Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen - Selma Lagerlöf - E-Book

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen E-Book

Selma Lagerlöf

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Der kleine Nils, faul und böse, wird zur Strafe in ein kleinen Kobold verwandelt. Er zieht mit den Wildgänsen durch Schweden und wird über das, was er erlebt, ein anderer, ein besserer Mensch. Das Buch - mit einer sehr persönlichen Handschrift - ist ein zentrales Werk von Selma Lagerlöf. Ihre Heimatverbundenheit vermittelt sie mit den Augen des kleinen Nils. So gilt das Werk zugleich als Erziehungs- und Entwicklungsroman und ist eines der berühmtesten Bücher Schwedens. Selma Lagerlöf erhielt viele Ehrungen, ein Höhepunkt der Literaturnobelpreis, den sie als erste Frau verliehen bekam. Null Papier Verlag

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Selma Lagerlöf

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen

Illustrierte Ausgabe

Selma Lagerlöf

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen

Illustrierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Mathilde Mann 4. Auflage, ISBN 978-3-954180-06-6

www.null-papier.de/nils

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­to­rin und Werk

Ers­ter Teil

I. Der Jun­ge

II. Akka von Keb­ne­ka­j­se

III. Wild­vo­gel­le­ben

IV. Glim­ming­haus

V. Der große Kra­nich­t­anz auf dem Kul­l­aber­ge

VI. Im Re­gen­wet­ter

VII. Die Trep­pe mit den drei Stu­fen

VIII. Am Rön­ne­ber­ger Bach

IX. Karls­kro­na

X. Die Rei­se nach Öland

XI. Die Süd­spit­ze von Öland

XII. Die klei­ne Karls­in­sel

XIII. Zwei Städ­te

XIV. Die Sage von Sam­laand

XV. Die Krä­hen

XVI. Die alte Bau­er­frau

XVII. Vom Ta­berg bis Hus­quar­na

XVIII. Der große Vo­gel­see

XIX. Die Wahr­sa­gung

XX. Die Bahn aus Fries

XXI. Die Ge­schich­te von Karr und Grau­fell

XXII. Der wun­der­schö­ne Gar­ten

XXIII. In När­ke

XXIV. Der Eis­bruch

XXV. Die Erb­tei­lung

XXVI. Im Berg­werk­dis­trikt

Zwei­ter Teil

XXVII. Das Ei­sen­werk

XXVIII. Der Dalelf

XXIX. Das Bru­der­teil

XXX. Der Wal­pur­gi­s­abend

XXXI. Bei den Kir­chen

XXXII. Die Über­schwem­mung

XXXIII. Die Sage von Up­p­land

XXXIV. In Upp­sa­la

XXXV. Dau­nen­fein

XXXVI. Stock­holm

XXXVII. Der Ad­ler Gor­go

XXXVIII. Über Gästri­k­land da­hin

XXXIX. Ein Tag in Häl­sin­ge­land

XL. In Me­del­pad

XLI. Ein Mor­gen in Ån­germ­an­land

XLII. Väs­ter­bot­ten und Lap­p­land

XLIII. Das Gän­se­mäd­chen Aase und der klei­ne Mads

XLIV. Bei den Lap­pen

XLV. Gen Sü­den! Gen Sü­den!

XLVI. Die Sage vom Här­je­tal

XLVII. Värm­land und Dal­sland

XLVIII. Ein klei­ner Her­ren­hof

XLIX. Das Gold auf der Schä­re

L. Sil­ber im Meer

LI. Ein großer Her­ren­hof

LII. Die Rei­se nach Vem­men­hög

LIII. Bei Hol­ger Niel­sens

LIV. Der Ab­schied von den Wild­gän­sen

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Autorin und Werk

Sel­ma Ot­ti­lia Lo­vi­sa La­ger­löf wur­de am 20. No­vem­ber 1858 auf Gut Mår­backa in Schwe­den ge­bo­ren. Sie war das vier­te Kind der Fa­mi­lie nach den Brü­der Da­niel und Jo­hann so­wie der Schwes­ter Anna. Vier Jah­re spä­ter kam noch ihre jüngs­te Schwes­ter Ger­da auf die Welt. Ihr stand sie am nächs­ten.

Ein ge­sund­heit­li­ches Pro­blem be­glei­te­te ihre Kind­heit, das viel­leicht auch ih­ren Blick fürs Le­ben präg­te. Mit drei­ein­halb Jah­ren be­kam Sel­ma Kin­der­läh­mung. Als Fol­ge die­ser Krank­heit hin­k­te sie, ein Um­stand, der ihr in der sonst ge­bor­ge­nen Kind­heit, Kum­mer be­rei­te­te. Vie­le Sta­tio­nen ih­res wei­te­ren Le­bens zeug­ten viel­leicht des­halb von ei­ner Sen­si­bi­li­tät für Au­ßen­sei­ter und Schwa­che, so­wohl in der Li­te­ra­tur als auch im All­tag.

Früh stand für Sel­ma fest, das sie Schrift­stel­le­rin wer­den will. Mit sie­ben Jah­ren war sie von die­ser Be­rufs­wahl über­zeugt, mit vier­zehn Jah­ren be­gann sie ihr Ta­ge­buch zu schrei­ben um zu üben, aber erst mit zwei­und­zwan­zig legt sie ei­ner Zei­tung ihre ers­ten Ge­dich­te vor. Ein Mis­ser­folg! Sie be­kommt alle Ge­dich­te wie­der. Sel­ma hört auf den Rat ei­ner Freun­din, be­ginnt sich auf ei­ge­ne Bei­ne zu stel­len und nimmt die Her­aus­for­de­rung der Groß­stadt Stock­holm an. Sie mel­det sich dort im Leh­re­rin­nen-Se­mi­nar an.

1885 wird sie in Lands­kro­na Leh­re­rin. Das Schrei­ben hat sie nicht auf­ge­ge­ben und in­zwi­schen er­schei­nen auch Ge­dich­te von ihr in ei­ner Frau­en­zeit­schrift. Aber erst mit 32 Jah­re ver­än­dert ein Preis­aus­schrei­ben, das sie auf Ba­sis der ers­ten fünf Ka­pi­tel ih­res ge­plan­ten Ro­mans »Gös­ta Ber­ling« ge­winnt, ihr Le­ben. Nicht gleich, denn der dann fer­tig­ge­stell­te Ro­man, der 1891 er­scheint, be­kommt mehr Kri­tik als Zu­spruch. Zwei Buch­sta­ben än­dern aber 1893 al­les. In der Zei­tung »Po­li­ti­ken« er­schi­en eine No­tiz über »Gös­ta Ber­ling« un­ter­zeich­net mit G.B. Der an­er­kann­te dä­ni­sche Kri­ti­ker Ge­org Bran­des war auf ih­rer Sei­te. Der Durch­bruch und ihr Weg als Schrift­stel­le­rin führ­te ab jetzt nach oben.

1906 setz­te sie einen Auf­trag der schwe­di­schen Schul­be­hör­de um. Ein Erd­kun­de­buch für Schul­kin­der. Die Ge­burts­stun­de von »Die wun­der­ba­re Rei­se des klei­nen Nils Hol­gers­son mit den Wild­gän­sen«. Der klei­ne Nils, faul und böse, wird zur Stra­fe in ein klei­nen Ko­bold ver­wan­delt. Er zieht mit den Wild­gän­sen durch Schwe­den und wird über das, was er er­lebt, ein an­de­rer, ein bes­se­rer Mensch.

Das Buch – mit ei­ner sehr per­sön­li­chen Hand­schrift – ist ein zen­tra­les Werk von Sel­ma La­ger­löf. Ihre Hei­mat­ver­bun­den­heit ver­mit­telt sie mit den Au­gen des klei­nen Nils. Vie­le Land­schaf­ten stellt sie über Sa­gen und Mär­chen vor. Eine wich­ti­ge Fan­ta­sie­welt ih­rer Kind­heit, er­zählt von Groß­mut­ter, Haus­häl­te­rin und Kin­der­mäd­chen. Nils steht auch für ihre Hal­tung, Au­ßen­sei­tern eine Chan­ce zu ge­ben, ver­bun­den mit der Über­zeu­gung, dass die Din­ge sich stets zum gu­ten Wen­den.

Ein ganz per­sön­li­cher Aspekt ist der ein­ge­ar­bei­te­te Tod ih­rer Schwes­ter, die an Tu­ber­ku­lo­se starb, glei­ches lässt sie der Mut­ter und den Ge­schwis­tern von Aase und Mads wi­der­fah­ren, den Freun­den von Nils. So gilt das Werk zu­gleich als Er­zie­hungs- und Ent­wick­lungs­ro­man und ist ei­nes der be­rühm­tes­ten Bü­cher Schwe­dens.

Sel­ma La­ger­löf er­hielt vie­le Ehrun­gen, ein Hö­he­punkt der Li­te­ra­tur­no­bel­preis, den sie als ers­te Frau ver­lie­hen be­kam.

Sie starb am 16. März 1940 in ih­rem Haus, als ein Schlag­an­fall sie mit­ten aus ih­rem im­mer noch ak­ti­ven Le­ben riss.

Erster Teil

I. Der Junge

Der Kobold

Sonn­tag, den 20. März

Es war ein­mal ein Jun­ge. Er moch­te wohl vier­zehn Jah­re alt sein, war lang auf­ge­schos­sen und hat­te flachs­gel­bes Haar. Er war zu nichts recht zu ge­brau­chen. Am liebs­ten moch­te er schla­fen und es­sen, sein größ­tes Ver­gnü­gen aber war, dum­me Strei­che zu ma­chen.

Es war an ei­nem Sonn­tag­mor­gen. Die El­tern des Jun­gen wa­ren im Be­griff, sich zum Kirch­gang an­zu­klei­den. Der Jun­ge selbst saß in Hem­d­är­meln auf dem Tisch und dach­te, wie schön es sei, dass Va­ter und Mut­ter bei­de fort­gin­gen, so­dass er ein paar Stun­den lang sein ei­ge­ner Herr sein konn­te. »Jetzt kann ich doch Va­ters Flin­te her­un­ter­neh­men und ein we­nig da­mit schie­ßen, ohne dass sich gleich je­mand da­hin­ein­mischt«, sag­te er zu sich selbst.

Aber es war fast, als habe der Va­ter die Ge­dan­ken des Kna­ben er­ra­ten, denn ge­ra­de als er in der Tür stand und ge­hen woll­te, blieb er ste­hen und wand­te sich nach ihm um.

»Wenn du nicht mit Mut­ter und mir in die Kir­che willst«, sag­te er, »so fin­de ich, du soll­test auf alle Fäl­le eine Pre­digt hier zu Hau­se le­sen. Willst du mir das ver­spre­chen?«

»Ja«, sag­te der Jun­ge, »das kann ich ger­ne tun.« Und er dach­te na­tür­lich, dass er nicht mehr le­sen wür­de, als er Lust hat­te.

Der Jun­ge mein­te, er habe sei­ne Mut­ter sich noch nie so schnell be­we­gen se­hen. In ei­nem Nu war sie bei dem Wand­ge­sims, nahm Luthers Po­stil­le her­un­ter und leg­te sie auf den Tisch am Fens­ter, die Pre­digt des Ta­ges auf­ge­schla­gen. Sie schlug auch im Evan­ge­li­en­buch auf und leg­te es ne­ben die Po­stil­le. Schließ­lich zog sie den großen Lehn­stuhl an den Tisch her­an, der im vo­ri­gen Jahr auf der Auk­ti­on im Vem­men­hö­ger Pfarr­haus ge­kauft war, und in dem sonst nie­mand als der Va­ter sit­zen durf­te.

Der Jun­ge saß da und dach­te bei sich, die Mut­ter ma­che sich doch gar zu vie­le Mühe mit den Vor­be­rei­tun­gen, denn er hat­te gar nicht die Ab­sicht, mehr als eine Sei­te hier und da zu le­sen. Aber nun war es zum zwei­ten Mal ge­ra­de so, als wenn der Va­ter ganz durch ihn hin­durch­se­hen kön­ne, denn er sag­te stren­ge: »Sieh nur zu, dass du or­dent­lich liest! Denn wenn wir nach Hau­se kom­men, über­hö­re ich dir jede Sei­te, und hast du eine Sei­te über­sprun­gen, so kannst du mir glau­ben, ich wer­de dich leh­ren!«

»Die Pre­digt ist vier­zehn und eine hal­be Sei­te lang«, sag­te die Mut­ter, wie um das Maß voll zu ma­chen. »Du musst dich wohl gleich hin­set­zen und le­sen, wenn du hin­durch­kom­men willst.«

Und dann gin­gen sie end­lich, und als der Jun­ge in der Tür stand und ih­nen nachsah, fand er, dass sie ihn in ei­ner Fal­le ge­fan­gen hat­ten. »Die ge­hen nun da­hin und sind stolz dar­auf, dass sie es so gut ge­macht ha­ben und ich hier nun, wäh­rend der gan­zen Zeit, dass sie fort sind, über der Pre­digt brü­ten muss«, dach­te er bei sich.

Aber sein Va­ter und sei­ne Mut­ter wa­ren weit da­von ent­fernt, stolz über ir­gen­det­was zu sein; sie wa­ren im Ge­gen­teil ziem­lich be­trübt. Sie wa­ren arme Häus­ler­leu­te und hat­ten nicht viel mehr Bo­den als einen Gar­ten­fleck. In der ers­ten Zeit, als sie das Haus hat­ten, konn­ten sie nur ein Schwein und ein paar Hüh­ner hal­ten, aber sie wa­ren sel­ten streb­sa­me und tüch­ti­ge Leu­te, und jetzt hat­ten sie so­wohl Kühe als auch Gän­se. Es war vor­züg­lich vor­wärts ge­gan­gen mit ih­nen, und hät­ten sie nicht an den Sohn den­ken müs­sen, so wä­ren sie an die­sem schö­nen Sonn­tag­mor­gen froh und ver­gnügt zur Kir­che ge­gan­gen. Der Va­ter klag­te dar­über, dass er faul und nach­läs­sig sei, in der Schu­le hat­te er nichts ge­tan, und er war so un­tüch­tig, dass er ihn nur mit Not und Mühe die Gän­se hü­ten las­sen konn­te. Und die Mut­ter be­stritt kei­nes­wegs, dass das wahr sei, aber sie war am meis­ten be­trübt dar­über, dass er ein so wil­der und ar­ger Bube war, hart ge­gen Tie­re und bos­haft ge­gen Men­schen, »Wenn doch Gott ihn beu­gen und ihm einen an­de­ren Sinn ge­ben woll­te«, sag­te die Mut­ter. »Sonst wird er ein Un­glück für sich selbst und für uns.«

Der Jun­ge stand lan­ge da und über­leg­te, ob er die Pre­digt le­sen sol­le oder nicht. Aber dann wur­de er mit sich selbst ei­nig, dass es dies­mal am bes­ten sein wür­de, wenn er ge­horch­te. Er setz­te sich in den Pfarr­haus­lehn­stuhl und fing an zu le­sen. Als er aber eine Wei­le die Wör­ter halb­laut her­ge­plap­pert hat­te, war er nahe dar­an, über sein ei­ge­nes Ge­mur­mel ein­zu­schla­fen, und er merk­te, dass er an­fing ein­zu­ni­cken.

Drau­ßen war das schöns­te Früh­lings­wet­ter. Man war zwar nicht wei­ter im Jahr als am zwan­zigs­ten März, aber der Jun­ge wohn­te im West-Vem­men­hö­ger Kirch­spiel, weit un­ten im süd­li­chen Scho­nen, und da war der Früh­ling schon im vol­len Gan­ge. Es war noch nicht grün, aber es war frisch und im Be­griff, Knos­pen zu trei­ben. Da war Was­ser in al­len Grä­ben, und der Huf­lat­tich stand an den Gra­ben­rän­dern in Blü­te. All das klei­ne Kraut­werk, das auf den Stein­wäl­len wuchs, war braun und blank. Die Bu­chen­wäl­der in der Fer­ne stan­den gleich­sam da und schwol­len und wur­den mit je­dem Au­gen­blick dich­ter. Der Him­mel war hoch und hell­blau. Die Haus­tür stand an­ge­lehnt, so­dass man in der Stu­be hö­ren konn­te, wie die Ler­che sang. Die Hüh­ner und Gän­se gin­gen drau­ßen im Hofe, und die Kühe, die die Früh­lings­luft bis ganz in ihre Stän­de hin­ein spür­ten, ga­ben von Zeit zu Zeit ein Brül­len von sich.

Der Jun­ge las und nick­te und kämpf­te mit dem Schlaf. »Nein, ich will nicht ein­schla­fen«, dach­te er, »denn dann kom­me ich heu­te Vor­mit­tag nicht durch dies hier hin­durch.«

Aber wie es nun kom­men moch­te, er schlief den­noch ein.

Er wuss­te nicht, ob er eine kur­ze oder eine lan­ge Zeit ge­schla­fen hat­te, aber er er­wach­te da­von, dass er ein schwa­ches Geräusch hin­ter sich hör­te.

Auf der Fens­ter­bank, ge­ra­de vor dem Jun­gen, stand ein klei­ner Spie­gel, und dar­in konn­te man bei­na­he die gan­ze Stu­be se­hen. In dem­sel­ben Au­gen­blick, als nun der Jun­ge den Kopf er­hob, fiel sein Blick in den Spie­gel, und da sah er, dass der De­ckel von der Mut­ter Tru­he ge­öff­net war.

Die Mut­ter hat­te näm­lich eine große, schwe­re, ei­sen­be­schla­ge­ne ei­che­ne Tru­he, die nie­mand au­ßer ihr sel­ber öff­nen durf­te. Dort be­wahr­te sie all das auf, was sie von ih­rer Mut­ter ge­erbt hat­te, und wo­mit sie am al­le­rei­gens­ten war. Da la­gen ein paar alte Bau­ern­trach­ten aus ro­tem Tuch mit kur­z­em Leib­chen und Fal­ten­rock und per­len­ge­stick­tem Brust­tuch. Da wa­ren ge­steif­te wei­ße Kopf­tü­cher und schwe­re sil­ber­ne Span­gen und sil­ber­ne Ket­ten. Heut­zu­ta­ge woll­ten die Leu­te nicht mit der­glei­chen Sa­chen ge­hen, und die Mut­ter hat­te oft dar­an ge­dacht, sich von dem al­ten Kram zu tren­nen, aber dann hat­te sie es doch nicht übers Herz brin­gen kön­nen.

Nun sah der Jun­ge ganz deut­lich im Spie­gel, dass der De­ckel der Tru­he of­fen­stand. Er konn­te nicht be­grei­fen, wie das zu­ge­gan­gen war, denn die Mut­ter hat­te die Tru­he ge­schlos­sen, ehe sie fort­ging. Es sah der Mut­ter wahr­lich nicht ähn­lich, sie of­fen­ste­hen zu las­sen, wenn er al­lein zu Hau­se war.

Ihm wur­de ganz un­heim­lich zu­mu­te. Er war ban­ge, dass sich ein Dieb ins Haus ge­schli­chen hat­te. Er wag­te nicht, sich zu rüh­ren, son­dern saß ganz still da und starr­te in den Spie­gel hin­ein.

Wäh­rend er so da­saß und war­te­te, dass sich der Dieb zei­gen wür­de, grü­bel­te er dar­über nach, was für ein schwar­zer Schat­ten das wohl sein kön­ne, der über den Rand der Tru­he fiel. Er sah und sah und woll­te sei­nen ei­ge­nen Au­gen nicht trau­en. Aber das, was zu An­fang wie ein Schat­ten aus­sah, wur­de im­mer deut­li­cher, und er ent­deck­te bald, dass es et­was Wirk­li­ches war. Es war we­der mehr noch we­ni­ger als ein Ko­bold, der ritt­lings auf dem Ran­de der Tru­he saß.

Der Jun­ge hat­te frei­lich von Ko­bol­den re­den hö­ren, aber er hat­te sich nie ge­dacht, dass sie so klein sei­en. Der, der da auf der Tru­he saß, war nicht hö­her als eine Hand­breit. Sein Ge­sicht war alt und run­ze­lig und bart­los, und er hat­te einen lan­gen schwar­zen Rock und Knie­ho­sen an und einen breit­krem­pi­gen schwar­zen Hut auf dem Kopf. Er war sehr fein und zier­lich, mit wei­ßen Spit­zen am Hal­se und am Hand­ge­lenk, Span­gen an den Schu­hen und Strumpf­bän­dern mit Ro­set­ten. Er hat­te ein ge­stick­tes Brust­tuch aus der Tru­he ge­nom­men und saß nun da und be­trach­te­te die alt­mo­di­sche Ar­beit mit so großer An­dacht, dass er das Er­wa­chen des Jun­gen nicht be­merkt hat­te.

Der Jun­ge war sehr er­staunt, den Ko­bold zu se­hen, aber ban­ge wur­de er ei­gent­lich nicht. Man konn­te nicht ban­ge vor ei­nem wer­den, der so klein war. Und da nun der Ko­bold so von dem in An­spruch ge­nom­men war, was er vor­hat­te, dass er we­der sah noch hör­te, so dach­te der Jun­ge, es wür­de ein Spaß sein, ihm einen Streich zu spie­len, ihn in die Kis­te hin­un­ter­zu­sto­ßen und den De­ckel zu­zu­schla­gen oder et­was Ähn­li­ches.

Aber der Jun­ge war doch nicht so mu­tig, dass er den Ko­bold mit den Hän­den zu be­rüh­ren wag­te, und er sah sich des­we­gen in der Stu­be nach et­was um, wo­mit er ihn hin­un­ter­sto­ßen kön­ne. Sei­ne Au­gen wan­der­ten von der Bett­bank nach dem Klapp­tisch und von dem Klapp­tisch nach dem Feu­er­herd. Er sah nach den Kochtöp­fen und dem Kaf­fee­kes­sel, die auf ei­nem Ge­sims ne­ben dem Feu­er­herd stan­den, nach dem Was­serei­mer an der Tür hin­über und nach den Kel­len und Mes­sern und Ga­beln und Schüs­seln und Tel­lern, die er durch die halb­ge­öff­ne­te Schrank­tür se­hen konn­te. Er guck­te zu des Va­ters Flin­te hin­auf, die an der Wand ne­ben den Bil­dern der dä­ni­schen Kö­nigs­fa­mi­lie hing, und zu den Pe­lar­go­ni­en und Fuch­si­en hin­über, die im Fens­ter blüh­ten. Schließ­lich fiel sein Blick auf einen al­ten Flie­gen­fän­ger, der im Fens­ter­rah­men hing.

Kaum hat­te er den Flie­gen­fän­ger er­blickt, als er ihn er­griff und hin­lief und ihn am Ran­de der Tru­he ent­lang­schwenk­te. Und er war selbst er­staunt über sein Glück. Er be­griff kaum, wie es zu­ge­gan­gen war, aber er hat­te den Ko­bold wirk­lich ge­fan­gen. Der Ärms­te lag auf dem Grun­de des tie­fen Flie­gen­fän­gers, den Kopf nach un­ten und konn­te nicht in die Höhe kom­men.

Im ers­ten Au­gen­blick wuss­te der Jun­ge gar nicht, was er mit sei­nem Fang ma­chen soll­te. Er sorg­te nur da­für, den Flie­gen­fän­ger hin und her zu schwin­gen, da­mit der Ko­bold kei­ne Ge­le­gen­heit fand, hin­auf­zu­klet­tern.

Der Ko­bold be­gann zu spre­chen und bat so fle­hent­lich, in Frei­heit ge­setzt zu wer­den. Er sag­te, er habe ih­nen seit vie­len Jah­ren Gu­tes ge­tan und ver­die­ne eine bes­se­re Be­hand­lung. Wenn der Jun­ge ihn nun freiließ, woll­te er ihm einen al­ten Spe­zies­ta­ler, einen sil­ber­nen Löf­fel und ein Geld­stück schen­ken, das so groß sei wie der De­ckel von sei­nes Va­ters sil­ber­ner Uhr.

Der Jun­ge fand ja ge­ra­de nicht, dass dies ein großes Aner­bie­ten war, aber seit er den Ko­bold in sei­ner Macht hat­te, war er ban­ge vor ihm ge­wor­den. Er merk­te, dass er sich auf et­was ein­ge­las­sen hat­te, was fremd und un­heim­lich war und da­her nicht zu sei­ner Welt ge­hör­te, und er freu­te sich nur, ihn los­zu­wer­den.

Des­we­gen schlug er so­fort ein und hielt den Flie­gen­fän­ger still, da­mit der Ko­bold her­aus­kom­men konn­te. Aber als der Ko­bold bei­na­he oben war, fiel dem Jun­gen ein, dass er sich grö­ße­re Reich­tü­mer und alle mög­li­chen Herr­lich­kei­ten hät­te aus­be­din­gen sol­len. Zum min­des­ten hät­te er die Be­din­gung stel­len sol­len, dass ihm der Ko­bold die Pre­digt in den Kopf hin­ein­ge­hext hät­te. »Wie dumm war ich, dass ich ihn losließ«, dach­te er und fing an, den Flie­gen­fän­ger zu schüt­teln, da­mit der Ko­bold wie­der hin­un­ter­fal­len soll­te.

Aber im sel­ben Au­gen­blick, als der Jun­ge das tat, be­kam er eine so ge­wal­ti­ge Ohr­fei­ge, dass er glaub­te, sein Kopf müss­te zer­sprin­gen. Er flog erst nach der einen Wand hin­über und dann nach der an­de­ren, schließ­lich fiel er auf dem Fuß­bo­den um, und dort blieb er be­sin­nungs­los lie­gen.

Als er wie­der er­wach­te, war er al­lein in der Stu­be. Von dem Ko­bold war kei­ne Spur zu se­hen. Der De­ckel der Tru­he war ge­schlos­sen, und der Flie­gen­fän­ger hing an sei­nem ge­wohn­ten Platz am Fens­ter. Hät­te er nicht ge­fühlt, wie sei­ne rech­te Wan­ge in­fol­ge der Ohr­fei­ge brann­te, so hät­te er ver­sucht sein kön­nen zu glau­ben, dass das Gan­ze ein Traum ge­we­sen. »Aber Va­ter und Mut­ter wer­den doch be­haup­ten, dass es nichts wei­ter ge­we­sen ist«, dach­te er. »Die zie­hen aus Rück­sicht auf den Ko­bold ge­wiss nichts ab. Es wird wohl am bes­ten sein, wenn ich mich wie­der hin­set­ze und lese.«

Aber als er an den Tisch her­an­trat, ent­deck­te er et­was Wun­der­li­ches. Es war doch un­mög­lich, dass die Stu­be grö­ßer ge­wor­den war. Wo­her konn­te es denn aber nur kom­men, dass er viel mehr Schrit­te ma­chen muss­te als sonst, um an den Tisch zu ge­lan­gen? Und was war denn in den Stuhl ge­fah­ren? Er sah nicht aus, als wenn er grö­ßer wäre als frü­her, aber er muss­te erst auf die Spros­se zwi­schen den Stuhl­bei­nen stei­gen und dann klet­tern, um auf den Sitz zu ge­lan­gen. Und eben­so war es mit dem Tisch. Er konn­te nicht über die Tisch­plat­te se­hen, ohne auf die Stuhl­leh­ne zu klet­tern.

»Was in al­ler Welt ist das nur?«, sag­te der Jun­ge. »Der Ko­bold wird doch nicht den Lehn­stuhl und den Tisch und auch das gan­ze Haus ver­hext ha­ben!«

Die Po­stil­le lag auf dem Tisch, und sie sah so aus wie frü­her, aber auch da­mit muss­te et­was nicht in der Ord­nung sein, denn er konn­te nicht dazu kom­men, ein Wort zu le­sen, ohne dass er ge­ra­de­zu mit­ten auf dem Buch stand.

Er las ei­ni­ge Zei­len, aber dann sah er zu­fäl­lig auf. Da­bei fiel sein Auge in den Spie­gel, und da rief er plötz­lich ganz laut: »Aber da ist ja noch ei­ner!«

Denn im Spie­gel sah er ganz deut­lich einen win­zig klei­nen Bur­schen in Zip­fel­müt­ze und Le­der­ho­se.

»Der ist ja ge­nau so ge­klei­det wie ich«, sag­te der Jun­ge und schlug die Hän­de vor Er­stau­nen zu­sam­men. Aber da sah er, dass der klei­ne Bur­sche im Spie­gel das­sel­be tat.

Da zupf­te er sich sel­ber im Haar und kniff sich in den Arm und dreh­te sich rund her­um, und au­gen­blick­lich mach­te der im Spie­gel es ihm nach.

Der Jun­ge lief ein paar Mal rund um den Spie­gel her­um, um zu se­hen, ob sich ein Männ­lein da­hin­ter ver­steckt hielt. Aber da war keins, und da be­gann er vor Angst zu zit­tern. Denn nun be­griff er, dass der Ko­bold ihn ver­hext hat­te, und dass der klei­ne Bur­sche, des­sen Bild er im Spie­gel sah, er sel­ber war.

Die wilden Gänse

Der Jun­ge konn­te sich nun gar nicht be­que­men, zu glau­ben, dass er in einen Ko­bold ver­wan­delt war. »Es ist wohl nichts wei­ter als Traum und Ein­bil­dung«, dach­te er. »Wenn ich nur ein we­nig war­te, wer­de ich wohl wie­der ein Mensch.«

Er stell­te sich vor den Spie­gel und schloss die Au­gen. Er öff­ne­te sie erst wie­der, nach­dem ein paar Mi­nu­ten ver­gan­gen wa­ren, und er­war­te­te dann, dass es vor­über­ge­gan­gen sei. Aber das war es nicht; er war und blieb gleich klein. Sonst glich er sich selbst, er war ganz so wie frü­her. Das flachs­gel­be Haar und die Som­mer­spros­sen über der Nase und die Fli­cken an der Hose und die Stopf­stel­le an dem Strumpf, das war al­les ge­nau so, wie es zu sein pfleg­te, nur dass al­les klei­ner ge­wor­den war.

Nein, es konn­te nichts nüt­zen, still­zu­ste­hen und zu war­ten, das merk­te er wohl. Er muss­te et­was an­de­res ver­su­chen. Und er fand, das klügs­te, was er tun konn­te, war, dass er ver­such­te, den Ko­bold zu fin­den und Frie­den mit ihm zu schlie­ßen.

Er sprang an die Erde her­ab und mach­te sich dar­an, zu su­chen. Er guck­te hin­ter Stüh­le und Schrän­ke, und un­ter die Bett­bank und hin­ter den Herd. Er kroch so­gar in ein paar Mau­selö­cher hin­ein, aber es war ihm nicht mög­lich, den Ko­bold zu fin­den.

Die gan­ze Zeit, wäh­rend er such­te, wein­te er und be­te­te und ge­lob­te alle mög­li­chen Din­ge. Er woll­te nie wie­der je­mand das Wort bre­chen, er woll­te nie wie­der bos­haft sein, er woll­te nie wie­der bei der Pre­digt ein­schla­fen. Wenn er nur wie­der ein Mensch wer­den kön­ne, dann woll­te er auch tüch­tig sein und ein gu­ter und ge­hor­sa­mer Jun­ge. Aber was er auch ver­sprach, es half nicht im ge­rings­ten.

Plötz­lich fiel ihm ein, dass er die Mut­ter hat­te sa­gen hö­ren, die Ko­bol­de hiel­ten sich mit Vor­lie­be im Kuh­stall auf, und er be­schloss, gleich da hin­aus­zu­ge­hen und zu se­hen, ob er den Ko­bold nicht fin­den kön­ne. Zum Glück stand die Tür nur an­ge­lehnt, denn er hät­te das Schloss nicht er­rei­chen und sie öff­nen kön­nen, aber nun ge­lang­te er ohne Schwie­rig­keit hin­durch.

Als er auf den Flur hin­aus­kam, sah er sich nach sei­nen Holz­schu­hen um, denn drin­nen in der Stu­be ging er na­tür­lich auf So­cken. Er über­leg­te ge­ra­de, was er mit den großen, klot­zi­gen Holz­schu­hen an­fan­gen soll­te, aber im sel­ben Au­gen­blick sah er ein Paar klei­ne Schu­he auf der Tür­schwel­le ste­hen. Als er sah, dass der Ko­bold auch die Holz­schu­he ver­wan­delt hat­te, wur­de ihm noch be­klom­me­ner zu­mu­te. Es sah ja so aus, als wenn dies Elend lan­ge wäh­ren soll­te.

Auf der al­ten Ei­chen­plan­ke, die vor der Haus­tür lag, hüpf­te ein Spatz. Kaum hat­te der den Jun­gen er­blickt, als er »Tit, tit! Tit, tit!«, rief. »Nein, seht doch nur den Gän­se­jun­gen Nils! Seht den Däum­ling! Seht den Däum­ling Nils Hol­gers­son!«

So­gleich wand­ten so­wohl die Gän­se als auch die Hüh­ner die Köp­fe her­um und es ent­stand ein schreck­li­ches Ge­ga­cker. »Ki­ke­ri­ki!«, kräh­te der Hahn, »das ist gut ge­nug für ihn; Ki­ke­ri­ki, er hat mich an mei­nem Kamm ge­zupft.« – »Gut, gut, gut, gut, das ist gut ge­nug für ihn!«, rie­fen die Hüh­ner, und so blie­ben sie da­bei bis ins un­end­li­che. Die Gän­se flo­gen in ei­nem dich­ten Hau­fen zu­sam­men, steck­ten die Köp­fe zu­sam­men und frag­ten: »Wer kann das doch nur ge­tan ha­ben? Wer kann das doch nur ge­tan ha­ben?«

Aber das Son­der­bars­te bei dem Gan­zen war, dass der Jun­ge ver­stand, was sie sag­ten. Er war so er­staunt, dass er still auf der Trep­pen­stu­fe ste­hen blieb und lausch­te. »Das muss da­her kom­men, weil ich in einen Ko­bold ver­wan­delt bin«, sag­te er. »Da­rum kann ich die Spra­che der Vö­gel ver­ste­hen.«

Er fand, es war un­leid­lich, dass die Vö­gel nicht auf­hö­ren woll­ten zu sa­gen, dass es gut ge­nug für ihn sei. Er warf einen Stein nach ih­nen und rief: »So schweigt doch still, ihr Lum­pen­ge­sin­del!«

Aber er hat­te ver­ges­sen, dass er nicht so groß war, dass die Hüh­ner ban­ge vor ihm zu sein brauch­ten. Die gan­ze Hüh­ner­schar fuhr auf ihn los und stell­te sich rund um ihn her­um auf und schrie: »Gut, gut, gut, das ist gut ge­nug für dich!«

Der Jun­ge ver­such­te zu ent­kom­men, aber die Hüh­ner lie­fen ihm nach und schri­en, so­dass die Ohren ihm bei­na­he ab­ge­fal­len wä­ren. Er wäre ih­nen wohl nie ent­ron­nen, wenn nicht die Haus­kat­ze des We­ges ge­kom­men wäre. So­bald die Hüh­ner die Kat­ze sa­hen, schwie­gen sie still und ta­ten so, als däch­ten sie an nichts wei­ter, als nach Wür­mern in der Erde zu schar­ren.

Der Jun­ge lief schnell zu der Kat­ze hin. »Lie­be klei­ne Miez«, sag­te er »du kennst ja alle Win­kel und Schlupflö­cher hier auf dem Hofe? Willst du mir nicht er­zäh­len, wo ich den Ko­bold fin­den kann?«

Die Kat­ze ant­wor­te­te nicht so­gleich. Sie setz­te sich hin, leg­te den Schwanz hübsch in einen Kranz vor ihre Pfo­ten und starr­te den Jun­gen an. Es war eine große, schwar­ze Kat­ze mit ei­nem wei­ßen Fleck auf der Brust. Ihr Haar war glatt und glän­zend im Son­nen­schein. Die Kral­len hat­te sie ein­ge­zo­gen, und die Au­gen wa­ren ganz grau bis auf einen klei­nen schma­len Spalt in der Mit­te. Die Kat­ze sah aus wie die per­so­ni­fi­zier­te Fröm­mig­keit.

»Ich weiß recht gut, wo der Ko­bold wohnt«, sag­te sie mit sanf­ter Stim­me, »aber dar­um ist es nicht ge­sagt, dass ich es dir er­zäh­len will.«

»Lie­be Miez, du musst mir wirk­lich hel­fen«, sag­te der Jun­ge. »Siehst du denn nicht, dass er mich ver­hext hat?«

Die Kat­ze öff­ne­te die Au­gen ein we­nig wei­ter, so­dass die grü­ne Bos­heit her­aus­zu­lu­gen be­gann. Sie spann und schnurr­te vor Wohl­be­ha­gen, ehe sie ant­wor­te­te: »Soll ich dir viel­leicht hel­fen, weil du mich so oft am Schwanz ge­zo­gen hast«, sag­te sie schließ­lich.

Da wur­de der Jun­ge wü­tend und ver­gaß ganz, wie klein und macht­los er war. »Ich kann dich noch ein­mal am Schwanz zie­hen!«, sag­te er und fuhr auf die Kat­ze los.

Im sel­ben Au­gen­blick war die Kat­ze so ver­än­dert, dass der Jun­ge kaum glau­ben konn­te, es sei das­sel­be Tier. Je­des Haar auf ih­rem Lei­be sträub­te sich. Der Rücken krümm­te sich, die Bei­ne streck­ten sich, die Kral­len kratz­ten in der Erde, der Schwanz wur­de kurz und dick, die Ohren leg­ten sich zu­rück, der Mund fauch­te, die Au­gen stan­den weit of­fen und fun­kel­ten wie glü­hen­de Koh­len.

Der Jun­ge woll­te sich nicht von ei­ner Kat­ze Ban­ge ma­chen las­sen, son­dern ging noch einen Schritt vor. Aber da fuhr die Kat­ze mit ei­nem Sprung ge­ra­de auf den Jun­gen los, warf ihn um und stell­te sich über ihn, die Vor­der­pfo­ten auf sei­ner Brust und den Ra­chen über sei­ner Keh­le.

Der Jun­ge fühl­te, dass die Kral­len ihm durch die Wes­te und das Hemd in die Haut dran­gen, wäh­rend die schar­fen Eck­zäh­ne sei­ne Keh­le kit­zel­ten. Er schrie aus Lei­bes­kräf­ten um Hil­fe.

Aber es kam nie­mand, und er glaub­te be­stimmt, dass sei­ne letz­te Stun­de ge­schla­gen habe. Da merk­te er, dass die Kat­ze die Kral­len ein­zog und sei­ne Keh­le frei­gab.

»So«, sag­te sie, »jetzt mag es ge­nug sein. Dies­mal will ich dich um mei­ner Haus­mut­ter wil­len los­las­sen. Ich woll­te nur, dass du wis­sen soll­test, wer von uns bei­den jetzt der Stär­ke­re ist.«

Da­mit ging die Kat­ze ih­rer Wege und sah eben­so glatt und fromm aus wie vor­her, als sie kam. Der Jun­ge war so ver­le­gen, dass er kein Wort sag­te, son­dern sich nur be­eil­te, in den Kuh­stall hin­ein­zu­kom­men, um nach dem Ko­bold zu su­chen.

Da wa­ren nicht mehr als drei Kühe. Aber als der Kna­be in den Stall hin­ein­kam, ent­stand ein Brül­len und Lär­men, so­dass man gern hät­te glau­ben kön­nen, da wä­ren we­nigs­tens drei­ßig.

»Muh, muh, muh!«, brüll­te Mai­ro­se. »Es ist nur gut, dass es noch Ge­rech­tig­keit in der Welt gibt!«

»Muh, muh, muh!«, stimm­ten sie alle drei ein. Er konn­te nicht hö­ren, was sie sag­ten, so rie­fen sie durch­ein­an­der.

Der Jun­ge woll­te nach dem Ko­bold fra­gen, aber er konn­te sich kein Ge­hör ver­schaf­fen, weil die Kühe so los­leg­ten. Sie be­nah­men sich so, wie sie zu tun pfleg­ten, wenn er einen frem­den Hund zu ih­nen ein­ließ. Sie schlu­gen mit den Hin­ter­bei­nen aus, ris­sen und zerr­ten an ih­ren Hals­ket­ten, dreh­ten die Köp­fe nach au­ßen und stie­ßen mit den Hör­nern nach ihm.

»Komm du bloß her­an!«, sag­te Mai­ro­se, »dann will ich dir einen Stoß ver­set­zen, den du so­bald nicht wie­der ver­gisst!«

»Komm hier­her«, sag­te Gold­li­lie, »dann sollst du Er­laub­nis ha­ben, auf mei­nen Hör­nern zu tan­zen!«

»Komm nur her, dann sollst du füh­len, wie es schmeck­te, wenn du mit dei­nen Holz­schu­hen nach mir warfst, wie du es die­sen Som­mer so oft ge­tan hast!«, brüll­te Stern.

»Komm nur her, dann will ich dir die Brem­se heim­zah­len, die du mir ins Ohr ge­setzt hast«, schrie Gold­li­lie.

Mai­ro­se war die äl­tes­te und klügs­te von ih­nen, und sie war die al­ler­zor­nigs­te, »Komm nur her«, sag­te sie, »dann will ich dir alle die Male heim­zah­len, wo du dei­ner Mut­ter den Melk­ho­cker weg­ge­zo­gen hast, und alle die Male, wo du ihr ein Bein ge­stellt hast, wenn sie mit dem Milchei­mer ge­schleppt kam, und alle Trä­nen, die sie hier um dich ver­gos­sen hat.«

Der Jun­ge woll­te ih­nen sa­gen, er be­reue, dass er schlecht ge­gen sie ge­we­sen war, und dass er so et­was nie wie­der tun wol­le, wenn sie ihm nur sa­gen woll­ten, wo der Ko­bold sei. Aber die Kühe hör­ten nicht nach ihm hin. Sie wur­den so er­regt, dass er ban­ge wur­de, eine von ih­nen kön­ne sich los­rei­ßen, und er hielt es für das bes­te, sich aus dem Kuh­stall her­aus­zu­schlei­chen.

Als er wie­der drau­ßen war, be­fiel ihn eine große Ver­zagt­heit. Er sah ein, dass nie­mand auf dem Hofe ihm hel­fen woll­te, den Ko­bold zu fin­den. Und es wür­de wohl auch nicht viel hel­fen, wenn er ihn fand.

Er kroch auf den brei­ten Stein­wall hin­auf, der das Grund­stück um­gab und der mit Dor­nen und Brom­beer­ran­ken be­wach­sen war. Da setz­te er sich hin, um dar­über nach­zu­den­ken, wie es wer­den soll­te, wenn er nie wie­der ein Mensch wür­de. Wenn nun der Va­ter und die Mut­ter aus der Kir­che nach Hau­se kämen, wür­de große Ver­wun­de­rung herr­schen. Ja, im gan­zen Lan­de wür­de man sich ver­wun­dern, und aus Ost-Vem­men­hög und aus Torp und aus Sku­rup wür­den Leu­te kom­men; aus der gan­zen Vem­men­hö­ger Hei­de wür­de man kom­men, um ihn zu se­hen. Und viel­leicht wür­den der Va­ter und die Mut­ter ihn nach dem Ki­ri­ker Markt mit­neh­men und ihn für Geld se­hen las­sen.

Nein, das war schreck­lich zu den­ken. Er woll­te nur wün­schen, dass ihn nie ein Mensch mehr zu se­hen be­kam.

Es war schreck­lich, wie un­glück­lich er war. Nie­mand in der gan­zen Welt war so un­glück­lich wie er. Er war kein Mensch mehr, son­dern ein Un­ge­tüm.

Nach und nach ward es ihm klar, was es hieß, dass er kein Mensch mehr war. Jetzt war er von al­lem ge­trennt: er konn­te nicht mit an­de­ren Kna­ben spie­len, er konn­te das Haus nicht nach den El­tern über­neh­men, und er konn­te nun gar kein Mäd­chen be­kom­men, um sich mit ihr zu ver­hei­ra­ten.

Er saß da und be­trach­te­te sein Heim. Es war ein klei­nes, weiß ge­tünch­tes Fach­werk­haus, das un­ter dem ho­hen, schrä­gen Stroh­dach wie in die Erde hin­ein­ge­drückt dalag. Die Ne­ben­ge­bäu­de wa­ren eben­falls klein, und die Fel­der wa­ren so schmal, dass ein Pferd nur mit ge­nau­er Not dar­auf um­wen­den konn­te. Aber wie klein und ärm­lich das Haus auch war, jetzt war es doch zu gut für ihn. Er konn­te kein an­de­res Haus ver­lan­gen, als ein Loch un­ter dem Fuß­bo­den im Stall.

Das Wet­ter war so wun­der­bar schön. Es si­cker­te und es spross­te und es zwit­scher­te rings um ihn her. Er aber saß in tie­fem Kum­mer da. Er konn­te sich nie wie­der über ir­gen­det­was freu­en.

Nie hat­te er den Him­mel so blau ge­se­hen wie heu­te. Und Zug­vö­gel ka­men da­her­ges­aust. Sie ka­men aus dem Aus­land und wa­ren über die Ost­see ge­reist, sie wa­ren ge­ra­de auf Smy­ge­huk zu­ge­steu­ert, und jetzt wa­ren sie auf dem Wege gen Nor­den. Da wa­ren si­cher vie­le ver­schie­de­ne Ar­ten, aber er konn­te kei­ne an­de­re er­ken­nen als die wil­den Gän­se; sie ka­men in zwei lan­gen Rei­hen ge­flo­gen, die sich in ei­nem Win­kel tra­fen.

Es wa­ren schon meh­re­re Scha­ren von wil­den Gän­sen vor­über­ge­flo­gen. Sie flo­gen hoch oben, aber er konn­te sie doch ru­fen hö­ren: »Jetzt geht’s in die Ber­ge! Jetzt geht’s in die Ber­ge!«

Als die wil­den Gän­se die zah­men Gän­se sa­hen, die auf dem Hofe her­um­wat­schel­ten, senk­ten sie sich zur Erde her­ab und rie­fen: Kommt mit! Kommt mit!

Die zah­men Gän­se konn­ten sich nicht ent­hal­ten, einen lan­gen Hals zu ma­chen und zu hor­chen. Aber sie ant­wor­te­ten ganz ver­nünf­tig: »Wir ha­ben es gut, so wie wir es ha­ben. Wir ha­ben es gut, so wie wir es ha­ben.«

Es war, wie ge­sagt, ein wun­der­bar schö­ner Tag mit ei­ner Luft, in der zu flie­gen eine wah­re Freu­de sein muss­te, so frisch und so leicht. Und mit je­der neu­en Schar von wil­den Gän­sen, die vor­über­flog, wur­den die zah­men Gän­se mehr und mehr un­ru­hig. Ein paar Mal schlu­gen sie mit den Flü­geln, als hät­ten sie Lust, mit­zu­flie­gen. Aber dann sag­te im­mer eine alte Gän­se­mut­ter: »Seid doch nicht ver­rückt! Die da oben wer­den noch frie­ren und hun­gern.«

Ei­nen jun­gen Gän­se­rich er­fass­te eine hef­ti­ge Rei­se­lust bei all dem Ru­fen. »Wenn noch eine Schar kommt, flie­ge ich mit«, sag­te er.

Und dann kam eine neue Schar, die eben­so rief wie die an­de­re. Da schrie der jun­ge Gän­se­rich: »War­tet! War­tet! Ich kom­me.«

Er brei­te­te die Flü­gel aus und schwang sich in die Luft hin­auf, aber das Flie­gen war ihm et­was so un­ge­wohn­tes, dass er wie­der auf die Erde zu­rücksank.

Die wil­den Gän­se muss­ten sei­nen Ruf aber doch ge­hört ha­ben. Sie kehr­ten um und flo­gen lang­sam zu­rück, um zu se­hen, ob er kam.

»War­tet! War­tet!«, rief er und mach­te einen neu­en Ver­such.

Dies al­les hör­te der Jun­ge, wäh­rend er da auf dem Stein­wall lag. »Es wür­de wirk­lich schlimm sein«, dach­te er, »wenn der große Gän­se­rich da­von­fliegt. Va­ter und Mut­ter wür­den sehr är­ger­lich dar­über sein, falls er weg wäre, wenn sie aus der Kir­che kom­men.«

Wäh­rend er so dach­te, ver­gaß er aber­mals ganz, dass er klein und ohn­mäch­tig war. Er sprang von dem Stein­wall mit­ten in die Gän­se­schar hin­ein und schlang den Arm um den Gän­se­rich. »Du sollst es schon las­sen, fort­zu­flie­gen!«, sag­te er.

Aber ge­ra­de im sel­ben Au­gen­blick hat­te der Gän­se­rich ent­deckt, wie er es an­fan­gen muss­te, um sich von der Erde em­por­zu­he­ben. Er hat­te kei­ne Zeit, den Jun­gen ab­zu­schüt­teln, der muss­te mit ihm in die Luft hin­auf.

Es ging so schnell auf­wärts, dass dem Jun­gen die Luft weg­b­lieb. Ehe es ihm klar wur­de, dass er den Hals des Gän­se­richs frei­ge­ben muss­te, war er so hoch oben, dass er sich tot­ge­fal­len hät­te, wenn er her­un­ter­ge­stürzt wäre.

Das ein­zi­ge, was er tun konn­te, um sei­ne Lage ein we­nig zu ver­bes­sern, war ein Ver­such, auf den Rücken des Gän­se­richs hin­auf­zu­kom­men. Er ar­bei­te­te sich wirk­lich da hin­auf, wenn auch nicht ohne Mühe. Und es war auch kei­ne leich­te Sa­che, auf dem plat­ten Rücken zwi­schen den bei­den schwin­gen­den Flü­geln fest­zu­sit­zen. Er muss­te mit bei­den Hän­den einen tie­fen Griff in Fe­dern und Flau­men hin­ein­ma­chen, um nicht ab­zu­fal­len.

Das gewürfelte Tuch

Dem Jun­gen ward es so schwin­de­lig, dass er lan­ge nicht wuss­te, wie ihm war. Die Luft saus­te und pfiff ihm ent­ge­gen, die Flü­gel be­weg­ten sich, und es braus­te in den Fe­dern wie ein wah­rer Sturm. Drei­zehn Gän­se flo­gen um ihn her­um, und alle schlu­gen sie mit den Flü­geln und schnat­ter­ten. Es flim­mer­te ihm vor den Au­gen, und es saus­te ihm in den Ohren. Er wuss­te nicht, ob sie hoch oder nied­rig flo­gen, oder wo­hin es mit ih­nen ging.

End­lich kam er so weit zu sich, dass er be­griff, er müs­se sich klar dar­über wer­den, wo­hin die Gän­se mit ihm flo­gen. Aber das war nicht so leicht, denn er wuss­te nicht, wo­her er den Mut neh­men soll­te, hin­ab­zu­se­hen. Er war fest über­zeugt, dass ihn schwin­deln wür­de, wenn er es ver­such­te.

Die wil­den Gän­se flo­gen nicht so sehr hoch, da der neue Rei­se­ka­me­rad nicht in der al­ler­dünns­ten Luft at­men konn­te. Um sei­net­wil­len flo­gen sie auch ein we­nig lang­sa­mer als sonst.

Schließ­lich zwang der Jun­ge sich doch, einen Blick auf die Erde hin­ab­zu­wer­fen. Und es schi­en ihm, als lie­ge un­ter ihm ein großes Tuch aus­ge­brei­tet, das in eine un­glaub­li­che Men­ge klei­ner und großer Wür­fel ein­ge­teilt war.

»Wo in al­ler Welt bin ich nur hin­ge­kom­men«, dach­te er.

Er sah nichts an­de­res als Wür­fel an Wür­fel. Ei­ni­ge wa­ren schief und ei­ni­ge wa­ren läng­lich, aber über­all wa­ren da Ecken und ge­ra­de Sei­ten. Nichts war rund und nichts war ge­krümmt.

»Was ist das doch für ein großes, ge­wür­fel­tes Tuch, das ich da un­ten sehe?«, sag­te der Kna­be zu sich selbst, ohne eine Ant­wort von ir­gend­je­mand zu er­war­ten. Aber die wil­den Gän­se, die rings um ihn her­um­flo­gen, rie­fen so­gleich: »Äcker und Wie­sen. Äcker und Wie­sen.«

Da be­griff er, dass das große, ge­wür­fel­te Tuch das fla­che scho­nen­sche1 Land war, über das er hin­flog. Und es ward ihm nach und nach klar, wo­her es so viel­far­big und ge­wür­felt aus­sah. Die hell­grü­nen Wür­fel er­kann­te er zu­erst, das wa­ren die Rog­gen­fel­der, die im Herbst be­sät wa­ren und sich grün un­term Schnee ge­hal­ten hat­ten. Die gelb­lich grau­en Wür­fel wa­ren Stop­pel­fel­der, auf de­nen im letz­ten Som­mer Korn ge­wach­sen war, die bräun­li­chen wa­ren Klee­wie­sen, und die schwar­zen wa­ren lee­re Rü­benä­cker oder um­ge­pflüg­te Brach­fel­der. Die brau­nen Wür­fel mit den gel­ben Rän­dern wa­ren wohl Bu­chen­wäl­der, denn in de­nen sind die großen Bäu­me, die mit­ten im Wal­de ste­hen, im Win­ter kahl, die klei­nen Bu­chen aber, die am Wald­ran­de wach­sen, be­hal­ten die tro­ckenen, gel­ben Blät­ter bis ganz in den Früh­ling hin­ein. Da wa­ren auch dunkle Wür­fel mit Grau in der Mit­te: das wa­ren die großen, zu­sam­men­ge­bau­ten Ge­höf­te mit den dunklen Stroh­dä­chern und den ge­pflas­ter­ten Hö­fen. Und dann wa­ren da Wür­fel, die in der Mit­te grün schim­mer­ten und eine Kan­te von Braun hat­ten; das wa­ren die Gär­ten, in de­nen die Ra­sen­plät­ze schon zu grü­nen an­fin­gen, ob­wohl die Bü­sche und die Bäu­me rings um sie her­um noch mit der kah­len, brau­nen Rin­de da­stan­den.

Der Jun­ge konn­te sich ei­nes La­chens nicht ent­hal­ten, als er sah, wie ge­wür­felt al­les war.

Aber als die wil­den Gän­se hör­ten, dass er lach­te, rie­fen sie gleich­sam ta­delnd: »Frucht­ba­res, gu­tes Land. Frucht­ba­res, gu­tes Land.«

Der Jun­ge war schon wie­der ernst­haft ge­wor­den. »Dass du la­chen kannst!«, dach­te er, »du, dem das Al­ler­schreck­lichs­te wi­der­fah­ren ist, was ei­nem Men­schen wi­der­fah­ren kann!«

Er hielt sich eine Wei­le ernst­haft, bald muss­te er aber wie­der la­chen.

All­mäh­lich, als er sich an den Sitz und die Fahrt ge­wöhnt hat­te, so­dass er an et­was an­de­res den­ken konn­te, als nur dar­an, wie er sich auf dem Rücken des Gän­se­richs fest­hal­ten soll­te, fiel es ihm auf, wie voll die Luft von Vo­gel­scha­ren war, die nord­wärts flo­gen. Und da war ein Schrei­en und Ru­fen von ei­nem Schwarm zum an­de­ren. »Also ihr seid heu­te auch übers Was­ser ge­kom­men«, rie­fen ei­ni­ge. – »Ja, das sind wir«, ant­wor­te­ten die Gän­se. »Wie denkt ihr, dass es mit dem Früh­ling steht?« – »Nicht ein Blatt an den Bäu­men und kal­tes Was­ser in den Seen«, lau­te­te die Ant­wort.

Wenn die Gän­se über einen Ort da­hin­flo­gen, wo zah­mes Fe­der­vieh drau­ßen war, rie­fen sie: »Wie heißt der Hof? Wie heißt der Hof?« Und der Hahn mach­te einen lan­gen Hals und ant­wor­te­te: »Der Hof heißt Klein­hof, heut wie vorm Jahr, heut wie vorm Jahr.«

Die meis­ten Häu­ser hat­ten ja ih­ren Na­men nach dem Be­sit­zer, wie das in Scho­nen Sit­te und Ge­brauch ist, aber statt zu ant­wor­ten, dass es Per Mats­sons oder Ola Bos­sons Haus sei, ga­ben ih­nen die Hüh­ner an­de­re Na­men, die sie pas­send fan­den. Häh­ne, die auf ärm­li­che An­we­sen der Häus­le­rei­en ge­hör­ten, rie­fen: »Die­ser Hof heißt Grütz­los.« Und an­de­re, die zu den al­lerärms­ten Hüt­ten ge­hör­ten, rie­fen: »Dies Haus heißt: Kau­e­we­nig, Kau­e­we­nig, Kau­e­we­nig.«

Die großen, wohl­ha­ben­den Bau­ern­hö­fe be­ka­men sei­ne Na­men von den Hüh­nern, wie Glücks­feld, Eier­berg und Geld­heim.

Aber die Häh­ne auf den Rit­ter­gü­tern wa­ren viel zu hoch­mü­tig, um sich et­was Amüsan­tes aus­zu­den­ken. Ei­ner von ih­nen kräh­te und schrie mit ei­ner Kraft, als wol­le er, dass man ihn ganz bis zur Son­ne hin­auf hö­ren soll­te: »Dies ist das Rit­ter­gut Dy­beck. Heut wie vorm Jahr. Heut wie vorm Jahr.«

Und ein we­nig wei­ter hin stand ei­ner und rief: »Dies ist Sva­ne­holm. Das muss doch Gott und alle Welt wis­sen.«

Der Jun­ge be­ob­ach­te­te, dass die Gän­se nicht ge­ra­de­aus flo­gen. Sie schweb­ten hier­hin und dort­hin über die gan­ze scho­nen­sche Ebe­ne, als freu­ten sie sich, wie­der da zu sein und hät­ten die größ­te Lust, je­des ein­zel­ne Ge­höft zu be­su­chen.

Sie ka­men an eine Stel­le, wo ei­ni­ge mäch­ti­ge Ge­bäu­de mit ho­hen Schorn­stei­nen und rings um sie her­um eine Men­ge klei­ne­rer Häu­ser la­gen. »Das ist die Jord­ber­ger Zucker­fa­brik«, rie­fen die Häh­ne. »Das ist die Jord­ber­ger Zucker­fa­brik.«

Der Jun­ge schrak zu­sam­men. Den Ort soll­te er doch wohl ken­nen. Der lag nicht weit von sei­nem Heim, und im letz­ten Jahr hat­te er dort als Hir­ten­bu­be ge­dient. Aber es schi­en, als wenn nichts sich so recht gleich sah, wenn man es so von oben be­trach­te­te.

Aber nein, aber nein! Das Gän­se­mäd­chen Aase und der klei­ne Mads, die im vo­ri­gen Jahr sei­ne Ka­me­ra­den wa­ren. Der Jun­ge hät­te gern ge­wusst, ob sie noch dort wa­ren. Was wür­den sie wohl sa­gen, wenn sie ahn­ten, dass er hoch oben über ih­rem Kopf da­hin­flog?

Dann ver­lo­ren sie Jord­ber­ga aus den Au­gen und flo­gen auf Sve­da­la und Ska­bers­jö zu und zu­rück über das Bör­rin­ger Klos­ter und Häk­ke­ber­ga. Der Jun­ge be­kam an dem einen Tage mehr von Scho­nen zu­se­hen, als wäh­rend al­ler der Jah­re, die er ge­lebt hat­te.

Wenn die wil­den Gän­se zah­me Gän­se an­tra­fen, amü­sier­ten sie sich am al­ler­bes­ten. Dann flo­gen sie ganz lang­sam und rie­fen hin­ab: »Jetzt geht es in die Ber­ge. Wollt ihr mit? Wollt ihr mit?«

Aber die zah­men Gän­se ant­wor­te­ten: »Es ist noch Win­ter. Ihr seid zu früh drau­ßen. Kehrt um! Kehrt um!«

Die wil­den Gän­se flo­gen tiefer hin­ab, so­dass man sie bes­ser hö­ren konn­te, und rie­fen: »Kommt mit, dann wol­len wir euch flie­gen und schwim­men leh­ren.«

Dann wur­den die zah­men Gän­se böse und ant­wor­te­ten nicht mehr mit ei­nem ein­zi­gen »Gack«.

Aber die wil­den Gän­se flo­gen noch tiefer hin­ab, so­dass sie fast den Bo­den streif­ten, und dann stie­gen sie wie­der lang­sam, als sei­en sie sehr ban­ge ge­wor­den. »Uha, uha!«, rie­fen sie. »Das wa­ren gar kei­ne Gän­se. Das wa­ren nur Scha­fe. Das wa­ren nur Scha­fe.«

Die Gän­se auf dem Fel­de ge­rie­ten ganz au­ßer sich und schri­en: »Möch­tet ihr er­schos­sen wer­den, alle mit­ein­an­der, alle mit­ein­an­der!«

Wenn der Jun­ge alle die­se Scher­ze hör­te, lach­te er. Aber dann muss­te er dar­an den­ken, welch ein Un­glück er über sich selbst ge­bracht hat­te, und dann wein­te er. Aber nach ei­ner Wei­le lach­te er wie­der.

Nie zu­vor hat­te er sich mit ei­ner sol­chen Ge­schwin­dig­keit vor­wärts­be­wegt, und er hat­te doch im­mer so gern schnell und wild rei­ten mö­gen. Und er hat­te na­tür­lich nie ge­ahnt, dass es da oben in der Luft so frisch sein konn­te, wie es war, und dass ein so herr­li­cher Ge­ruch von fet­ter Erde und Harz vom Erd­bo­den auf­stieg. Und er hat­te auch gar nicht dar­über nach­ge­dacht, wie es wohl sein müss­te, wenn man sich so hoch oben in der Luft be­weg­te. Aber es war, als flö­ge man fort von al­lem Leid und al­len Sor­gen und Ver­drieß­lich­kei­ten, die man sich nur den­ken konn­te.

Scho­nen ist eine his­to­ri­sche Pro­vinz im Sü­den Schwe­dens.  <<<

II. Akka von Kebnekajse

Der Abend

Der große, zah­me Gän­se­rich, der mit in die Luft auf­ge­stie­gen war, fühl­te sich sehr stolz, so mit den wil­den Gän­sen über Scho­nen hin und her zu flie­gen und mit den zah­men Vö­geln Scherz zu trei­ben. Aber wie glück­lich er auch war, konn­te er nicht um­hin, am Nach­mit­tag müde zu wer­den. Er ver­such­te, tiefer zu at­men und stär­ker mit den Flü­geln zu schla­gen, aber trotz­dem blieb er meh­re­re Gän­se­län­gen hin­ter den an­de­ren zu­rück.

Als die wil­den Gän­se, die zu hin­terst flo­gen, merk­ten, dass die zah­me nicht mit­kom­men konn­te, rie­fen sie der Gans, die an der Spit­ze des Kei­les flog und den Zug an­führ­te, zu: »Akka von Keb­ne­ka­j­se! Akka von Keb­ne­ka­j­se!« – »Was wollt ihr von mir?«, frag­te die Füh­rer­gans. – »Der Wei­ße bleibt zu­rück. Der Wei­ße bleibt zu­rück.« – »Sagt ihm, dass es leich­ter ist, schnell zu flie­gen als lang­sam!«, rief die Füh­rer­gans und streck­te die Flü­gel wie bis­her.

Der Gän­se­rich ver­such­te, dem Rat zu fol­gen und die Schnel­lig­keit zu er­hö­hen, da­von wur­de er aber so er­mat­tet, dass er ganz bis zu den ge­stutz­ten Wei­den hin­ab­sank, die Äcker und Wie­sen ein­frie­dig­ten.

»Akka! Akka! Akka von Keb­ne­ka­j­se!«, rie­fen von neu­em die, die zu hin­terst flo­gen und sa­hen, wie schwer es für den Gän­se­rich war. – »Was wollt ihr denn schon wie­der?«, frag­te die Füh­rer­gans und schi­en sehr ver­stimmt.

»Der Wei­ße sinkt auf die Erde nie­der. Der Wei­ße sinkt auf die Erde nie­der.« – »Sagt ihm, dass es leich­ter ist, hoch zu flie­gen als nied­rig!«, rief die Füh­rer­gans. Und sie mä­ßig­te ihre Ge­schwin­dig­keit nicht im ge­rings­ten, son­dern streck­te die Flü­gel wie bis­her.

Der Gän­se­rich ver­such­te auch die­sen Rat, als er aber in die Höhe auf­stei­gen woll­te, wur­de er so atem­los, dass es war, als müs­se ihm die Brust zer­sprin­gen.

»Akka! Akka!«, rie­fen dann die, die zu hin­terst flo­gen. – »Könnt ihr mich denn nicht in Frie­den flie­gen las­sen?«, frag­te die Füh­rer­gans und tat noch un­ge­dul­di­ger als vor­hin. – »Der Wei­ße ist nahe dar­an, her­un­ter­zu­stür­zen. Der Wei­ße ist nahe dar­an, her­un­ter­zu­stür­zen.« – »Sagt ihm, dass, wer nicht mit der Schar fol­gen kann, am bes­ten wie­der heim­kehrt!«, rief die Füh­rer­gans. Und es kam ihr nicht im ge­rings­ten in den Sinn, die Ge­schwin­dig­keit zu mä­ßi­gen, son­dern sie streck­te die Flü­gel wie bis­her.

»Steht es so!«, sag­te der Gän­se­rich. Es ward ihm plötz­lich klar, dass die wil­den Gän­se nie dar­an ge­dacht hat­ten, ihn mit nach Lap­p­land hin­auf­zu­neh­men. Sie hat­ten ihn nur des Scher­zes hal­ber mit­ge­lockt.

Nein, wie er sich är­ger­te, dass ihn die Kräf­te jetzt im Stich lie­ßen, so­dass er den Land­strei­chern nicht zei­gen konn­te, dass eine zah­me Gans auch zu et­was zu ge­brau­chen ist. Und das al­lerär­ger­lichs­te war, dass er in Akka von Keb­ne­ka­j­ses Schar hin­ein­ge­ra­ten war. Denn wenn er auch nur eine zah­me Gans war, hat­te er doch von ei­ner Füh­rer­gans ge­hört, die Akka hieß und fast hun­dert Jah­re alt war. Sie war so an­ge­se­hen, dass sich die bes­ten wil­den Gän­se, die es nur gab, ihr an­zu­schlie­ßen pfleg­ten. Nie­mand aber ver­ach­te­te zah­me Gän­se so sehr wie Akka und ihre Schar, und er hät­te ihr gern ge­zeigt, dass er ih­nen eben­bür­tig sei.

Er flog lang­sam hin­ter den an­de­ren drein, wäh­rend er sich mit sich selbst be­riet, ob er um­keh­ren oder wei­ter­flie­gen soll­te. Da sag­te plötz­lich der klei­ne Knirps, den er auf dem Rücken hat­te: »Lie­ber Gän­se­rich Mar­tin, du kannst doch wohl be­grei­fen, dass es für dich, der du nie ge­flo­gen hast, un­mög­lich ist, mit den wil­den Gän­sen ganz bis nach Lap­p­land hin­auf­zu­kom­men. Willst du nicht lie­ber um­keh­ren, ehe du dich ganz zu­schan­den machst?«

Aber der Gän­se­rich kann­te nichts Schlim­me­res als die­sen Häus­ler­jun­gen, und kaum ward es ihm klar, dass der arm­se­li­ge Bur­sche ihm nicht zu­trau­te, die Rei­se zu­rück­le­gen zu kön­nen, als er sich auch schon ent­schloss, aus­zu­hal­ten. »Sagst du noch ein Wort da­von, so schmei­ße ich dich in die ers­te Mer­gel­gru­be, über die wir hin­flie­gen«, sag­te er, und im sel­ben Au­gen­blick ver­lieh ihm der Zorn sol­che Kräf­te, dass er fast eben­so gut flie­gen konn­te wie ir­gend­ei­ne von den an­de­ren.

Er hät­te je­doch kaum so wei­ter flie­gen kön­nen, aber das tat auch nicht nö­tig, denn jetzt sank die Son­ne schnell, und ge­ra­de bei Son­nen­un­ter­gang nah­men die Gän­se den Kurs ab­wärts. Und ehe der Jun­ge und der Gän­se­rich sich’s ver­sa­hen, wa­ren sie an das Ufer des Bomb­sees nie­der­ge­schwebt.

»Es scheint die Ab­sicht zu sein, dass wir hier über­nach­ten«, dach­te der Jun­ge und hüpf­te von dem Rücken des Gän­se­richs her­un­ter.

Er stand an ei­nem schma­len San­du­fer und vor ihm lag ein ziem­lich großer See. Der war häss­lich an­zu­se­hen, denn er war fast ganz mit ei­ner Eis­krus­te be­deckt, die schmut­zig und un­eben und vol­ler Ris­se und Lö­cher war, so, wie das Eis im Früh­ling ist. Das Eis hat­te schein­bar sei­ne längs­te Zeit ge­se­hen, drin­nen am Lan­de hat­te es sich schon ge­löst und rings­her­um hat­te es einen brei­ten Gür­tel von schwar­zem, blan­kem Was­ser. Aber noch lag es da und ver­brei­te­te Käl­te und win­ter­li­che Un­heim­lich­keit um sich.

An der an­de­ren Sei­te des Sees schi­en es hell und frei und be­baut zu sein, aber da, wo sich die Gän­se nie­der­ge­las­sen hat­ten, war eine große Tan­nen­scho­nung. Und es sah so aus, als wenn der Tan­nen­wald im­stan­de wäre, den Win­ter fest­zu­hal­ten. An al­len an­de­ren Stel­len war der Bo­den frei von Schnee, aber un­ter den dich­ten Tan­nen­zwei­gen lag Schnee, der ge­schmol­zen war und wie­der ge­fro­ren, ge­schmol­zen und ge­fro­ren, bis er hart war wie Eis.

Dem Jun­gen war es, als sei er in eine Wild­nis, in ein Win­ter­land ge­kom­men, und ihm ward so un­heim­lich zu­mu­te, dass er gern laut ge­schri­en hät­te.

Er war hung­rig. Er hat­te den gan­zen Tag nichts zu es­sen be­kom­men. Aber wo­her soll­te er Es­sen be­kom­men? Im Mo­nat März wächst nichts Ess­ba­res we­der an der Erde noch an den Bäu­men.

Ja, wo soll­te er Es­sen her­be­kom­men, und wer wür­de ihm ein Dach über dem Haup­te ge­ben, und wer wür­de ihm sein Bett ma­chen, und wer wür­de ihn an sei­nem Feu­er er­wär­men, und wer wür­de ihn ge­gen wil­de Tie­re be­schüt­zen?

Denn jetzt war die Son­ne fort, und die Käl­te stieg vom See her­auf, und die Fins­ter­nis senk­te sich vom Him­mel her­ab, und die Angst kam in den Spu­ren der Däm­me­rung ge­schli­chen, und im Wal­de fing es an zu pus­seln und zu ra­scheln.

Jetzt war es vor­bei mit dem fri­schen Mut, den der Jun­ge ge­habt hat­te, wäh­rend er oben in der Luft war, und in sei­ner Angst sah er sich nach sei­nen Rei­se­ge­fähr­ten um. Er hat­te ja sonst nie­mand, an den er sich hal­ten konn­te.

Da ent­deck­te er, dass es mit dem Gän­se­rich noch schlim­mer stand als mit ihm. Er war an dem­sel­ben Fleck lie­gen ge­blie­ben, wo er hin­ab­ge­schwebt war, und es sah so aus, als wenn er im Be­griff war zu ster­ben. Der Hals lag schlaff an der Erde, die Au­gen wa­ren ge­schlos­sen, und sein At­men war nur noch ein schwa­ches Rö­cheln.

»Lie­ber Gän­se­rich Mar­tin«, sag­te der Jun­ge, »du musst ver­su­chen, einen Trunk Was­ser zu neh­men! Es sind kaum zwei Schritt bis an den See hin­ab.«

Aber der Gän­se­rich rühr­te sich nicht.

Der Jun­ge war ja frü­her hart ge­gen alle Tie­re ge­we­sen, auch ge­gen den Gän­se­rich, aber jetzt fand er, dass Mar­tin die ein­zi­ge Stüt­ze war, die er hat­te, und er war schreck­lich ban­ge, ihn zu ver­lie­ren. Er mach­te sich so­fort dar­an, ihn zu schie­ben und zu sto­ßen, um ihn ans Was­ser hin­ab­zu­be­för­dern. Der Gän­se­rich war groß und schwer, da­her war es ein har­tes Stück Ar­beit für den Jun­gen, aber schließ­lich ge­lang es ihm.

Der Gän­se­rich kam kopf­über in den See hin­ein. Ei­nen Au­gen­blick lag er re­gungs­los im Schlamm, aber bald steck­te er den Kopf her­aus, schüt­tel­te das Was­ser aus den Au­gen und prus­te­te. Dann schwamm er stolz zwi­schen dem Röh­richt und den Rohr­kol­ben da­hin.

Die wil­den Gän­se la­gen schon vor ihm drau­ßen im See. Sie hat­ten sich we­der nach dem Gän­se­rich noch nach dem Gän­se­rei­ter um­ge­se­hen, son­dern sich so­fort ins Was­ser ge­stürzt. Sie hat­ten ge­ba­det und sich ge­putzt, und nun la­gen sie da und schlab­ber­ten halb­ver­faul­tes En­ten­grün in sich hin­ein.

Der wei­ße Gän­se­rich war so glück­lich, einen klei­nen Barsch zu er­bli­cken. Er schnapp­te ihn schnell auf, schwamm da­mit ans Ufer und leg­te ihn vor den Jun­gen hin. »Den sollst du zum Dank da­für ha­ben, dass du mir ins Was­ser hin­ein­halfst«, sag­te er.

Das war das ers­te Mal im Lau­fe des gan­zen Ta­ges, dass der Jun­ge ein freund­li­ches Wort hör­te. Er war so er­freut, dass er Lust hat­te, dem Gän­se­rich um den Hals zu fal­len, aber er konn­te sich doch nicht dazu ent­schlie­ßen. Und auch über das Ge­schenk freu­te er sich. Zu­erst mein­te er, es sei un­mög­lich, ro­hen Fisch zu es­sen, aber dann be­kam er doch Lust, den Ver­such zu ma­chen.

Er fühl­te nach, ob er sein Dolch­mes­ser mit­be­kom­men hat­te, und glück­li­cher­wei­se hing es noch an dem Ho­sen­knopf, aber es war frei­lich so klein ge­wor­den, dass es nicht grö­ßer war als ein Streich­holz. Nun, er konn­te es auf alle Fäl­le ge­brau­chen, um den Fisch aus­zu­neh­men und die Schup­pen zu ent­fer­nen, und der Barsch war schnell ver­zehrt.

Als der Jun­ge gut ge­sät­tigt war, über­kam ihn ein Ge­fühl der Scham, dass er et­was hat­te es­sen kön­nen, was roh war. »Es scheint wirk­lich, als ob ich kein Mensch mehr bin, son­dern ein rich­ti­ger Ko­bold«, dach­te er bei sich.

Die gan­ze Zeit, wäh­rend der Jun­ge aß, blieb der Gän­se­rich ne­ben ihm ste­hen, und als er den letz­ten Bis­sen her­un­ter­ge­schluckt hat­te, sag­te er mit schwa­cher Stim­me: »Wir ha­ben uns ja mit ei­nem wil­den Gän­se­volk ein­ge­las­sen, das alle zah­men Vö­gel ver­ach­tet.« – »Das habe ich frei­lich auch schon be­merkt«, sag­te der Jun­ge. – »Es wür­de sehr eh­ren­voll für mich sein, wenn ich ganz bis nach Lap­p­land hin­auf mit ih­nen flie­gen und ih­nen zei­gen könn­te, dass eine zah­me Gans doch auch zu et­was taugt.« – »Hm, ja«, sag­te der Jun­ge ein we­nig zö­gernd, denn er glaub­te nicht, dass der Gän­se­rich das wür­de durch­füh­ren kön­nen, aber er woll­te ihm nicht wi­der­spre­chen. – »Aber ich glau­be nicht, dass ich mich al­lein auf ei­ner sol­chen Rei­se zu­recht­fin­den kann«, sag­te der Gän­se­rich, »des­halb möch­te ich gern wis­sen, ob du nicht mit mir kom­men und mir hel­fen willst.«

Der Jun­ge hat­te na­tür­lich gar nichts an­de­res ge­dacht, als dass er so schnell wie mög­lich wie­der nach Hau­se zu­rück­keh­ren woll­te, und er war so über­rascht, dass er gar nicht wuss­te, was er ant­wor­ten soll­te. »Ich glaub­te, wir wä­ren gar kei­ne gu­ten Freun­de«, sag­te er. Aber das schi­en der Gän­se­rich ganz ver­ges­sen zu ha­ben. Das ein­zi­ge, was er noch wuss­te, war, dass der Jun­ge ihm vor ei­nem Au­gen­blick das Le­ben ge­ret­tet hat­te.

»Ich muss wohl zu Va­ter und Mut­ter zu­rück«, sag­te der Jun­ge. – »Ja, zum Herbst will ich dich zu ih­nen zu­rück­brin­gen«, ent­geg­ne­te der Gän­se­rich. »Ich will dich nicht ver­las­sen, ehe ich dich da­heim auf die Tür­schwel­le nie­der­ge­setzt habe.«

Der Jun­ge dach­te, dass es am Ende ganz gut sei, wenn er sich den El­tern eine Wei­le noch nicht zu zei­gen brauch­te. Der Vor­schlag schi­en ihm gar nicht so übel, und er woll­te ge­ra­de sa­gen, dass er dar­auf ein­gin­ge, als er hin­ter sich einen großen Lärm hör­te. Es wa­ren die wil­den Gän­se, die alle auf ein­mal aus dem See her­auf­ge­kom­men wa­ren und das Was­ser ab­schüt­tel­ten. Dann stell­ten sie sich in ei­ner lan­gen Rei­he auf, die Füh­rer­gans an der Spit­ze, und ka­men auf die bei­den zu.

Als der wei­ße Gän­se­rich jetzt die wil­den Gän­se nä­her be­trach­te­te, war ihm gar nicht so recht ge­heu­er. Er hat­te ge­glaubt, dass sie mehr Ähn­lich­keit mit den zah­men Gän­sen hät­ten und dass er sich ih­nen ver­wand­ter füh­len wür­de. Sie wa­ren viel klei­ner als er, und kei­ne von ih­nen war weiß, sie wa­ren alle grau, mit ei­ner brau­nen Schat­tie­rung. – Und vor ih­ren Au­gen wur­de er bei­na­he ban­ge. Die wa­ren gelb und schie­nen, als wenn ein Feu­er da­hin­ter bren­ne. Der Gän­se­rich hat­te im­mer ge­lernt, dass es am hüb­sche­s­ten sei, lang­sam und wat­schelnd zu ge­hen, aber die­se Gän­se gin­gen nicht, sie lie­fen fast. Am un­ru­higs­ten aber wur­de er, als er ihre Füße an­sah. Sie wa­ren groß, ab­ge­tre­ten und zer­ris­sen. Man konn­te se­hen, dass sich die wil­den Gän­se nie­mals dar­an kehr­ten, wo­hin sie tra­ten. Sie mach­ten kei­ne Um­we­ge. Sonst wa­ren sie sehr zier­lich und wohl­ge­pflegt, aber an ih­ren Fü­ßen konn­te man se­hen, dass sie arme Leu­te aus der Wild­nis wa­ren.

Der Gän­se­rich hat­te ge­ra­de noch Zeit, dem Jun­gen zu­zu­flüs­tern: »Ant­wor­te nun or­dent­lich, aber er­zäh­le nicht, wer du bist!« Und dann wa­ren sie da.

Als die wil­den Gän­se vor ih­nen stan­den, ver­beug­ten sie sich vie­le Male mit dem Hals, und der Gän­se­rich tat das­sel­be, noch mehr­mals als sie. So­bald man sich hin­rei­chend be­grüßt hat­te, sag­te die Füh­rer­gans: »Jetzt kön­nen wir wohl er­fah­ren, was für Leu­te ihr seid?«

»Von mir ist nicht viel zu sa­gen«, er­wi­der­te der Gän­se­rich. »Ich bin im letz­ten Früh­ling in Ska­nör ge­bo­ren. Im Herbst wur­de ich an Hol­ger Niel­sen in West­vem­men­hög ver­kauft, und da bin ich seit­her ge­we­sen.«

»Es scheint ja ge­ra­de nicht, als wenn du Grund hät­test, mit dei­ner Fa­mi­lie zu prah­len«, sag­te die Füh­rer­gans. »Was macht dich denn so ein­ge­bil­det, dass du dich den wil­den Gän­sen an­schlie­ßen willst?« – »Es könn­te ja sein, dass ich euch wil­den Gän­sen zei­gen will, dass auch wir zah­men Gän­se zu et­was zu ge­brau­chen sind«, sag­te der Gän­se­rich. – »Das wäre ja schön, wenn du uns das zei­gen woll­test!«, mein­te die Füh­rer­gans. »Wir ha­ben nun schon ge­se­hen, wie gut du flie­gen kannst, aber viel­leicht bist du tüch­ti­ger auf an­de­ren Ge­bie­ten. Du hast viel­leicht Übung im lan­gen Schwim­men?« – »Nein, des­sen kann ich mich nicht rüh­men.« Er glaub­te schon mer­ken zu kön­nen, dass die Füh­rer­gans be­reits be­schlos­sen hat­te, ihn heim­zu­sen­den, und er mach­te sich nichts dar­aus, was er ant­wor­te­te. »Ich bin nie wei­ter ge­schwom­men als über eine Mer­gel­gru­be«, fuhr er fort. – »Dann er­war­te ich, dass du ein Meis­ter im Lau­fen bist«, sag­te die Gans. – »Nie habe ich eine zah­me Gans lau­fen se­hen, und habe es auch selbst nicht ge­tan«, sag­te der Gän­se­rich und mach­te sich noch ge­rin­ger, als er war.

Der große Wei­ße war nun fest über­zeugt, dass die Füh­rer­gans sa­gen wür­de, sie wol­le ihn un­ter kei­nen Um­stän­den mit­neh­men. Er war höch­lichst über­rascht, als sie sag­te: »Du ant­wor­test mu­tig, wenn man dich fragt, und wer Mut hat, kann ein gu­ter Rei­se­ka­me­rad wer­den, wenn er auch im An­fang nicht tüch­tig ist. Was meinst du dazu, dass du ein paar Tage bei uns bleibst, bis wir ge­se­hen ha­ben, ob du zu et­was zu ge­brau­chen bist?«

»Da­mit bin ich sehr zu­frie­den«, sag­te der Gän­se­rich und war sehr ver­gnügt.

Da­rauf zeig­te die Füh­rer­gans mit dem Schna­bel auf den Jun­gen und sag­te: »Aber wer ist denn das, den du da bei dir hast? So einen hab’ ich noch nie ge­se­hen.« – »Das ist mein Ka­me­rad«, sag­te die Gans. »Er ist sein gan­zes Le­ben lang Gän­se­jun­ge ge­we­sen. Er kann si­cher auf der Rei­se von Nut­zen sein.« – »Das mag ja für eine zah­me Gans ganz gut sein«, ent­geg­ne­te die wil­de. »Wie heißt er?« – »Er hat meh­re­re Na­men«, sag­te der Gän­se­rich zö­gernd und wuss­te nicht, was er in der Eile er­sin­nen soll­te, denn er woll­te nicht ver­ra­ten, dass der Jun­ge einen Men­schen­na­men hat­te. »Er heißt Däum­ling!«, sag­te er end­lich. »Ist er aus dem Ge­schlecht der Ko­bol­de?«, frag­te die Füh­rer­gans. – »Um wel­che Zeit pflegt ihr Wild­gän­se euch ei­gent­lich zum Schla­fen hin­zu­set­zen?«, frag­te der Gän­se­rich schnell, um der Ant­wort auf die letz­te Fra­ge zu ent­ge­hen. »Mei­ne Au­gen fal­len um die­se Zeit des Ta­ges von selbst zu.«

Es war leicht zu se­hen, dass die Gans, die mit dem Gän­se­rich sprach, sehr alt war. Das gan­ze Fe­der­kleid war eis­grau, ohne dunkle Strei­fen. Der Kopf war grö­ßer, die Bei­ne grö­ber und die Füße mehr ab­ge­tre­ten als die ir­gend­ei­ner an­de­ren Gans. Die Fe­dern wa­ren steif, die Flü­gel kno­chig, und der Hals war dünn. Dies al­les war das Werk des Al­ters. Nur den Au­gen hat­te die Zeit nichts an­zu­ha­ben ver­mocht. Sie schie­nen kla­rer, gleich­sam jün­ger als die all der an­de­ren.

Sie wand­te sich jetzt mit Wür­de an den Gän­se­rich. »Jetzt sollst du wis­sen, Gän­se­rich, dass ich Akka von Keb­ne­ka­j­se bin, und die Gans, die zu mei­ner Rech­ten fliegt, ist Yki von Vas­si­jau­re, und die zu mei­ner Lin­ken ist Kak­si von Nuol­ja! Du sollst auch wis­sen, dass die zwei­te Gans zur Rech­ten Kol­me von Sv­ap­pa­va­ra ist, und da­hin­ter fliegt Vi­isi von den Oviks­ber­gen und Ku­u­si von Sjan­ge­li! Und du sollst wis­sen, dass die­se, so­wie die sechs jun­gen Gän­se, die zu hin­terst flie­gen, drei rechts und drei links, alle Hoch­ge­birgs­gän­se von edels­tem Stam­me sind. Du musst uns nicht für Land­strei­cher hal­ten, die mit je­dem Be­lie­bi­gen flie­gen, und du musst nicht glau­ben, dass wir un­sern Schlaf­platz mit je­mand tei­len, der nicht sa­gen will, wel­cher Fa­mi­lie er ent­stammt.«

Als die Füh­rer­gans also sprach, ging der Jun­ge schnell auf sie zu. Es hat­te ihm weh­ge­tan, dass der Gän­se­rich, der so mu­tig für sich selbst geant­wor­tet hat­te, so aus­wei­chen­de Ant­wor­ten gab, als es sich um ihn han­del­te. »Ich will nicht ver­heim­li­chen, wer ich bin«, sag­te er. »Ich hei­ße Nils Hol­gers­son und bin der Sohn ei­nes Häus­lers, und bis auf den heu­ti­gen Tag bin ich ein Mensch ge­we­sen, aber heu­te Vor­mit­tag…«

Wei­ter kam er nicht. Kaum hat­te er ge­sagt, dass er ein Mensch sei, als die Füh­rer­gans drei Schritt zu­rück­wich, und die an­de­ren noch wei­ter. Und sie mach­ten alle lan­ge Häl­se und fauch­ten ihn an.

»Die­sen Ver­dacht habe ich von dem ers­ten Au­gen­blick an ge­habt, als ich dich hier an dem Ufer des Sees sah«, sag­te Akka. »Und nun musst du dich so­fort ent­fer­nen. Wir dul­den kei­ne Men­schen un­ter uns.«

»Es ist doch nicht mög­lich«, sag­te der Gän­se­rich ver­mit­telnd, »dass ihr wil­den Gän­se vor ei­nem ban­ge sein könnt, der so klein ist. Mor­gen soll er auch nach Hau­se rei­sen, aber über Nacht müsst ihr ihn wirk­lich hier bei uns blei­ben las­sen. Nie­mand von uns kann es ver­ant­wor­ten, so einen ar­men Klei­nen jetzt zu nächt­li­cher Stun­de sich auf ei­ge­ne Hand ge­gen Wie­sel und Füch­se ver­tei­di­gen zu las­sen.«

Die wil­de Gans kam jetzt nä­her her­an, aber es war leicht zu se­hen, dass es ihr schwer wur­de, ihre Furcht zu be­herr­schen. »Ich habe ge­lernt, vor al­lem ban­ge zu sein, was einen Men­schen­na­men trägt, mag es groß oder klein sein«, sag­te sie. »Aber wenn du, Gän­se­rich, für den da ein­ste­hen willst, dass er uns kei­nen Scha­den zu­fügt, so kann er wohl Er­laub­nis be­kom­men, über Nacht hier bei uns zu blei­ben. Ich fürch­te frei­lich, dass un­ser Nacht­quar­tier we­der dir noch ihm be­ha­gen wird, denn wir ha­ben die Ab­sicht, uns zum Schla­fen da drau­ßen auf der Eis­schol­le nie­der­zu­las­sen.«