Diese verdammte Hand - Octave Mirbeau - E-Book

Diese verdammte Hand E-Book

Octave Mirbeau

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Beschreibung

Ein Haus auf einer Bergspitze, völlige Einsamkeit, der Blick in den Himmel unverstellt, Stille. Ein Paradies für einen Künstler, ein Rückzugsort. Doch als der anonyme Erzähler seinen Freund Georges dort besucht, findet er ihn völlig verändert und lebensmüde vor. Zur Erklärung gibt Georges dem Erzähler sein Tagebuch. Als kränklicher Sonderling wächst Georges auf dem Land auf und erkennt erst in der Bekanntschaft zum selbstbewußten und charismatischen Maler Lucien, daß auch er ein Künstler ist. Gemeinsam leben sie in Paris, doch das der Kunst gewidmete Leben offenbart bald seine Tücken: Ein Wechselspiel zwischen manischer Arbeitswut und lähmender Depression setzt bei Lucien ein. Die Flucht aufs Land – auf eben jene einsame Bergspitze – entpuppt sich als dramatische Fehlentscheidung. Während Georges in Paris gerade erst langsam seine eigene Identität entdeckt, wird Lucien zunehmend unzurechnungsfähig und quält sich mit seiner Einsamkeit und Zweifeln an seinem Werk. Zurück in Paris stürzt sich Lucien in eine letzte fieberhafte, geradezu wahnsinnige Arbeitsphase, die in einer Katastrophe endet. Der Maler Lucien ist leicht als Vincent van Gogh zu identifizieren, den Mirbeau gut gekannt hat: Octave Mirbeau war derjenige, der als einziger ein Werk van Goghs zu dessen Lebzeiten gekauft hat. »Octave Mirbeau ist der größte französische Schriftsteller unserer Zeit und derjenige, der in Frankreich den Geist des Jahrhunderts am besten reprä¬sentiert.« Leo Tolstoi

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Über das Buch

Ein Haus auf einer Bergspitze, völlige Einsamkeit, der Blick in den Himmel unverstellt, Stille. Ein Paradies für einen Künstler, ein Rückzugsort. Doch als der anonyme Erzähler seinen Freund Georges dort besucht, findet er ihn völlig verändert und lebensmüde vor.

Zur Erklärung gibt Georges dem Erzähler sein Tagebuch.

Als kränklicher Sonderling wächst Georges auf dem Land auf und erkennt erst in der Bekanntschaft zum selbstbewußten und charismatischen Maler Lucien, daß auch er ein Künstler ist. Gemeinsam leben sie in Paris, doch das der Kunst gewidmete Leben offenbart bald seine Tücken: Ein Wechselspiel zwischen manischer Arbeitswut und lähmender Depression setzt bei Lucien ein. Die Flucht aufs Land – auf eben jene einsame Bergspitze – entpuppt sich als dramatische Fehlentscheidung. Während Georges in Paris gerade erst langsam seine eigene Identität entdeckt, wird Lucien zunehmend unzurechnungsfähig und quält sich mit seiner Einsamkeit und Zweifeln an seinem Werk.

Zurück in Paris stürzt sich Lucien in eine letzte fieberhafte, geradezu wahnsinnige Arbeitsphase, die in einer Katastrophe endet.

Der Maler Lucien ist leicht als Vincent van Gogh zu identifizieren, den Mirbeau gut gekannt hat: Octave Mirbeau war derjenige, der als einziger ein Werk van Goghs zu dessen Lebzeiten gekauft hat.

Über den Autor

Octave Mirbeau (1848–1917) war Journalist, Kunstkritiker, Dramatiker und Romanautor. »Diese verdammte Hand« (im französischen Original: »Dans le ciel«) wurde zwischen 1892 und 1893 in der Zeitung »L’Echo de Paris« als Fortsetzungsroman veröffentlicht.

Octave Mirbeau

Diese verdammte Hand

Roman

Aus dem Französischen von Eva Scharenberg Mit einem Nachwort von Pierre Michel

CulturBooks Verlag

I

Lange schon hatte ich meinem Freund X versprochen, ihn in seiner Einsamkeit zu besuchen. Indes, jahrein, jahraus hinderten mich die Geschäfte daran, verlockendere Vergnügungen – welch feiger Gleichmut, welche feigen und verlegenen Bedenken auch immer –, mein Versprechen zu erfüllen, zu dem ich mich übrigens nur deshalb halbherzig hatte hinreißen lassen, um einen Freund, der mir einst lieb und teuer gewesen war, nicht durch eine unverblümte Zurückweisung zu kränken. Unglückseliger X! Ach! Ich erinnere mich an frühere Zeiten ... gemeinsame Zeiten ... nüchtern und doch voller Gefühl, ist das nicht eine seltsame und antiliterarische Sache? Unglückseliger X! Welch wackeres und aufrichtiges Naturell! Welche Hingabe! Welch treu ergebene Seele! Gemeinsam hatten wir in Paris unsere ersten Freuden erlebt, unsere ersten Hoffnungen, hatten unseren tiefsten Kummer miteinander geteilt, um ihn in eine gemeinsame Bereicherung zu verkehren. Unsere Freundschaft war anrührend gewesen! Wie weit all das für mich doch zurückliegt! X war es gelungen, sich durch die Schriftstellerei einen Namen zu machen. Er war außergewöhnlich begabt. Doch wahrlich zu empfindsam. Das Leben hatte ihm zugesetzt ... In der Schlacht, die jeden dahinrafft, bleibt keine Zeit, einem lieben Freund zu helfen. Und zudem, wozu? X hatte keinen Ausweg aus seiner verzwickten Lage gefunden. Seine Arglosigkeit hatte mich entmutigt. Je weiter wir nach und nach emporwuchsen, um so mehr beharrte er darauf, bodenständig zu bleiben. Eines Tages erbte er von einem alten Verwandten ein kleines Anwesen in einem fernen Departement.

»Ich glaube«, sagte er zu mir, »ich sollte hinfahren. Ich glaube, die Einsamkeit, die Besinnung ... Nicht wahr? Was hältst du davon? Weite Horizonte ... der weite Himmel!«

»Gut so! Gut so!« antwortete ich. »Ich an deiner Stelle würde hinfahren.«

»Also gut! Ich werde hinfahren.«

»Gut so! Gut so! Auf Wiedersehen.«

Er reiste ab. Das war vor fünfzehn Jahren!

Man vergißt seine Freunde in der Ferne leicht, oder diejenigen, die unglücklich sind ... Trotz seiner flehenden Briefe und meiner Versprechen habe ich diese Reise wieder und wieder aufgeschoben. Auch fürchtete ich, offen gestanden, die ungemütlichen Räume, die tristen Mahlzeiten, das stinkende Dienstmädchen und besonders – oh, ganz besonders – die ausgedehnten Gespräche mit einem Geschöpf, welches meiner Lebensweise so vollkommen entwöhnt war und dessen Gesicht und Kleidung ich mir schmutzig vorstellte, besudelt durch den ländlichen Geist, mit langem Bart, verwahrlostem Haar und noch verwahrlosteren Ansichten und moralischen Gewohnheiten.

Ich wäre gern großzügig, unter der Bedingung jedoch, daß es mich nichts kostet und daß meine Großzügigkeit mir in doppeltem Maße egoistische Befriedigung und eitle Freude beschert. Nun, welche Befriedigung, frage ich Sie? Und wie sollte ich mich vor meinen reizenden Freunden damit rühmen, meine Ferien bei diesem armen Teufel verbracht zu haben?

Der letzte Brief war so drängend, zeugte in seiner krankhaften Zärtlichkeit von so heftigem, so schmerzerfülltem Verlangen nach meinem Besuch, daß ich mir sagte: »Es wird mich schon nicht umbringen. Zwei Tage gehen schnell vorüber«, und mich dazu entschloß, die unerfreuliche Reise anzutreten. Dennoch war ich angesichts der Schwierigkeiten, die daraus entstehen konnten, nicht unbesorgt. Ach! Wie anspruchsvoll Freundschaft doch ist!

* * *

X lebt in einer ehemaligen Abtei, die hoch oben auf einer Bergspitze gelegen ist. Doch weshalb bricht in diesem Land der beschaulichen Ebenen, wo sich der Boden an keiner anderen Stelle ausbeult, diese Bergspitze aus der Erde hervor wie ein riesiger und widersinniger einsamer Kegel? Das bizarre Schicksal meines Freundes mußte ihn durch unerklärliche Ironie in diese sonderbare Landschaft geführt haben, wie schwerlich eine zweite irgendwo zu finden ist. Schon diese Tatsache schien mir ziemlich bitter. Von der Abtei war nur eine Art Haus übriggeblieben, oder eher eine Orangerie, niedrig und lang und unter Louis XIV. an das Haupthaus angebaut, dessen baufällige Mauern allein durch eine dicke Schicht Efeu vor dem Verfall bewahrt wurden. Trotz seiner Verwilderung und des Zustands der Verlassenheit, in den es seinen Besitzer versetzt, ist das Haus mit seinen hohen Fenstern, seiner großen Freitreppe und seinem Mansardendach, das von seltsam grünem Moos geschmückt ist, bezaubernd. Ringsum freie Rasenflächen, wo sich Lindenalleen kreuzen, Beete voll blühender Wildblumen, Zisternen, die sich im Gestrüpp auftun wie tiefe grünliche Augen, Terrassen im Schatten von Laubengängen und großen Bäumen, hohe Baumgruppen, die Kolonnaden gegen den Himmel formen, spitzbogige Wege, prachtvolle Schneisen hinein in die Unendlichkeit. Und man scheint sich in diesem Himmel zu verlieren, in diesen Himmel hineingetragen zu werden, diesen unermeßlich weiten Himmel, bewegt wie ein Meer, diesen phantastischen Himmel, in dem unablässig ungeheuerliche Formen, wirre Tierreiche, unbeschreibliche Pflanzenwelten und Gebilde aus Alpträumen erwachsen, umherschweifen und wieder verblassen ... Um sich diesem großen Himmelstraum zu entreißen, der einen mit stiller Ewigkeit umgibt, um die lebendige und sterbliche Erde wahrzunehmen, muß man an den Rand der Terrassen treten, muß man sich weit über deren Rand beugen. Am Fuße des Gipfels fließt ein durch einen Damm aufgestauter Fluß, der das rauschende Wasser zu Gischt zerfranst. Hier warten zwei Schleusen mit ihren steinernen Becken; zwei Lastkähne sind am Ufer vertäut. Entlang des Treidelpfads verteilen sich einige Häuser, einige Bootshäuser, von denen man nicht viel mehr als die flachen rötlichen Dächer sieht. Und jenseits des Flusses erstrecken sich Ebenen, so weit das Auge reicht, sanft wogende Ebenen, in die sich Dörfer einschmiegen, unschuldig und klein, kaum sichtbar, unförmige Kirchen, kindlich, Kirchen und Dörfer, verloren wie Lerchennester. Am Horizont zeichnen sich Wälder als dünne Striche ab. Doch der Blick steigt nicht die himmlischen Terrassen hinab, nein, er überwindet den schwindelnden Abgrund einfach und erreicht die irdische Landschaft.

* * *

Ach! Welche Freude war es für meinen Freund, als ich keuchend, da ich die Bergspitze, die hoch emporragende Bergspitze bei Sonnenschein erklommen hatte, bei seinem merkwürdigen Anwesen ankam! Und wie er sich verändert hatte! Ein Greis, ein kleiner Greis, mager und krumm, mit ruhelosem Blick, unstet und gequält, wie der Himmel, der sich in seinen Augen spiegelte. Er sah mich lange an, drückte meine Hände, weinte, konnte nur stammeln:

»Ach! Du! ... Du! ... Ich bin froh, ich bin sehr froh ...«

Wir setzten uns auf eine Steinbank, und um die Gefühls­ausbrüche meines Freundes, die mich unangenehm zu berühren begannen, im Keim zu ersticken, rief ich:

»Das ist ja ein herrliches Fleckchen hier!«

X nahm meinen Arm und flüsterte nervös:

»Sag das nicht ... nicht hinsehen!«

»Nicht hinsehen?« fragte ich verwundert.

»Der Himmel! Oh, der Himmel! ... Du weißt ja nicht, wie er mich erdrückt, wie er mich zugrunde richtet! Er darf dich nicht auch zugrunde richten.«

Er stand auf.

»Laß uns zur Schleuse hinuntergehen. Wir wollen in einem Gasthaus essen. Ich wünschte, du wärst nicht hierhergekommen ... Ich habe hier niemanden ... Ich habe hier nichts ... Laß uns zum Gasthaus hinuntergehen. Dort sind Menschen, die sprechen, Menschen, die lebendig sind! Hier spricht niemand, ist niemand lebendig. Niemand kommt jemals hierher ... und schuld ist dieser Himmel.«

Und da ich, beunruhigt ob der Worte meines Freundes und seiner geisterhaften Aura, die er während seines abgehackten Sprechens ausgestrahlt hatte, instinktiv zögerte, sagte er:

»Nein ... du kannst es noch nicht verstehen ...«

Dann deutete er mit einer Geste des Entsetzens auf den Himmel und verkündete feierlich:

»Schau, man muß den Himmel ernst nehmen! Laß uns zum Gasthaus hinuntergehen!«

II

Trotz der kühlen Eigenartigkeit dieses Empfangs, trotz des Zustands der Ermüdung, in dem ich mich nach dieser langen Reise und dem beschwerlichen Aufstieg auf den Berg in der prallen Sonne befand, wagte ich nicht mehr, darauf zu beharren, in diesem reizenden Refugium zu bleiben. Die Augen meines Freundes verrieten eine solch bleierne Qual, solch schmerzhaftes Entsetzen!

»Also gut! Meinetwegen«, sagte ich. »Laß uns zum Gasthaus gehen, wenn du es möchtest.«

»Ja ... ja! So ist es«, rief X. »Ja! Wenn du wüßtest, wie wohl man sich im Gasthaus fühlt ... Es ist ganz schwarz!«

Ich erhob mich und nahm meinen Koffer wieder auf.

»Also gut. Laß uns gehen.«

Im stillen murrte ich und bereute, einem Gefühl aberwitziger Großzügigkeit nachgegeben zu haben, mich so leicht von diesem Gespenst des Mitleids hintergehen zu lassen, diesem beharrlichen Gespenst, welches zur Stunde der Einsamkeit die Tore des Herzens auf bricht, die am wenigsten vor der Liebe gefeit sind. Was konnte mir alles zustoßen mit diesem Wahnsinnigen an meiner Seite? Das Wort »Gasthaus« erweckte in mir Bilder des Verbrechens. Nein, ich war ganz und gar nicht beruhigt. Es schien mir, als liefe ich geradewegs in einen Hinterhalt. Im übrigen wußte ich nichts daüber, wie X die letzten fünfzehn Jahre verbracht hatte. Aus seinen Briefen? Doch wieviel davon war geheuchelt, wieviel gelogen? Ich musterte X, war versucht, ihm gründlich auf den Zahn zu fühlen, eine Erklärung zu suchen, weshalb er sich so eigenartig gebärdete. Beinahe erregte er mein Mitleid. Unter dem Blick des Himmels zitterte er wie ein Hase, der von einem Hund beschnüffelt wird, dessen Neugier er gereizt hat.

»Brechen wir also auf?« fragte ich leicht ungeduldig.

Wir stiegen den Berg wieder hinab.

Die Hänge waren kahl, rutschig, die Steine gerieten unter unseren Füßen ins Rollen. Ein schmaler Ziegenpfad führte um die Bergspitze herum, beschrieb im kurzen und öden Grün enge Serpentinen. Kümmerliches Knabenkraut, zarter gezackter Mohn, magere Kugel­disteln, eine geradezu mickrige und kränkliche Flora gedieh hier und da unter den zähen Kräutern, und schleichende und ausgedörrte Ranken von Brombeerpflanzen wanden sich auf der Erde wie tote Blindschleichen. Je näher wir der Ebene kamen, je weiter die Erde sich in den Himmel aufzubäumen und in ihn überzugehen schien, je mehr die flacher werdende Wölbung des Himmels über unseren Köpfen zurückwich, desto mehr beruhigte sich X, entspannte er sich, seine Physiognomie wurde gewissermaßen wieder menschlicher. Sogar ein Lächeln belebte das scheue ­Durcheinander seines Bartes. Er sagte mit weicher Stimme:

»Oh! Wie nett, daß du gekommen bist. Bedenke doch, es ist ja so lange her, daß ich jemanden gesehen habe. Und es kommt mir so vor, als hätte ich dir unzählige Dinge zu erzählen ... Dinge, die sich während der letzten fünfzehn Jahre angesammelt haben ... Das macht mich ganz krank ... ich gehe daran zugrunde.«

»Konntest du sie mir dort oben nicht sagen?« fragte ich.

»Dort oben! Nein! ... Nein! Ich kann nicht ... Dort oben ersticke ich, bin ich wie gelähmt, auf dem Kopf spüre ich die Bürde eines ganzen Berges lasten ... Es ist der Himmel, so schwer, so bleischwer! Und dann diese Wolken ... Du hast sie also noch nicht gesehen, diese Wolken? Sie sind leichenblaß, fratzenhaft verzerrt wie das Fieber ... wie der Tod!«

»Du bist krank«, sagte ich.

»Aber nein, ich bin nicht krank. Warum sollte ich krank sein? Die Luft ist rein dort oben. Sie ist durch die Wälder gezogen, durch das Flachland, durch die Filter der Bäume, die Filter der Blumen ... Ich bin ganz allein ... und ganz allein, so unansehnlich ich auch sein mag, kann ich all diese Luft nicht vergiften ... Ich bin nicht krank.«

»So ist es also der Überdruß? Warum bleibst du dann?«

»Wo, meinst du, sollte ich hingehen? Ich habe kein Geld ... Ich habe gerade genug zum Leben. Und im übrigen bin ich dessen nicht überdrüssig, das ist es nicht ... Es ist etwas anderes, siehst du ... ich glaube, ich wäre sehr glücklich, wenn da nicht dieser Himmel wäre. Der Himmel versetzt alle Welt in Schrecken ... Sobald jemand nach dort oben kommt, ergreift ihn der Schwindel ... Ringsherum nichts außer dem Himmel, nichts außer der Leere ... Nie die Erde, nie etwas Festes oder Vertrautes, auf das man seinen Blick richten könnte! Also möchten sie fort ... Ich hatte ein junges Hausmädchen, sie war hübsch ... gelegentlich, du verstehst, hat der Mensch das Bedürfnis ...«

Und da ich lächelte, fügte mein Freund hinzu:

»Nein, nein, du irrst dich ... Ach! Gott, nein! ... Ich spreche davon, das Schöne um einen herum anzusehen, das lebendige Schöne ... das irdische Schöne! Die Augen, der Mund, die Rundung der Taille, die Hände, die sich bewegen, die welligen Haare in der Sonne ... das Rascheln eines Kleides hören, fröhliches Lachen, Worte so sanft wie Gesang! Nun gut, sie ist fort, verscheucht worden von diesem Himmel, verscheucht worden von diesen Wolken ... Und seither wollte keine neue kommen ... Ich hatte auch einen Hund ... Eine ganze Nacht lang hat er gebellt. Am nächsten Morgen, als ich hinunterkam, um nach ihm zu sehen, mit ihm zu sprechen, entdeckte ich, daß er seine Kette zerrissen und daß auch er das Weite gesucht hatte ... Ist es zu glauben, daß es dort oben nicht einen Vogel gibt? Da sind bloß Maulwürfe ... Aber das ist ganz sinnfällig, wahrhaftig! Du verstehst sicher, daß ...«

Der Irrsinn seiner Worte war mir unerträglich. Ich wollte ihn von diesem absurden Thema ablenken.

»Sicherlich arbeitest du?« unterbrach ich ihn. »Du hast damals Talent gehabt!«

»Ich habe ... das heißt ... früher habe ich gearbeitet ... Ich habe meine Eindrücke niedergeschrieben, all meine Gedanken ... Aber was erwartest du? ... Ich habe kein Buch, ich habe niemanden ... ich weiß nichts über die Gegenwart außer dem, was mir die Schiffer erzählen und dem, was ich in den Ausgaben des Petit Journal lese, die auf den Tischen des Gasthauses liegen geblieben sind ...«

»Nun, gerade deshalb ist es gut ... Immerhin ist das, was du geschrieben hast, dein ...«

»Ich fürchte, es ist womöglich etwas bizarr. Wenn du willst, werde ich dir die Seiten geben ... Du solltest sie mitnehmen und lesen ...«

»Und weshalb schreibst du nicht weiter?«

»Ich habe keine Zeit ... keine Zeit mehr. Ich gehe statt dessen morgens zur Schleuse hinunter. Und ich verbringe den Tag damit, an den Quais entlangzuschlendern oder mit den Matrosen zu trinken. Obendrein habe ich etwas Herrliches für mich entdeckt. Wenn ein Fremder bei der Schleuse ankommt, spreche ich ihn an: ›Der Herr kommt zweifellos, um die Abtei zu besichtigen ... Sie ist die einzige Sehenswürdigkeit der Gegend, eine wunderbare Architektur.‹ Und ich lasse ihm keine andere Wahl, als mit mir auf die Bergspitze zu steigen. Doch es kommen sehr wenige Fremde ...«

»Dann bist du auch noch ein Schelm?« fragte ich lachend.

»Aber nein! Ich scherze nicht ... Ich tue das, um Gesellschaft zu haben, ich tue das, um mit jemandem zu plaudern, um etwas zu erfahren ... Allerdings bin ich bis jetzt nur Dummköpfen begegnet, und jeder gab mir dieselbe Antwort: ›Ein überwältigender Ausblick. Aber wie schade, daß es so neblig ist. Man sieht die Dinge nicht recht klar! ‹«

Wir waren am Quai angelangt, der wie ausgestorben war. Auf einem der Lastkähne hängte eine Frau Wäsche auf, ein Mann pumpte, wobei er das Gesicht zu drolligen Grimassen verzog, und man hörte das Wasser gegen den Staudamm brausen.

Wir betraten das einzige Gasthaus. Laute Stimmen, Rauch, der beißende Geruch von Alkohol und sauren Getränken, nach ranziger Butter, nach scharf Frittiertem.

»Komm hier herüber«, sagte X und zupfte mich am Ärmel meines Mantels. Ich fand mich in einem düsteren Zimmer wieder, wo Schiffer beisammensaßen, tranken und rauchten, vor ihnen auf den Tischen Gläser voll Branntwein. Gesichter schwarz von Kohle, speckige Pickel, grobe knotige Hände, die auf die Tische schlugen. Und der Lärm der Faustschläge, das Gläserklirren, wenn sie sich zuprosteten, und die schwerfälligen Stimmen, deren »Verdammt noch mal!« stets anschwoll, erfüllte den Raum.

»Hier läßt es sich aushalten! Nicht wahr?« fragte X, dessen Gesicht vor wiedergefundener Freude strahlte.

Er schien den Gestank dieser Absteige mit wahrer Wollust einzusaugen. Man servierte uns auf einem Klapptisch unsägliche Eintopfgerichte, von denen ich kein einziges anrühren mochte.

»Hier läßt es sich aushalten, nicht wahr?« wiederholte mein Freund, der gierig aß und trank.

Ich mußte ihn an diesem Abend trunken zur Abtei zurückbringen. Sein magerer, kraftloser Körper hing schlaff an meinem Arm.

III

Ich verbrachte eine grauenhafte Nacht und tat kein Auge zu. Gewaltige gewitterschwere Wolken, die der blasse Mond mit einem Rand säumte, wälzten sich über den Himmel. Sie verursachten eine drückende Hitze, die mir die Lunge verstopfte und mich gequält und keuchend atmen ließ. Der Kopf war schwer, ebenso der Magen, und die Beine zitterten. War es das Fieber? War es der Hunger? Ich hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Die Ohren dröhnten mir vor eigenartigen Geräuschen; ich hörte weit entfernte Glockenschläge und das Summen von Wespen. Und Fanfaren zogen mich mit unbekannten Melodien in ihren Bann. Ich wollte mich nicht ausziehen und streckte mich ganz angekleidet auf dem Bett aus, einem ekelerregenden Bett, dessen Decke und Laken einen schimmligen Geruch ausdünsteten, einen Leichengeruch. Oh, dieses Zimmer! Die schmutzigen nackten Wände mit den gelblichen Salpeterausblühungen und versteckten Nestern schwarzer Insekten und Larven! Zahllose Spinnweben hingen in den Ecken, bauschten sich an den Balken. Hatte ich nicht mit einemmal Eulen und Fledermäuse lautlos über meinen Kopf hinweggleiten sehen? Tatsächlich spürte ich, wie das dumpfe Grauen von Spukhäusern an mir nagte, der namenlose Schrecken meuchlerischer Quartiere. Und der Wind frischte auf, ein zorniger Wind, der bald in der Nacht anhob wie ein Rudel Wölfe auf der Jagd zu heulen. Die Szenerie war vollkommen. Das Haus ächzte, vom First bis zum Sockel geschüttelt, so arg, daß die Mauern um mich herum zu schwanken schienen wie Uhrpendel; zu schlagen und zu wallen wie fließende Draperien. Ich fürchtete mich. Es schien, als drängen durch die Fensterdichtungen, die Risse in den Türen unheilvolle Schreie in diese schummrige Kammer ein; das Johlen von Menschenmengen, das Knurren von Raubtieren, das Lachen von Dämonen, das Röcheln verendender Tiere. Das flackernde Kerzenlicht erweckte an der Zimmerdecke und auf den Wänden fratzenhafte Schatten zum Leben.

Ich stand vom Bett auf und wanderte durch das Zimmer.

»Ich hätte das alles voraussehen müssen«, dachte ich, während ich mir, um das Grauen zu verscheuchen, das sich meiner zu bemächtigen begann, den Kontrast zu meiner Wohnung in Paris ins Gedächtnis rief: so traulich, so still, so voller tröstender und hübscher Dinge ... Ach, welche Torheit die Rührung doch ist! Und welcher Schwindel! Was kümmerte X mich? Er war vollkommen aus meinem Leben getilgt gewesen! Warum nur hatte ich das Bedürfnis gehabt, diesen ungehobelten Barbaren wiederzusehen? Ich erinnerte mich an seine Briefe. »Ich habe Dir so viele Dinge zu erzählen«, hatte er mir geschrieben, »so viele Dinge, die mich ersticken!« Und nun erzählte er mir nichts als Unfug und betrank sich. Das war alles! Man kann noch so lebenstüchtig sein, man geht doch stets wieder dieser Unvernunft ins Netz: dem Gefühl! Und hoffentlich versucht er nicht, sich Geld von mir zu borgen! Er ist womöglich ganz einfach ein abscheulicher Habenichts! ... Geld! ... Ach, nicht doch! ... Und vorhin, als wir den Hügel wieder hinaufgestiegen sind, warum habe ich ihn auf dem Gipfel nicht abrutschen lassen?

Dieses Bild des armen Teufels, der den steilen Hang hinunterstürzt, dem es den Schädel zerschlägt und die Glieder unten auf den Felsen entzweireißt, erregte in mir keinen Widerwillen.

»Das wäre besser für ihn«, dachte ich, als wäre es ganz natürlich. Da ist zweifellos niemand, der etwas für ihn übrig hat. Nicht die Schiffer der Erde und auch nicht die Maulwürfe des Himmels hätten sich beschwert ... Wenn man sich einmal diesem Zustand der Umnachtung und der Verwahrlosung hingegeben hat, ist es besser zu sterben. Was soll aus ihm werden? Man wird ihn eines schönen Morgens finden, von den Spinnen und den Ratten zerfressen! Nein, wahrhaftig, ich hätte ihm damit einen guten Dienst erwiesen.

Eine Zeitlang fand ich Gefallen an diesem Gedanken, der meinen Zorn, meine Enttäuschung abklingen ließ. Und ich verallgemeinerte:

»Es ist erstaunlich, daß nicht mehr überflüssige und mißliebige Menschen auf diese Weise verschwinden! Das Leben bietet uns immerfort so viele Gelegenheiten!«

Dann verlor sich meine Träumerei, durchkreuzte Tausende wirre Formen, Tausende abreißende Erinnerungen, Tausende verschwommene Landschaften, verblaßt wie Tapeten ... Ich sah wieder das gutmütige Gesicht meines Freundes, sein gutmütiges Gesicht, das stets zu einem Lächeln bereit war; seinen ergebenen Hundeblick, seinen Rücken, ach, seinen Rücken unter der Last seines Schicksals in jungen Jahren, offenkundig durch ein unabwendbares Unglück frühzeitig krumm geworden, seine unbeholfenen, leidgeprüften Gesten – und von neuem ergriff mich Mitleid mit diesem armen Wesen, das von Jugend an von den tragischen Vorboten eines peinvollen Schicksals gebrandmarkt war.

»Letzten Endes«, sagte ich mir, »ist er ein armer Teufel!«

Ich erinnerte mich selbst an die Zeit, als X verliebt gewesen war – das einzige Mal, soweit ich weiß. Eine junge Tabakhändlerin, dunkelhaarig und blaß und sehr ungepflegt, die er wie ein Wahnsinniger geliebt hatte, so, wie er alles liebte, das er liebte ... Ich habe ihm seine Gespielin genommen. Nicht, daß ich sie geliebt oder sie mir gefallen hätte, sondern nur um des so besonderen und so starken Vergnügens willen, in Kauf zu nehmen, einem ergebenen Freund, von dem man weiß, daß er sich nicht beklagen wird, Leid zuzufügen. Er hat mir verziehen ... Ach, wie niedrig, wie linkisch; seine Kehle vom Schluchzen zugeschnürt.

»Nein ... Nein! Ich nehme es dir nicht übel ... Ich wußte nicht, daß du sie geliebt hast! Ich konnte es nicht wissen ... Wenn ich es gewußt hätte ... wenn ich es nur gewußt hätte!«

Ach, er war in Tränen zerflossen! Ach, wie töricht und verabscheuungswürdig er war!

Ich weiß nicht, warum diese Erinnerung mir beinahe so etwas wie Gewissensbisse verursacht. Diese junge Frau ist vielleicht die einzige Freude in seinem Leben gewesen, dunkelhaarig, blaß und ungepflegt! Vielleicht ist es sogar die Sühne für diese schändliche und feige Tat gewesen, die mich dazu veranlaßt hatte, hierherzukommen.

Draußen tobte der Wind mit vielfacher Heftigkeit. Ich hörte deutlich, wie die Zweige der Bäume gegeneinanderschlugen, ihre Blätter tirilierten wie eine Orgel, wie der Schiefer sich vom Dach löste, durch die Luft pfiff und auf den Boden fiel ...

»Dieser arme Teufel!« wiederholte ich bei mir.

Die Nacht schien gar nicht enden zu wollen. Erst gegen Morgen ließ der Wind nach, und die Dämmerung legte sich auf einen blanken und ruhigen Himmel. Ich ging hinunter in den Garten. Die morgendliche frische Luft weckte meine Lebensgeister wieder; ich sog sie mit vollen Lungen ein, und mangels Wassers wusch ich mir das Gesicht mit dem Tau, der von den Bäumen fiel und aus dem Gras aufstieg und herrlich frisch war.

Nach einem kurzen Spaziergang fand ich meinen Freund auf der steinernen Bank sitzend, den Kopf in die Hände gestützt.

»Komm her«, bat er mich und rückte ein wenig zur Seite, damit ich mich neben ihn setzen konnte.

Er war blaß, seine Augenlider rot und verquollen. In seinem Bart waren die Essensreste vom Vortag und das Erbrochene der Nacht nicht zu übersehen. Träge sagte er, wobei mir sein übelriechender Atem in die Nase stieg:

»Ich sehe, daß ich dich anwidere ... und daß du abreisen wirst. Ich habe dir Dinge erzählen wollen, Dinge ... doch die Trunkenheit hat mich noch in ihrer Gewalt ... und im übrigen habe ich das Sprechen verlernt, mich zu erklären, du verstehst ...«

»Aber weshalb empfindest du solch einen Überdruß?«

»Weil ich keine andere Wahl habe ... Ohne das würde ich nicht mehr leben, verstehst du? ... Schau!«

Er zog eine Rolle schmutziger Papiere aus seiner Tasche und überreichte sie mir.

»Das, was ich dir sagen wollte, wirst du auf diesen Seiten finden ... Und wenn du sie gelesen hast, mußt du sie verbrennen ... Es ist nicht der Rede wert ... Aber es wird dir eine Erklärung sein ... Verstehst du?«

Er stammelte noch einige Worte, die ich nicht verstehen konnte, und erhob sich.

»Lebe wohl!« sagte er. »Verzeih’ ... Ich habe geglaubt ... es würde mir Freude machen ... und ich könnte ... Verstehst du ... Lebe wohl!«

Kurze Zeit später hatte ich die Bergspitze verlassen, aufgewühlt, beklommen, ohne die Gefühle benennen zu können, die mich umtrieben. Am selben Abend kam ich in Paris an und las die folgenden Seiten.

IV