Die Zukunft des Tötens - Armin Kratzert - E-Book

Die Zukunft des Tötens E-Book

Armin Kratzert

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Beschreibung

Vier Freunde. Eine Geburtstagsfeier auf einem Boot, inmitten der landschaft- lichen Idylle des Bodensees. Und dann: Ein Schuss. Aus Versehen? Jeremia lässt seinen angeschossenen Freund und zwei Frauen zurück. Seine Flucht führt ihn über München nach Marseille, nach Nordafrika und weiter ins Atlasgebirge: Der Auftragskiller trifft auf fremde Kulturen, die ihn faszinieren und an seiner Einsamkeit rütteln. Im Hintergrund treiben die drei anderen ihr böses Spiel mit ihm. Eine Reise in grandiose Landschaften, die Welt der Beduinen und ins Innere eines Mörders, der seinen Frieden finden will.

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Seitenzahl: 160

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DIE ZUKUNFT

DES TÖTENS

ARMIN KRATZERT

ROMAN

© 2021 by Secession Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung: Erik Spiekermann, Berlin

Satz: Marco Stölk, Berlin

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-96639-043-9

eISBN 978-3-96639-044-6

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1

Jeremia hatte Angst vor der Nacht und Schicker. Es war hier kalt und feucht und märzblau. Neun. Oder halbzehn. Der Wald lag dunkel. Die Bäume standen wie Soldaten. Dazwischen war nichts. Aber war da wirklich nichts? Wasser und Luft und Erde. Manchmal bewegten sich die Blätter. Etwas anderes sah er nicht. Was nicht heißen musste, dass da nichts war. Irgendetwas würde dort sein. Irgendwer. Kreaturen. Im weißen Hemd, einen brennenden Busch in der Hand.

Es war Leben im Wald. Laub auf dem Boden. Äste, Zapfen, Moos. Es knackte. Ein Stück Holz, das sich abkühlte, feucht wurde, sprang. Ein Stein. Wo kam er her? Ein Tritt? War es der Wind? Welche Tiere lebten hier? Waren sie nachts aktiv? Was suchten sie? Wen?

Eine Wolke schob sich schnell vor den Mond. Oder wurde geschoben. Ein Schatten, eine Wand. Der silbrige Schimmer auf den Stämmen wurde schwächer. Verschwand. Kein Baum, kein Licht, kein Weg. Klebrige Schwärze. Ein alles verschlingendes Loch. Ganz oben zitterte ein Schein. Unerreichbar. Kein Ziel, eine Behauptung. Ein böser Scherz. Ein Stern oder ein Satellit.

Vielleicht war er ganz nah. Schicker war immer ganz nah. Er bewegte sich wenig. Alles kam zu ihm. Er lauerte in der Mitte, wie die Spinne. Ganz ruhig, ganz still. Trocken, nahezu tot. Besiegbar, so schien es. Eine Zeitlang jedenfalls. Bis es jemand versuchte. Es war, als wäre er gar nicht da. Ein Schemen. Oder ein Gerücht. Wer hatte Schicker gesehen? Es waren nicht viele, die davon erzählen konnten.

Jeremia hörte sich atmen. Seine Brust hob sich, senkte sich. Zu schnell, zu heftig. Er brauchte Luft. Aber es raschelte. Die Kleider raschelten. Das durfte nicht sein. Leiser. Wenn er die Jacke auszog, hörte man es im ganzen Wald. Tosender Lärm. Eine Rotte Wildschweine. Krachende Autotür. Keine Bewegung jetzt. Nichts mehr. Luft anhalten. Bitte.

Konnte er Schicker hören? Wo lief er? Was machte er? Es lagen keine Informationen vor über den Tag seiner Ankunft. Sie sagten, er käme von Norden. Von der Grenze, über die helle Straße. Jeremia wusste nicht, wie er sich bewegen würde. Er musste warten. Minuten oder Wochen.

Der Boden wurde kälter. Die Luft roch gut nach Kräutern und Erde. Vielleicht gab es einen Bach.

Die Bäume standen noch, himmelhoch. Eine Kathedrale. Ein Weg führte in den Wald und nicht wieder hinaus. Sümpfe. Niemand wusste, wer da noch war. Römische Legionen, Elfen, ein paar Psychopilze. Jeremia konnte nichts hören, nichts sehen. Vielleicht klirrte da Metall in fernen Nebeln. Ein raues Lied. Er hatte Verlangen nach Glühwürmchen.

Niemand wollte Schicker sehen. Wer ihm begegnete, sprach nicht gern darüber. Keine Fotos. Elegant, im wollenen Anzug, sagte einer. Grobschlächtig, sagte ein anderer. Es konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden. Es hieß, dass er keine Waffen benutzte. Kein Ausweis, keine Kreditkarten, niemals Telefon. Bargeld in gebrauchten Scheinen.

Insekten lebten in der Erde. Jeremia wollte sich auf den Boden legen. Würmer, Schaben, Schnecken. Schliefen sie nachts? In ihren Löchern? Wie lang brauchten sie, um einen Schädel abzunagen?

Er kannte den Wald nicht.

Auch wenn die Sonne schien, war es nicht gut hier. Bilder und Märchen, die jeden verfolgten. Es war wie tief im Wasser zwischen all dem Holz. Zum Ersticken. Strotzende Botanik, die zu nichts taugte, als sich ihrer Verbreitungskraft zu erfreuen. Obszöne Fauna. Kriechspuren und Kadaver. Rinden und stinkende Felle. Wer hier unterwegs war, hatte etwas zu verbergen.

Schicker hatte die Augen eines Menschen. Blind in der Nacht. Stolperte gegen Felsen. Stürzte in Löcher. Wie konnte er hier sein, ohne dass Jeremia ihn bemerkte? Warum nahm er diesen Weg? Was wollte er in diesem Wald?

Im Forst marschierte man im Kreis und verirrte sich zuverlässig. Keine Orientierung zwischen den Bäumen, keine Sicht, keine Hoffnung. Es war besser, einfach stehen zu bleiben und zu warten. Stillhalten. Dem Wetter trotzen. Niemals schlafen. Das Schicksal fand jeden.

Es gab keinen Zweifel. Irgendwo in diesem Wald war Schicker. Sein Körper, seine Augen. Er bewegte sich, wo sich niemand bewegen konnte. Wie ein Phantom. Ein Produkt der Gedanken. Träume, Albträume. Jeremia dachte an Schicker, also war er da. Er hatte Angst vor ihm, und also machte Schicker sich auf den Weg. Je dringender Jeremia versuchte, ihm zu entkommen, desto schneller fand er ihn. Er war sein Schatten. Eine Krähe, die über ihm kreiste. Verfolger und Begleiter.

Jeremia spürte die Hand an seinem Hals.

2

Ich glaube nicht, dass Jeremia seinen Schwanz noch hochgekriegt hätte, als er aus dem Wasser kam, dazu war er zu betrunken und der See doch zu kalt und die Stimmung viel zu komisch, es war zwar schon fast Sommer, das Wetter ganz passabel, und der Dampfer lag träg auf dem Wasser, vier Uhr nachmittags, drüben, über dem Schilf, auf der schweizerischen Seite, standen die Berge hellblau im Dunst, und Vincent hatte Geburtstag, den 36. glaube ich, er hatte auch das Boot gemietet, eine alte, hölzerne Küstenbarkasse mit zugehörigem Kapitän in abgewetztem, dunkelblauem Zwirn, aber dieses Schiff schaukelte nun schon den ganzen Nachmittag ziellos zwischen den Ufern, der Weißwein wurde wärmer und der Schinken auf den Broten immer grauer, wir turnten auf klebrigen Brettern vom Bug über einen engen Niedergang neben dem Steuerhaus in die muffige Kabine und achtern wieder an die Luft, versuchten, ein Lied zu singen, starrten in die flimmernde Luft, viel zu warm angezogen, müde, aßen doch noch ein Stück von der fetten Schokoladentorte, bevor sie ganz weggeschmolzen war, tranken aus zerknüllten Bechern, redeten, schwiegen, und redeten weiter, wünschten uns schließlich ganz weit weg, als es Tumult gab, Lärm, als Jeremia plötzlich anfing, seine Kleider von sich zu schleudern und zu brüllen, dass wir jetzt alle mit ihm ins Wasser springen müssten, weil er sonst irgendwem mit seinem Revolver eine Kugel in den Schädel knallen würde, und dabei hüpfte er wie ein Verrückter vor mir auf und ab, hielt dieses unheimliche, chromglänzende Eisen mit beiden Händen, fuchtelte damit herum, zielte auf mich oder Maria oder wen auch immer, bis es plötzlich krachte und Jeremia rückwärts ins Wasser flog und Vincent ein Loch im Bein hatte und fürchterlich zu schreien begann: Sagt Susie.

Es war dieses lustige Schweizer Mädchen mit grünen Augen und großen Brüsten, das Jeremia schon den ganzen Nachmittag ziemlich unverhohlen angestarrt hatte, ohne dass sie ihn wahrnahm oder mit ihm sprechen wollte, und ich glaube, dass seine lächerliche Forderung, wir sollten uns alle ausziehen und in dem eiskalten, trüben Wasser mit ihm schwimmen gehen, nur von der Hoffnung rührte, dieses Schweizer Mädchen würde dann neben ihm im See landen, nackt und bloß und glitschig wie ein Fisch, und wahrscheinlich hatte sich Jeremia die ganze Zeit ausgemalt, wie die Wellen sich über ihren hellen Arschbacken kräuselten, wie sie prusten und kichern würde, wenn er tauchte und plötzlich neben ihr wieder aus der Tiefe schoss, wie sich ihr Körper anfühlte, so nass und warm, und wie sie ihn anschaute aus ihren großen, dunklen Augen, wie ihr Mund sich öffnete; dass sie ihn aber gänzlich ignorierte und auch überhaupt niemand mit Jeremia baden gehen wollte, muss ihn ganz außerordentlich empört haben, jedenfalls wollte er dann auch mit mir nicht mehr über das Projekt in Marokko reden, an dem wir nun seit zwei Monaten arbeiteten, er raunzte mich nur noch an und trank aus seiner Flasche und schnaufte und wankte, hielt sich an meiner Schulter fest, rutschte mit diesen altmodischen Schnürschuhen über das glatte Eichendeck, klammerte sich an irgendein Stück der Reling und sackte schließlich müde keuchend auf ein Polster, nahm meine Hand, flüsterte von der Schönheit des Sees und der Bedeutung, die dieser Nachmittag für sein Leben habe, ehe er aus einem alten Stoffbeutel den Revolver zog und damit wie ein tanzender Derwisch zwischen die Leute sprang: Sagt Vincent.

Es gab Brote und Sekt und großartigen Schokoladenkuchen auf dem Schiff, der Kapitän war ein sehr charmanter Herr, tadellos angezogen, graues Haar, Schnurrbart, sonore Stimme, der uns viel über die Orte am Ufer und die Berge dahinter und die Vögel des Sees erzählen konnte, Vincent hatte die ganze Feier wirklich mit viel Liebe vorbereitet und in Lindau Hotelzimmer für alle besorgt, die abends nicht mehr zurückfahren wollten, wir hatten ja auch Glück mit dem Wetter, für Anfang Juni war es schon fast zu heiß, obwohl man natürlich noch nicht ins Wasser konnte; ich hatte mich lange auf das Fest gefreut und diesen teuren Blazer gekauft und für Vincent zum Geburtstag den ganzen frühen Dylan, er wusste so viel über Dylan und seine Texte, und natürlich hatte ich auch dieses Parfum benutzt, auf das er so scharf war, Vincent beschwerte sich immer, wenn ich es vergessen hatte, er war ganz wild darauf und schnüffelte noch im Bad am Handtuch, wenn ich weg war, und als wir auf dem Boot standen und diese Musik kam und der Diesel startete, die Korken knallten, wir alle Vincent umarmten und ihn beglückwünschten und Happy Birthday sangen, da stand ich zwischen den Leuten und war glücklich wie nie: Sagt Maria.

Ich weiß wirklich nicht, was das Gerede soll, es war ja schon ein Fehler, überhaupt auf diesen Kahn zu steigen, eine Geburtstagsparty auf einem Boot, das hieß ja, pünktlich da sein und bleiben bis zum Schluss, niemand konnte aussteigen, und Vincent hatte nicht einmal für einen Kühlschrank gesorgt, es gab kein Bier und der Weißwein war süß und warm, nach einer Stunde standen alle genervt rum und glotzten aufs Wasser und die blöde Landschaft, nur Maria himmelte Vincent an, der hinter dieser scharfen Schweizerin her war, die aus Luzern kam und Mikrobiologie studierte, ich versuchte den Kapitän zu überreden, wenigstens irgendwo anzulegen oder zu der Strandbar im Süden zu fahren, was der aber nicht wollte, weil er überall 200 Meter Abstand zum Ufer halten musste, angeblich aus Naturschutzgründen, also stritt ich ein bisschen mit Vincent, aß zu viel Torte und trank diesen Weißwein, bis mir übel wurde, ich wollte mich dann gern etwas abkühlen, aber das ging natürlich nicht, weil der Dampfer nicht anhielt, ich erzählte dem Mädchen aus Luzern also eine Geschichte über Maria, die schon seit Monaten glaubte, Vincents Freundin zu sein, während der darüber nur lachte und alle paar Wochen in einem anderen Bett verschwand, aber die Schweizer verstehen ja kein Deutsch, das Mädchen jedenfalls, Susie hieß sie, sah mich irgendwie ziemlich seltsam an, und ich hörte auf zu reden und trank noch einen Schluck Wein aus dieser hellen Flasche, dann ging ich wieder zu Vincent, weil der schließlich Geburtstag hatte und ganz allein im Heck unter einer schiefen Fahnenstange saß, er hatte schlechte Laune und fing wieder von dem Projekt in Marokko an, mit dem ich schon lange nichts mehr zu tun haben wollte, weil es nur Geld verschlang und einigermaßen gefährlich war und niemand garantieren konnte, dass dieser Deal mit den Arabern gutgehen würde, und als ich ihm das noch einmal sagte und ihm klarmachte, dass ich nicht mehr dabei sei, da zog er plötzlich eine Pistole aus der Tasche unter dem Sitz, brüllte mich an und zielte mir direkt zwischen die Augen: Sagt Jeremia.

Vincent lag also plötzlich auf den Planken und blutete und zuckte, das Boot drehte bei, Jeremia kletterte triefend aus dem Wasser, der Kapitän schnatterte in sein Funkgerät und verlangte einen Rettungshubschrauber, während wir Vincents Wunde irgendwie verbanden und ihm einen Becher Schnaps einflößten, dabei schauten alle Jeremia an, der tropfnass da stand und uns mit wilden Blicken beschoss, niemand aber wagte es, etwas zu ihm zu sagen oder ihn etwa anzufassen, auch wenn er keinen Revolver mehr in der Hand hielt, und Jeremia schrie uns an, ob wir es gesehen hätten, ob wir Vincents Waffe gesehen hätten, seinen verdammten Revolver, und warum wir nichts unternommen hätten; es war vollkommen irre, die Sonne brannte herab, das Schiff trieb mit gestoppten Maschinen auf dem See, das Holzdeck knarzte, es stank nach ranziger Butter und verschüttetem Wein, im Hafen von Bregenz lief die Fähre aus und ich sah auf einmal, wie Jeremia zitterte, er war totenblass, seine Augen stachen schwarz aus ihren Höhlen und seine Finger krampften sich um die Reling, er gab ein ganz jämmerliches Bild ab, Angst stand in seinem Gesicht, schüttelte seinen schmalen Körper, er sackte zusammen, hockte auf dem Boden und fragte uns ganz leise, wer da geschossen habe: Sagt Susie.

Es war ein scharfer Schlag auf meinen Schenkel, wie mit einer Holzlatte, ich konnte es gar nicht glauben, als ich das fransige Loch in der Hose sah, aus dem langsam Blut sickerte, aber der Schmerz war gar nicht schlimm, die Kugel hatte wohl den Muskel glatt durchschlagen, ich fühlte nur ein starkes Pochen im Bein und fragte mich, ob so ein Projektil wirklich noch aus Blei war und ob Reste davon in meinem Fleisch steckten und mich vergiften würden, und dann wollte ich ausprobieren, ob ich noch gehen konnte, stellte den Fuß auf den Boden, und das fühlte sich ganz leer und taub und schwammig an, dann kippte ich einfach um und lag da und dachte an trockenen, pulvrigen Schnee, eiskalte Kristalle, die unter meinem Körper knirschten, ich spürte die blaue Luft kalt auf der Haut, schloss die Augen, das vergangene Jahr sauste wie ein rasender Film durch meinen Kopf, der Urlaub mit Maria, die Arbeit mit Jeremia, der ganze Ärger mit meiner Mutter nach dem Umzug, das Konzert in Frankfurt, das ich mit Peter gespielt hatte und dieses wunderbare Gulasch, das wir danach gegessen hatten, ich spürte wieder Christines Hand in meinem Nacken, wie damals, als wir die ganze Nacht in der Bar gesessen und Wodka mit Zitrone getrunken hatten, ich höre noch das gedämpfte Klimpern der Eiswürfel und dieses Knacksen, wenn sie antauen und zerplatzen, das Glas hatte einen besonders massiven Boden, an dem immer die kleine, feuchte Papierserviette hängen blieb, auf die der Kellner unsere Drinks gestellt hatte, in einer Schale hatte es Nüsse und winzige Brezeln gegeben, die mit riesigen Salzkörnern bestreut waren, von denen die meisten schon fehlten, so dass dort, wo sie vorher geklebt haben, helle, runde Vertiefungen zu sehen waren, sicher schmeckte an diesen Stellen das Gebäck weniger knusprig, dachte ich, als mir plötzlich jemand ins Gesicht schlug und mich rüttelte und anschrie und ich die Augen wieder aufschlug und immer noch auf dem Boot lag in meinem Blut: Sagt Vincent.

Ich wusste, dass er mich betrog, schon seit mindestens zwei Monaten wusste ich es, seit er mit Christine in Berlin gewesen war, wusste ich es, und auch von den anderen Geschichten hatte ich gehört, selbst wenn ich nicht alles glaubte, denn Vincent war zwar dem Leben zugewandt, er sah gut aus, zog sich ziemlich extravagant an, er konnte erzählen und lachen und eine ganze Party retten, wenn es darauf ankam, und so mochten die Leute ihn und die Frauen sowieso, aber im Grunde war er zuverlässig und ordentlich und bescheiden, wir hatten uns ganz gut arrangiert im Lauf der Zeit, respektierten uns und ließen dem anderen genug Raum, ich konnte mich selbst entfalten und hatte meine Freiheiten, war viel unterwegs, und natürlich liebte ich Vincent, ich liebte ihn sehr, so lange schon, und ja, ich konnte mir auch vorstellen, Kinder zu haben mit ihm, heiraten vielleicht, warum nicht, eine große Wohnung, Urlaub am Meer, Weihnachten mit der ganzen Familie, wir werden alle irgendwie älter, und jetzt lag er vor mir auf dem Boden, blutend und bewusstlos, an seinem 36. Geburtstag, an diesem wunderschönen Nachmittag auf dem See, und das Boot stampfte mit hoher Geschwindigkeit zurück nach Lindau, wo es immerhin eine Klinik in der Nähe des Hafens gab, wir hatten dort schon angerufen, sie schickten einen Rettungswagen zum Steg und bereiteten die Operation vor, der Chefarzt wurde geholt, nichts würde schiefgehen, eine Narbe könnte vielleicht bleiben, aber sonst keine Probleme, bald ist er wieder der alte, sagen alle, und bringen Kissen und eine Decke, es ist ein bisschen kühl geworden, die Sonne steht jetzt hinter den Bergen, der See liegt da wie geschmolzenes Metall, satt und breit und grau, ich höre eine Sirene, Straßenlärm, von irgendwoher auch Musik, und dann sind wir endlich im Hafen, die Sanitäter packen Vincent auf eine Bahre, schnallen ihn fest und tragen ihn weg, wir stolpern alle vom Schiff und ich sehe zu, wie der Krankenwagen vom Parkplatz fährt, und jetzt, da ich auf festem Boden stehe und nicht mehr der Dampfer unter mir schaukelt, wird mir auf einmal schlecht und schwindlig und ich will bei Vincent sein und lehne mich an ein Auto und presse die Hand vor den Mund und würge, und alles in mir rebelliert und will schreien und endlich weg von hier: Sagt Maria.

Natürlich wollten die Bullen wissen, wo wir den Revolver her hatten, wer ihn besorgt und wer ihn aufs Schiff gebracht hatte, sie haben mich mitgenommen, kaum dass wir an Land waren, erst in eine Zelle gesteckt, einen Arzt geschickt, der viel geredet, Blut abgenommen, in meine Augen geleuchtet und den Puls gemessen hat, und dann zu zweit in ihrem Büro befragt, verhört, könnte man sagen, nicht besonders freundlich, es war Wochenende, schönes Wetter, sie hatten wohl andere Pläne, wollten nach Hause, einen Ausflug in die Berge mit der Familie, konnte man verstehen, woher also die Waffe, wollten sie wissen, wie war die Beziehung zum Opfer, hatte es Streit gegeben, welcher Art war die berufliche Zusammenarbeit, ich sagte es ihnen, erzählte natürlich von dem Projekt in Marokko, war ja nichts Ungewöhnliches, Joint Venture mit den Franzosen, Software für Wasseraufbereitungsanlagen, das brauchten jetzt viele, eben auch die Araber, irgendwelche Berber aus der Wüste, Nordafrikaner, die Geld hatten und schlechte Manieren, war kein Problem für uns, wenn der Scheck pünktlich kam, zu den Verhandlungen rückten immer gleich sechs oder sieben an, und nie dieselben, das war ein bisschen unübersichtlich, wir mussten sehr genaue Protokolle anfertigen und alles prüfen, die Verträge genauso, aber die Sache lief letztlich gut, vor allem, seit Vincent einmal hingeflogen war, um die Anlage zu inspizieren, Feinjustierungen, Details, landestypische Besonderheiten, was weiß ich, alle waren jedenfalls zufrieden, und einmal brachten sie uns tatsächlich in einer Holzkiste irgendwelche ganz besonderen, seltenen Datteln mit, aus jener berühmten Oase, die einer ihrer Dichter besungen hatte, und eben diesen Revolver, versilbert oder so etwas, ziseliert, sehr wertvoll, wie wir später herausfanden, ein Geschenk, ein Zeichen des Respekts, zum erfolgreichen Abschluss wichtiger Geschäfte: Sagt Jeremia.

Ich hatte überlegt, ob ich noch zurück nach Hause fahren sollte, zweieinhalb Stunden, es wäre sicher noch hell gewesen auf der Strecke, und vielleicht wäre ich auf der Fahrt ruhiger geworden, hätte nachdenken, mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen können, aber vielleicht wäre es auch ganz anders gewesen, allein im Auto, mit diesen Bildern, dem irren Jeremia, dem schreienden Vincent, Krankenwagen, Polizei, die totenblasse Maria, das wäre nicht lustig gewesen, stundenlang, und ohne jemanden, mit dem ich darüber reden konnte, ich blieb also, ging mit ins Hotel, meldete mich an, Name, Adresse, Mail,