zurück, aber es gelang ihr nicht, wie kurz vor einer Operation auszusehen. »Was meinst du, ist das ein Terrorist?«, fragte sie ihn flüsternd und nickte mit dem Kopf in Richtung eines jungen Mannes, der vor ihnen saß, am Durchgang zum Cockpit – er hatte einen breiten Rücken, lange schwarze Haare, die seinen Hals bis zum Jackett aus modischem Glitzerstoff bedeckten – die ganze Zeit über saß er reglos da, als sei er an seinem Platz angewachsen, las nichts, interessierte sich nicht für das, was vor dem Fenster los war – er war ihnen bereits auf dem Flugplatz aufgefallen, als ihre Koffer kontrolliert wurden, weil das ein Flug ins Grenzgebiet war –, die Frau in Stewardess-Uniform, die an der Metallsperre stand, hatte voller Abscheu und Widerwillen ihre Hand in die halb geöffneten Koffer gesteckt, die man hinterher nicht mehr zubekam, weil Unterwäsche und Pyjamas herausquollen – der große junge Mann mit dem dunklen Teint und dem Anzug aus Glitzerstoff hatte überhaupt kein Gepäck – er stand mit über der Brust gekreuzten Armen da, als befühle er die Muskeln seiner Schultern, vertrat sich auf dem Asphalt mit seinen in Lackschuhen steckenden Füßen ein wenig die Beine, als warte er gnädig, bis das ganze Hin und Her mit der Kofferkontrolle vorbei sei. »Ich bin sicher, dass das ein Terrorist ist«, wiederholte Tanja. »Ich weiß nicht«, sagte Boris Lwowitsch gleichgültig, aber sein Herz klopfte auf einmal schneller, und er stellte sich eine Minute lang vor, wie der breitschultrige junge Mann im Glitzeranzug plötzlich von seinem Sitz aufspringt, mit einem Ruck unter seinem Jackett ein Gewehr und eine Handgranate hervorholt, das Gewehr auf die im Flugzeug sitzenden Passagiere richtet und mit der Granate der Crew droht – das dunkelhäutige Gesicht des Terroristen ist wutverzerrt –, er steht in der Tür zum Cockpit, und während er mit dem Gewehr in die Kabine zielt, diktiert er dem Piloten seine Forderungen – das Flugzeug ändert seinen Kurs – »Wir landen in der Türkei«, flüsterte Boris Lwowitsch halb im Scherz, halb im Ernst Tanja zu. »Würdest du dort bleiben?«, sie fragte ihn fast nur mit den Lippen, und weil er zur Antwort lediglich unbestimmt die Schultern zuckte und sogar alles Konspirative vergaß: »Sag bloß, du würdest dort bleiben?« Und dabei war unklar, was in ihrer Stimme überwog – Begeisterung über seinen Mut oder Verachtung für das, was er zu tun vorhatte. »Natürlich«, sagte er, um sie nicht zu enttäuschen. Die Fenster ihrer Moskauer Wohnung gingen auf den Boulevard – wenn er am Fenster stand und auf die Passanten und Spaziergänger auf dem Boulevard blickte, konnte er besonders gut nachdenken – die Sätze kamen, kamen von selbst, und er hatte Mühe, sie bis zum Tisch zu tragen und aufzuschreiben, und wenn er auf Sitzungen redete, brachte er sich immer mehr in Fahrt, wich manches Mal von dem vorbereiteten Text ab und suchte sich das Gesicht irgendeiner jungen Frau aus, der Verwandten eines Studenten oder einfach einer im Saal Anwesenden – die Augen der Frau verfolgten ihn unablässig, voller Hoffnung und Begeisterung – die weit geöffneten Augen eines Schulmädchens, und überhaupt könnten die türkischen Staatsorgane sie ausliefern … »Das ist eher ein Sicherheitsmann«, sagte Tanja, vielleicht erleichtert oder enttäuscht, und weil Boris Lwowitsch ihr nicht antwortete, wiederholte sie: »Ich bin ganz sicher«, und obwohl er begriffen hatte, dass der junge Mann auf dem Platz vor ihnen ein ganz normaler Fluggast war – wahrscheinlich hatte er ein Rendezvous, und heute Abend oder morgen früh musste er zurückfliegen –, dachte Boris Lwowitsch trotzdem, es sei ein Sicherheitsmann, und verspürte ihm gegenüber sogar Vertrauen und Dankbarkeit, weil er ihn und Tanja und die anderen Fluggäste vor allen möglichen Banditen und Terroristen beschützte – wahrscheinlich lag in seiner rechten Hosentasche ein kleiner Browning, vielleicht sogar eine große Pistole, und wenn einer aufmuckte, würde er sie sofort aus der Tasche ziehen – unklar war nur, weshalb er mit dem Rücken zu allen saß und sich während der ganzen Zeit nicht einmal umgedreht hatte – sein breiter Rücken strahlte ruhige Sicherheit und Selbstgewissheit aus – Boris Lwowitsch lutschte einen Bonbon – er hatte ihn, ohne es wahrzunehmen, von der Stewardess bekommen und bemerkte erst jetzt, dass er Druck auf den Ohren verspürte – wahrscheinlich befand sich das Flugzeug im Landeanflug – als es nach rechts kippte, sah Boris Lwowitsch, wie direkt unter ihnen die Stadtviertel vorbeihuschten – Quadrate und Rechtecke aus weißen und grauen Häusern mit Flachdächern, wie das nur an Modellen zu sehen ist, und zwischen ihnen erschienen für ein paar Augenblicke die pfeilgeraden Straßen, dann schwamm spiralförmig der sich nach unten verengende Krater des Stadions vorbei, danach tauchten wieder kurz die Stadtviertel auf wie auf einem Modell, immer schneller und schneller, wurden mit katastrophaler Geschwindigkeit größer und größer, so dass man die Straßenbahnen und sogar die Umrisse von Menschen erkennen konnte – es kam einem vor, als würde das Flugzeug es nicht bis zum Flugplatz schaffen und in die Wohnmassive stürzen – Boris Lwowitschs Herz sank zusammen mit dem Flugzeug in die Tiefe, der ganze Körper war wie mit Blei gefüllt, er klammerte sich mit den Händen am Sitz fest wie an einem letzten, unter ihm wegrutschenden Halt, seine Ohren waren zu, und um sich zu vergewissern, dass der Motor nicht kaputt war, schluckte er krampfhaft Speichel, denn den Bonbon hatte er bereits aufgelutscht – das Flugzeug beendete den Sturzflug, die weißgrauen Viertel verschwanden allmählich irgendwo seitwärts und nach oben – das Flugzeug legte sich auf den anderen Flügel, und anstelle der eben noch vorbeihuschenden Quadrate sah Boris Lwowitsch vor dem Hintergrund des Himmels zwei schneebedeckte Konusse – einen nahen, höheren und einen anderen, weiter entfernt und kleiner – das Flugzeug ging runter, drehte wahrscheinlich seine letzte Runde vor der Landung – »Sagen Sie bitte, was ist das für ein Berg?«, fragte er den jungen langhaarigen Mann im Glitzeranzug und beugte sich dicht an dessen Ohr, weil seine dienstliche Aufgabe sicherlich schon erfüllt war und Boris Lwowitsch außerdem immer mehr Vertrauen zu ihm fasste – wahrscheinlich flog er zurück nach Hause nach einer in einer Stadt am Meer verbrachten Nacht. »Das ist der Ararat«, antwortete er und würdigte Boris Lwowitsch kaum einer Drehung des Kopfes. »Tanja, der Ararat!«, schrie er seiner Frau zu, die aber saß, an die Sitzlehne gedrückt, mit geschlossenen Augen und Märtyrermiene da, als habe die Operation bereits begonnen und sie sei auf das Schlimmste gefasst. »Wissen Sie, ob es Touren dorthin gibt?«, fragte er wieder den jungen Mann und beugte sich vor, als wolle er seinen Kopf auf dessen Schulter legen. »Der Ararat ist in der Türkei«, antwortete dieser, und jetzt machte er keinerlei Kopfbewegung mehr, sondern zuckte lediglich mit einer Schulter, als wehre er eine lästige Fliege ab. Eine Sekunde lang schämte sich Boris Lwowitsch, dass er solche banalen Dinge nicht gewusst hatte. »Tanja! Die richtige Türkei! Guck mal!«, und er zupfte sie sogar am Ärmel, weil sie immer noch nicht die Augen öffnete und auf das Schlimmste gefasst war, doch als das Flugzeug gelandet war und die Passagiere hinunterstiegen auf das Flugfeld, wo sie irgendwo zwischen dem Flügel des Flugzeugs und seinem Rumpf herumstanden, da sah Boris Lwowitsch ihren Mann aus der vorderen Sitzreihe, den jungen Mann im modischen Anzug aus Glitzerstoff, und Boris Lwowitsch wunderte sich, dass er bei den anderen stand und auf sein Schicksal wartete, so wie sie auch – vielleicht wartete er auf die Gepäckausgabe, er ging sogar mit allen anderen vor zu den wegfahrenden Karren. »Hier ist immer alles verkehrt rum«, sagte er, und da seine Worte von niemandem unterstützt wurden, fiel sein Blick auf Boris Lwowitsch und Tanja, und auf einmal war Boris Lwowitsch klar, dass der junge Mann einfach Georgier war.