Ein Sommer in Baden-Baden - Leonid Zypkin - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Sommer in Baden-Baden E-Book

Leonid Zypkin

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Eines der schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werke des vergangenen Jahrhunderts.« Susan Sontag. Leonid Zypkin setzt mit diesem virtuosen Roman seinem literarischen Idol Dostojewski ein Denkmal. Susan Sontag stieß zufällig in einer Bücherkiste auf eine alte Ausgabe und rettete das Meisterwerk vor dem Vergessen. Virtuos verschränkt der Erzähler seine eigene Gegenwart, die bedrohliche Sowjetrealität, in der es Bücher wie seines nicht geben darf, mit der fiebrig pulsierenden Vergangenheit, in der der Held mit seiner jungen Frau Anna Grigorjewna nach Baden-Baden reist, ins Eldorado aller Spieler … Zypkin verwebt Faktisches mit Fiktionalem zu einem eindringlichen, leidenschaftlichen Rausch. Erstmals mit den Originalfotos des Autors. »Der Triumph eines Mannes aus dem Untergrund.« New York Review of Books. »Ein einzigartiger Klassiker, der gerade noch rechtzeitig aus dem Kerker der Zensur befreit wurde.« James Wood, The Guardian. »Eine der schönsten Entdeckungen der jüngeren Literatur.« Christoph Keller, Die Zeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 330

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Leonid Zypkin

Leonid Zypkin wurde 1926 als Sohn russisch-jüdischer Eltern in Minsk geboren. Nur knapp überlebte er den stalinistischen Terror der dreißiger Jahre und die deutschen Angriffe auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Er studierte Medizin und arbeitete als Pathologe in Moskau. Zuletzt war er starken Repressalien ausgesetzt, weil sein einziger Sohn die SU in Richtung Amerika verlassen hatte; seinem eigenen Ausreiseantrag wurde nie stattgegeben. Sein literarisches Werk, das durch die Zensur und die von ihr ausgehende Einschüchterung, bis zu seinem Tod unveröffentlicht blieb, umfasst neben seinem einzigen Roman »Ein Sommer in Baden-Baden« Erzählungen, Novellen und Lyrik. Er starb 1982, als sein Roman, zwei Jahre nach Fertigstellung und außer Landes geschmuggelt, gerade in Fortsetzungen in einer russischsprachigen Exilzeitung in New York zu erscheinen begann.

Alfred Frank (1941–2010), geb. in Warschau, Dolmetscher und Übersetzer für Russisch und Französisch, arbeitete als Lektor, übersetzte u. a. Alexander Goldenweisers Aufzeichnungen über Tolstois letztes Jahr, das Tagebuch des Tänzers Nijinsky sowie Andrej Platonow, Ossip Mandelstam, Boris Pilnjak, Wladimir Woinowitsch und Anna Politkowskaja.

Susan Sontag (1933–2004) war Schriftstellerin, Film- und Theaterregisseurin. Weltbekannt wurde sie vor allem durch ihre Essays. Für ihren letzten Roman In Amerika wurde sie mit dem National Book Award ausgezeichnet. Sie erhielt den Jerusalem Book Prize und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2003.

Informationen zum Buch

»Eines der schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werke des vergangenen Jahrhunderts.« Susan Sontag.

Leonid Zypkin setzt mit diesem virtuosen Roman seinem literarischen Idol Dostojewski ein Denkmal. Susan Sontag stieß zufällig in einer Bücherkiste auf eine alte Ausgabe und rettete das Meisterwerk vor dem Vergessen. Virtuos verschränkt der Erzähler seine eigene Gegenwart, die bedrohliche Sowjetrealität, in der es Bücher wie seines nicht geben darf, mit der fiebrig pulsierenden Vergangenheit, in der der Held mit seiner jungen Frau Anna Grigorjewna nach Baden-Baden reist, ins Eldorado aller Spieler … Zypkin verwebt Faktisches mit Fiktionalem zu einem eindringlichen, leidenschaftlichen Rausch.

Erstmals mit den Originalfotos des Autors.

»Der Triumph eines Mannes aus dem Untergrund.« New York Review of Books.

»Ein einzigartiger Klassiker, der gerade noch rechtzeitig aus dem Kerker der Zensur befreit wurde.« James Wood, The Guardian.

»Eine der schönsten Entdeckungen der jüngeren Literatur.« Christoph Keller, Die Zeit.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Leonid Zypkin

Ein Sommer in Baden-Baden

Roman

Aus dem Russischen von Alfred Frank

Mit einem Vorwort von Susan Sontag

und mit dem St.-Petersburg-Album des Autors

Inhaltsübersicht

Über Leonid Zypkin

Informationen zum Buch

Newsletter

Dostojewski lieben

Buch lesen

Fußnoten

Bildteil

Quellen

Anmerkung

Impressum

Dostojewski lieben

Die Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man ausgiebig erforscht, und dass es in ihr, zumal in einer der großen, aufmerksam beobachteten Sprachen, noch immer Meisterwerke geben könnte, die auf ihre Entdeckung warten, ist ziemlich unwahrscheinlich. Und doch stieß ich vor ungefähr zehn Jahren beim Stöbern in einem Kasten mit abgegriffenen Taschenbüchern vor einem Buchladen an der Londoner Charing Cross Road auf ein solches Buch – Ein Sommer in Baden-Baden –, das ich heute zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts zählen würde.

Warum dieses Buch unbekannt blieb, ist nicht schwer zu ergründen. Zunächst einmal war der Verfasser kein Berufsschriftsteller. Leonid Zypkin war Mediziner, ein angesehener Forscher, der in der Sowjetunion und anderen Ländern im Laufe der Zeit an die hundert Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hat. Aber anders als Tschechow und Bulgakow hat dieser russische Arzt und Autor zu seinen Lebzeiten nie auch nur eine Seite seines literarischen Œuvres gedruckt gesehen.

Die Zensur und die Einschüchterung, die von ihr ausgeht, erklären dies nur zum Teil. Selbstverständlich kam Zypkins Literatur für eine offizielle Publikation nicht in Frage. Aber sie zirkulierte auch nicht im Samisdat, denn Zypkin hielt sich – aus Stolz, aus eigensinniger Schwermut und weil er eine Ablehnung durch das inoffizielle literarische Establishment nicht riskieren wollte – von den unabhängigen oder im Untergrund agierenden literarischen Kreisen fern, die während der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Moskau aufblühten – zu jener Zeit, als er »für die Schublade« schrieb. Für die Literatur selbst.

Dass sich Ein Sommer in Baden-Baden überhaupt erhalten hat, grenzt tatsächlich an ein Wunder.

Leonid Zypkin kam 1926 in Minsk als Kind russisch-jüdischer Eltern zur Welt, beide Mediziner. Die Mutter, Vera Poljakowa, hatte sich auf Lungentuberkulose spezialisiert, der Vater, Boris Zypkin, auf orthopädische Chirurgie. Im Jahre 1934, zu Beginn des Großen Terrors, wurde er auf Grund der üblichen bizarren Anschuldigungen verhaftet. Dank der Fürsprache eines einflussreichen Freundes ließ man ihn jedoch wieder frei, nachdem er versucht hatte, sich durch einen Sprung von einer Treppe im Gefängnis das Leben zu nehmen. Auf einer Bahre mit gebrochener Wirbelsäule kehrte er nach Hause zurück, blieb jedoch kein Invalide, sondern erholte sich und arbeitete weiter als Chirurg, bis er 1961 mit vierundsechzig Jahren starb. Zwei Schwestern und ein Bruder von Boris Zypkin wurden während des Terrors ebenfalls verhaftet und kamen um.

Minsk fiel eine Woche nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Jahre 1941, und Boris Zypkins Mutter, eine weitere Schwester und zwei kleine Neffen wurden im Ghetto ermordet. Boris Zypkin, seine Frau und der fünfzehnjährige Leonid verdankten ihre Rettung aus der Stadt einem Kolchosvorsitzenden, einem früheren Patienten, der aus Dankbarkeit dafür sorgte, dass einige Fässer mit sauren Gurken von einem Lastwagen wieder abgeladen wurden, um Platz für den verehrten Chirurgen und seine Familie zu schaffen. Im Jahr darauf begann Leonid Zypkin sein Medizinstudium, und nach dem Ende des Krieges kehrte er mit den Eltern nach Minsk zurück, wo er 1947 an der medizinischen Fakultät sein Examen ablegte. 1948 heiratete er die Ökonomin Natalja Michnikowa. Michail, das einzige Kind der beiden, kam 1950 zur Welt. Damals forderte die antisemitische Kampagne, die Stalin im Jahr zuvor in Gang gebracht hatte, immer mehr Opfer, und Zypkin tauchte im Team eines psychiatrischen Krankenhauses auf dem Lande unter. 1957 bekam er die Erlaubnis, mit Frau und Sohn nach Moskau zu ziehen, wo ihm am renommierten Institut für Poliomyelitis und virusbedingte Enzephalitis eine Stelle als Pathologe angeboten worden war. Er gehörte dort zu der Arbeitsgruppe, die die Polio-Schutzimpfung in der Sowjetunion einführte; seine weitere Arbeit an diesem Institut zeugt von vielfältigen Forschungsinteressen. Unter anderem befasste er sich mit der Reaktion von Tumorgewebe auf tödliche Virusinfektionen und mit der Biologie und Pathologie der Affen.

Zypkin hatte sich seit jeher für Literatur begeistert und schon immer ein bisschen für sich geschrieben, sowohl Prosa als auch Poesie. Als er Anfang Zwanzig war und sein Medizinstudium sich dem Ende näherte, hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Medizin aufzugeben und stattdessen Literatur zu studieren, um sich schließlich ganz dem Schreiben zu widmen. Ihn trieben jene großen Fragen um, die auch das russische Geistesleben des 19. Jahrhunderts bewegt hatten (Wie soll man ohne Glauben, ohne Gott leben?), und so hatte er zunächst vor allem Tolstoi verehrt, an dessen Stelle dann schließlich Dostojewski trat. Zypkin hatte auch cineastische Vorlieben: Antonioni zum Beispiel, aber nicht Tarkowski. Anfang der sechziger Jahre hatte er mit dem Gedanken gespielt, Abendkurse an der Filmhochschule zu belegen und Regisseur zu werden. Später erklärte er, die Notwendigkeit, für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen, habe ihn von diesem Plan abgebracht.

Zu Beginn der sechziger Jahre begann für Zypkin auch eine neue, intensivere Phase seiner schriftstellerischen Arbeit: Es entstanden Gedichte, die stark von Zwetajewa und Pasternak beeinflusst waren. Porträts der beiden hingen über seinem kleinen Arbeitstisch. Im September 1965 entschloss er sich, das Risiko einzugehen und Andrej Sinjawski etwas von seiner Lyrik zu zeigen. Doch wenige Tage vor dem vereinbarten Treffen wurde Sinjawski verhaftet. Zypkin und Sinjawski, der ein Jahr älter war, sind einander später nie begegnet, aber Zypkin wurde nun noch vorsichtiger. (»Mein Vater«, so berichtet Michail Zypkin, der heute in Kalifornien lebt, »sprach nicht gern von Politik und dachte auch nicht viel darüber nach. In unserer Familie herrschte stillschweigende Einigkeit darüber, dass das Sowjetregime der Inbegriff des Bösen war.«) Nach mehreren erfolglosen Versuchen, einige Gedichte zu veröffentlichen, hörte Zypkin eine ganze Weile auf zu schreiben. Viel Zeit widmete er nun der Fertigstellung seiner naturwissenschaftlichen Dissertation: »Morphologische und biologische Eigenschaften von Zellkulturen trypsinisierter Gewebe«. (In seiner ersten philosophischen Doktorarbeit hatte er sich mit dem Wachstum mehrfach operierter Hirntumore befasst.) Nach der erfolgreichen Verteidigung seiner zweiten Dissertation im Jahre 1969 bekam Zypkin eine Gehaltserhöhung, so dass er die Nachtarbeit als Teilzeit-Pathologe in einem Krankenhaus aufgeben konnte. Er hatte inzwischen die Vierzig überschritten und begann wieder zu schreiben – keine Poesie, sondern Prosa.

In den dreizehn Jahren, die ihm noch blieben, schuf Zypkin ein kleines Werk von zunehmender Reichweite und Komplexität. Auf eine Reihe kurzer Skizzen folgten längere, komplizierter gebaute Erzählungen, zwei autobiographische Novellen, Die Brücke über den Fluss und Norartakir, und dann sein letztes und längstes literarisches Werk, Ein Sommer in Baden-Baden, eine Art Traumroman, in dem der Träumer, Zypkin selbst, das eigene Leben und dasjenige Dostojewskis in einem leidenschaftlichen Erzählstrom heraufbeschwört. Die Niederschrift war eine vereinsamende, kräftezehrende Arbeit. »Von Montag bis Freitag«, so erzählt Michail Zypkin, »machte sich mein Vater um Punkt Viertel vor acht auf den Weg zur Arbeit im Institut, das in einem weit entfernten Vorort von Moskau lag, in der Nähe des Flughafens Wnukowo. Um sechs Uhr abends kam er heim, aß etwas, schlief ein wenig und setzte sich dann hin, um zu schreiben – entweder an seiner Prosa oder an seinen Forschungsberichten. Bevor er um zehn Uhr zu Bett ging, machte er manchmal noch einen Spaziergang. Meistens verbrachte er auch das Wochenende am Schreibtisch. Mein Vater nutzte jede sich bietende Gelegenheit zum Schreiben, aber es war eine schwere, qualvolle Arbeit. Er rang mit jedem Wort und korrigierte unendlich lange in seinen handgeschriebenen Manuskripten herum. Wenn die Überarbeitung dann abgeschlossen war, tippte er den Text auf einer uralten glänzenden deutschen Schreibmaschine, einer ›Erika‹, die ihm ein Onkel im Jahre 1949 geschenkt hatte, einem Beutestück aus dem Zweiten Weltkrieg. Und in dieser Form haben sich seine Schriften erhalten. Er schickte seine Manuskripte nicht an Verlage und wollte auch nicht, dass seine Prosa im Samisdat zirkulierte, weil er fürchtete, Probleme mit dem KGB zu bekommen und seine Stelle zu verlieren.« Schreiben ohne jede Hoffnung oder Aussicht auf Veröffentlichung – wie viel Glaube an die Literatur ist dazu vonnöten? Zypkins Leserschaft ging über seine Frau, seinen Sohn und ein paar von dessen Moskauer Kommilitonen kaum je hinaus. Wirkliche Freunde in einer der literarischen Welten von Moskau hatte er nicht.

In Zypkins unmittelbarer Verwandtschaft gab es allerdings eine Person, die eine enge Beziehung zur Literatur hatte, die Literaturwissenschaftlerin Lidia Poljakowa, eine jüngere Schwester seiner Mutter, und die Leser des Romans Ein Sommer in Baden-Baden machen ihre flüchtige Bekanntschaft gleich am Anfang des Buches. Im Zug nach Leningrad schlägt der Erzähler ein Buch auf, ein kostbares Buch, dessen Einband samt dem kunstvoll verzierten Lesezeichen liebevoll beschrieben wird, ehe wir erfahren, dass es sich um das Tagebuch von Dostojewskis zweiter Frau, Anna Grigorjewna Dostojewskaja, handelt und dass dieses Exemplar, das »schon fast zerfiel, so zerlesen war es«, als es Zypkin in die Hand bekommt, einer nicht näher benannten Tante gehört, die nur Lidia Poljakowa sein kann. Zypkin hatte das Buch neu binden und beschneiden lassen, denn er hatte das Buch, so schreibt er, »von meiner Tante ausgeborgt, die eine große Bibliothek besaß, fest entschlossen, es ihr nicht zurückzugeben«.

Wie Michail Zypkin berichtet, enthalten mehrere Erzählungen seines Vaters versteckte Anspielungen auf Lidia Poljakowa. Ein halbes Jahrhundert lang gehörte sie der Moskauer Intelligenzija an, hatte seit den dreißiger Jahren eine Forschungsstelle am Gorki-Institut für Weltliteratur, und selbst als sie bei den antisemitischen Säuberungen zu Beginn der fünfziger Jahre ihre Dozentenstelle an der Moskauer Universität verlor, konnte sie ihre Position an diesem Institut halten, wo schließlich auch Sinjawski zu ihren jüngeren Kollegen gehörte. Lidia Poljakowa hatte zwar das Treffen zwischen Zypkin und Sinjawski arrangiert, das dann doch nicht zustande kam, aber von der Schriftstellerei ihres Neffen hielt sie offenbar nicht viel und behandelte ihn mit einer Herablassung, die dieser ihr nie verzieh.

1977 beschlossen Michail Zypkin und seine Frau Jelena, Ausreisevisa zu beantragen. Natalja Michnikowa arbeitete zu dieser Zeit in einer Abteilung des Staatlichen Komitees für materiell-technische Versorgung (Gossnab), die praktisch alle Sektoren der Sowjetökonomie, auch den militärischen Bereich, mit schwerem Gerät für Bau- und Straßenbauarbeiten belieferte. Sie fürchtete, durch ihre Arbeit, für die eine Sicherheitsüberprüfung erforderlich war, die Aussichten ihres Sohnes auf ein Visum zu beeinträchtigen, und gab ihre Stelle auf. Die Visa wurden erteilt, und Michail und Jelena Zypkin reisten in die USA aus. Kaum hatte der KGB diese Information an den Direktor des Instituts für Poliomyelitis und virale Enzephalitis, Sergej Drosdow, übermittelt, da wurde Zypkin innerhalb der Hierarchie dorthin zurückgestuft, wo er zwanzig Jahre zuvor begonnen hatte – unter die einfachen wissenschaftlichen Mitarbeiter ohne Doktortitel (dabei besaß er deren zwei). Sein Gehalt, nunmehr die einzige Einnahmequelle des Ehepaares, wurde um fünfundsiebzig Prozent gekürzt. Zypkin ging weiter Tag für Tag ins Institut, wurde jedoch von der Forschungsarbeit im Labor, die stets in Arbeitsgruppen lief, ausgeschlossen. Keiner seiner Kollegen wollte mehr mit ihm zusammenarbeiten. Alle fürchteten, der Kontakt mit einem »unerwünschten Element« könnte ihnen schaden. Es wäre zwecklos gewesen, sich nach einer anderen Forschungsstelle umzusehen. Bei jeder Bewerbung hätte er angeben müssen, dass sein Sohn das Land verlassen hatte.

Im Juni 1979 stellten Zypkin, seine Frau und seine Mutter ebenfalls einen Ausreiseantrag und warteten dann fast zwei Jahre auf Antwort. Im April 1981 wurde ihnen mitgeteilt, ihr Antrag sei als »unzweckmäßig« befunden und deshalb abgelehnt worden. (1980 kam die Auswanderung aus der UDSSR praktisch zum Erliegen, als sich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten infolge der sowjetischen Invasion in Afghanistan verschlechterten und klar wurde, dass die Sowjetunion für ihre Bereitschaft, sowjetische Juden ausreisen zu lassen, auf absehbare Zeit keine Zugeständnisse vonseiten Washingtons mehr erwarten konnte.) In dieser Zeit schrieb Zypkin den größten Teil von Ein Sommer in Baden-Baden. Begonnen hatte er 1977, und er beendete die Arbeit 1980. Der Niederschrift waren Jahre der Vorbereitung vorausgegangen: Zypkin hatte in Archiven recherchiert und hatte Orte, die mit Dostojewskis Leben in Verbindung standen oder an denen er seine Gestalten agieren lässt, fotografiert – und zwar zu den Jahres- und Tageszeiten, wie sie in den Romanen angegeben sind. (Zypkin war ein leidenschaftlicher Amateurfotograf und besaß seit den frühen fünfziger Jahren eine Kamera.) Nachdem er Ein Sommer in Baden-Baden beendet hatte, schenkte er dem Dostojewski-Museum in Leningrad ein Album mit diesen Fotografien.

Auch wenn an eine Veröffentlichung seines Romans in Russland nicht zu denken war, bestand doch die Möglichkeit, ihn im Ausland herauszubringen, wie es damals die besten Schriftsteller mit ihren Büchern taten. Zypkin beschloss, einen Versuch zu machen, und bat Asari Messerer, einen befreundeten Journalisten, dem die Ausreise für Anfang 1981 erlaubt worden war, eine Kopie des Manuskripts und einige Fotos aus der Sowjetunion hinauszuschmuggeln. Messerer gelang dies mit Hilfe eines befreundeten amerikanischen Ehepaars, der Moskau-Korrespondenten der Nachrichtenagentur United Press International.

Ende September stellten Zypkin, seine Frau und seine Mutter erneut Ausreiseanträge. Am 19. Oktober starb Vera Poljakowa im Alter von sechsundachtzig Jahren. Die Ablehnung aller drei Anträge kam eine Woche später; diesmal hatte die Entscheidung nicht einmal einen Monat auf sich warten lassen.

Anfang März 1982 suchte Zypkin den Chef der Moskauer Visa-Abteilung auf, der ihm sagte: »Doktor, Sie werden niemals eine Ausreisegenehmigung bekommen.« Am 15. März, einem Montag, teilte Sergej Drosdow Zypkin mit, dass er nicht länger am Institut arbeiten könne. Am gleichen Tag rief Michail Zypkin, der an der Graduate School in Harvard studierte, in Moskau an, um seinem Vater mitzuteilen, dass er am Samstag zuvor ein »veröffentlichter Schriftsteller« geworden sei. Asari Messerer war es geglückt, Ein Sommer in Baden-Baden bei der Nowaja gaseta, einer in New York erscheinenden Wochenzeitung für russische Emigranten, unterzubringen. Illustriert mit einigen von Zypkins Fotos, war die erste Folge am 13. März erschienen.

Am Samstag, dem 20. März, seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag, setzte sich Zypkin frühmorgens an den Schreibtisch, um an der Übersetzung eines medizinischen Textes aus dem Englischen ins Russische weiterzuarbeiten – das Übersetzen war eine der wenigen Möglichkeiten, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, die den sogenannten Otkasniks (also jenen Sowjetbürgern, meist Juden, deren Ausreiseantrag abgelehnt worden war und die ihre bisherige Arbeit verloren hatten) offenstand – da wurde ihm plötzlich übel (es war ein Herzanfall), er legte sich hin, rief noch nach seiner Frau und starb. Genau sieben Tage lang war er ein »veröffentlichter Schriftsteller« gewesen.

Anders als J.M. Coetzees wunderbares Buch Der Meister von Petersburg ist Ein Sommer in Baden-Baden keine Dostojewski-Phantasie. Es ist aber auch kein Dokumentarroman, obwohl Zypkin es als Ehrensache ansah, dass alles Faktische in seinem Buch den geschilderten Verhältnissen und den realen Lebensgeschichten entsprach. Vielleicht hat sich Zypkin vorgestellt, dass Ein Sommer in Baden-Baden, wenn es je als Buch erscheinen würde, einige seiner Fotos enthalten sollte – gleichsam in Vorwegnahme des eigentümlichen Verfahrens von W.G. Sebald, der in seine Bücher ebenfalls Fotos einstreut und so die schlichte Idee von Wahrscheinlichkeit mit Rätselhaftigkeit und Pathos füllt.

Was für ein Buch ist Ein Sommer in Baden-Baden? Von Anfang an entfaltet es sich auf zwei Erzählebenen. Es ist Winter, Ende Dezember, keine Datumsangabe – eine Art »Jetzt«. Der Erzähler sitzt im Zug nach Leningrad (dem früheren und künftigen Sankt Petersburg). Und zugleich ist es Mitte April 1867. Die Dostojewskis, Fjodor (»Fedja«) und seine junge Frau, Anna Grigorjewna, haben Sankt Petersburg verlassen und sind auf dem Weg nach Dresden. Die Reisen des Ehepaars Dostojewski – in Zypkins Roman werden sie sich nämlich die meiste Zeit im Ausland aufhalten und keineswegs nur in Baden-Baden – sind sorgfältig recherchiert. Die Abschnitte, in denen der Erzähler – Zypkin – sein eigenes Tun und Lassen schildert, sind ganz und gar autobiographisch. Da sich Phantasie und Faktizität im Allgemeinen leicht voneinander abgrenzen lassen, neigen wir dazu, sie zu Gattungsmerkmalen zu erheben, und trennen erfundene Geschichten (Fiktion) von Geschichten aus dem wirklichen Leben (Chronik, Autobiographie). Aber dies ist nur eine Konvention – unsere Konvention. In der japanischen Literatur gehört der sogenannte »Ich-Roman« (shishosetsu) – eine im wesentlichen autobiographische Erzählhandlung, die aber auch erfundene Episoden enthält – zu den maßgeblichen Romanformen.

In einem halluzinatorischen Assoziationssturm werden in Ein Sommer in Baden-Baden mehrere »reale« Welten wachgerufen, beschrieben, nachgeschaffen. Die Originalität von Zypkins Roman besteht in der Art, wie er zwischen der autobiographischen Erzählung des ungenannt bleibenden Erzählers, der sich auf eine Reise durch die düstere Landschaft der zeitgenössischen Sowjetunion begeben hat, und dem Leben der Dostojewskis auf ihrer Wanderschaft hin und her wechselt. Durch den kulturellen Verfall der Gegenwart schimmert die fiebrig pulsierende Vergangenheit. Zypkin reist nicht nur nach Leningrad, er reist auch in die Seelen und Körper von Fedja und Anna. Dabei beweist er ein erstaunliches, geradezu unheimliches Einfühlungsvermögen.

Zypkin wird für einige Tage in Leningrad bleiben: Es ist eine Wallfahrt zu Dostojewski (sicherlich nicht die erste), und zwar (wie zweifellos üblich) eine einsame, die mit einem Besuch des Hauses enden wird, in dem Dostojewski gestorben ist. Die Dostojewskis ihrerseits stehen noch am Anfang ihrer von ständigen Geldnöten beschwerten Reise; vier Jahre lang werden sie in Westeuropa bleiben. (Es sei daran erinnert, dass der Verfasser des Romans Ein Sommer in Baden-Baden selbst nie ins Ausland reisen durfte.) Dresden, Baden-Baden, Basel, Frankfurt, Paris – ihr Los ist eine ständige Unruhe, die einerseits aus dem Dilemma und den Demütigungen ihrer bedrückenden finanziellen Lage erwächst, in der sie es mit einem ganzen Chor anmaßender Fremder zu tun bekommen (Kofferträger, Kutscher, Vermieterinnen, Kellner, Ladenbesitzer, Pfandleiher, Croupiers), und die sich andererseits aus den Anfällen von Launenhaftigkeit und allen möglichen flüchtigen Gefühlsaufwallungen ergibt. Das Spielfieber. Das moralische Fieber. Das Fieber der Krankheit. Das sinnliche Fieber. Das Fieber der Eifersucht. Das Fieber der Bußfertigkeit. Die Angst …

Im Kraftzentrum von Zypkins fiktionaler Nachbildung von Dostojewskis Leben steht nicht das Glücksspiel, nicht das Schreiben, nicht die Frömmigkeit, sondern die brennende, großzügige Absolutheit (womit nichts über ihren befriedigenden Charakter gesagt ist) der ehelichen Liebe. Wer wird das »Schwimmen« des Liebespaares – dieses einzigartige Bild für den Liebesakt – je vergessen können? Annas alles verzeihende und doch stets würdige Liebe zu Fedja entspricht in gewisser Weise der Liebe, die der literarische Jünger, Zypkin, für Dostojewski empfindet.

Nichts ist erfunden. Alles ist erfunden. Die Rahmenhandlung ist die Reise, die der Erzähler zu den Schauplätzen von Dostojewskis Leben und seinen Romanen unternimmt und die (wie wir nach und nach begreifen) zu den Vorarbeiten für das Buch gehört, das wir in Händen halten. Ein Sommer in Baden-Baden gehört zu einer seltenen, sehr anspruchsvollen Untergattung des Romans: Dieses Buch verwebt die Lebensgeschichte einer realen Person von großer Bedeutung mit einer Geschichte, die in der Gegenwart angesiedelt ist – der Geschichte des grübelnden Schriftstellers, der sich Zugang zum Innenleben einer Person zu verschaffen sucht, der das Schicksal nicht nur historische Bedeutung, sondern Monumentalität beschieden hat. (Ein anderes Beispiel hierfür und zugleich eines der ganz großen Bücher der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist Artemisia von Anna Banti.)

Zypkin verlässt Moskau auf der ersten Seite des Buches und kommt nach ungefähr zwei Dritteln auf dem Moskauer Bahnhof in Leningrad an. Er weiß zwar, dass irgendwo in der Nähe des Bahnhofs »ein ganz gewöhnliches graues Petersburger Haus« steht, in dem Dostojewski seine letzten Lebensjahre verbrachte, er geht mit seinem Koffer aber weiter durch die eiskalte, dunstige Finsternis, überquert den Newski-Prospekt, kommt an anderen Orten vorbei, die mit Dostojewskis letzten Jahren in Verbindung stehen, und taucht schließlich dort auf, wo er jedes Mal unterkommt, wenn er in Leningrad ist, in dem Teil einer heruntergekommenen Gemeinschaftswohnung, der von einer zärtlich geschilderten Freundin seiner Mutter bewohnt wird, die ihn willkommen heißt, ihm zu essen gibt, ihm ein altes Sofa zurechtmacht, auf dem er schlafen kann, und die ihm wie jedes Mal die Frage stellt: »Liest du immer noch so gern Dostojewski?« Nachdem sie sich schlafen gelegt hat, versenkt sich Zypkin in einen Band, den er zufällig aus der noch vor der Revolution erschienenen Ausgabe von Dostojewskis Gesammelten Werken in ihrem Bücherregal gegriffen hat, das Tagebuch eines Schriftstellers, und schläft schließlich in Gedanken über Dostojewskis rätselhaften Antisemitismus ein.

Nach einem Morgen, den er mit der liebenswürdigen alten Freundin verplaudert und an dem er wieder einmal Geschichten aus der Schreckenszeit der Blockade von Leningrad zu hören bekommt, bricht Zypkin auf – der kurze Wintertag geht schon in Dämmerung über –, streift in der Stadt umher und fotografiert »›das Haus Raskolnikows‹ oder ›das Haus der alten Wucherin‹ oder ›das Haus Sonetschkas‹ oder die Häuser, in denen der Autor gewohnt hatte, … wo er die finsterste Zeit seines Lebens verbracht hatte, … in den ersten Jahren nach der Rückkehr aus der Verbannung …«. Geleitet »von einem inneren Gefühl«, hat sich Zypkin »genau richtig orientiert, mein Herz schlug höher vor Freude und einem noch vagen anderen Gefühl« und steht plötzlich vor dem vierstöckigen Eckhaus, in dem Dostojewski gestorben ist und in dem sich heute das Dostojewski-Museum befindet; die Beschreibung des Besuchs (»geradezu kirchliche Stille herrschte in den Museumsräumen«) geht über in die Schilderung eines Sterbens, die eines Tolstoi würdig ist. Durch das Prisma von Annas herzzerreißendem Leid lässt Zypkin die langen Stunden auf dem Sterbebett in diesem Buch neu erstehen, einem Buch, das letztlich von der Liebe handelt, von der ehelichen Liebe und der Liebe zur Literatur – zwei Arten der Liebe, die nicht miteinander verknüpft oder verglichen werden, jede für sich aber Würdigung erfahren und ihre eigene Glut beisteuern.

Was soll man, wenn man Dostojewski liebt, mit dem Wissen anfangen, dass Dostojewski die Juden gehasst hat? Was soll ein Jude mit diesem Wissen tun? Wie soll man den bösartigen Antisemitismus eines Mannes erklären, »der in seinen Romanen solche Sensibilität menschlichem Leid gegenüber beweist«, der ein »hingebungsvolle[r] Fürsprecher der Erniedrigten und Beleidigten« ist? Und wie kann man »diese besondere Anziehungskraft, die Dostojewski auf die Juden ausübt«, verstehen?

Der kraftvollste Denker unter den jüdischen Dostojewski-Liebhabern, Leonid Grossman (1888–1965), steht ganz oben in einer langen Reihe anderer, die Zypkin nennt. Grossman ist für Zypkins Re-Imagination von Dostojewskis Leben eine wichtige Quelle, und das gleich zu Beginn des Romans Ein Sommer in Baden-Baden erwähnte Buch ist die Frucht von Grossmans wissenschaftlichen Arbeiten. Er war es, der die erste Auswahl aus den Erinnerungen von Anna Dostojewskaja herausgegeben hat, die 1925, sieben Jahre nach ihrem Tod, erschien. Zypkin spekuliert darüber, dass sich das Fehlen von »Jidden« und anderen eigentlich zu erwartenden Bezeichnungen in den Memoiren von Dostojewskis Witwe möglicherweise damit erklären lasse, dass sie bei ihrer Niederschrift am Vorabend der Revolution Grossman schon kannte.

Zypkin muss die vielen wegweisenden Aufsätze Grossmans über Dostojewski gekannt haben – etwa Balzac und Dostojewski (1914) und Dostojewskis Bibliothek (1919). Vielleicht auch Grossmans Roman Roulettenburg (1932), der Dostojewskis Erzählung über die Spielleidenschaft kommentiert. (Roulettenburg war der ursprüngliche Titel seines Romans Der Spieler.) Aber Grossmans längst vergriffenes Buch Bekenntnis eines Juden (1924) wird Zypkin kaum gelesen haben. Es erzählt die Lebensgeschichte des faszinierendsten und zugleich bemitleidenswertesten aller jüdischen Dostojewski-Liebhaber, die von Arkadi Kowner (1842 –1909), der im Ghetto von Wilna aufgewachsen war und mit dem Dostojewski einen Briefwechsel begonnen hatte. Kowner, ein unermüdlicher Autodidakt, war in den Bann des großen Schriftstellers geraten und hatte sich von Schuld und Sühne zu einem Diebstahl inspirieren lassen, um einer verarmten, kränkelnden jungen Frau zu helfen, die er liebte. Im Jahre 1877, bevor er zu vier Jahren Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert wurde, schrieb Kowner aus seiner Zelle in einem Moskauer Gefängnis an Dostojewski und griff ihn wegen seiner Abneigung gegen die Juden an. (Das war sein erster Brief; der zweite betraf die Unsterblichkeit der Seele.)

Letztlich gibt es keine Lösung für das quälende Problem von Dostojewskis Antisemitismus – ein Thema, das in Ein Sommer in Baden-Baden zur Sprache kommt, kaum dass Zypkin Leningrad erreicht. Es erschien ihm, so schreibt er, »in höchstem Maße sonderbar«, dass Dostojewski »nicht ein Wort der Verteidigung oder der Rechtfertigung für Menschen gefunden hat, die jahrtausendelangen Verfolgungen ausgesetzt sind … für die Juden hatte er nicht einmal die Bezeichnung Volk übrig, er sprach nur von einem Stamm … diesem Stamm gehören auch ich und meine zahlreichen Bekannten und Freunde an, mit denen ich über subtile Probleme der russischen Literatur spreche …« Die Juden hat dies jedoch nicht davon abgehalten, Dostojewski zu lieben. Wie lässt sich das erklären?

Zypkin hat keine andere Erklärung als die Leidenschaft der Juden für die russische Literatur – was uns daran erinnern könnte, dass auch die Goethe- und Schiller-Verehrung in Deutschland zum großen Teil von den Juden ausging – bis in die Zeit hinein, als Deutschland anfing, seine Juden zu ermorden. Dostojewski lieben heißt die Literatur lieben.

Ein Sommer in Baden-Baden, eine Art Schnellkurs zu allen großen Themen der russischen Literatur, wird durch die Originalität und das Tempo seiner Sprache zusammengehalten, die kühn und rasant zwischen erster und dritter Person – dem Handeln, den Erinnerungen und Grübeleien des Erzählers (»ich«) und den Dostojewski-Szenen (»er«–»sie«) – und zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselt. Aber Zypkins Gegenwart während seiner Wallfahrt zu Dostojewski ist in sich ebenso wenig aus einem Guss wie die Vergangenheit der Dostojewskis zwischen 1867 und 1881, dem Todesjahr des Schriftstellers. Dostojewski überlässt sich in dieser Vergangenheit einer Unterströmung von Erinnerungen an Szenen und Leidenschaften aus früheren Augenblicken seines Lebens; und der Erzähler in der Gegenwart beschwört Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit herauf.

Mit jedem Absatz beginnt ein langer, sehr langer Satz, der durch Bindewörter zusammengehalten wird: zahllose »und«, ziemlich viele »aber«, außerdem »obwohl« und »wogegen« und »als ob« und »weil« und dazu immer wieder Gedankenstriche. Ein richtiges Schlusszeichen steht nur dort, wo der Absatz endet. Im Verlauf dieser leidenschaftlich in die Länge gezogenen Absatz-Sätze schwillt der Strom der Empfindungen an und durchflutet die Erzählung von Dostojewskis und Zypkins Leben: Ein Satz, der mit Fedja und Anna in Dresden beginnt, kann auf Dostojewskis Sträflingsjahre zurückblenden oder auf einen früheren Anfall von Spielleidenschaft während seiner Romanze mit Polina Suslowa, und daran wiederum kann sich eine Erinnerung des Erzählers an die Tage seines Medizinstudiums und eine Reflexion über einen Vers von Puschkin anschließen.

Zypkins Sätze erinnern in ihrer ausufernden Struktur an José Saramago, der Dialog mit Beschreibung und Beschreibung mit Dialog verflicht, und sie sind gespickt mit Verben, die sich weigern, einheitlich in der Vergangenheit oder im Präsens zu verweilen. In ihrer Unaufhörlichkeit haben Zypkins Sätze etwas von der Kraft und der hektischen Autorität der Sätze Thomas Bernhards. Aber Zypkin kann die Bücher von Saramago und Bernhard nicht gekannt haben. Für seine ekstatische Prosa hatte er andere Vorbilder in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Er liebte den frühen, nicht den späten Pasternak – Geleitbrief, nicht Doktor Shiwago. Er liebte Zwetajewa. Er liebte Rilke – zum Teil weil Zwetajewa und Pasternak Rilke geliebt hatten; er hatte wenig Literatur aus anderen Ländern gelesen, und wenn, dann nur in Übersetzungen. Unter den Autoren, die ihm dabei begegnet waren, hatte ihn Kafka, den er durch einen Mitte der sechziger Jahre in der Sowjetunion veröffentlichten Erzählungsband entdeckte, am meisten ergriffen. Aber den verblüffenden Zypkin-Satz hat er ganz und gar selbst entwickelt.

Zypkins Sohn erzählt, sein Vater sei detailbesessen und von einem zwanghaften Ordnungssinn geprägt gewesen. Im Zusammenhang mit der Frage, warum er sich für die Pathologie als medizinisches Fachgebiet entschied und nie als klinischer Arzt praktizierte, fällt seiner Schwiegertochter ein, dass er »sich sehr für den Tod interessierte«. Vielleicht konnte nur ein obsessiver, vom Tod besessener Hypochonder, wie Zypkin einer gewesen zu sein scheint, eine Satzform ersinnen, die auf so originelle Weise frei ist. Seine Prosa ist ein ideales Transportmittel für die emotionale Spannung und den Empfindungsreichtum seines Themas. In einem relativ schmalen Buch bedeutet der lange Satz assoziatives Ineinanderverwobensein, die leidenschaftliche Spannkraft eines in vielerlei Hinsicht von unerbittlicher Härte durchdrungenen Temperaments.

Neben der Interpretation des unvergleichlichen Dostojewski bietet Zypkins Roman auch eine außergewöhnliche geistige Reise durch die russische Wirklichkeit. Die Leiden der sowjetischen Ära von der Zeit des Großen Terrors der Jahre 1934–1937 bis in die Gegenwart des suchenden Erzählers betrachtet das Buch, wenn man dies so sagen darf, als selbstverständliche Gegebenheit: ihr Pulsieren ist auf jeder Seite spürbar. Ein Sommer in Baden-Baden ist zugleich auch ein gedankenreicher Abriss der russischen Literatur in ihrer ganzen Spannweite. Puschkin, Turgenjew (es gibt eine Szene, in der Dostojewski und Turgenjew heftig aneinandergeraten) und die großen Gestalten der Literatur und der geistig-moralischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunders, Zwetajewa, Solshenizyn, Sacharow, Bonner – sie alle treten im Laufe der Erzählung in Erscheinung.

Aus der Lektüre des Romans Ein Sommer in Baden-Baden geht man geläutert, erschüttert, gestärkt hervor, man atmet ein wenig tiefer und ist dankbar dafür, was die Literatur alles in sich bergen, was sie alles veranschaulichen kann. Leonid Zypkin hat kein dickes Buch geschrieben. Aber er hat eine große Reise gemacht.

Susan Sontag

Juli 2001

Klara Michailowna Rosental gewidmet

»Und wer weiß vielleicht besteht jegliches Ziel der Menschheit auf Erden überhaupt nur in diesem pausenlosen Prozess, anders gesagt, im Leben selbst und nicht eigentlich in dem Ziel …«

Fjodor Dostojewski,

Aufzeichnungen aus dem Untergrund

»Und wie aufdringlich, wie dreist bringen Sie Ihre Überspanntheiten vor, obwohl Sie gleichzeitig Angst haben!«

Fjodor Dostojewski,

Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Es war ein Tageszug, aber es war mitten im Winter – Ende Dezember, zudem fuhr der Zug nach Leningrad – nordwärts, deshalb wurde es draußen rasch dunkel – mit hellen Lichtern leuchteten nur die vorbeigleitenden, wie von unsichtbarer Hand hingeworfenen Stationen auf – verschneite Haltepunkte in den Erholungsgebieten hinter Moskau mit blinkenden Laternen, die zu einem Feuerband verschmolzen – die Stationen glitten unter dumpfem Geratter vorbei, als fahre der Zug über eine Brücke – gedämpft wurde das Rattern durch die den Wagen fast hermetisch abschließenden Doppelfenster, deren trübe Scheiben halb zugefroren waren, doch die Lichter der Stationen durchdrangen sie trotzdem und zeichneten ihren Feuerstreifen, und dahinter waren unübersehbare Schneeweiten zu erahnen, der Wagen schaukelte heftig, besonders zum Gangende hin, und als es draußen völlig finster geworden war und nur noch das vage Weiß des Schnees blieb und keine Datschen mehr kamen und im Fenster sich zusammen mit mir der Wagen samt allen Deckenlampen und den in ihm sitzenden Fahrgästen spiegelte, entnahm ich mei

nem über mir im Gepäcknetz liegenden Koffer ein Buch, das ich bereits in Moskau angefangen und mit Bedacht mitgenommen hatte, um es auf der Fahrt nach Leningrad zu lesen, und schlug es an der Stelle auf, an der ein chinesisch beschriftetes Lesezeichen mit einer zarten Vignette östlicher Machart drinlag – das Buch hatte ich mir von meiner Tante ausgeborgt, die eine große Bibliothek besaß, fest entschlossen, es ihr nicht zurückzugeben – ich hatte es neu binden lassen, da es schon fast zerfiel, so zerlesen war es – der Binder hatte die Seiten schön gleichmäßig beschnitten, mit einem festen Einband versehen und das Titelblatt aufgeklebt – es war das Tagebuch Anna Grigorjewna Dostojewskajas, herausgegeben in einem liberalen Verlag, wie sie zu der Zeit noch existierten, Wechi vielleicht oder Nowaja shisn – mit Datumsangaben neuen und alten Stils, mit Wörtern und ganzen Sätzen auf Deutsch oder Französisch ohne Übersetzung, unter obligatorischer Einfügung des mit gymnasiastenhafter Beflissenheit verwendeten Zusatzes »Mme.« – die Niederschrift der stenographischen Aufzeichnungen, die sie im ersten Sommer nach ihrer Heirat im Ausland gemacht hatte.

Die Dostojewskis verließen Petersburg Mitte April 1867 und waren bereits am nächsten Morgen in Wilna. Im Hotel liefen ihnen auf der Treppe fortwährend Jidden über den Weg, die sich ihnen aufdrängten und sogar hinter der Droschke herliefen, um Anna Grigorjewna und Fjodor Michailowitsch, die darin saßen, Zigarettenmundstücke aus Bernstein zum Kauf anzubieten, bis sie von ihnen verjagt wurden, und abends

konnte man in den alten engen Straßen diese Jidden mit Peies sehen, wie sie ihre Jiddenweiber spazieren führten. Ein, zwei Tage später trafen sie erst in Berlin und dann in Dresden ein, und es begann die Suche nach einem Logis, denn die Deutschen, besonders die weiblichen Geschlechts, alle möglichen Fräuleins, die Inhaberinnen von Pensionen waren oder einfach möblierte Zimmer vermieteten, nahmen die russischen Neuankömmlinge unbarmherzig aus und verpflegten sie schlecht, die Kellner, und nicht nur diese, hauten sie mit dem Wechselgeld übers Ohr, im Übrigen waren die Deutschen ein stupides Volk, zeigten sie sich doch außerstande, Fedja zu erklären, wie er zu dieser oder jener Straße kam, und schickten ihn ständig in die entgegengesetzte Richtung – nicht etwa mit Absicht? Diese Jidden waren Anna Grigorjewna übrigens schon früher aufgefallen – als sie zum ersten Mal zu Fedja in das Olonkinsche Haus kam, wo er Schuld und Sühne geschrieben hatte und das sie, wie sie später festhielt, sofort an das Haus erinnert habe, in dem Raskolnikow wohnt, die Jidden begegneten ihr hier zwischen anderen hin und her laufenden Hausbewohnern ebenfalls auf der Treppe. (Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass Anna Grigorjewna in ihren kurz vor der Revolution, möglicherweise auch erst nachdem sie Leonid Grossman kennengelernt hatte, geschriebenen Erinnerungen keine Jidden auf der Treppe erwähnt.) Auf dem in das Tagebuch eingeklebten Foto war eine noch ganz junge Anna Grigorjewna mit etwas schwerem, düsterem Blick – halb Fanatikerin, halb Frömm

lerin – zu sehen. Der schon in die Jahre gekommene, nicht eben große Fedja machte mit seinen kurzen Beinen den Eindruck, als wäre er, stünde er von seinem Stuhl auf, kaum größer als im Sitzen – die Erscheinung eines einfachen Mannes aus dem Volk, dem anzumerken war, dass er sich gern fotografieren ließ und inbrünstig zu beten pflegte. Wie kam es also, dass ich mit solcher Ehrfurcht (ich scheue das Wort nicht) das Tagebuch durch ganz Moskau trug, bis ich einen Binder fand, während der Fahrt begierig die altersschwachen Seiten durchblätterte auf der Suche nach Stellen, die ich vorausgesehen zu haben schien, und dann, nachdem ich das gewichtig gewordene Buch vom Neubinden zurückbekommen hatte, es auf meinen Schreibtisch legte, wo es Tag und Nacht liegen blieb wie die Bibel? Wie kam es, dass ich jetzt nach Petersburg fuhr – ja, nicht nach Leningrad, sondern nach Petersburg, durch dessen Straßen dieser kurzbeinige, eher kleinwüchsige (wie wohl die meisten Leute im vorigen Jahrhundert) Mann mit dem Gesicht eines Küsters oder eines Soldaten im Ruhestand gegangen war? Wie kam es, dass ich dieses Buch jetzt, in diesem Wagen sitzend, im unsicheren, flackernden, in Abhängigkeit von der Fahrgeschwindigkeit des Zuges und der Arbeit der Dieselmotoren bald heller brennenden, bald fast verlöschenden Lampenlicht las, gestört durch das fortwährende Klappen der Türen, wenn Raucher wie Nichtraucher die Plattform betraten und verließen, ein Glas in der Hand, um Kindern zu trinken zu bringen oder Obst zu waschen oder einfach um zur Toilette zu

gehen – erst klappte die Tür der Plattform, dann die der Toilette –, durch das Klappen und Zuschlagen dieser Türen, durch das Schlingern des Wagens, das mir das Buch fortwährend seitlich wegzog, den Geruch von Kohle und Dampflokomotiven, die es längst nirgends mehr gab, deren Geruch sich jedoch eigenartigerweise hielt? Sie quartierten sich bei Mme. Zimmermann ein, einer großen hageren Schweizerin, doch schon am ersten Tag nach ihrer Ankunft, abgestiegen in einem Hotel in der Stadtmitte, gingen sie in die Galerie – vor dem Gebäude des Puschkinmuseums in Moskau hatte sich eine lange Schlange gebildet, man ließ schubweise ein, und da, irgendwo auf einem Treppenabsatz zwischen den Etagen, hing die Sixtinische Madonna, davor stand ein Milizionär – viele Jahre später wurde im selben Museum Leonardos Gioconda gezeigt, hinter speziell beleuchtetem doppeltem Panzerglas, die gewundene Schlange der Leute »mit Beziehungen« rückte langsam an das Bild heran, genauer gesagt, an das Glas, hinter dem sich, wie ein einbalsamierter Leichnam im Sarkophag, das Gemälde mit der Madonna vor einer Landschaft befand, ihr Lächeln war tatsächlich rätselhaft, ein Eindruck, der allerdings auch auf die landläufigen Beschreibungen zurückzuführen sein mochte, und neben dem Bild stand ebenfalls ein Milizionär, der die Schlange, da es sich angeblich um lauter Fachleute oder Besucher mit entsprechenden Einladungen handelte, sanft zum Weitergehen drängte: »Nehmen Sie Abschied, nehmen Sie Abschied« – vor dem Bild trachteten die Leute zu verweilen, und dann, von der sich entfernenden Schlange wieder aufgenommen, sahen sie sich immer noch einmal nach dem Bild um, verrenkten sich den Hals, drehten den Kopf um fast hundertachtzig Grad – die Sixtinische Madonna hing zwischen zwei Fenstern, so dass das Licht seitlich einfiel, zudem war es ein trüber Tag – Dunst schien auf dem Gemälde zu liegen. Die Madonna schwebte in Wolken, die wie ein luftiger Saum ihres Gewandes wirkten oder mit ihm verschmolzen – und von unten links blickte ehrerbietig ein Apostel mit sechs Fingern – ich habe sie nachgezählt, es sind wirklich sechs – zur Madonna auf – ein Foto dieses Gemäldes, das Dostojewski viele Jahre nach dieser Reise, schon kurz vor seinem Tod, zum Geburtstag geschenkt bekam, da es als sein Lieblingsbild galt, obwohl das vielleicht eher Toter Christus von Holbein dem Jüngeren war, ein Foto von Raffaels Madonna im Holzrahmen also hängt über dem Lederdiwan, auf dem Dostojewski starb, im Dostojewskimuseum in Leningrad – eine luftige Madonna hält in halb sitzender Haltung einen ebenfalls luftig gewindelten Säugling schräg im Arm, als gebe sie ihm nach Zigeunerinnenart vor aller Augen die Brust, ihr Gesichtsausdruck allerdings ist ebenso schwer deutbar wie bei der Gioconda – und das gleiche Foto, nur kleiner und wahrscheinlich von schlechterer Qualität, da schon in unserer Zeit gemacht, steht, wie mit vorsätzlicher Nachlässigkeit dort belassen, in einem Bücherregal meiner Tante hinter Glas. Die Dostojewskis gingen täglich in die Galerie, so wie man in Kislowodsk in die