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Ungläubig staunen die Gäste des genialen Tüftlers über das, was er ihnen berichtet: Mit einer Zeitmaschine sei er achthunderttausend Jahre in die Zukunft gereist. Und dann erzählt er vom Leben zweier Gattungen dort, den kindlichen Eloi und den garstigen Morlocks, die unter der Erde hausen, unterdrückt vom Herrenvolk oben im Grünen. Oder ist es gar nicht so, sondern ganz anders? Fieberhaft lauscht der Besuch, während der Zeitreisende die ganze Wahrheit enthüllt. Mit H. G. Wells’ »Zeitmaschine« reist der Leser in eine fantastische Utopie von der Zukunft der Menschheit.
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2025
H. G. Wells
Die Zeitmaschine
Aus dem Englischen von Jan Strümpel
Anaconda
Titel der englischen Originalausgabe: The Time Machine (London 1895)
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© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Bad Honnef
Umschlagmotiv: Roverto / Adobe Stock (Rahmen);NesaCera / Adobe Stock (Zeitmaschine)
Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus
ISBN 978-3-641-33703-2V001
www.anacondaverlag.de
Inhalt
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Epilog
1
Der Zeitreisende (denn so wollen wir ihn der Einfachheit halber nennen) legte uns eine höchst nebulöse Sache dar. Seine grauen Augen glänzten und blinzelten, sein sonst so blasses Gesicht war gerötet und voller Leben. Das Kaminfeuer brannte hell, und das sanfte Glosen der Kerzen in den Silberleuchtern spiegelte sich in den Luftbläschen, die in unseren Gläsern aufstiegen und vergingen. Unsere Stühle, die er selbst entworfen hatte, waren mehr als eine Sitzgelegenheit, sie schienen uns regelrecht zu umfangen und zu liebkosen, und es herrschte diese genießerische Atmosphäre, wie sie nach dem Essen eintritt, wenn die Gedanken frei vom Druck der Exaktheit umherschweifen. Und so erzählte er uns unter gelegentlichem Einsatz seines schmalen Zeigefingers das Folgende, während wir dasaßen und träge bewunderten, mit welchem Ernst er sich diesem neuen Paradox (dafür hielten wir es) und seinen Auswirkungen widmete.
»Hören Sie mir genau zu. Ich werde ein paar Annahmen in Zweifel ziehen, die nahezu universelle Geltung beanspruchen. Die Geometrie etwa, wie sie in der Schule gelehrt wird, gründet auf einem Irrglauben.«
»Verlangen Sie da für den Anfang nicht gleich etwas viel von uns?«, sagte Filby, ein streitsüchtiger Mensch mit rotem Haar.
»Sie sollen nichts anerkennen, ohne berechtigte Ursache dazu zu haben. Sie werden mir sehr bald hinlänglich zustimmen. Ihnen ist wohlbekannt, dass eine mathematische Linie von der Stärke Null physisch nicht in Wirklichkeit existiert. So haben Sie es gelernt, nicht wahr? Dasselbe gilt für eine mathematische Fläche. Beides sind rein abstrakte Gebilde.«
»Richtig«, sagte der Psychologe.
»Somit wird aus Länge, Breite und Höhe allein auch kein real existenter Würfel.«
»Einspruch«, sagte Filby. »Natürlich kann es einen festen Körper geben. Alle realen Dinge –«
»Die meisten Leute denken so. Aber einen Augenblick noch. Kann es einen momentanen Würfel geben?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Filby.
»Gibt es einen Würfel, der praktisch keinerlei zeitliche Dauer hat?«
Filby wurde nachdenklich. »Zweifellos«, fuhr der Zeitreisende fort, »muss sich jeder reale Gegenstand in vier Dimensionen erstrecken: Länge, Breite und Höhe und – Dauer. Doch aufgrund einer angeborenen Schwäche des Fleischs, zu der ich gleich etwas sagen werde, übersehen wir diesen Umstand gern. Es gibt tatsächlich vier Dimensionen: drei, die wir die Dimensionen des Raums nennen, und als vierte die Zeit. Allerdings neigt man dazu, auf unplausible Art letztere Dimension von den drei ersten abzugrenzen, da sich unser Bewusstsein periodisch vom Beginn bis ans Ende unseres Lebens in letzterer Dimension in einer Richtung vorwärtsbewegt.«
»Das«, sagte ein sehr junger Mann, der krampfhaft bemüht war, seine Zigarre an einer Kerze neu zu entzünden, »das … also ganz klar.«
»Nun ist es sehr verwunderlich, dass man dies so gründlich übersieht«, sagte der Zeitreisende mit einem Anflug von Heiterkeit. »Genau das nämlich ist mit der vierten Dimension gemeint, auch wenn manchmal Leute von der vierten Dimension reden, ohne sich bewusst zu sein, dass sie es tun. Es ist nichts als eine andere Art, die Zeit zu betrachten. Das Einzige, was die Zeit von den drei Dimensionen des Raums unterscheidet, ist, dass sich unser Bewusstsein in ihr bewegt. Aber so mancher Dummkopf hat sich diesem Gedanken von der falschen Seite genähert. Ihnen allen ist geläufig, was über diese vierte Dimension gesagt wird?«
»Mir nicht«, sagte der Provinzbürgermeister.
»Kurz gesagt dies: Raum, wie ihn unsere Mathematiker verstehen, verfügt über drei Dimensionen, die Länge, Breite und Höhe genannt werden können, und wird immer vom Bezugspunkt dreier Ebenen aus definiert, die jeweils im rechten Winkel zueinander stehen. Nun haben einige philosophische Köpfe gefragt, wieso es gerade drei Dimensionen sein sollen – da könnte doch noch eine vierte Dimension zu diesen dreien im rechten Winkel stehen –, sie haben sogar eine Geometrie mit vierter Dimension zu entwickeln versucht. Professor Simon Newcomb hat diese Idee erst vor rund einem Monat der Mathematischen Gesellschaft von New York dargelegt. Wie sich auf einer ebenen Fläche, die nur zwei Dimensionen hat, ein dreidimensionaler Körper darstellen lässt, ist bekannt. Entsprechend, so glauben sie, müsste sich anhand eines dreidimensionalen Modells eine vierte Dimension darstellen lassen – so man denn das Problem der Perspektive in den Griff bekommt. Verstanden?«
»Glaube schon«, murmelte der Provinzbürgermeister und sank stirnrunzelnd in einen vergeistigten Zustand, wobei er seine Lippen bewegte wie jemand, der geheimnisvolle Worte vor sich hin sagt. »Ja, ich glaub, jetzt hab ich’s verstanden«, sagte er nach einer Weile, vorübergehend ganz aufgeheitert.
»Nun, ich darf Ihnen sagen, dass ich seit einiger Zeit an dieser Geometrie der vier Dimensionen arbeite. Einige Ergebnisse sind seltsam. Hier zum Beispiel habe ich das Porträt eines Mannes im Alter von acht Jahren, das hier zeigt ihn mit fünfzehn, dies mit siebzehn, dieses hier mit dreiundzwanzig und so weiter. Sie alle sind offenkundig Ausschnitte, dreidimensionale Darstellungen seiner vierdimensionalen Natur, die fix und unveränderlich ist.
Die Wissenschaft«, fuhr der Zeitreisende fort, nachdem er diesen Gedanken eine Weile hatte nachhallen lassen, »weiß sehr gut, dass Zeit im Grunde nur eine Form von Raum ist. Hier habe ich ein gängiges wissenschaftliches Schaubild, eine Wetteraufzeichnung. Diese Linie hier, die ich mit meinem Finger verfolge, zeigt die Schwankungen des Barometers. Gestern stand sie dort oben, in der Nacht dann fiel sie, heute Morgen stieg sie wieder an, ganz allmählich bis an diesen Punkt. Nun hat das Quecksilber diese Linie offenkundig nicht in einer der drei allgemein anerkannten Dimensionen des Raums gezogen. Und doch hat es eine solche Linie hervorgebracht, und diese Linie, so müssen wir folgern, entstand entlang der Zeit-Dimension.«
»Aber«, sagte der Mediziner, den Blick starr auf ein Stück Kohle im Kamin gerichtet, »wenn Zeit nichts anderes ist als eine vierte Dimension des Raums, warum wird sie dann seit jeher als etwas anderes angesehen? Und warum können wir uns dann nicht in der Zeit so bewegen wie in den anderen Dimensionen des Raums?«
Der Zeitreisende lächelte. »Sie meinen, wir könnten uns frei im Raum bewegen? Rechts und links, das geht, rückwärts und vorwärts, kein Problem, der Mensch tut es seit eh und je. Wir bewegen uns frei in zwei Dimensionen. Aber wie steht’s mit hinauf und hinab? Da setzt uns die Schwerkraft Grenzen.«
»Nicht unbedingt«, sagte der Mediziner. »Es gibt Ballone.«
»Aber vor Erfindung des Ballons waren die Menschen nicht in der Lage, sich vertikal fortzubewegen, außer durch exaltierte Sprünge oder indem sie sich die Unebenheit der Erdoberfläche zunutze machten.«
»Ein kleines bisschen rauf und runter ging es also immerhin«, sagte der Mediziner.
»Runter sehr viel leichter als rauf.«
»Und in der Zeit kann man sich gar nicht bewegen, vom gegenwärtigen Moment kann man sich nicht lösen.«
»Genau da liegen Sie falsch, mein Freund. Die ganze Welt täuscht sich darin. Wir lösen uns doch ständig vom gegenwärtigen Moment. Unsere geistigen Existenzen, die immateriell sind und keine Dimensionen haben, gleiten in beständigem Tempo durch die Zeit-Dimension von der Wiege bis zum Grab. Gerade so, wie wir hinabreisen würden, wenn unsere Existenz fünfzig Meilen oberhalb der Erdoberfläche beginnen würde.«
»Aber da liegt ja das große Problem«, unterbrach der Psychologe. »Man kann sich in alle Richtungen des Raums bewegen, aber nicht innerhalb der Zeit.«
»Womit wir beim Kern meiner großen Entdeckung wären. Sie liegen falsch, wenn Sie sagen, dass wir uns in der Zeit nicht fortbewegen können. Wenn ich mich zum Beispiel lebhaft an ein Vorkommnis erinnere, kehre ich zurück zum Zeitpunkt des Geschehens: Dann bin ich geistesabwesend, wie man so sagt. Für einen Augenblick befinde ich mich dort. Natürlich haben wir keinerlei Möglichkeit, längere Zeit in der Vergangenheit zu sein als etwa ein Wilder oder ein Tier zwei Meter hoch in der Luft. Aber in dieser Hinsicht hat es der zivilisierte Mensch besser als der Wilde. Er kann die Schwerkraft mit Hilfe eines Ballons überwinden, und warum sollte er nicht hoffen, sein Gleiten durch die Zeit-Dimension eines Tages anhalten oder beschleunigen zu können, ja es sogar umzukehren und in die entgegengesetzte Richtung zu reisen?«
»Ach, das«, sagte Filby, »ist doch alles –«
»Warum denn nicht?«, fragte der Zeitreisende.
»Es ist gegen die Vernunft«, sagte Filby.
»Welche Vernunft?«, fragte der Zeitreisende.
»Sie können beweisen, dass schwarz weiß ist«, sagte Filby, »aber Sie werden mich niemals davon überzeugen.«
»Das mag sein«, sagte der Zeitreisende. »Aber nun haben Sie erste Einblicke in meine Forschungen zur Geometrie der vier Dimensionen erhalten. Vor langer Zeit hatte ich die vage Idee einer Maschine –«
»Für Zeitreisen!«, rief der sehr junge Mann.
»Mit der man in jede Richtung von Raum und Zeit gelangt, ganz nach Wunsch des Fahrers.«
Filby hatte dafür nur Gelächter übrig.
»Im Experiment habe ich bereits gezeigt, dass es geht«, sagte der Zeitreisende.
»Für Historiker wäre das überaus praktisch«, befand der Psychologe. »Sie könnten zum Beispiel durch so eine Reise zurück überprüfen, ob stimmt, was von der Schlacht bei Hastings überliefert ist!«
»Da würden sie ganz sicher Aufmerksamkeit erregen«, sagte der Mediziner. »Unsere Vorfahren hatten wenig übrig für aus der Zeit Gefallene.«
»Man könnte Griechisch direkt bei Homer und Platon lernen«, überlegte der sehr junge Mann.
»In dem Fall würden Sie garantiert schon bei der Zwischenprüfung durchfallen. Die deutschen Professoren haben das Griechische seit damals enorm verbessert.«
»Und die Zukunft erst«, sagte der sehr junge Mann. »Denken Sie nur! Man legt einfach all sein Geld gutverzinst an und macht sich munter auf!«
»Und stößt dann auf eine Gesellschaft«, sagte ich, »die streng kommunistisch organisiert ist.«
»Nichts als wirre, überspannte Theorie!«, sagte der Psychologe.
»Ja, so sah ich es auch immer, deshalb habe ich nie darüber gesprochen, bis –«
»Experimenteller Nachweis!«, rief ich. »Das wollen Sie beweisen?«
»Das Experiment!«, rief Filby, geistig inzwischen leicht erschöpft.
»Dann gehen Sie Ihr Experiment mal an«, sagte der Psychologe, »auch wenn das nun wirklich alles Humbug ist.«
Der Zeitreisende sah lächelnd in die Runde. Dann ging er langsam aus dem Raum, weiterhin sanft lächelnd und mit den Händen tief in den Hosentaschen, wir hörten ihn den ganzen langen Gang zu seinem Versuchslabor schlurfen.
Der Psychologe blickte uns an. »Was er wohl vorhat?«
»Irgendeinen Taschenspielertrick«, sagte der Mediziner, und Filby wollte uns etwas über einen Zauberkünstler erzählen, den er in Burslem gesehen hatte, doch noch während seiner einleitenden Worte kehrte der Zeitreisende wieder zurück, und Filbys Anekdote kam nicht zum Zuge.
Das Ding in den Händen des Zeitreisenden war ein funkelndes Metallkonstrukt, kaum größer als eine kleine Uhr und sehr fein gearbeitet. Teils bestand es aus Elfenbein, teils aus einer durchsichtigen Kristallsubstanz. Und nun muss ich etwas ins Detail gehen, denn was daraufhin geschah, ist – außer für den, der sich seinen Erläuterungen anzuschließen bereit ist – ganz und gar unerklärlich. Er nahm einen der kleinen achteckigen Tische, die da und dort im Zimmer standen, und rückte ihn so vor das Feuer, dass er mit zwei Beinen auf dem Kaminvorleger stand. Auf diesen Tisch stellte er seinen Mechanismus. Dann zog er einen Stuhl heran und setzte sich. Auf dem Tisch stand sonst nur noch eine kleine Schirmlampe, deren Licht auf den Apparat fiel. Zudem gab es etwa ein Dutzend Kerzen, zwei in Messingständern auf dem Kaminsims und noch ein paar als Wandleuchten, sodass der gesamte Raum hell erleuchtet war. Ich saß in einem niedrigen Sessel direkt am Feuer und zog diesen so weit vor, dass ich mich fast zwischen dem Zeitreisenden und dem Kamin befand. Filby saß hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. Der Mediziner und der Provinzbürgermeister sahen ihn von rechts im Profil, der Psychologe von links. Der sehr junge Mann stand hinter dem Psychologen. Wir waren alle hochkonzentriert. Dass es möglich sein sollte, uns einen Streich zu spielen, und sei er noch so subtil erdacht und geschickt eingefädelt, erschien mir unter diesen Bedingungen praktisch ausgeschlossen.
Der Zeitreisende sah erst uns an, dann seinen Mechanismus. »Nun?«, sagte der Psychologe.
»Dieses kleine Objekt«, sagte der Zeitreisende, während er seine Ellbogen auf den Tisch stützte und die Hände über dem Apparat gegeneinanderdrückte, »ist nur ein Modell. Es ist mein Entwurf einer Maschine für Zeitreisen. Ihnen wird aufgefallen sein, dass er etwas schief wirkt und diese Stange hier so seltsam, geradezu unwirklich funkelt.« Er wies mit dem Finger auf die Stelle. »Hier befindet sich ein kleiner weißer Hebel und da noch einer.«
Der Mediziner erhob sich von seinem Stuhl und betrachtete das Ding. »Wunderbar konstruiert«, sagte er.
»Zwei Jahre Arbeit stecken darin«, erwiderte der Zeitreisende. Nachdem wir alle dem Beispiel des Mediziners gefolgt waren, sagte er: »Und nun aufgepasst: Wenn man diesen Hebel hier betätigt, fährt die Maschine in die Zukunft, mit dem anderen Hebel geht es wieder zurück. Auf diesem Sattel nimmt der Zeitreisende Platz. Ich werde gleich den Hebel betätigen, dann macht sich die Maschine auf den Weg. Sie wird sich in Luft auflösen, in die Zukunft gleiten und verschwinden. Behalten Sie das Ding gut im Auge und auch den Tisch, überzeugen Sie sich davon, dass hier nicht getrickst wird. Ich will dieses Modell nicht opfern, nur um hinterher als Schwindler bezeichnet zu werden.«
Es entstand eine Pause von vielleicht einer Minute. Der Psychologe schien mir etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber wieder anders. Dann streckte der Zeitreisende seinen Finger nach dem Hebel aus. »Nein«, sagte er mit einem Mal. »Reichen Sie mir Ihre Hand.« Dem Psychologen zugewandt, nahm er dessen Hand in die seine und bat ihn, den Zeigefinger auszustrecken. So war es denn der Psychologe, der das Modell der Zeitmaschine auf seine endlose Reise schickte. Wir alle sahen, wie der Hebel umgelegt wurde. Ich bin mir vollkommen sicher, dass keinerlei Täuschung im Spiel war. Ein Luftzug entstand, der die Flamme der Lampe aufflackern ließ. Eine der Kerzen auf dem Sims erlosch, plötzlich schwankte die kleine Maschine, verlor ihre Konturen, eine Sekunde vielleicht war sie noch wie ein Geisterbild zu sehen, wie ein Wirbel aus schwach funkelndem Eisen und Elfenbein – dann war sie weg – in Luft aufgelöst! Nur die Lampe stand noch auf dem Tisch.
Einen Moment lang waren alle still. Dann äußerte Filby seine Bestürzung.
Der Psychologe löste sich aus seiner Erstarrung und blickte unvermittelt unter den Tisch. Darüber musste der Zeitreisende herzlich lachen. »Und?«, sagte er mit Blick auf den Psychologen. Dann stand er auf, ging zur Tabaksdose, die auf dem Kaminsims stand, und begann sich mit dem Rücken zu uns die Pfeife zu stopfen.
Wir blickten einander ungläubig an. »Hören Sie«, sagte der Mediziner, »ist das Ihr Ernst? Glauben Sie wirklich, dass diese Maschine in die Zeit gereist ist?«
»Natürlich«, sagte der Zeitreisende, der sich zum Feuer bückte, um einen Holzspan in Brand zu setzen. Dann wendete er sich um, entzündete seine Pfeife und blickte dem Psychologen ins Gesicht. (Um sich gefasst zu geben, griff der Psychologe nach einer Zigarre und versuchte sie anzuzünden, ohne die Spitze abzuschneiden.) »Und nicht nur das. Da drin« – er wies auf sein Labor – »bin ich schon sehr weit mit einer großen Maschine, und wenn die fertig ist, werde ich mich selbst auf die Reise begeben.«
»Sie meinen ernsthaft, dass diese Maschine in die Zukunft gereist ist?«, sagte Filby.
»In die Zukunft oder in die Vergangenheit – das weiß ich selbst nicht genau.«
Nach einer Weile hatte der Psychologe eine Eingebung. »Wenn sie überhaupt irgendwo hingefahren ist, dann in die Vergangenheit«, sagte er.
»Wieso?«, fragte der Zeitreisende.
»Weil ich annehme, dass sie sich nicht im Raum fortbewegt hat, und wenn sie sich in Richtung Zukunft aufgemacht hätte, müsste sie noch die ganze Zeit hier sein, denn schließlich muss sie auch die jetzige Zeit durchreisen.«
»Aber«, sagte ich, »wenn sie in Richtung Vergangenheit gereist wäre, dann hätte sie sichtbar sein müssen, als wir erstmals diesen Raum hier betraten, und auch letzten Donnerstag, als wir alle hier waren, und den Donnerstag davor und so weiter!«
»Alles sehr widersprüchlich«, bemerkte der Provinzbürgermeister, zum Zeitreisenden gewandt, mit unparteilicher Miene.
»Keineswegs«, sagte der Zeitreisende, und in Richtung des Psychologen: »Sie denken nach. Sie können das erklären. Das hier findet unterhalb der Schwelle des Wahrnehmbaren statt, in ganz abgeschwächter Form.«
»Natürlich«, sagte der Psychologe zu unser aller Beruhigung. »Das ist simple Psychologie. Ich hätte längst darauf kommen müssen. Es ist denkbar einfach und erklärt das Paradoxon ganz wunderbar. Wir können die Maschine nicht sehen und auch nicht richtig einschätzen, es ist exakt wie mit der Speiche eines sich drehenden Rades oder einem durch die Luft sausenden Geschoss. Wenn sie sich fünfzig oder hundert Mal schneller durch die Zeit bewegt als wir, wenn sie in einer Menschensekunde bereits eine Minute zurückgelegt hat, dann kann sie selbstverständlich auch nur ein Fünfzigstel oder Hundertstel der visuellen Wirkung auf uns hinterlassen im Vergleich mit dem Zustand, in dem sie sich nicht auf Zeitreise befindet. So simpel ist das.« Er fuhr mit der Hand durch die Stelle, an der die Maschine gestanden hatte. »Sehen Sie?«, sagte er lachend.
Wir saßen da und starrten eine Weile auf den leeren Tisch. Dann fragte uns der Zeitreisende, was wir von all dem hielten.
»Heute Abend klingt das alles sehr plausibel«, sagte der Mediziner, »aber warten wir ab, wie es uns morgen damit geht. Was morgen früh der gesunde Menschenverstand dazu sagt.«
»Hätten Sie Lust, die echte Zeitmaschine zu sehen?«, fragte der Zeitreisende. Dann griff er nach der Lampe und leuchtete den Weg den langen, zugigen Korridor hinab zu seinem Labor. Ich erinnere mich sehr gut an das flackernde Licht, an die Silhouette seines merkwürdigen breiten Kopfes, den Tanz der Schatten, wie wir ihm allesamt folgten, verblüfft, doch skeptisch, und wie wir dort in seinem Labor eine größere Version seines kleinen Mechanismus zu sehen bekamen, der sich vor unseren Augen in Luft aufgelöst hatte. Einige Teile bestanden aus Nickel, andere aus Elfenbein, manche waren offenkundig aus Bergkristall herausgesägt oder -gefeilt. Der Apparat war fast fertiggestellt, nur die gebogenen Kristallstangen lagen neben einigen Zeichnungen unvollendet auf dem Tisch. Ich nahm mir eine, um sie genauer zu betrachten. Sie schien aus Quarz zu sein.
»Nun denn«, sagte der Mediziner, »ist das Ihr Ernst? Oder nur wieder so ein Schwindel – wie der Geist, den Sie uns letztes Jahr zu Weihnachten präsentiert haben?«
»Mit dieser Maschine«, sagte der Zeitreisende und hielt die Lampe hoch, »beabsichtige ich die Zeit zu erkunden. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt? Noch nie in meinem Leben war es mir mit etwas so ernst.«
Keiner von uns wusste darauf etwas zu erwidern.
Über die Schulter des Mediziners hinweg sah mich Filby an und blinzelte mir ehrfürchtig zu.
2
Damals glaubte wohl keiner von uns so recht an die Zeitmaschine. Offen gesagt war der Zeitreisende ein Mensch jenes Schlages, der einfach zu schlau ist, um ihm zu trauen: Nie hatte man das Gefühl, ihn ganz unverstellt vor sich zu haben; zwar gab er sich zugewandt, doch stets vermutete man, dass er letztlich irgendetwas verschwieg oder im Schilde führte. Hätte Filby uns das Modell gezeigt und uns die Sache in den Worten des Zeitreisenden erklärt – ihm gegenüber wären wir weit weniger skeptisch gewesen. Denn wir hätten begriffen, worum es ihm ging, selbst ein Schweinemetzger konnte Filby verstehen. Doch den Zeitreisenden umgab etwas Unberechenbares, wir waren misstrauisch ihm gegenüber. Dinge, die einen weniger brillanten Mann Ruhm eingetragen hätten, wirkten in seinen Händen wie Streiche. Es ist ein Fehler, etwas mit allzu leichter Hand zu tun. Ernsthafte Leute, die ihn ernst nahmen, wurden durch sein Verhalten verunsichert; ihren guten Ruf für ihn einzusetzen, so dachten sie, empfahl sich etwa so sehr, wie empfindliches Porzellan ins Kinderzimmer zu stellen. Weshalb sich in der Woche zwischen diesem und dem folgenden Donnerstag wohl niemand von uns sonderlich über das Thema Zeitreisen äußerte, obwohl wir zweifellos allesamt über dessen wundersames Potenzial nachgrübelten: seine Wahrscheinlichkeit, also seine praktische Unglaublichkeit, die verlockenden Möglichkeiten der Begegnung mit einer anderen Zeit und die sich daraus ergebende totale Konfusion. Ich selbst befasste mich insbesondere mit dem Kunststück des Modells. Ich weiß noch, wie ich darüber mit dem Mediziner diskutierte, dem ich am Freitag in der Linné-Gesellschaft begegnet war. Er sagte, er habe ein ähnliches Ding in Tübingen gesehen, und machte besonders auf das Verlöschen der Kerze aufmerksam. Doch wie der Trick ins Werk gesetzt worden war, konnte er nicht sagen.
Am folgenden Donnerstag fuhr ich erneut nach Richmond – ich war wohl einer der treuesten Gäste des Zeitreisenden. Ich traf spät ein und sah bereits vier, fünf Männer in seinem Salon versammelt. Der Mediziner stand am Kamin mit einem Blatt Papier in der einen Hand und seiner Uhr in der anderen. Ich schaute mich gerade um, wo der Zeitreisende war, als der Mediziner sagte: »Es ist inzwischen halb acht, ich schlage vor, dass wir zu Tisch gehen.«
»Wo ist denn …?«, fragte ich und nannte den Namen unseres Gastgebers.
»Sie sind gerade erst gekommen? Es ist seltsam. Etwas Unaufschiebbares hat ihn aufgehalten. Er hat mir eine Notiz hinterlassen, dass ich um sieben zum Essen bitten soll, falls er dann noch nicht da sein sollte. Und dass er nach seiner Rückkehr alles erklären würde.«
