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Die Künstlerin Amelie betreibt in München einen Laden für Wollwaren. Mit ihrer kleinen Schafherde und dem Rauhaardackel Josef verbringt sie den Advent auf dem Künstlerweihnachtsmarkt im Englischen Garten. Die weihnachtliche Atmosphäre wird jäh unterbrochen, als am Nikolausmorgen ein Toter vor Amelies Schäferwagen liegt. Nur die Schafe haben gesehen, wer Sepp, den Wurstbrater vom Viktualienmarkt, dort abgelegt hat. Schnell fällt der Verdacht auf die Veganer, aber Amelie verfolgt eine andere Spur und greift dabei zu unkonventionellen Mitteln.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Christine Rechl
Die wunderbaren Schafe der Amelie und der Tote im Englischen Garten
Weihnachtskrimi
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Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung einer Illustration von: © Christine Rechl
ISBN 978-3-7349-3458-2
Der Raureif knirschte unter seinen Schuhen, als er aus dem Auto stieg. Noch war es ruhig im Englischen Garten, noch waren keine Jogger oder Hundebesitzer unterwegs.
Es war nicht leicht gewesen, den leblosen Körper in das Auto zu hieven. Ihn herauszuholen, würde ihm nicht minder schwerfallen. Wo tagsüber Kinder Stockbrot in die Glut hielten, während ihre Eltern Glühwein tranken, dort würde er ihn ablegen. Man hätte ein ganzes Schwein über der Feuerschale grillen können, aber das hier war ein veganer Weihnachtsmarkt.
Er zog den leblosen Körper zu sich und richtete sich mühsam auf. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren, als die Beine polternd dem Rumpf folgten. Schritt für Schritt schleppte er die schwere Last vom Auto zur Feuerschale.
Er schnaufte schwer. Die kalte Luft schmerzte in seinen Lungen. Asche stob auf, als er den Körper in die erkaltete Kohle hievte. Mit beiden Händen griff er unter die Achseln und zog ihn mit einem Ruck ganz in die Schale.
Das letzte Bett. Leblos blickten die toten Augen in den sternenklaren Himmel.
Etwas raschelte. Erschrocken sah er sich um. Aber da waren nur die Schafe von der Weihnachtskrippe, die ihn vom Zaun aus anstarrten. Am anderen Ende der Weide hob sich dunkel ein Schäferwagen ab. Bodennebel waberte wie Spinnweben über die Wiese. Eisig erstarrt glitzerten Zweige und Gräser im Mondlicht. Ein Käuzchen rief. Im Wagen bellte ein Hund.
Hastig ging er zum Auto zurück und holte die Schweinemaske. Gut, dass er daran gedacht hatte. Er legte sie über das Gesicht und befestigte sie mit den Gummibändern hinter den Ohren des Toten. Der Hund bellte erneut. Ohne sich noch einmal umzudrehen, eilte er zum Auto, schloss leise die Türen und fuhr los.
Man sagt mir nach, ich sei stur. So stur wie mein Dackel Josef. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt er so schnell nicht auf. Mich konnte auch niemand von der Idee abbringen, während des Weihnachtsmarktes im Schäferwagen zu übernachten. Letztes Jahr nicht, als ich zum ersten Mal hier war, und dieses Jahr auch nicht.
Meine Mutter nannte es übertriebene Fürsorge, etwas, das ihr selbst fremd ist. Konrad meinte, ich begebe mich unnötig in Gefahr. Ich konterte, München sei eine sichere Stadt, der Englische Garten nicht der Central Park. Konrad wusste es natürlich besser, von Berufs wegen. Aber auch seine Schauergeschichten über den wieder aufblühenden Drogenhandel rund um den Hügel des Monopteros konnten mich nicht überzeugen.
Drogenhändler interessieren sich nicht für mich. Doch was, wenn ein Hund meine Schafe über die Wiese hetzt oder Vandalen den Zaun kaputtmachen und die Schafe am Ende auf den Straßen herumirren? Ich lasse meine Herde nicht allein, außerdem ist es gemütlich hier. Fühlt sich ein bisschen wie Urlaub an, wie mein Winterdauercamperplatz.
Letztes Jahr hat alles super geklappt. Und auch dieses Jahr ist mir bisher nichts passiert, aber jetzt fürchte ich mich. Josef hat in der Nacht dauernd gebellt, an der Tür gekratzt, gejault und gejammert. Ich bin mir sicher, dass er nicht Gassi gehen wollte. Er hat etwas gehört. Ich auch. Schritte. Eine Autotür. Reifen im Kies.
Auf keinen Fall wollte ich im Dunkeln rausgehen. Das war mir zu unheimlich. Irgendwann hat Josef sich beruhigt, aber ich liege seitdem wach.
Zu gerne würde ich im warmen Bett bleiben, im Schäferwagen, bis Konrad kommt. Er schaut jeden Morgen hier vorbei, und heute ist Nikolaus. Hat er mir nachts etwas vor die Tür gelegt und uns damit aufgeweckt? Oder war es die Streife, die jede Nacht vorbeifährt? Egal, ich muss pinkeln, raus in die Kälte, rüber zum Toilettenwagen. Wie auf der Alm. Nur ohne Schnee und ohne Berge. Wer oder was da draußen war, ist inzwischen sicher weg. Sonst würde Josef immer noch bellen. Er ist nicht der geborene Wachhund, er ist eben ein Dackel. Von Charly könnte er was lernen, der Airedale-Terrier würde mich beschützen, nicht bloß aufwecken. Aber so weit, dass Konrad mir seinen Hund ausleihen würde, geht er trotz seiner Besorgtheit dann doch nicht.
Ob ich den Schafen gleich Heu bringen soll? Nein, die schlafen sicher noch im Stall, es ist zu früh. Ich schlage die Decke zurück, ziehe eine Jacke an, schlüpfe barfuß in meine Stiefel und stecke mein Handy in die Jackentasche.
Josef springt auf, wedelt mit dem Schwanz und wuselt aufgeregt hin und her. Ich spähe aus dem Fenster. Als ich die Tür einen Spalt öffne, schießt Josef nach draußen und fängt wieder an zu bellen. Ich trete auf die Treppenstufen hinaus und erschrecke. Der Stall ist leer. Hinter dem Wagen höre ich ein Blöken.
Möglichst geräuschlos nehme ich die drei Stufen hinab. Das gefrorene Gras knistert, als ich um den Wagen herumgehe. Die Zweige der Bäume ragen dem Mond entgegen, dazwischen sehe ich den Monopteros schimmern. Vom Eisbach steigt Nebel auf. Meine Blase drückt, ich bleibe trotzdem stehen, um zu lauschen. Josef hat aufgehört zu bellen, stattdessen höre ich ihn leise winseln. Erneut durchzieht ein Blöken die Nacht, wehklagend. Mich fröstelt. Ich gehe weiter. Aufgereiht wie Hühner auf der Stange stehen die Schafe am Zaun, ihre Hintern leuchten im Mondlicht. Sie starren in Richtung der Buden, genauer gesagt zu der riesigen Feuerschale, die der Kunstschmied dort aufgestellt hat.
Die Schafe drehen sich zu mir um und bilden eine Gasse, als ich mich langsam auf sie zubewege. Jetzt kann auch ich die Feuerschale sehen. Ich trete an den Zaun. Nervös stampfen die Schafe mit den Hufen. Ich schalte die Taschenlampe meines Handys ein.
In der Schale liegt jemand, auf seinem Gesicht leuchtet etwas Rosarotes. Josef sitzt in der Schale und stupst jaulend seine Schnauze dagegen. Eine Schweinemaske aus Gummi. Auch wenn das Gesicht von der Maske bedeckt ist – ich erkenne den Mann an seiner Schürze. Auf ihr ist ein lächelndes Schwein abgebildet, darüber steht: »Saugut. Sepps Wurstbraterei.«
»Sepp!«, rufe ich in die Dunkelheit. »Sepp, wach doch auf!«
Ist er betrunken eingeschlafen? Ich bekomme keine Antwort. Ich steige über die Holzlatten des Zauns und trete näher heran. Es staubt. Josef ist inzwischen rabenschwarz von der Asche.
»Sepp«, wiederhole ich, doch meine Stimme verhallt im Nichts.
Ich lege meine Hand auf seine Schulter und rüttle daran. Steif wie ein Stock liegt Sepp in der Schale. Josef hat aufgehört zu winseln. Ich berühre Sepps Hand, die Finger sind kalt und steif.
»Sepp!«, rufe ich noch einmal.
Vorsichtig löse ich die Maske von seinem Gesicht. Aufgerissen starren seine Augen mir entgegen. Getrocknetes Blut klebt an seinen Schläfen. Mir wird schlecht.
Ich renne zum Toilettenwagen, Josef hinter mir her. Taste über der Tür nach dem Schlüssel. Schubse ihn versehentlich herunter. Ich suche den Boden mit der Taschenlampe ab. Gleich werde ich mir in die Hose machen. Da finde ich den Schlüssel. Mit klammen Fingern sperre ich die Tür auf, schalte das Licht ein und schaffe es gerade noch rechtzeitig auf die eiskalte Klobrille. Ich unterdrücke ein Würgen. Der Lärm der Spülung zerreißt die Stille.
Im Spiegel sehe ich mein blasses Gesicht. Josef drängt sich an mich. Als er sich schüttelt, staubt es schwarz. Ich sperre mich mit ihm in einer Kabine ein. Versuche, mir vorzustellen, dass alles nur ein Albtraum ist. Josef hechelt, seine Zunge leuchtet in seiner rußverschmierten Schnauze. Ich setze mich auf den Klodeckel und nehme ihn auf den Schoß. Er winselt. Springt runter und bellt.
Josef kratzt an der Tür, aber ich will da nicht raus. Sepp wirkte nicht, als ob er im Suff friedlich eingeschlafen wäre. Ich zittere. Hätte ich doch bloß Socken angezogen. Ich kauere mich zusammen und schließe die Augen. Höre meinen Herzschlag pochen.
Irgendwann rufe ich den Notarzt an, dann Konrad. Vorsichtig öffne ich die Kabine und gehe nach draußen. Josef weicht mir nicht von der Seite. Die verschlossenen Verkaufsbuden lauern am Weg, ich versuche, meinen Atem zu beruhigen. Meine Zehen sind eiskalt, ich ziehe meine Jacke enger um mich. Langsam gehe ich auf die Feuerschale zu, achte auf jedes Geräusch, jede Bewegung. Hat Sepp gerade mit dem Fuß gezuckt? Ich trete an ihn heran und lege meine Hand auf seine Stirn. Wie kaltes Wachs spüre ich die Rundung unter meinen Fingern. Ich suche vergeblich seinen Puls. Halte meine Hand unter seine Nase. Kein Hauch.
Ich steige über den Zaun, Josef huscht darunter durch. Kauere mich mit ihm zwischen die Schafe, spüre ihre Wärme. Am Horizont schiebt sich ein roter Streifen dem Himmel entgegen. Die Stadt erwacht.
Inzwischen sind meine Zehen zu Eiszapfen geworden, ich sehne mich nach Wollsocken und heißem Kaffee. Josef drängt sich an mich, er wirkt verängstigt. Warum sind die Schafe nicht im Stall? Warum liegt Sepp in der Asche? Hätte ich ihm noch helfen können, wenn ich Josefs Gewinsel erhört hätte?
Mich durchzuckt ein Schauer. Ich erinnere mich an das Geräusch des Autos. Wäre ich rausgegangen, läge ich jetzt vielleicht auch in der Schale. Mit aufgerissenen Augen. Wie Sepp. Als ob er es nicht glauben könnte. Oder sehen alle Toten so aus? Ich habe noch nie eine Leiche gesehen.
Die Schafe recken die Köpfe. Haben sie etwas gehört? Am liebsten würde ich mein Gesicht in ihrem Fell vergraben und weinen. Ich horche. Knut steht dicht bei mir, ich stecke meine Hände in die Wolle des Widders. Seine Nähe beruhigt mich ein wenig. Fürchten die Schafe sich auch? Ich sehne mich nach dem warmen Schäferwagen, meinen Wollsocken. Warte auf Konrad. Bis er kommt, kann ich hier nicht weg. Ich muss bei Sepp bleiben.
Der Himmel färbt sich rosa, eigentlich müssten längst die ersten Jogger unterwegs sein. Ich denke an meine Mutter. Höre Schritte im Kies. Ducke mich zwischen die Schafe. Josef stürmt auf den Weg und bellt.
»Amelie!«
Ich richte mich auf und sehe Konrad auf mich zukommen. Hinter ihm huscht Blaulicht über Bäume und Büsche und lässt sie kalt aufleuchten. Der Notarzt und ein Streifenwagen.
»Ich muss mir Socken anziehen«, sage ich zu Konrad. Tränen laufen über meine Wangen.
Konrad nimmt mich in den Arm. Ich zittere und klappere mit den Zähnen. Ich kann nicht damit aufhören. Charly und Josef toben über die Wiese, für sie hat der Tod keinen Schrecken.
Aus dem Notarztwagen steigen eine Frau und zwei Männer. Sie treten neben die Feuerschale. Die Schafe weichen zurück. Die Frau stellt ihren Arztkoffer ab, beugt sich über Sepp, fühlt seinen Puls. Betreten stehen die beiden Sanitäter neben ihr. Einer hält eine Decke in der Hand.
Die Ärztin schüttelt den Kopf und hebt den Blick. »Zu spät, da können wir nichts mehr tun.«
»Herzinfarkt?«, frage ich und weiß genau, dass es keiner war. »Hätte ich ihm noch helfen können?«
Abermals schüttelt die Ärztin den Kopf. »Ich habe schon viele Herzinfarkte gesehen. Aber noch keinen, bei dem sich jemand so hingelegt hat. Wie aufgebahrt. Außerdem …« Sie deutet auf Sepps Ohren. »Ich glaube eher, dass er daran gestorben ist. Muss ein ziemlicher Schlag gewesen sein.«
Jetzt sehe ich auch, dass sich aus Sepps Ohren ein dünnes Rinnsal Blut über den Hals zieht.
»Sie meinen …« Konrad blickt erst mich und dann die Ärztin an.
Sie nickt, packt ihren Arztkoffer und geht zum Auto. »Ab jetzt sind Ihre Kollegen von der Rechtsmedizin zuständig.«
Konrad telefoniert, fordert Verstärkung und die Spurensicherung an. Gibt seinen Kollegen aus dem Streifenwagen Anweisung, den Tatort abzusperren.
Die beiden Hunde rennen auf uns zu und lassen sich hechelnd in unserer Nähe nieder. Konrad nimmt Charly an die Leine. »Am besten, du gehst jetzt mit Josef in den Schäferwagen. Ich hole dich, wenn wir dich brauchen.«
»Kannst du mitkommen? Nur nachsehen, ob …«
Konrad schaut mir in die Augen. Traurigkeit überschwemmt sein Gesicht.
»Ob jemand da drin ist«, vollende ich den Satz.
Mit einem Nicken legt er mir seine Hand auf die Schulter und winkt eine Kollegin zu sich. »Sie begleitet dich.«
Ohne Leine kann ich Josef nicht von Charly weglocken. Ich nehme ihn auf den Arm, er windet sich. Ich gehe mit der Polizistin am Zaun entlang, sie öffnet das Gatter.
»Kein Vorhängeschloss?«
Obwohl sie jünger ist als ich, fühle ich mich wie eine ertappte Jugendliche. »Bis jetzt hat der Riegel genügt, aber vielleicht sollte ich eins besorgen.«
»Sieht idyllisch aus«, sagt sie und deutet über die Wiese. »So friedlich. Wie aus einer anderen Welt.«
Dampfend fließt der Eisbach dahin, in der Morgensonne leuchten weiß die letzten Nebelfetzen. Eine Gans streckt sich, schlägt mit den Flügeln und schnattert, die anderen stimmen in ihren Morgenruf ein und watscheln zum Wasser. Unschlüssig stehen die Schafe beim Stall herum. Sie sind uns gefolgt und sehen zu uns her.
»Normalerweise bekommen sie um die Uhrzeit ihr Heu.«
»Wohnen Sie da drin?« Die Polizistin deutet auf den Schäferwagen.
»Nur während des Weihnachtsmarktes.«
Sie sieht mich mitfühlend an. Fehlt nur noch, dass sie den Kopf schüttelt. Plötzlich erscheint mir das Projekt vollkommen sinnlos. Ein veganer Weihnachtsmarkt im Englischen Garten. Mit meinen Schafen als lebender Kulisse.
»Die Stadt wollte ein nachhaltiges Projekt machen«, füge ich hinzu, als ob ich mich entschuldigen müsste. »Schafe sind wichtig.«
»Wofür denn?«, fragt sie.
Ich setze zu einer Antwort an, doch verstumme, als ich die offene Tür des Schäferwagens bemerke.
»Könnten Sie bitte nachsehen?« Ich komme mir albern vor. Aber ich habe Angst, allein in den Wagen zu gehen. Ich warte mit Josef draußen, während sie den Wagen inspiziert.
»Alles in Ordnung!«, ruft sie von drinnen.
Ich steige die Treppe hoch und bleibe an der Tür stehen. »Haben Sie auch alles überprüft?«
Die Polizistin hebt meine Bettdecke hoch. Öffnet die Tür des Spinds. »Hier kann man sich kaum verstecken.«
»Kalt ist es. Muss vorhin vergessen haben, die Tür zuzumachen.« Ich setze mich an den Tisch.
Sie nimmt meinen Mantel vom Garderobenhaken und legt ihn mir um die Schultern. »Das ist der Schock, da friert man. Aber besonders warm ist es tatsächlich nicht. Fehlt irgendwas?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn die Tür offen stand, könnte jemand hier drin gewesen sein.«
Ich lasse meinen Blick durch den kleinen Raum schweifen. Was sollte hier jemand mitnehmen? Das Mobiliar wirkt schäbig, ich kann mir keine Almhüttenromantik mehr vorstellen. Eher kommt mir der Wagen wie ein schmuddeliger Bauwagen vor.
Sie deutet auf den Wasserkocher. »Machen Sie sich einen Tee, dann wird Ihnen warm. Ich muss wieder rüber.«
»Ich komm schon zurecht«, murmele ich.
Als sie geht, verriegle ich die Tür hinter ihr. Kein Tee dieser Welt wird den Eisblock in mir zum Schmelzen bringen. Trotzdem befülle ich den Wasserkocher, schalte ihn ein und verkrieche mich ins Bett. Die Bettdecke ist klamm, meine Füße sind immer noch kalt. Ich will nach Hause, in meine Wohnung, heiß duschen. Als das Wasser kocht, stehe ich auf, ziehe mir Wollsocken und einen dicken Pullover an, gieße den Tee auf. Meine liebste Stunde des Tages, der Morgen mit Cappuccino und meinem Notizbuch, fällt heute aus. Ich möchte kein Tagebuch schreiben, nicht an diesem Morgen, nicht mein Morgenritual verunreinigen. Ich setze mich an den Tisch, betrachte die altmodischen Vorhänge. Hühner auf gelbem Karo. Warum keine Schafe? Ist doch ein Schäferwagen. Meine Schäferidylle. Ich nippe am Tee. Verbrenne mir die Zunge. Zwischen Josefs nächtlichem Gebell und der heißen Tasse zwischen meinen Händen scheinen Tage zu liegen.
Sepp ist tot. Die Erkenntnis überfällt mich. Ich mochte ihn, auch wenn er Metzger war und ich Vegetarierin bin. Nie wieder wird er hierherkommen, auf einen Cappuccino, und mit mir plaudern.
Ich muss die Schafe füttern.
»Geht’s wieder?« Konrad tritt in den Stall, als ich den Schafen Heu gebe.
Alles erscheint mir wie eine Disney-World. Der Stall, die Krippe, die Schafe. An den Wochenenden stehen sogar Maria und Josef hier, nebst zwei richtigen Hirten. Auf Ochs und Esel haben wir verzichtet wegen der Hörner, des Lärms und überhaupt. So ein Ochse ist schwer und würde die Wiese zertrampeln. Esel haben zwar eine handliche Größe, können aber sehr laut werden.
Ich kehre mit einem Besen den Stallboden, die Schafe fressen Heu. Ihr Knabbern klingt zufrieden, wie Menschen vor dem Fernseher mit einer Tüte Salzstangen.
»Ich frage mich, warum die Schafe heute Nacht am Zaun standen. Normalerweise warten sie morgens im Stall, bis ich sie füttere.«
»Du weißt nicht, was sie tun, während du schläfst. Sonst stehst du später auf.«
»Mir graut bei dem Gedanken, heute Nacht hier zu schlafen. Sicher werde ich kein Auge zumachen. Stattdessen an Sepps aufgerissene Augen denken. Was er wohl als Letztes gesehen hat? Habt ihr ihm die Augen zugemacht?«
Konrad seufzt.
»Du könntest mir Charly ausleihen.« Ich deute auf Charly und Josef, die sich auf dem Holzboden nebeneinander hingelegt haben.
»Du könntest zu Hause schlafen. Die Schafe brauchen keinen Babysitter. Außerdem ist Charly auf mich fixiert. Den kann ich nicht einfach ausleihen.«
Wir betrachten schweigend die beiden Hunde.
»Wozu das alles? Ich komme mir wie eine Schauspielerin in einem Heimatfilm vor.« Ich muss schon wieder weinen.
Konrad reicht mir ein Taschentuch. »Weil es beides gibt. Gut und Böse. Du hast dich für die gute Seite entschieden. Es muss auch romantische Filme geben.«
»Und du für das Böse?«
Ich weiß nicht viel von Konrad, obwohl wir uns schon seit dem letzten Weihnachtsmarkt kennen. Er kam damals morgens mit Charly vorbei, auf dem Weg zur Arbeit. Ich saß mit einer Tasse in der Hand vor dem Wagen auf der Treppe. Fühlte mich wie auf einem Roadtrip. Die Hunde haben miteinander gespielt, darüber sind wir ins Gespräch gekommen, und ich habe Konrad einen Kaffee angeboten. Danach hat er jeden Morgen vorbeigeschaut, bis der Weihnachtsmarkt vorbei war. Und dieses Jahr macht er das wieder.
»Niemand sucht sich das Böse aus. Es kommt von allein.«
»Fühlst du dich jetzt bestätigt?«
»Weil ich deine Idylle von Anfang an für eine Schnapsidee gehalten habe?« Konrad kniet sich zu den Hunden und krault Charly hinter den Ohren. »Ich würde gerne weniger zu tun haben. Niemand ruft ohne Not die Polizei, außer ein paar Idioten. Ich freue mich nicht über das Unglück der anderen.« Er wirkt ärgerlich.
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Ich könnte heute hier übernachten, dann kannst du dich zu Hause erholen.«
»Es ist eng hier und ohne Bad.«
»Tapetenwechsel. Vielleicht komm ich auf den Geschmack. Bin bis jetzt kein Camper.«
Ich schweige. Es wäre ja nur für eine Nacht. Eine Nacht für mich im eigenen Bett, in Sicherheit. »Aber dann bringe zur Abwechslung ich die Croissants zum Frühstück mit.«
»Schlaf dich lieber aus. Ich werd schon nicht verhungern.«
»Muss Knut und Greta sowieso in der Früh zur Uni bringen.«
»Stimmt, das Forschungsprojekt. Wenn du mir zeigst, welche die beiden sind, kann ich das für dich übernehmen. Für mich sehen sie alle gleich aus. Ich nehme an, Knut ist der mit den Hörnern?« Konrad mustert die Schafe.
»Nur, weil du sie nicht kennst.« Ich gehe zu den Schafen und deute auf Greta. »Sie habe ich mit der Flasche aufgezogen. Ist die Zutraulichste von allen. Danke für dein Angebot, aber ich bring sie selber hin.«
Greta hebt den Kopf. Bekommt sie mit, dass wir von ihr sprechen?
Konrad betrachtet sie nachdenklich. »Im Prinzip arbeitest du auch für die Polizei. Also im erweiterten Sinn. Innerhalb der Lieferkette sozusagen.«
Erst denke ich, er spricht mit Greta, doch Konrad meint natürlich mich. »Zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, antworte ich. »Wenn Professorin Molte nicht Besuch von ihrer Kollegin aus Cambridge gehabt hätte und nicht hier vorbeispaziert wäre … Wenn du mich nicht angesprochen hättest …«
Konrad nickt. »Ein schöner Arbeitsplatz, die Tiermedizin. Direkt am Englischen Garten. Ist schon eine privilegierte Lage.«
Konrads Wohnung liegt in der Kaulbachstraße, auch nicht schlecht.
Als ob er meine Gedanken lesen könnte, fährt er fort: »Wenn ich tauschen könnte, würde ich weniger bevorzugt wohnen.«
Er hat einmal angedeutet, dass er als junger Mann die Wohnung von seiner Mutter geerbt hat. Bisher habe ich mich nicht getraut zu fragen, woran sie gestorben ist.
Immer noch kniet Konrad neben den Hunden. Charly gähnt, Konrad richtet sich auf und räuspert sich. »Also abgemacht? Ich schlafe heute hier. Und jetzt muss ich dir noch ein paar Fragen stellen.«
Ohne hinzusehen, weiß ich, dass Frau Zuser meine Ankunft beobachtet. Für ihren liebsten Zeitvertreib hat sie sich extra ein Kissen aufs Fensterbrett gelegt, sonst hätte sie schon Hornhaut an den Unterarmen. So nervend ihre Neugierde ist, heute finde ich es beruhigend, dass hier niemand ein- und ausgehen kann, ohne von ihr bemerkt zu werden. Kaum habe ich die Tür des Polizeiautos zugeschlagen und mich bei den beiden Beamten fürs Heimfahren bedankt, wird das Fenster neben der Haustür geöffnet.
»Da schau her. Mit Chauffeur«, sagt sie zur Begrüßung, richtet sich auf und schiebt die Gardine zur Seite. Sie beugt sich aus dem Fenster und winkt dem Polizeiauto nach.
Ich setze Josef auf dem Gehsteig ab und überlege, wie ich ihre inquisitorischen Fragen auf ein Minimum reduzieren kann. »Ein Unfall auf dem Weihnachtsmarkt. Muss mich beeilen, damit ich noch pünktlich in den Laden komme.«
»Ich habe gerade Kaffee gekocht. Du siehst verfroren aus.«
Ich winke ab. »Ich muss duschen.«
Josef wedelt mit dem Schwanz. Ein Hundelächeln in Richtung Frau Zuser. Er liebt sie, wie Enkelkinder ihre Oma. Bei ihr gibt es die Leckerli, die ich nie kaufe. Die mit Gold und Silber auf der Packung, in schrillen Farben wie Süßigkeiten. Ich nehme Josef schnell auf den Arm und gehe die Eingangstreppe hoch.
Frau Zuser steht schon an der offenen Tür, sie ist auf ihren kurzen Beinen erstaunlich flink. Josef windet sich in meinem Griff, ich muss ihn absetzen, sonst fällt er noch herunter. Sofort springt er an Frau Zuser hoch, leckt ihre Füße, wirft sich auf den Rücken und gibt eine Mischung aus Bellen und Winseln von sich.
»Komm rein. Nur eine Tasse. Frische Semmeln hab ich auch.«
Kaffeeduft strömt aus der Wohnungstür. Frau Zuser brüht ihn in einem Porzellanfilter auf. Nicht, weil das in Mode ist, sondern weil sie es immer schon so gemacht hat. Ihre Füße stecken in Pantoffeln, von denen jeder Orthopäde, der über Sturzprophylaxe aufklärt, abraten würde. Schwarze Plastiksohle mit ausgeleiertem kariertem Stoffriemen. Sie trägt eine Weihnachtsschürze mit applizierter Nikolausmütze. Die Gürtelbänder hat sie auf dem Bauch zu einer Schleife gebunden. Sie sieht aus wie ein Geschenk.
»Aber nur zehn Minuten. Ich muss wirklich gleich weiter.«
»Die Schuhe kannst du anlassen, ich wisch nachher sowieso. Bin heute mit der Treppe dran.«
Ich setze mich auf den Stuhl zwischen Buffet und Küchentisch, den Besucherstuhl. Frau Zusers Stuhl ist der zwischen Küchenzeile und Tisch, von dort hat sie das Fenster fest im Blick und kann zwischen Anrichte und Tisch hantieren.
Ohne zu fragen, schenkt sie mir eine Tasse Kaffee ein, stellt Kondensmilch dazu und legt mir eine Semmel auf den Teller. »Iss erst mal. Und du, Josef?« Sie greift nach einer Dose und holt eine Kaustange hervor. »Darf er? Hab extra was Gesundes für ihn gekauft. Ist gut für seine Zähne.«
Ich nicke, Josef schnappt sich die Stange und legt sich damit unter den Tisch. Lautstark kaut er darauf herum.
»Ein Unfall? Mit Polizei?«
»Heute früh lag ein Mann in der Feuerschale. Sepp, der Wurstbrater vom Viktualienmarkt. Tot.«
»Was? In der Feuerschale? Da passt doch keiner rein in so eine Schale.«
»Die Schale da ist riesig. Wie ein Bett.«
»Und du hast ihn gefunden? O mei!« Frau Zuser schüttelt den Kopf, öffnet ein Glas Honig und schiebt es zu mir. »Ist er ins Feuer gefallen? Ist er verbrannt?«
Der Geruch von süßlich riechendem, verbranntem Fleisch kommt mir in den Sinn. Mir wird übel. Ich stelle die Kaffeetasse ab.
»Wie ist er denn da reingefallen? War er betrunken?«
»Ich habe ihn nur gefunden.«
»Dass du dort immer übernachtest. Im Englischen Garten. Du hast doch eine schöne Wohnung.« Sie deutet mit der Hand nach oben. »Wenn du wenigstens nicht allein wärst.«
»Konrad ist in der Früh gekommen. Und dann das ganze Programm – Polizei, Krankenwagen …«
»Der braucht keinen Krankenwagen mehr, wenn er tot ist, sondern einen Leichenwagen. Im Fernsehen legen sie die Leichen immer in schwarze Plastiksärge.«
»Ich weiß es nicht. Die Spurensicherung war noch da, als ich gegangen bin.«
»Spurensicherung? Wie im ›Tatort‹? Dann war es aber kein Unfall.« Energisch schiebt Frau Zuser den Unterkiefer nach vorne, presst die Lippen zusammen und verschränkt die Arme.
»Ich muss jetzt wirklich gehen. Danke für den Kaffee.«
Ich ziehe Josef unter dem Tisch vor, ignoriere seinen Protest, nehme ihn fest in den Arm und konfisziere mit spitzen Fingern die vollgesabberte Kaustange. Während ich so mit ihm die Treppe in den dritten Stock hochsteige, versucht er, die Stange zu schnappen. Oben angekommen, setze ich ihn ab. Er winselt und ist erst still, als ich ihm die Kaustange gebe. Ich sperre die Tür auf, lasse meine Tasche fallen. Erleichtert atme ich auf, als ich die Tür hinter mir schließe.
Mein Schutzraum. Ich liebe meine Wohnung, das ganze Haus. Frau Zuser gehört dazu, aber jetzt bin ich froh, ihr entkommen zu sein. Ich ziehe meine Schuhe aus und hänge meinen Mantel an die Garderobe. Am liebsten würde ich den Tag im Bett verbringen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Vor mir liegen anstrengende Wochen, das Weihnachtsgeschäft darf ich mir nicht entgehen lassen. Ich komme fast nur noch zum Duschen her.
Warum habe ich mir das angetan? So viel zahlt die Stadt auch wieder nicht für meine Schafkulisse. Wenn ich unter diesen Umständen vorzeitig abbrechen würde, hätte sicher jeder Verständnis. Ich könnte die Schafe zurück nach Daglfing bringen, nachts in meinem eigenen Bett schlafen und mich auf meinen Laden konzentrieren. Ohne das Weihnachtsgeschäft müsste ich zusperren. Im Sommer kauft niemand Schals und Mützen.
Zum Glück stellt meine Mutter sich gerne in den Laden, sonst wäre ich aufgeschmissen. Eine Verkäuferin kann ich mir nicht leisten. Soll ich meine Mutter anrufen und sie bitten, heute für mich einzuspringen? Dann müsste ich ihr aber die ganze Geschichte erzählen. Lieber nicht. Ich kann mir auch so ausrechnen, was sie dazu sagen würde. »Von Anfang an, unnötig, selbst schuld.«
Ich nehme eine heiße Dusche und ziehe mir bequeme, warme Sachen an. Mir ist immer noch kalt. Eine Eiswoge durchwallt mich, ich zittere. Sepps Augen starren mich an, der Boden unter meinen Füßen schwankt. Soll ich doch meine Mutter anrufen? Oder heute den Laden nicht aufsperren? Aber andere Menschen werden mich ablenken, die Bilder verscheuchen. Rosa Schweinemasken. Ich muss mit Fiona sprechen.
Erst mal noch einen Kaffee. Während der Espressokocher sich erwärmt, sehe ich aus dem Fenster in den Hinterhof. Im Baum vor meinem Schlafzimmerfenster sitzen ein paar Krähen. Ich freue mich auf das Frühjahr, wenn die Morgen wieder hell sind und ich von Vogelgezwitscher geweckt werde. Der Winter ist noch lang. Wie ruhig es hier ist. Jammern wir nicht alle viel zu oft über das Leben? Und dann ist es plötzlich vorbei. Ob sie Sepp schon weggebracht haben? Seinen kalten Körper auf einen kalten Tisch gelegt haben?
Der Kaffee blubbert, ich schäume heiße Milch auf und setze mich mit meiner grünen Tasse an den Küchentisch. Ich liebe diese Tasse. Ich mag Rituale. Solange ich morgens einen Cappuccino aus dieser Tasse trinken darf, kann noch nicht alle Hoffnung verloren sein.
Sepp wird es nicht mehr mitbekommen. Die Bude hat er von seinem Vater übernommen. Hatte er ganz andere Träume? Ich glaube, die veganen Bratwürste haben ihn ins Denken gebracht. Ich habe meinen Laden auch von meiner Mutter übernommen, aber was ich dort verkaufe, habe ich mir selbst ausgesucht. Sepp hat gejammert. Über seine Gäste, die nur Prosecco und Geld im Sinn hätten. Über die G’schäftelmacherei. Dass sie sich mit Bussi-Bussi begrüßen und sofort übereinander herziehen würden, wenn einer gegangen ist. Jetzt ist er gegangen. Für immer. Und seinen Reichtum kann er nicht mitnehmen. Es gibt keinen Sarg mit Anhänger, hat mal jemand gesagt.
Ich stelle meine Tasse in die Spüle und gehe in die Diele. Normalerweise kommt Josef, wenn er hört, dass ich Schuhe anziehe, und drängt nach draußen. Aber heute muss ich ihn überreden, sein warmes Körbchen zu verlassen. Sieht aus, als ob auch er gerne zu Hause bleiben würde. Ich schaue auf die Uhr. So spät, wie ich dachte, bin ich gar nicht dran.
Ich zerre den unwilligen Josef hinter mir her und laufe zur Bushaltestelle. Gerade kommt ein Bus, ich steige ein und setze mich ans Fenster. Schaue hinaus.
Die Stadt tut so, als ob nichts geschehen wäre. Wir fahren über die Corneliusbrücke. Die Isar fließt genauso wie gestern. Radler fluchen, und Fußgänger warten an der Ampel. Das Brummen des Motors ist monoton. Josef fängt an zu jaulen, er kennt die Strecke genau. Oder versteht er die Ansage? »Nächste Station Viktualienmarkt.« Heute mit dem Zusatz: »Bitte alle aussteigen, wegen einer Demonstration endet die Fahrt heute hier.«
Ich steige aus und laufe das Rosental nach hinten zum Oberanger. Absperrgitter blockieren den Weg über die Straße. Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere. Jetzt komme ich doch noch zu spät.
Als ein Beamter vorbeigeht, spreche ich ihn an. »Wie lange dauert das? Ich hab’s eilig.«
Der Beamte sieht mich mitleidig an. »Bis die Veganer-Deppen vorbei sind. Da hinten kommen sie. Sind schon noch ein paar.«
Panisches Schweine-Quieken aus Lautsprechern übertönt seine Worte. Demonstranten marschieren den Oberanger entlang und rufen: »Macht der Quälerei ein Ende! Nur Schweine quälen Schweine! Stoppt die Schweineindustrie!« Auf Holzstecken halten sie Papptafeln mit Fotos in die Höhe, auf denen Schweine im Schlachthof zu sehen sind. Aufgehängt an den Hinterbeinen, die Bäuche aufgeschlitzt. Männer in Gummischürzen, gekachelte Böden, Blut.
Mein Telefon klingelt. Konrad.
»Hast du es schon gehört?«
»Was? Ich versteh dich kaum, hier ist es so laut.«
Eine Gruppe mit Transparenten und Megafonen zieht an mir vorbei. Ich hoffe, durch eine Lücke schlüpfen zu können, bevor der nächste Pulk kommt. Ein Ordnungsbeamter hält mich zurück. Ich setze zum Protest an, verstumme aber, als ich die nachrückenden Demonstranten sehe.
Eine Front maskierter Teilnehmer im Gleichschritt, ihre weißen Umhänge mit blutroter Farbe verschmiert, in den Händen Attrappen von Äxten und Mistgabeln. Sie ziehen einen Leiterwagen hinter sich her, auf dem ein wackelndes Schwein aus Pappmaché steht. Dahinter eine Reihe in Strumpfhosen und Kitteln gekleideter Gestalten. Um die Taillen tragen sie breite Gürtel, an denen zahlreiche Messerattrappen baumeln. Die Buchstaben auf ihren Kitteln ergeben das Wort HENKER. Eine Sirene schrillt, und mehrere Passanten um mich herum setzen sich Schweinemasken auf, manche halten in ihren Händen Quietschschweine. Hundespielzeug, mit dem sie einen Höllenlärm veranstalten. Andere werfen Farbbeutel, die auf dem Boden zerplatzen. Ich will hier weg.
Ein Beutel trifft neben mir auf den Boden, Josef wird mit roter Farbe bekleckert. Er beginnt, die Farbe abzulecken. Ist sie giftig? Ich nehme ihn auf den Arm. Das hätte ich schon längst tun sollen. Mein Mantel ist nun auch voller roter Farbe.
Polizisten rennen, die Schweinemaskierten laufen davon und tauchen in der Menge unter. Direkt hinter mir quietscht es laut. Ich fahre herum.
»Mörder, Mörder!«, ruft die Frau neben mir und lässt ein Gummischwein quietschen.
Ich versuche, Josef die Ohren zuzuhalten. Der Lärm muss schmerzhaft für ihn sein. Er strampelt und besudelt meinen Mantel noch mehr mit Farbe.
Die Menge schiebt mich weiter, an einer Kreuzung flüchten Demonstranten in die Nebenstraßen. Die Polizisten verfolgen sie, aber die Flüchtenden sind schneller und in der Überzahl. Sirenen ertönen, vergitterte Einsatzwagen fahren vor, Polizisten mit Helmen, Gummiknüppeln und Schutzschilden springen heraus. Ich suche einen Ausweg, will Lärm und Gedränge entkommen. Ist eine Leiche am Morgen nicht genug Aufregung für heute? Konrad, ich habe Konrad ganz vergessen. Ich rufe ihn an.
»Endlich! Wo steckst du?«
»Im Rosental, gleich am Markt.«
»Komm vor zum Sepp. Die Wurstbude ist abgebrannt.«
Normalerweise meide ich die »Straße der Metzger«, wie ich die geduckte Ladenzeile nenne, in der Metzgereien ihre Waren feilbieten. Soweit ich weiß, waren sie die Ursprünge des Viktualienmarkts. Heute jedoch kann ich den Schaufenstern nicht ausweichen, da mehrere Feuerwehren die andere Straßenseite versperren.
Über den Läden sitzen im Sommer die Touristen auf der Dachterrasse und trinken Kaffee. Schweinsköpfe, Schweinshaxen und Würste liegen in den Auslagen, aus den Türen strömt Pökelgeruch. So sehr ich den Viktualienmarkt liebe, diese Ecke ist für mich wie ein Spießrutenlauf. Zu viele tote Tiere.
Verkäufer und Verkäuferinnen stehen in weißen Schürzen vor ihren Läden, schimpfen und gestikulieren. Wie eine Blutspur zieht sich eine dicke rote Linie über die Schaufenster.
»Einsperren, alle einsperren!«
