Wir sind Kinder - Armin Kratzert - E-Book

Wir sind Kinder E-Book

Armin Kratzert

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Beschreibung

Wir sind Kinder … … und bleiben wir es, so laufen wir Gefahr, uns im Netz der virtuellen Wirklichkeit nicht nur zu verheddern, wenn wir die ersten Schritte hinaus in die Welt machen, sondern derart zu Fall zu kommen, dass es existenziell zu werden droht. Und dennoch ist der See so schön mit seinem Hotel weit abgelegen in der scheinbar unberührten Landschaft südlich der Stadt. Und dennoch schmecken die Cocktails so erfrischend, wenn sich die schlanken Beine einer attraktiven Frau vor dem Landschaftsbild der Idylle glänzend im Sonnenlicht rekeln und Verlockungen der Liebe vorgaukeln. Warum dann noch über etwas reden, was den faden Geschmack von Verfall wachruft? Warum dem Glanz des Geldes hinzufügen, dass er stets poliert werden muss, weil sich hinter den Kulissen Abgründe auftun? Und wie sich zurechtfinden in einer Virtualität, in der die Kunst der Orientierung auf einem Wissensvorsprung basiert, der bedrohend gefährlich werden kann? Wo sich doch nichts weiter ereignet, als dass sich neofaschistische Parteigänger im Verborgenen mit Wortführern der Apokalypse tummeln sowie Verschwörungstheoretiker und ernst gesinnte Netzterroristen neben vielen, ach so vielen anderen Einzelgängern? Und ganz nebenbei gefragt: Wie denn soll es gutgehen, wenn einer nicht mehr wissen kann, mit welcher Wirklichkeit er es zu tun hat? Nelson ist so einer, ein wenig ins Alter gekommen, hier und da schon mal was gemacht im Leben, mal ein paar Frauen begegnet und wieder verloren, und nun nimmt er Geld entgegen, um den Freund eines Freundes zu observieren, Johnny, der was vorzuhaben scheint, auf dem Spielfeld ohne Grenzen.

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Seitenzahl: 155

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Armin Kratzert

WIR SIND KINDER

Roman

WIR SIND KINDER

ARMIN KRATZERT

ROMAN

Erste Auflage© 2017 by Secession Verlag für Literatur, ZürichAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Christian RuzicskaKorrektorat: Dr. Peter Natterwww.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:Erik Spiekermann, BerlinHerstellung:Renate Stefan, Berlin

eISBN 978-3-906910-05-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

Als die Ampel auf Rot sprang, gab Johnny Gas und bog nach rechts ab.

»Rot«, sagte Nelson zu ihm.

Johnny kräuselte die Lippen zu einem Grinsen und strich sich mit der Hand durchs Haar. Er hatte langes, dunkles, sehr dichtes Haar, und er fuhr sich gern mit der Hand hindurch, um es auf die eine oder andere Seite der Stirn zu trimmen. Wo es natürlich nie liegenblieb.

»Es war Rot. Und hinter uns«, ergänzte Nelson, »fährt jetzt ein Streifenwagen.«

Kurzer Blick in den Rückspiegel. Keine weitere Reaktion. Johnnys Augen blieben ruhig. Er schaute geradeaus auf die Straße. Die linke Hand am Lenkrad, die rechte flach auf dem Oberschenkel. Schultern in die Rücklehne des Sitzes geschmiegt. Entspannt. Sprich nicht so mit mir, hieß das. Alles wird gut, hieß das. Alles ist klar. Vertrau mir. Die Sache läuft.

Dann endlich fing Johnny an zu beschleunigen. Der Motor drehte hoch. Heulte auf, röhrte, rasselte. Nelson hasste diese Geräusche. Sie versprachen sofortigen Ärger.

Viertel nach fünf. Allerdichtester Verkehr. Ein halsbrecherischer Slalom durch ein Chaos aus Blech und Gummi. Geschiebe, Gedränge, Staub, Hitze. Nelson klammerte sich an den Sitz und wartete darauf, dass die Polizeisirene losgellte.

»Gefällt mir gar nicht, was du da machst«, sagte er.

Johnny schmatzte. Ganz leise. Das tat Johnny oft, wenn er mit sich und der Welt zufrieden war. Wenn die Dinge so liefen, wie sie sollten. Die Botschaft dieses kleinen Geräuschs war: Merkst du nicht, dass alles in Ordnung ist? Kannst du mich gefälligst in Frieden lassen! Ich bin beschäftigt.

Er schmatzte noch einmal. Mit seinen schönen, vollen Lippen. Und drückte aufs Gaspedal.

Johnny raste hinunter zur Kreuzung am Fluss. Da waren Leute auf der Straße. Sie hatten Grün und marschierten in Ruhe über den Zebrastreifen. Unschuldig. Im hellen Licht des Tages. Schulkinder. Männer und Frauen, die vielleicht gerade von einem anderen Leben träumten. Von den Ferien in Italien. Oder an den Haufen Rechnungen auf ihrem Küchentisch dachten. Das Auto schoss auf sie zu. Johnny hupte nicht einmal. Ein Projektil, das den Lauf der Waffe verlassen hatte. Nicht mehr zurückzurufen. Eine ebenso unbegründete wie erbarmungslose Bemühung des Schicksals.

Nelson erstarrte, krallte sich in den Sitz, spürte seine Beine taub werden, presste die Augen zu und wartete auf den Aufprall.

Nichts.

Der Wagen flog über die Straße, glitt durch die Menschen hindurch. Die Zeit stand still. Kein Knall, keine Kollisionen. Kein Kinderwagen durch die Luft geschleudert, kein Krankenwagen gerammt. Als bewegten sie sich durch eine parallele Welt. Motorschnurren, Reifensirren. Weiter auf der Strecke.

Blut stieg in Nelsons Kopf, und pulsierte hinter der Stirn. Er bekam zu wenig Luft.

Johnny lenkte, als wäre da nichts gewesen. Schürzte die Lippen. Und hatte dieses Grinsen im Gesicht.

Es musste ein Spiel sein. So etwas gab es nicht in der Wirklichkeit. Durfte es nicht geben. Nicht in diesem Leben. Es gab Naturgesetze. Es gab Regeln für die Menschen.

Dies war nicht echt, sagte sich Nelson. Irgendein gottverdammtes Computerspiel. Eine Elektronenwolke, ein Programm, ein digitaler Albtraum. Wie war er da hineingeraten? Jemand hatte seine Konsole vergessen, den Bildschirm angelassen, den Joystick weggelegt.

Jemand hatte die Kontrolle übernommen.

»Es ist ganz leicht«, sagte Johnny.

Nelson sah ihn an. Von seinem weißen Hemd war ein Knopf abgesprungen. Der Stoff klaffte auf und ließ ein Stück Haut aufscheinen. Johnny hatte einen beträchtlichen Wanst. Dass er seine Jeans eng trug, betonte diesen Umstand. Es schien ihm nichts auszumachen. Er zog den Bauch nicht ein. Sein Körper war ihm selbstverständlich. Beanspruchte Platz und Aufmerksamkeit. War einfach da.

»Es ist leicht«, sagte er.

Nelson trank Bier und zitterte. Seine Beine waren wie gelähmt. Hass auf Johnny würgte hoch. Und Hass auf sich selbst. Warum hatte er nichts unternommen? Es war etwas geschehen, auch wenn gar nichts passiert war. Nie wieder würde er zu ihm ins Auto steigen. Johnny musste wahnsinnig geworden sein.

»Mach es einfach. Denk nicht darüber nach. Geh raus und mach es.«

Sie saßen im Garten eines Cafés am Stadtrand. Johnny hatte Bier geordert. Die Sonne knallte senkrecht auf den Tisch. Nelson wünschte, die Welt würde sofort untergehen.

»Kannst du singen?«, fragte Johnny dann.

Nelson schüttelte den Kopf.

»Jeder kann singen«, behauptete Johnny. »Jeder. Du brauchst keine Noten und kein Klavier. Es hat nur etwas mit dem Atmen zu tun.«

Er packte Nelson an der Schulter.

»Einatmen«, rief er. »Und ausatmen! Ein!«

Johnny sprang auf.

»Und jetzt schrei!«

Nelson sah ihn erschrocken an und presste die Lippen aufeinander.

Johnny trank sein Bier in tiefen Zügen.

»Noch eins?«, fragte er.

Sein Kinn glänzte feucht. Er wischte mit dem Ärmel darüber.

»Ich muss jetzt zu Canato«, stellte er dann fest.

Sie stiegen wieder in den Wagen.

Johnny fuhr einen Mercedes Benz. Rot, gebraucht gekauft, 120.000 Kilometer, Sechszylinder. Auf dem Boden lagen Sachen herum. Im Fond hingen zwei frisch gereinigte Hemden auf Drahtbügeln.

»Wer ist Canato?«, fragte Nelson.

»Paris«, sagte Johnny. »Dieser Friedhof. Père Lachaise. Wo die berühmten Franzosen liegen und junge Leute am Grab von Jim Morrison Drogen nehmen. Du warst bestimmt mal dort? Da stehen richtige Häuser. Mausoleen, Grüfte, mit Höhlen, Treppen, Kammern. Bei einer haben sie die Tür aufgekriegt, oder einen Felsen weggerollt. Drinnen gab es sogar Strom. Man konnte in dem Grab wohnen, sozusagen. Die Musik war laut und alle Hemmungen fielen. Am Morgen, als die Party vorbei war, krochen halbnackte, schwankende Gestalten aus dem Grab. Untote, Wiederauferstandene. Mitten unter den Spaziergängern.«

»Und Canato war dabei?«

»Nein. Aber er liebt solche Geschichten.«

Johnny fuhr auf der Autobahn nach Süden. Er summte eine kleine Melodie, die sich über das Brummen des Motors erhob und in feinen Girlanden durch das Wageninnere flocht.

Nelson streckte die Beine aus. Vielleicht wäre es besser auszusteigen, dachte er. Solange noch Zeit war.

Er hat wirklich einen schönen Mund, dachte Nelson dann. Johnny sah gut aus. Obwohl er sich nachlässig kleidete, selten rasierte und sein Haar mit der Nagelschere schnitt.

Er ist mein Freund, dachte Nelson. Ich muss auf ihn aufpassen.

Es war besser zu bleiben.

»Erzähl mir was«, sagte Johnny. »Wie war dein Wochenende? Hast du dir die Wohnung angesehen? Wer ist die Frau auf dem Foto?«

»Ich war schwimmen«, murmelte Nelson.

»Du warst schwimmen? Wo? Allein?«

»Im See, wo ich meistens schwimme. Der Steg unterm Bauernhaus.«

»Wo man keine Badehose braucht.«

»Genau«, sagte Nelson. »Aber es waren Leute dort.«

»Und du bist nicht ins Wasser?«

»Doch. Meine Uhr war hinterher weg.«

»Ich schwimme immer nackt«, sagte Johnny.

Er hatte nicht angekündigt, wohin er fahren wollte. Nelson kannte Johnny noch nicht so lange. Sein Auto gefiel ihm. Er wollte mitkommen.

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, hatte Johnny gesagt.

Nelson war erschrocken. Wer hatte ihm das erzählt?

»Bist du nicht der Freund von Enno?«

»Ich kenne Enno gut«, hatte Nelson gesagt. »Erst gestern waren wir zusammen.«

»Was trinkst du?«

Die Bar war fast leer gewesen um sechs Uhr. Durch die offene Tür hatte sich die Hitze der Stadt geschoben. Mopeds waren vorbeigeknattert und hatten weiße Fahnen von verbranntem Zweitaktgemisch hinterlassen. Nelson war müde gewesen. In seiner Wohnung gab es keinen Platz und zu viel Ruhe. Da waren die Kleider. Da waren Seife und Rasierzeug und Zahnbürste. Natürlich, die wichtigsten Dinge. Ein Messer. Nelson schlief dort. Wusch sich, zog sich an.

Er ging lieber in die Stadt. Schreibzeug hatte er dabei, und das Geld.

»Kannst du Enno anrufen?«, hatte Johnny gefragt.

Nelson wusste nichts über Johnny. Manche sagten, er hätte Geld. Eine Villa auf der Insel, ein riesiges Anwesen. Keiner hatte es gesehen. Das Vermögen an der Börse gemacht. Er hätte etwas erfunden, sagten andere. Rohstoffgewinnung für Halbleiter, einen Kondensator, Brennstoffzellen gänzlich neuen Wirkungsgrades, solche Sachen.

Danach sah er nicht aus.

Johnny war eitel. Nicht so wie diese Kerle, die zu viel Goldschmuck und Anzüge aus Italien trugen. Er legte immer die gleiche Uniform an. Enge Jeans, Baumwollhemd, braune Lederschuhe, deren Schnürsenkel herunterhingen. Einen schwarzen Pullover, wenn es kalt wurde. Das Geld in die Hosentasche gestopft. Keine Uhr, keine Brieftasche, kein Gepäck. Manchmal eine Plastiktüte mit Gerät oder Werkzeug. So trat er auf.

Nur war dies kein Ausdruck von Bescheidenheit. Es bedeutete allen: Ich habe es nicht nötig, mich zu putzen. Ich bin wichtig, ich bin schön. Auch in Lumpen.

Eine sehr ausgereifte Form der Selbstreflexion. Man konnte nicht umhin, ihn anzubeten.

2

Nichts gegen die Stadt, aus der man kam. Auch dort lebten Menschen, die zufrieden waren. Nelson wurde geboren, hatte sprechen gelernt, war zur Schule gegangen. Den Hund des Nachbarn verprügelt, dessen Tochter geküsst. Ein gutes Leben.

Mit sechzehn wollte man mehr. Die Welt sehen, andere Städte. Neue Gesichter und Geschichten. Seitdem war er hier.

Seine Eltern hatten ihm irgendwann geglaubt, dass er studieren wollte. Sie schickten jeden Monat Geld. Das reichte nicht. Er wollte ein Auto, eine Freundin. Seine Stiefel waren kaputt. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, fantasierte er von einem Haus am See, dem Sportwagen, den Reisen nach Rajasthan.

Nelson wollte Fotograf werden. Deshalb trank er Scotch mit wenig Eis und studierte teure Bücher.

»Die Kamera kann ich dir leihen«, hatte Enno am Telefon gesagt.

Nelson hatte sofort bei der Zeitung angerufen. Eine Reportage über illegales Glücksspiel. Mit spektakulären Fotos. Er hätte die Kontakte, erzählte er, hätte Zugang zu den dunklen Orten dieser Stadt. Das klinge gut, wurde befunden.

Er hatte einen Auftrag.

Beim ersten Versuch, in einer Spielhölle am Hauptbahnhof Bilder des einarmigen Banditen zu schießen, wurde er hinausgeworfen. Enno gab ihm die Nummer eines Freundes, der öfter zum Pokern ging. Der legte stumm auf, als Nelson ihn nach dieser Leidenschaft befragen wollte. Am nächsten Tag klingelte sein Telefon mittags und jemand zählte ruhig auf, welche Blessuren er Nelson zufügen würde, wenn er sich weiter um Dinge kümmerte, die ihn nichts angingen.

Also wurde Nelson kein Fotoreporter. Die Kamera hat er Enno nicht zurückgegeben.

Es war egal, was andere Leute von ihm dachten. Nelson trug rote Schuhe, bunte Hosen, eine Motorradjacke. Das hatte er sich auferlegt. Zuhause war Bescheidenheit eine Zier gewesen. Niemandem zu nahe treten. Höflich fragen. Nur nicht auffallen. Wie langweilig. Wie tot.

Er wollte anders werden. Er wollte spielen, nicht arbeiten. Den Kopf hoch tragen, Leuten ins Gesicht schauen. Andere warteten, bis sie gefragt wurden.

Nelson konnte reden.

Aber es fehlte immer an Geld. Dabei hatte er eine feste monatliche Summe. Miete, Essen, Wäsche, paar Mal Kino: Dafür sollte es genug sein. Nach zwei Wochen war alles weg. Nelson wusste nicht, wohin. Keine teuren Sachen gekauft, keine Reisen gemacht. Jeden Tag gelebt. Auf seinem Konto sah es nicht gut aus.

Nelson riss den Briefkasten auf und inspizierte den Inhalt.

Zwei Briefe mit handgeschriebener Adresse für Peter. Peter war sein Vermieter. Oder besser: Nelson lebte in Peters Wohnung. Als Untermieter. In einem kleinen Zimmer, das Peter nicht brauchte. Peter war viel unterwegs. Nelson sah nach der Wohnung. Goss manchmal die Pflanzen auf dem Balkon. Und schaute nach der Post.

Eine fotografische Fachzeitschrift, die er sofort wegwarf. Das Abonnement musste unverzüglich gekündigt werden.

Die Einladung zu einem Empfang der Stadt für Künstler und Schauspieler. Dort würde es lauwarmen Wein und vertrocknete Käseschnittchen geben, aber niemanden, der für interessante Geschäftsideen empfänglich war.

Zwei Briefe mit sehr klein gedruckten Absendern im Adressfenster. Das waren Rechnungen.

41 Euro für das Telefon. Weg damit. 633 Euro für die Bemühungen einer Anwaltskanzlei. Was war das? Nelson brauchte keinen Rechtsbeistand. Das Büro war ihm unbekannt. Er sah noch einmal auf das Papier.

Es handelte sich um eine Abmahnung im Zusammenhang mit seinen Aktivitäten im Netz. Name, Adresse, alles richtig. Streaming. Urheberrecht. Die IP-Adresse. Sie hatten ihn. Das sah nach Ärger aus. Woher sollte er 633 Euro nehmen?

»Steuerfahndung«, sagte Nelson.

Der Türöffner summte. Er stieg die Treppe hoch. Marmor, Stuck, roter Spannteppich. Und ein Empfangstresen, hinter dem die bestrumpften Beine einer strengen Dame in dunkelgrauem Flanell zu ahnen waren.

»Worum geht es bitte?«, fragte sie.

»Wir haben bei unseren Ermittlungen verschiedene Schreiben ihrer Kanzlei in den Steuerunterlagen verdächtiger Personen gefunden«, behauptete Nelson.

Sie führte ihn in das getäfelte Büro eines bärtigen Herren mit sehr feinen Schuhen. Der setzte eine sorgenvolle Miene auf.

»Es sind zumeist Rechnungen«, erläuterte Nelson, »die sich in der Sache ähneln. Vielleicht sind es Fälschungen. Wir vermuten Methode dahinter.«

»Wir werden sie selbstverständlich unterstützen, soweit es in unserer Macht steht«, murmelte der Anwalt.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Nelson. »Der Zahlungsfluss ist notwendigerweise vorerst unterbrochen.«

Der bärtige Herr nickte. Und senkte die Augen.

Draußen schien die Sonne.

3

Natürlich wäre er gern wie Johnny gewesen. Der hatte so ziemlich alles, was Nelson fehlte. Das Geld seiner Familie. Oder war es sein eigenes? Spielte keine Rolle. Die Ideen, Geschichten, die spontanen Aktionen. Die Stimme, der Charme. Frauen sahen ihm nach. Barkeeper hörten auf ihn. Und dieses vollkommen unbefangene, dreist selbstbewusste Leben im eigenen Körper. Nichts war ihm peinlich. Abgerissene Hemdknöpfe, kaputte Schuhe, Riss in der Badehose. Der Bauch. Die Frisur. Benehmen. Alles.

Was Nelson morgens von seinen Träumen erinnerte, waren Ängste, schreckliche Situationen, Fallen. Seine Nacktheit oft. Ohne Kleider, unter Leuten, in der Stadt. Pissen müssen, nicht aufhören können zu pissen. Alle schauen ihn an, und er weiß nicht warum. Wegrennen! Aber er steht da wie im Boden verankert. So etwas.

Und Johnny? Johnny kannte das nicht. Er war der glänzende Mittelpunkt der Welt. Seiner Welt. Jeder glaubte es. Alles drehte sich um ihn.

Kleiner Johnny. Das fünfte oder siebte von fünf oder sieben Kindern. Immer der jüngste. Durfte alles. War geliebt. Vater, Mutter, Hausmädchen. Sie waren zu seiner Versorgung da. Nachbarskinder, Schulkameraden, Fußballmannschaft. Zu seinem Vergnügen.

Wenn er sich in den Garten legte, schien natürlich die Sonne. Wenn er die Blumen gießen sollte, gab es einen Wolkenbruch. Wenn er keine Lust hatte, für eine Mathematikprüfung zu lernen, wurde die Lehrerin krank. Das hübscheste Mädchen der Klasse wies er ab. Ein Auto bekam er vom Großvater. Rolex geerbt und gleich verloren. Dann Studium in Chicago. Was auch immer.

Es wurden tolle Geschichten über Johnny erzählt.

Und Johnny grinste dazu. Streckte seinen Bauch raus. So sah es aus.

Nelson schaute ihm beim Telefonieren zu. Johnny hatte mit müdem Blick die Tasten gedrückt, er speicherte aus Prinzip keine Nummern. Dann den Apparat zwischen Schulter und Kinn geklemmt, dem Tuten gelauscht und dabei eine Zigarette angezündet. Oberschenkel über die Lehne des Sessels gehängt.

Etwas quakte aus dem Lautsprecher. Johnny nahm das Gerät wieder in die Hand und schaute angewidert auf das Display.

»Permaneder hier«, sagte er.

Aus dem Telefon hohe Töne, Knistern, Pfeifen. Johnny hielt es mit ausgestrecktem Arm von sich.

»Ich verstehe sie leider nicht gut«, sagte er. »Die Verbindung ist schlecht.«

Der Rauch seiner Zigarette stieg ihm in die Augen. Er nahm das Telefon wieder zwischen Kinn und Schulter. Paffte nachlässig. Dann warf er die Zigarette auf den Boden und sah ihr kurz zu, wie sie dort weiterglühte.

»Hören Sie mich?«

Lautes Quaken. An der Vorderseite des Telefons blinkte ein winziges rotes Licht.

»Können Sie vor Freitag zwei Fässer liefern?«

Johnny lächelte, klimperte mit den Augenlidern.

»An die bekannte Adresse«, sagte er.

Es war egal, ob er Publikum hatte. Er spielte. Johnny hatte erst nach Gesprächsende bemerkt, dass Nelson ihn beobachtete. Er grinste ihn sofort an. Und blies sich einzelne Haare aus der Stirn.

Das ganze Hin und Her, das Telefoneinklemmen, Weghalten, Stirnrunzeln, das Zigarettenspektakel, das unverbindlichste Gesicht, der Augenaufschlag, der zuerst so unbeteiligte, desinteressierte, dann umso reizendere Ton: Er konnte nicht anders. Er würde es auch im Finstern, vor Taubstummen so halten. Das war Johnny sich schuldig.

Nelson sah ihn an und verdrehte die Augen. Johnny wackelte mit dem Kopf. Er lachte.

»Lass uns was trinken gehen«, sagte er. »Wir müssen unter Leute.«

Die Straße hinunter gab es einen Bäcker mit ein paar Tischen vor dem großzügigen Fenster. Als sie sich niederließen, wurden sie schnell davon in Kenntnis gesetzt, dass diese Tische zum angrenzenden Restaurant gehörten, und es keineswegs geduldet wurde, dass man Getränke von der Theke des Nachbarn konsumierte. Empört stießen sie ihre Stühle zurück und kauften beim Bäcker Bier und eine Handvoll Salzkekse.

Gegenüber brannte die Sonne auf die Treppenstufen einer Kirche. Dort war gut sitzen. Nelson und Johnny lehnten sich an den warmen Stein, streckten die Beine von sich und tranken. Die Kekse schmeckten nach Nüssen. Vor ihnen baute sich ein Trupp älterer Damen auf, die wohl die Architektur des Bauwerks in ihrem Rücken studieren wollten. Missbilligende Blicke trafen sie. Johnny lächelte breit und schürzte die Lippen.

»So viel Interesse an der Kultur«, sagte er. »Wir sollten uns ein Beispiel nehmen.«

»Neoromanik«, stellte Nelson fest. »Um die Jahrhundertwende. Oder ein bisschen früher.«

»So ist es.« Johnny breitete die Arme aus. »Eine schöne Kirche. Berühmte Taufkapelle mit Fresko von Waberer. Sonntags höre ich die Orgel spielen.«

Sie tranken das Bier.

4

Ennos Mutter konnte kochen. Oder ihre Köche konnten es. Es gab jedenfalls Gemüsesuppe, die mit etwas zerbröckeltem Schafskäse angereichert war, und dann Stubenküken mit Zitronensauce und frittierten Kartoffeln. Schließlich Panna Cotta mit Mohn und eingelegten Mirabellen. Vorher hatten sie schon Aperitifs getrunken. Enno zwei Gläser Weißwein mit Eis, Nelson Campari.

Ennos Familie besaß ein Hotel am Strand. Ein ziemlich großes, teures und berühmtes Hotel. Sie trafen sich gern dort, um abends auf der Terrasse Erfrischungen einzunehmen und den Gästen nachzuschauen, die vom Schwimmen zurückkamen.

»Wie war es heute draußen?«, fragte Nelson.

»Das Segel ist gerissen«, sagte Enno.

»Hast du jemanden, der es nähen kann?«

»Das wird schon. Ich habe im Moment sowieso keine Zeit fürs Boot.«

Nelson wusste, dass Enno nicht häufiger als drei oder vier Mal im Jahr auf dem Wasser war. Aber immer, wenn sie am Ufer saßen, schaukelte da draußen an der Boje dieser hübsche 20er Jollenkreuzer unter seiner blauen Persenning. Jederzeit konnte man in den See springen, zum Boot schwimmen und lossegeln. Diese Gewissheit genügte. Ein gutes Gefühl.

Hannah gesellte sich zu ihnen. Hannah war Ennos Schwester. Sie lachte gern. Manchmal durfte Nelson seine Finger unter ihren Rock schieben und ein bisschen mit ihr spielen.

»Verschwinde«, sagte Enno.

Hannah nahm Nelsons Hand.

»Es war gerade so nett bei euch«, sagte sie grinsend und verabschiedete sich mit einem Knicks.

»Hast du schon Pläne für die nächsten Wochen?«, fragte Enno.

»Ich muss unbedingt Geld verdienen. Die Wohnung ein bisschen umräumen. Also mein Zimmer. Außerdem ist, glaube ich, mein Pass abgelaufen.«

»Lauter seriöse Herausforderungen.«

»So ist es«, bekräftigte Nelson.

»Also hast du Zeit.«