Diez Hermanas - Georg Vetten - E-Book

Diez Hermanas E-Book

Georg Vetten

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

"Diez Hermanas" rückt die aktuellen Themen Datenspionage, Medienmanipulation und internationalen Organhandel ins Zentrum einer packenden Verfolgungsgeschichte. Durch das Anzapfen der transatlantischen und pazifischen Kommunikationsstränge scheint "Diez Hermanas" ihren Gegnern immer einen Schritt voraus zu sein. Aira, Femme fatale und Anführerin des Matriarchats, für ihre Brutalität und ihrem Sadismus gefürchtet, geht über Leichen. Die zeitlich und örtlich wechselnden Ebenen des Romans – einerseits die Perspektive von "Diez Hermanas" (Jäger), andererseits die, der Gejagten – verleihen dem Roman die treibende Kraft. Ein perfides Katz- und Mausspiel entwickelt sich zu einem echten Thriller – mit immer wieder überraschenden Wendungen…

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Seitenzahl: 466

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DIEZ HERMANAS

Das Jetzt ist nicht genug!

Ein Roman von Georg Vetten

_________________________

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Originalausgabe: 2014

Georg Vetten: ‚Diez Hermanas - Das Jetzt ist nicht genug‘©

2014 Edition Octupus im Verlagshaus

Monsenstein Vannerdat OHG Münster. www.edition-octupus.de

Druck: MV-Verlag

© Georg Vetten

Überarbeitete Ausgaben: Juli 2019 epubli

Layout und Satz: Georg Vetten

Umschlaggestaltung: Marc van der Ploeg, www.vdp-design.de

© Shutterstock

Diez Hermanas und die Gejagten

Sibel (24) Krankenschwester im Royal Nurse Hospital (London) ist Verschwörungs-Theoretikerin. Seit vielen Jahren klopft sie weltweite Nachrichten nach Ungereimtheiten und auf Manipulation ab. Einschneidende Erlebnisse in ihrer Vergangenheit haben sie in diesen fast krankhaften Wahn getrieben. Als es in der Klinik zu krimineller Gehirnmanipulation mithilfe von Lobotomie kommt, stellt Sibel Zusammenhänge mit einem Matriarchat her. Kommt Sibel der Wahrheit eine Spur zu nahe?

Adriana, eine vermögende 28-Jährige Griechin, die es aufgrund ihrer entführten Zwillinge nach London verschlägt, lernt dort die beiden 22-Jährigen Musiker Mikel und Steve kennen. Adrianas Onkel Sirius (Chef des griechischen National Intelligence Service) liefert schließlich den entscheidenden Tipp: Die Opfer wurden nach Südamerika verschleppt. Gemeinsam besteigen Adriana, Mikel und Steve die nächste Maschine nach Bolivien …

„Diez Hermanas“ fußt auf dem Roman

„Vici – Auf der Flucht“

„Vici – Auf der Flucht“, Roman Georg Vetten, epubli 2016

INHALT

Seiten 1 - 4 .……..…….......Prolog

Seiten 5 - 150 .…………..Erster Teil

Entführung

Seiten 151 - 394 …………Zweiter Teil

Entlarvung

Seiten 395 - 536 ……..……Dritter Teil

Kampf

Seiten 537 - 547 ……..…….….Epilog

Hauptrollen

Sibel (24), Krankenpflegerin aus London

Adriana (34), Mutter von Damian und Penelope (5) aus Thessaloniki/Griechenland

Mikel (22), Musiker aus London

Steve (22), Musiker aus London

Liz (25), Krankenpflegerin aus London/Durán

Aira (21), Zustras Tochter und Anführerin Diez Hermanas*

Nebenrollen

Sondre (30), Norweger, Assistenzarzt aus Durán

Tamira (27), IT-Expertin aus Osomo (Diez Hermanas)

Bobby Wood (42), Pressesprecher des US-Präsidenten

*Die Spitzen der Diez Hermanas

Katla (Rumänin), Airas rechte Hand

Hassan (Türke), einer von Airas Bodyguards

P-DH (Amerikanerin), organisierte Kriminalität weltpolitische- und Drogengeschäfte

S-DH (Spanierin), Satellitentechnik, Spionage und

Raumfahrt

F-DH

Weitere Rollen

Paul (58), Krankenpfleger aus London

Löwenherz (54),Patient imB.R. Hospital, London

Vici (44), Sibels Mutter, Lebenskünstlerin aus Köln

Winni (53), Dachdecker aus Köln

Onkel Sirius (54), Grieche, Chef des I.S.N. (N.I.S.)

Dimitrie (38), Bodenpersonal Flughafen Farnborough

Fabrice, (29), Kolumbien, Bogotá, Flughafenpersonal

Dr. Arguedas (38), Bolivien/La Paz, Klinikum Arci Iris

Pinar (34), Besitzerin des Hotel Tucán, Guayaquil

Benita (23), Angestellte im Hotel Tucán, Guayaquil

Der Pockennarbige (50), Waffenhändler, Guayaquil

Urcu (49), Maskenbildner, Ecuador/Bambahoyo

Raphael Namba (45), Passfälscher, Ecuador/Quito

Manuel (48) und Maria (44), Plantagenverwalter aus Piojo

Jefferey (55), Kanadier, Sibels Vater und Lebenskünstler

Fernanda (4), Vicis Tochter, Sibels Schwester

Täglich geschehen Dinge zwischen Himmel und Erde, für die wir keine Erklärung haben!

Wir wissen längst nicht alles, was in unserer globalen Welt vor sich geht!

PROLOG

2010 -17.Mai, 14:30

Barentsee bei Spitzbergen,

Pechenga, Insel Edgeöya,

Szene 1

Innenaufnahme: Das Zimmer ist abgedunkelt. Die deckenhohen Fenster sind mit schweren Samtvorhängen zugezogen. Inmitten des Raumes thront ein in die Jahre gekommenes Himmelbett, flankiert von zwei Kerzenleuchtern. Das Licht im Raum ist diffus.

Zustrastöhnte auf. Ihr Atem war in den letzten Stunden zu einem leisen, pfeifenden Rascheln geworden. Der Tod pochte nun laut und anhaltend gegen das Tor.

Ihre Augen lagen trüb und milchig in eingefallenen Augenhöhlen, tiefen, verfaulten Löchern gleich. Ihre Gesichtszüge waren auf groteske Art entstellt – ausgemergelt, ausgelaugt und hohlwangig, Zeichen des Kampfes gegen den Schmerz. Ihre Haut glich verblichenem Pergament. Mit ihren aufgeplatzten Lippen, die sich in die ausgetrocknete Mundhöhle über ihr zahnloses Zahnfleisch stülpten, glich sie einer Mumie. Sie wog 70 Pfund. Ein stechender Geruch nach innerer Verwesung - dem Gestank eines vergessenen Eimers Muscheln gleich - hing in der Luft des abgedunkelten Schlafgemachs. Die einst mächtigste Frau der Welt war zu einer Erscheinung aus verdörrter Haut, klapprigen Knochen und verfaultem Fleisch verkommen.

Dabei verkörperte sie noch vor wenigen Jahren die Inkarnation der Femme fatale:

Rassig und wohl proportioniert. Wallendes, feuerrotes Haar, hoch angesetzte Wangenknochen und perlende Lippen voller Sinnlichkeit, betörten und weckten Fleischeslust. Das Grün ihrer Augen glich dem eines kristallklaren Bergsees.

Ihre Widersacher gingen reihenweise vor ihr in die Knie. Ihr Matriarchat führte sie mit aller Brutalität. Sie bediente sich eines gut ausgebauten Netzwerks. Ihr Einfluss auf große Teile der geistigen Führer, auf Politik und Finanzwelt war gewichtig. Stündlich wurden irgendwo auf dem Erdball die Riten und geheimen Zusammenkünfte des verbotenen Matriarchats zelebriert. Täglich beklagte die Welt unschuldige Opfer. Stündlich vergrößerte die Sekte Yzuhawa ihre Macht.

Zustras Atem ging röchelnd und ihre vertrocknete, knorrige Hand schien zu rascheln, als sie eine gebieterische Geste andeutete.

Obwohl sie weltweit unzählige Güter, Ranches, Prachtvillen und Tempel besaß, hatte sie sich inmitten der Barentsee bei Spitzbergen in ihren alten Palast auf der Insel Edgeöya zurückgezogen.

Die Stadt Pechenga war ihre Wagenburg, ihr geheimes Zentrum.

Der Geheimbund: In Lappland hatte damals alles begonnen. Ihre ersten Schülerinnen scharte Zustras Großmutter 1870 auf norwegischem, schwedischem und russischem Gebiet um sich. Zustras Mutter zweckentfremdete Anfang des 20. Jahrhunderts die ursprüngliche Ausrichtung des Matriarchats und legte den Boden für Yzuhawa. Anfang der 50er Jahre übertrug man der damals erst 17-Jährigen Zustra die Macht. Mithilfe ihrer brutalen Anhänger stieg die Hexe, wie sie manche nannten, schnell zur mächtigsten Frau der Welt auf.

Aira schaute auf. Ihre Mutter machte die letzten Atemzüge.Die Zwanzigjährige, einem blonden Engel gleichend, hielt ein mit Lavendel getränktes Tuch vor Mund und Nase, als sie sich zu Zustra hinab beugte. Aira versprühte die gleiche weibliche Aura, die ihre Mutter jahrzehntelang verkörperte. Doch im Unterschied zu Zustra, glänzte Airas hüftlanges Haar blond, hellblond, fast weiß. Ihren weichen, ebenmäßigen Gesichtszügen fehlte der slawische Einschlag der Mutter. Lediglich der Glanz ihrer grünen Augen und der sinnliche Schwung ihrer Lippen erinnerten daran, dass es sich bei beiden um Mutter und Tochter handeln musste.

»Du wirst mein Werk fortsetzen«, hauchte Zustra mit allerletzter Kraft.

Aus der Ferne drang das Herannahen eines Hubschraubers an Airas Ohren. Die schweren Vorhänge bewegten sich sanft im aufkommenden Wind. Ein nervöser Sonnenstrahl blitzte unruhig durch den Schlitz des grünen Samtvorhangs und reflektierte sich in Airas silbernen Ohrringen.

»Du weißt, was zu tun ist.«

Aira nickte. Tränen traten ihr in Augen.

»Ja, Mutter«, antwortete sie jedoch mit klarer, fester Stimme und drückte dabei ihre Hand.

Einen Wimpernschlag später röchelte Zustra ihren letzten Atemzug.

»Jetzt beherrsche ich die Welt«, murmelte Aira und steckte das Schlafgemach in Brand. Sie warf einen letzten Blick auf die brennende Leiche ihrer Mutter und verließ mit dem wartenden Apache-Hubschrauber wenige Minuten später die Insel Edgeöya.

ERSTER TEIL

2005 - 10.2., 13:30

Neuseeland,

Coromandel/Peninsula,

Mercuray Bay

Szene 2 - Rückblende

Außenaufnahme: Supermarktparkplatz. Spärlich besucht. Flirrende Mittagshitze. Gleißendes Licht. Weder Bäume, noch Schatten. Dosenmüll und die Scherben zerborstener Glasflaschen reflektieren eine nervös zuckende Sonne. Drei verwilderte Hunde streunen um einen Abfallcontainer. Eine junge Frau in Shorts und T-Shirt bekleidet (langes, schwarzes Haar) schleppt schwere Plastiktüten. Ein etwa 40-Jähriger Mann, in Latzhosen (ungepflegtes Äußeres) mustert sie und grinst verschlagen, während er umständlich die Fahrertür seines Dodge Dakota Pickups öffnet. Eine Kassiererin mit ungesunder Hautfarbe tritt durch die Tür des Supermarktes auf den Hof und zündet sich eine Zigarette an. Sie winkt dem Mann zu und schüttelt verächtlich den Kopf, als die junge Frau unweit des Pickups den Kofferraum ihres roten Toyota Corolla öffnet.

Die Explosion war ohrenbetäubend. Sibel schaute sich Hilfe suchend um. Ihr Herz schlug schnell. Irgendwo hinter den Dünen, dort wo sich ihre Forschungsstation befand, musste sich die Detonation ereignet haben.

Sibel hetzte um den Wagen und verließ wenige Augenblicke später mit quietschenden Reifen den Parkplatz des Supermarktes.

Was verdammt noch mal ist passiert?, fragte sie sich besorgt. Hoffentlich hat diese Explosion nichts mit der Klinik zu tun, murmelte sie. Sibel strich die verschwitzten Strähnen ihres langen, schwarzen Haares hinter die Ohren. Hoffentlich ist mit Jan alles okay!

Sibel biss nervös auf ihre Unterlippe. Sie liebte ihn – noch immer und trotz allem! Doch dann fiel ihr ein, dass Jan bereits am frühen Morgen mit dem Rettungsboot aufs Meer hinaus gefahren war. Alles okay, lächelte sie und schaltete den jaulenden Toyota einen Gang höher.

2010 - 25.6., 21:00

Türkei

Istanbul, Beşiktaş

Yeniyol Straße

Szene 3 – fünf Jahre später

Die Zerschlagung der Macht!

Innenaufnahme: Neonlicht-Atmosphäre. Steriler Tagungsraum einer 5-Sterne plus Hotelkette. Blank geputzte Mahagonitischplatten. Technische Einrichtung: Beamer, Soundsystem, Klimaanlage. Drei Palmen, der geografischen Lage entsprechend drapiert, verlieren sich im 500 Quadratmeter großen Saal. Die boden- und deckenhohen Fenster sind durch blaue Rollos abgedunkelt. Deckenstrahler werfen ein diffuses Licht. Auf den Tischen sind Obst, Wasser und Kanapees eingedeckt.

Aira hatte es sich nicht leicht gemacht. Ihre eiskalten Gedankengänge hatten schlaflose Nächte zur Folge. Doch die Entscheidung, die es zu treffen galt, lag auf der Hand.

Heute hatte sie die Spitze, die Henker, Mörder und Helfershelfer ihrer Mutter zusammengetrommelt.

Es galt, sich neu zu positionieren und die Rollen zu festigen. Schließlich war das Matriarchat Yzuhawa unter ihrer Mutter Zustra zu einer wirtschaftlichen Macht herangewachsen, die es zu schützen galt – so dachten jedenfalls die meisten, der hier anwesenden Sektenmitglieder. Doch Aira hegte andere Pläne. Sie wollte mehr. Die Weltherrschaft ist das erklärte Ziel. Mit diesen Wortenhatte sie sich in den letzten Wochen immer wieder gepusht. Aira wusste, dass sie nicht nur Befürworter in den eigenen Reihen hatte. Ja, nach dem Tod ihrer Mutter war es nicht auszuschließen, dass sich gefährliche Strömungen innerhalb des Matriarchats gegen sie formierten. Ihr war zu Ohren gekommen, dass so manche sie für ein verwöhntes, dummes Blondchen hielten, das bei nächstbester Gelegenheit abserviert werden solle. Doch all dem hatte Aira vorgebaut und mit der planerischen Sicherheit ihrer Mutter einen eigenen Stab zusammengestellt. Das weltweite Netzwerk steht, flüsterte sie leise. Hab keine Angst. Tu es!

Sie begrüßte die Teilnehmerinnen und erläuterte die wichtigsten Tagungspunkte.

Es war einfach gewesen, fast zu simpel: Airas rechte Hand Katla hatte den Saal betreten und unter dem Vorwand, ein wichtiges Telefonat gebiete keinen Aufschub, Aira für einen kurzen Moment entschuldigt.

Sekunden später wurden sämtliche Saaltüren verriegelt. Massive Rollläden senkten sich vor die Fensterfront.

Szene 4

Außenaufnahme: Schwarze Nacht. Vorder- und Hintergrund werden durch grelle Flutlichtmasten ausgeleuchtet. 21:35 Uhr: Aira bändigt ihr wehendes, blondes Haar und steckt es unter eine schwarze Wollmütze. Ihre Kleider flattern unter den Propellern des Hubschraubers. Sie spricht in ein Walkie-Talkie: „Jetzt!“

Szene 5

Innenaufnahme: 21:36 Uhr! Kellerraum des Hotels. Steril. Die Neonbeleuchtung wirft ein kaltes Licht auf die Szenerie. Katla (kurz geschorenes schwarzes Haar, Nazischeitel, 1,95 Meter groß, bleich, muskelbepackt und mit weit auseinanderstehenden, grauen Augen) betätigt mit einem Knopfdruck die Umleitung der Gasdruckbehälter in die Klimaanlage des Hotels. Sie grinst zufrieden, als sie wenige Augenblicke später die Tür hinter sich zuschmeißt. Schnellen Schrittes ergreift sie die Flucht.

Szene 6

Innenaufnahme: 21:40 Uhr! Tagungsraum. Verzweifelte Menschen versuchen dem Saal, der den sicheren Tod für sie bedeutet, zu entfliehen. Der Erstickungstod ist grausam. Blut und Schaum treten den Sterbenden aus Mund-, Nasen- und Augenhöhlen.

Mit dem Abheben des Hubschraubers bricht eine neue Zeitrechnung an. Aira betätigt den Fernzünder. Sekunden später explodiert der Hotelkomplex in einem infernalischen Feuerball.

2011 - 15. 3., 10:25

Neun Monate später

Großbritannien

London, Kensington

Stratford Road

Szene 7

Innenaufnahme: Spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. Durch verstaubte Jalousien dringen kalte Sonnenstrahlen. Auf einem chinesisch anmutenden Sideboard thront ein großer Flachbildschirm. Auf dem Boden und an den Wänden stapeln sich Bücher, Landkarten und in willkürlichen Farben beschriftete Aktenordner. Mittendrin eine weiße Schlafcouch mit bunten Kissen drapiert. Ein schwarzer Haarschopf schaut unter einer karamellfarbenen Wolldecke hervor. Die zweiflügeligen Türen des alten Kleiderschrankes stehen offen. Davor befinden sich wahllos verstreut T-Shirts, Hosen und Röcke. Die winzige Küchenzeile hingegen wirkt aufgeräumt. Lediglich drei schmutzige Weingläser und eine zur Neige getrunkene Rotweinflasche stören das Bild der Ordnung. Die Appartementtür ist mit sieben Ketten verriegelt.

Schweißgebadet war Sibel auf ihrer Schlafcouch erwacht. Der Straßenlärm drang an ihre Ohren. Zum wiederholten Male war sie nun von diesem Albtraum aus dem Schlaf gerissen worden.

Sie schaute auf den Wecker: 10:25 Uhr. Sie schloss noch einmal für einen kurzen Moment die Lider. Doch Augenblicke später erschienen sie wieder, die Bilder der Explosion!

Als sie das Schildkrötenhospital erreichte, die damals größte Einrichtung Neuseelands zur Rettung verletzter Meeresschildkröten, brannten die Nebengebäude bereits lichterloh.

Etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt kreuzte das Rettungsboot. Von weitem glaubte Sibel Jan, zu erkennen. Hatte er ihr zugewunken? Wollte er ihr etwas mitteilen?

Zu spät! Augenblicke später explodierte das Boot mit ohrenbetäubendem Getöse. Zerfetzte Bootsteile und menschliche Gliedmaßen flogen in hohem Bogen auf den heißen Sandstrand. Als Sibel über Jans Turnschuh stolperte, in dem dessen abgerissener Unterschenkel steckte, war sie ohnmächtig zusammengebrochen.

Die Tragödie hatte die Behörden in den kommenden Wochen und Monaten in Atem gehalten. Doch zu einer Aufklärung kam es nie. Nur eine Person schien davon überzeugt zu sein, die Hintermänner des feigen Anschlags zu kennen: Sibels Mutter Vici. Niemand schenkte ihr Gehör, als sie das Matriarchat Zustras für den feigen Anschlag verantwortlich machte. Doch Vici weihte ihre Tochter in die Machenschaften der Sekte Yzuhawa ein. Sie erzählte ihr von ihrer eigenen Jugend und ihrer Flucht vor dem Matriarchat im Alter von 15 Jahren*. „Vici – Auf der Flucht“, Roman Georg Vetten, epubli 2016

Dieser spezielle Geheimbund ist in Frauenhand. Ich war damals eine Schülerin Zustras und bin geflohen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie nach wie vor auf der Suche nach mir sind, hatte sie geflüstert.

Sie sprach von Geheimbünden – die der Katholiken, der Moslems, der Mafia, IRA, RAF, Klu Klux Klan und Al-Quida. Ihre Worte klangen Sibel noch immer im Ohr: Es gibt Hunderte von Organisationen, die im Untergrund arbeiten, um die Macht für ihre Ziele zu missbrauchen. Doch das Matriarchat Zustras, Yzuhawa, ist das Schlimmste und Brutalste!!!

Was sind schon ein paar Umweltaktivisten, wenn es um die Ausbeutung von Ölvorkommen vor unseren Küsten geht, hatte ihre Mutter damals die Ermittler mit verächtlicher Miene provoziert. Sie hatte die Aufklärungsarbeit der Institutionen offen kritisiert und sich damit keine Freunde gemacht.

Eines Abends hatte sie schließlichbeschlossen: Wir verschwinden! Die stecken hier alle unter einer Decke!

Sibel war dem Ratschlag ihrer Mutter gefolgt. Beide verließen Neuseeland mit Ziel Europa. Sibel, damals 18 Jahre alt, verlor von heute auf morgen ihre Heimat. Zunächst kamen sie bei Bekannten in London unter. Ein Jahr später zog es ihre rastlose Ma schließlich nach Deutschland. Du stehst schon lange auf dem Nestrand und flatterst mit den Flügeln, hatte sie gemurmelt. Du kommst alleine klar, Sibel!

Ab und an telefonierten sie, und wenn es die finanziellen Möglichkeiten erlaubten, besuchte Vici ihre Tochter zwei Mal pro Jahr. Vor vier Jahren dann die unglaubliche Nachricht: Ihre Mutter hatte sich noch einmal verliebt und brachte wenig später die kleine Fernanda zur Welt. Mit einmal hatte Sibel eine Schwester. Bei dem Gedanken an die Kleine, die ihrer Mutter und damit auch ihr so ähnelte, huschte ein Lächeln über ihre Lippen.

Sibel erhob sich. Sie fühlte sich gerädert, öffnete die schwere Tür des roten Kühlschranks und nahm einen ausgiebigen Schluck aus der Milchtüte, bevor sie sich mit schweren Schritten ins Bad des Einzimmer-Appartements schleppte. Ein Blick in den Spiegel genügte: Wer mit Jungs feiert, darf sich am nächsten Morgen nicht beschweren! Sie grinste ihrem Spiegelbild bemitleidend zu: Hmmm – und was will dieser Steve von dir? Papperlapapp, ich finde nie mehr einen Mann, brummte sie halblaut. Doch ich kann auch nicht bis zu meinem Lebensende trauern, flüsterte sie, während sie die Wimpern tuschte. Mikel jedoch, der hat was. Sibels Laune hob sich beim bloßen Gedanken an den dunkelblond gelockten Sänger. Er hat ein nettes Lächeln, dachte sie.

Vor fünf Wochen war sie mit ihrer Freundin Liz durch die angesagtesten Live-Klubs in Londons East End gezogen. Schließlich waren sie im 'Drop Club' gelandet. Die Band auf der Bühne spielte eine Mischung aus Trash, Ska und Rock'n'Roll-Punk.

Sie haben ein Auge auf uns geworfen, hatte ihr Liz nach einer Weile ins Ohr geflüstert. Die Jungs hatten die Stimmung aufgeheizt und verließen erst nach einem zweistündigen Programm die Bühne.

Sibel und Liz hatten sich anschließend noch auf einen Drink an der Bar niedergelassen. Und siehe da, Liz hatte den richtigen Riecher. Denn keine fünf Minuten später ließ sich der Drummer mit einem vernehmlichen Grunzen auf dem freien Barhocker nieder. Was folgte, war die übliche Anmache:

Hi, ich bin Steve. Und ich wette, ihr vertragt noch einen Gin Tonic und seid ganz heiß darauf, uns kennenzulernen. Das da ist übrigens Mikel. Habt ihr schon mal solch einen verrückten Sänger und Gitarristen gesehen? Wir sind übrigens keine Brüder, auch wenn es den Anschein machen sollte.

Sibel lächelte unwillkürlich, als sie an die Situation zurückdachte: Brüder? Unmöglich! Beide wiesen mit ihren 1,85 Metern Größe zwar Gardemaß aus, doch optisch unterschieden sie sich wie Ying und Yang. Steve, der Drummer, trug sein pechschwarzes Haar im Johnny-Rotton-Stil. Seine Gesichtszüge waren scharf gezeichnet: kantiges Kinn, drei Tage Bart. Die Hakennase war ein wenig zu groß geraten, die Lippen schmal, die Augen braun und ausdrucksstark. Alles in allem wirkte er ein wenig abgerockt. Dass er jedoch durchaus eitel war, verrieten seine blank geputzten ´Sacho´-Stiefeletten ´Oregon´. Er trug eine abgewetzte, schwarze Röhrevon `True Religion´ – und die dazu passende Motorradlederjacke, in Schwarz.

Mikel, der Sänger, wirkte hingegen wie ein großer Junge. Der Bartwuchs auf den Wangen erinnerte an feinen Flaum. Seine naturblonden Locken bändigte er mit einem kleinen Zopf. Unmittelbar ins Auge fiel sein Grübchen im Kinn und das Muttermal, das darüber zu wachen schien. Seine graublauen Augen strahlten ausdrucksstark. Und auch sein Schlabberlook verriet Geschmack, wenn auch einen ganz anderen, als der von Steve. Er trug ´Doc Martens´, Baggy Jeans von ´Cipo & Baxx´ und dazu ein einfaches, weißes T-Shirt – unbedruckt!

Was soll's, hatte Liz an besagtem Abend geflüstert. Sind doch ganz süß, diese kleinen Machos. Schätze sie auf Anfang zwanzig. Liz hatte atemberaubend ausgesehen. Hey du siehst aus wie Sharon Stone in 'Basic Instincts', hatte Steve gelacht und ihr dabei zugeprostet.

Ohne Scheiß, fast ne 1:1-Kopie! Merkwürdigerweise ließ er Liz dann recht bald, links liegen.

Der hat nur noch Augen für dich, hatte Liz geflüstert.

Sie waren zum Fridge weitergezogen. Die Stimmung war ausgelassen. Sie ließen sich anstecken und schmissen sich in die Arme der Nacht: Cooler Klub, heiße Klubsounds, cooles Publikum und coole Drinks – es schneite, mitten im April.

Steve:

Die beiden auf der Tanzfläche! Wow! Ich konnte meine Augen kaum von Sibel losreißen. Ich hatte schon immer eine Schwäche für braun gebrannte, mediterrane Schönheiten. Ihr bauchfreies Top enthüllte einen definierten flachen Bauch. Sie ließ die Hüften kreisen und warf ihre Arme in die Luft. Ihr Bautanz brachte mein Blut in Wallung. Auf ihrem rechten Oberarm trug sie ein Tribal. Ein auffallender Leberfleck zeichnete sich unter ihrem linken Auge ab. Ich ahnte damals schon, dass ihre Anmut nicht rein mediterranen Ursprungs sein konnte. Ihr Teint war einen Tick zu dunkel für eine Griechin, Türkin, Spanier- oder Italienerin. Später sollte ich erfahren, dass die Roma-Wurzeln tief saßen.

Ihre Brüste hüpften im Takt des Sounds und ich stellte mir vor, wie sie sich unter mir bewegen würde. Perfekt, dachte ich. Da muss doch was gehen! Die legt es doch drauf an. Ließen sich ihre Blicke anders deuten?

Mikel:

Wer hätte das für möglich gehalten? Da zogen wir mit den heißesten Mädels der Stadt los. Liz tanzte Sibel von hinten an, legte eine Hand auf ihre Hüften und presste ihre Brüste an Sibels Rücken. Sie tanzten wie Schlangen – synchron. Steve hatte Recht. Liz wirkte wie eine Sharon Stone Kopie und wardamit exakt der Typ Frau, der mich noch nie geflasht hatte. Sibel hingegen nahm meine Aufmerksamkeit gefangen. Eine geheimnisvolle Aura umgab sie. In unbeobachtet geglaubten Augenblicken, sah ich hin und wieder den Blues in ihren Augen aufflackern.

Oberflächlich betrachtet gab sie die Partymaus.

Liz:

Ich sah, dass die Jungs Bauklötze staunten, als wir uns auf der Tanzfläche amüsierten. Keine Ahnung, aber wir führten uns auf wie Lesben. Wir hatten unseren Spaß. Mikel erweckte den Eindruck eines großen, unbeholfenen Teddybären. Die Sorte Typ, der ewig braucht, bevor er zur Sache kommt. Genau der Typ Mann, mit dem ich wenig anfangen kann. Dieser Steve hingegen weckte meine Neugier. Ja, er hatte das gewisse Etwas: verwegen, draufgängerisch! Scharfe Gesichtszüge. Endlich mal einer, der die richtige Größe hat, dachte ich. Endlich mal einer auf Augenhöhe. Als Frau mit 1,82 Metern Größe hat man es nämlich nicht leicht. Er rieb seine Hakennase, lachte anzüglich und fuhr mit seiner kräftigen Hand über die harten Stoppeln seines Dreitagebartes. Ich konnte meine Finger kaum bei mir halten. Doch all mein Gegrapsche (ich kniff ihm sogar in den Hintern) hinterließ keinerlei Wirkung. Irgendwann schien er nur noch Augen für Sibel zu haben.

Sibel:

Ich spürte ihre Blicke auf meinem Körper. Doch alles in allem schienen die Jungs harmlos zu sein. Zumindest Mikel hätte niemals ohne ein Okay, eine Hand um meine Hüfte gelegt. Doch seine schüchterne Art gefiel mir. Er drehte das Glas unbeholfen zwischen seinen Händen und warf mir verstohlene Blicke zu. Steve schien der offensivere Typ zu sein. Ein wenig Macho. Weshalb also nicht ein bisschen Spaß haben, dachte ich bei mir. Der Klub war gut gefüllt und der DJ übertraf sich selbst. Habe selten so viel Spaß auf der Tanzfläche gehabt. Erst im Morgengrauen verabschiedeten wir uns voneinander.

Es gibt solche Begegnungen, hatte Liz gelallt. Bei uns Vieren stimmt einfach die Chemie.Okay, die Jungs sind zwei, drei, vier Jährchen jünger als wir, doch was soll das schon heißen? Mit Männern von solch stattlicher Größe können wir uns sehen lassen. Liz hatte Sibel kumpelhaft in die Seite gepufft und dabei verschwörerisch gelächelt.

Als Sibel gegen Morgen die Augen schloss, breitete sich ein breites Grinsen über ihre Lippen. Dieser Mikel, so cool er auf der Bühne auch performen mochte, so tollpatschig schien er im wahren Leben zu sein. Sibel hatte mitgezählt: Insgesamt hatte er sich zwei Mal den Kopf gestoßen, drei Mal Getränke vom Tresen gefegt und zwei Mal die Kippe verkehrt herum angezündet. Irgendwie süß murmelte sie, bevor sie einschlief.

Nach dieser Nacht hatten sie sich mehrere Male zu viert getroffen, einfach so.Tatsächlich hatten es die Jungs sogar fertiggebracht sie zum FC Arsenal mitzuschleppen. Mit denen macht selbst Fußball Spaß, hatte Liz vielsagend gelächelt.

Sibel vermisste ihre Freundin. Seit zwei Wochen war sie nun schon in Ecuador. 18 Monate wollte sie dort in unmittelbarer Nähe von Guayaquil verbringen, um medizinisch-pflegerische Hilfe beim Aufbau einer Großklinik zu leisten.

Sibels Kontakt zu Steve und Mikel war dennoch nicht abgerissen. Nach wie vor trafen sie sich zwei bis drei Mal pro Woche. Irgendwie schon verrückt, murmelte Sibel und warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Sie hatte sich zwei Proben der Band in Brixton reingezogen, obwohl sie alles andere als ein Groupie war. Doch die Jungs mit ihrer kindlich naiven Power taten ihr zunehmend gut. „Du musst unter Leute“, hatte Liz nicht lockergelassen. „Dieser Job in der Klapse und deine fast krankhaften Recherchen nach der großen Verschwörung, machen dich am Ende noch ganz kirre!“ Sibel wusste, dass Liz Recht hatte. Und so ließ sie sich auf diese, für sie komplett neue Welt, mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

2011 - 16.3., 19:00

Großbritannien

London, Brixton

Headlam Road

Szene 8

Innenaufnahme: Schwache Lichtverhältnisse. Proberaum. Dunkler Keller. Einzige Lichtquelle ist eine Ampel, die ein Schlagzeug der Marke Pearl anstrahlt. Boden, Decke und Wände sind zum Schallschutz mit alten Teppichen abgehangen. In einer Ecke türmen sich leere Bier- und Weinflaschen. Ein Bass und zwei Gitarren liegen in ihren Koffern. Zwei Mikrofonständer stehen inmitten des Raumes. Das seichte Summen von Gitarren-, Bass- und Gesangsverstärkern erfüllt die rauchgeschwängerte Luft. Der Boden ist bedeckt mit Kabeln und bunten Effektgeräten, Fußpedale für Gitarren und Bass.

Die Probe ist beendet. Ein Joint kreist von Hand zu Hand. Am Wochenende steht ein wichtiger Gig in der ‚Academy‘ an. Steve und Mikel verabschieden die anderen Bandmitglieder mit ‚give me five‘, um in Ruhe die nächsten Promotionmaßnahmen zu bereden.

»Treffen wir uns heute mit ihr?« fragte Mikel, während er mit einem Einwegfeuerzeug eine Bierflasche öffnete.

»Mit wem?« Steve schaute verdutzt und fuhr mit beiden Händen durch seine verschwitzte Johnny-Rotton-Frisur.

»Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, über wen ich rede!«

»Sibel?« fragte Steve mit einem Griemeln, das von einem Ohr zum anderen reichte. »Ich dachte, ich treffe mich nachher alleine mit ihr. Wolltest du nicht noch an deinen Texten arbeiten?«

»Alleine? Du und Sibel?« fragte Mikel, warf einen betroffenen Blick ins Nichts des Raumes und nestelte dabei an seinem Zopf.

»Ja, Mann! Fahr mal deine Antennen aus. Ich habe das Gefühl, da geht was, zwischen ihr und mir!«

»Hmm ist mir entgangen«, murmelte Mikel, setzte das Bier ab, und begann einen Joint zu drehen.

»Hey könnte ich da die Augen verschließen? Sie ist ein mediterranes Rasseweib. Dieser Augenaufschlag, dieser Hüftschwung, dieser Arsch. Doch ein bisschen irre ist sie schon, oder? Was denkst du? Ich brauche deinen Rat, mein Freund. Soll ich die Finger von ihr lassen oder soll ich mein Glück versuchen?«

»Im Ernst, was willst du mit einer Vegetarierin anfangen, die sich mit Feminismus beschäftigt? Wenn du mich fragst, passt so ein schräger Vogel eher zu mir«, grinste Mikel.

Steve warf ihm einen überraschten Blick zu:

»So’n Quatsch. Feminismus! Wo hast du das denn aufgeschnappt?«

»Sie hat mit mir drüber geredet.«

»So etwas erzählt sie dir?« Steve rieb mit der Rechten nachdenklich über seine Hakennase. Mikel indes schloss die Augen und zog den Rauch tief durch seine Lungen, bevor er ihn ausstieß und weiterredete.

»Ich mag sie als Mensch, verstehst du? Sie ist eine Powerfrau. Doch dann hat sie auch wieder so etwas Zerbrechliches. Und wie sie mich manchmal anschaut. Diese Augen, tief und geheimnisvoll wie die Spiegelung abendlicher Sommersonnenstrahlen auf einem tiefblauen Bergsee.«

Steve hob erstaunt eine Augenbraue:

»Hey, komm runter von deiner Wolke.«

»Ohne Scheiß, wie geputzter Saphir, wie Aquamarin. Aber nicht kalt, sondern voller Wärme und Liebe! Weißt du, was ich meine? Dein Typ ist doch eher diese Liz, oder?«

»Hmmm«, antwortet Steve nachdenklich und zog dabei am Joint.

»Sind dir ihre dominanten Augenbrauen aufgefallen? Kräftig und schwarz wie die Nacht biegen sie sich zur Stirn, den Flügeln eines Schmetterlings gleich! Stolz, edel und erhaben.«

»Aha!« Steve räusperte sich. »Was hast du denn in den Joint gewickelt?«, schmunzelte er erstaunt.

»Sie ist voller Stolz und Schönheit. Klar, dass DU das nicht erkennst«, feixte Mikel. »Du gaffst ihr nur auf die Titten. Doch sind dir ihre ebenmäßigen Zähne, die blutroten Lippen und diese rosa Zungenspitze aufgefallen, die keck hervorschaut, wenn sie lacht. Und dann dieses Lächeln in ihren Mundwinkeln und Grübchen…«

»Alter, bevor deine Ausführungen die südlicheren Gefilde streifen, lass uns lieber über die Gestaltung der Flyer für die nächsten Gigs reden«, antwortet Steve und kratzte dabei nachdenklich seinen Dreitagebart.

»Und ist dir aufgefallen, wie sich ihre linke Oberlippe hochzieht und fast umstülpt, wenn sie ihr breites Grinsen aufsetzt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es wirkt so offen, so verführerisch, so herausfordernd und sexy. Sie ist ein klasse Mädchen. Das Schräge an ihr, rührt von inneren Verletzungen. Sie trägt tiefe Narben, das fühle ich. Sie berührt mich sehr.«

»Halt endlich die Klappe. Hättest du mir nicht von Anfang an sagen können, dass du spitz auf sie bist?«

»Und ist dir etwa entgangen, dass du gar nicht ihr Typ bist?«

»Schön wir haben noch nie ein Problem damit gehabt, wer welche Braut abschleppt«, gähnte Steve. »Und wir werden uns auch diesmal nicht wegen einer Frau in die Haare kriegen. Okay? Lass uns entspannt abwarten, in welche Richtung das Pendel ausschlägt«, grinste Steve und wechselte das Thema:

»Ach übrigens, ich habe Karten für das Spiel der Gunners gegen Manu besorgt.

»Geil, Alter!«

2011 - 5.1., 16:00 Griechenland

Pefka/Nähe Thessaloniki

Szene 9 – zwei Monate zuvor

Außenaufnahme: Schwache Lichtverhältnisse. Eine Frau Ende zwanzig, steigt die Treppenstufen zu einem bunt angemalten Gebäude empor. Es sind Kinderzeichnungen, die die Außenwände des Hauses zieren. In einem Fahrradständer stehen zehn Kinder- und drei Erwachsenfahrräder.

Adriana hatte ein merkwürdiges Gefühl, als sie die Treppenstufen zum Kindergarten im Eiltempo nahm. Sie wusste, sie war spät dran. Sehr wahrscheinlich würde sie die Erzieherin auf Spätdienst mit einem langen Gesicht empfangen. Als sie die Eingangstür aufstieß, erfasste sie jedoch ein Schock. Ihre Knie wurden weich. Penelope, Damian rief sie aufgeregt und rannte wie blind und Böses ahnend durch sämtliche Räume. Mein Gott, wo sind sie? Wo sind meine Kinder? Das fünfjährige Zwillingspaar konnte sich doch nicht so einfach, mir nichts dir nichts, in Luft aufgelöst haben. Hatte heute etwa der Ausflug zum Zoo auf dem Programm gestanden – hatten sie sich lediglich verspätet?

War in den Verkehrsnachrichten nicht die Meldung über einen zehn kilometerlangen Stau durchgesagt worden? Bestimmt kommen sie gleich hereingestürmt und fallen mir laut lachend in die Arme!

Doch Adriana brauchte sich nur umzuschauen, um festzustellen, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein heilloses Chaos aus umgeschmissenen Tischen und Stühlen, von der Wand gerissener Bilder und verstreuter Klamotten, tat sich vor ihr auf. Der Boden war übersät mit Lebensmittelresten des Frühstücks, zerbrochenen Tellern und zersplittertem Glas. Und dann fand sie die Wintermütze von Penelope und wenig später einen Schuh von Damian. Mein Gott, entfuhr es ihr.

Szene 10

Rückblende/Einstellung 1

Außenaufnahme: Schwindendes Tageslicht. Eine verlassene Straße. Zwei Lastwagen der Marke Scania (Dreiachser) parken mit laufendem Motor vor einem Flachbau. Es ist ein Kindergarten.

Die Türen öffnen sich. Eine gemischte Gruppe, Männer und Frauen, zehn an der Zahl und schwarz gekleidet, springen aus den Wagen und stürmen zeitgleich das Gebäude.

Szene 11

Rückblende/Einstellung 2

Innenaufnahme: Der Kindergarten ist erfüllt von lachenden und tobenden Kindern. Vier Erzieherinnen sind damit beschäftigt Kakaotassen, Wassergläser und geschmierte Brote an die niedrigen Tische und Stühle zu bringen.

Der Überraschungseffekt ist auf Seiten der Angreifer. Innerhalb von zwei Minuten richten die schreiend durcheinanderlaufenden Opfer ein heilloses Chaos an. Weitere zwei Minuten später haben die Eindringlinge die panische Masse im Griff. Fünf Angreifer halten die schreienden Kinder und Erzieher mit abgesägten Schrotflinten in Schach, während die anderen sich daran machen, ihre Opfer zu chloroformieren.

Szene 12

Rückblende/Einstellung 3

Außenaufnahme: Schwindendes Tageslicht.

Zehn Minuten später ist der ganze Spuk vorüber, als auch die letzten Kinder betäubt in die Dreiachser verfrachtet werden.

Szene 13

Rückblende/Einstellung 4

Innenaufnahme: Das Ende der Erzieherinnen!

Die Injektionen, die sie den Erzieherinnen setzen, sind auf der Stelle tödlich. Bevor sie das Gebäude verlassen, schmeißen die Angreifer ihre Opfer wie nasse Säcke in eine der Toiletten und verriegeln die Tür.

Szene 14

Rückblende/Einstellung 5

Außenaufnahme: Schwindendes Tageslicht. Die Rücklichter der Scania-Trucks entschwinden um eine lang gezogene Kurve.

Ein Vogel kreischt. In der Ferne heult ein wütendes Hunderudel. Die Türen des Kindergartens schlagen im Wind.

2011 - 5.1., 20:30

Mazedonien

E 75, Aracinovo

auf der Höhe von Skopje

Szene 15

Außenaufnahme: Ein Dreiachser mit der Aufschrift „Südfrüchte Athen“ rollt durch einen sternenlosen Abend in Mazedonien. Die Straße ist in einem miserablen Zustand. Die Räder holpern über die Fahrbahndecke. Das Abblendlicht des LKWs zuckt durch die kalte, feuchte Nacht. Ein Grad plus!

Szene 16

Innenaufnahme: LWW-Ladefläche! Ein dunkles Licht zappelt am Dach des LKW. Die Planen schimmern in einem dunklen Grün. Am Boden liegen siebzehn Kinder eng aneinandergeschmiegt.

Penelope nahm Damians Hand und drückte sie fest. Ihr Herz raste. Mit einmal empfand sie furchtbare Angst und schrie:

»Mama! Mama!« Und immer wieder:

»MAMA! MAMA!« (nach ihrem Vater hatte sie noch nie geschrien, sie kannte ihn nicht)

Ein fürchterlicher Gestank drang Penelope in die Nase. Im spärlichen Licht erkannte sie die anderen Kinder aus ihrer Gruppe. Wir sind es, die so stinken! Penelope roch, dass sich ausnahmslos alle - im wahrsten Sinne des Wortes - vor Angst, die Hosen voll hatten. Mit einem betroffenen Blick schaute sie an sich hinab und fühlte sich im nächsten Moment bis ins Mark getroffen. Tränen schossen ihr in die Augen. Was ist passiert? Ihr Herz raste!

Und dann sah sie sie zum ersten Mal. Sie wollte schreien, doch ihr Mund öffnete sich nicht. Sie wollte wegrennen, bekam dabei aber keinen Fuß vor den anderen gesetzt. Sie rang nach Luft, doch der Schrei blieb aus. Eine Hexe, dachte sie. Eine Hexe!

Die Hexe beugte sich zu ihr herab und drückte ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sekunden später fiel Penelope in sich zusammen.

Szene 17

Innenaufnahme LKW-Führerhaus: Das Führerhaus des Wagens ist technisch hochgerüstet. Der Boden ist übersät mit willkürlich fallen gelassene Verpackungen und leere Plastikflaschen.

»Alles klar?«, fragte der schwarze Schatten, dessen Hände das Lenkrad fest umschlossen.

»Alles klar! Eines der Blagen war aufgewacht«, antwortete eine Frau mittleren Alters und zog dabei die Hexenmaske vom Kopf.

2011 - 5.1., 22:45

Balkanhalbinsel

Serbien

Auf der Höhe von Niš

Szene 18

Innenaufnahme: LKW-Laderaum. Langsam erwachende Kinder. In der Mitte des schaukelnden Wagens steht ein Korb mit Getränken, belegten Broten und Süßigkeiten.

Diesmal war es Damian, der vor seiner Schwester Penelope erwachte. Er schaute sich neugierig um, und versuchte zu verstehen, was geschehen war.

Er erkannte seine Freunde aus dem Kindergarten. Einige waren bereits erwacht, schauten verstört oder schrien lauthals nach ihren Eltern.

Plötzlich wurde das Licht im LKW erhellt. Musik erklang – seicht und leise und beruhigend. Dann ertönte eine engelsgleiche Stimme:

»Willkommen zu unserem kleinen Ausflug. Damit es euch an nichts mangelt, haben wir Säfte, Cola, Kakao und Wasser eingekauft. Und natürlich Brot und Schokoladenaufstrich und Süßigkeiten und Kirschen. Frische Kirschen! Und beim nächsten Halt gibt es eine warme Dusche und danach Schnitzel, Burger und Pommes – und Eiscreme! Habt keine Angst, Mama und Papa wissen Bescheid! Wir veranstalten eine riesige Schnitzeljagd. Ihr werdet sehen, bald haben wir gewonnen und dann könnt ihr sie auslachen, eure Eltern! Doch ihr müsst euch vor den Hexen in Acht nehmen. Wenn ihr weint, oder schreit, dann verlieren wir das Spiel. Dann kommen die Hexen und bestrafen euch!«

Penelope war zwischenzeitlich erwacht und riss den Mund vor Erstaunen auf. Damian drückte ihre Hand.

»Glaubst du das?«

»Bestimmt«, flüsterte Damian unsicher und unterdrückte ein Schluchzen.

»Ich habe die Hexe gesehen«, antwortete Penelope mechanisch. »Ich habe die Hexe gesehen!«

Fünfzehn Minuten später hatte sich die Lage entspannt. Die Temperatur im Wagen stieg an, ein süßlicher Geruch verbreitete sich. Die Kinder begannen mit den Gameboys zu spielen, die sie im Korb gefunden hatten. Einige lachten.

»Wirst sehen, in zehn Minuten schlafen die wie die Babys«, grinste die Hexe. »Mit der Wirkung unseres Zaubertranks haben wir bis hinter Zagreb Ruhe.«

Sie saßen zu fünft im LKW und wechselten die Fahrerposition in regelmäßigen Zeitabständen. Ein prall gefüllter Kühlschrank und zusätzliche Kühltaschen mit Nahrungsmittel, ermöglichten es ihnen auf Rastpausen zu verzichten und die Fahrt, ohne Unterbrechungen fortzusetzen. Möglichst unauffällig verhalten und rasch vorankommen, war die Devise. Denn Zeit hatten sie wahrhaftig keine.

»Die sind doch nicht ganz dicht. Wie sollen wir das schaffen? Das hier ist schließlich kein Jaguar.« Der vollbärtige Entführer schlug mit einer wegwerfenden Handbewegung die Hexenmaske gegen die Frontscheibe.

Zwei der Rädelsführerinnen, hoben die Finger an die Lippen und geboten ihm Einhalt. Ihre Augen sprachen: Halt die Klappe oder wir machen dich kalt. Beide waren für die medizinische Überwachung des Transports zuständig. Der Vierte, ein schlaksiger Kerl Mitte zwanzig, lehnte mit dem Kopf an der Seitenscheibe. Er schlief. Der Fünfte hatte sich in die Koje zurückgezogen – ein hirnloser Bodybuilder von der Sonnenbank verbrannt. Sie nannten ihn: das Spatzenhirn.

Erneut setzten plötzliche Regenfälle ein.

»Gebt acht, es könnte Glatteis geben! Ich schau‘ noch mal nach den Kindern.«

Eine der Schwestern zog die Hexenmaske über den Kopf und verschwand im Fond des Lastwagens. Diejenige, die diesen Trupp zusammengestellt hat, kann sich warm anziehen, brummte die abkommandierte Anführerin, als sie den hinteren Teil des Scania-Trucks betrat.

Das nächste Erwachen erfolgte zwischen Zagreb und Leibach auf slowenischem Gebiet. Die Kinder fanden neben weiteren Süßigkeiten, einen Satz Wechselkleider – beschriftet und exakt in jeder passenden Größe und Lieblingsfarbe.

2011 - 5.1., 23:45

Balkanhalbinsel, Serbien

Auf der Höhe von Niš

Szene 19

Innenaufnahme: Ladefläche LKW. Es ist dunkel. Die Kinder haben sich einem Rudel Hunde gleich, zum Schutz eng aneinandergeschmiegt.

Sie hörten Schreie. Damian fühlte, dass die Räder des LWK nicht mehr rollten. Er vernahm das ohrenbetäubende Reifengequitsche anderer Fahrzeuge. Er hörte das Aufheulen ihrer schweren Maschinen. Und er spürte wie der Motor des LKW, auf dem er gefangen war, mit einmal stillstand. Erneut Schreie! Polizeisirenen!

Szene 20

Gegenschnitt

Außenaufnahme: Ein verlassener Parkplatz. Mitternacht. Ausgeleuchtet von einer Armada von Fahrzeugen. Die fünf Entführer stehen mit erhobenen Händen vor ihrem Fahrzeug. Zur Rechten zeichnen sich die Schemen einer Brücke ab, davor ein kahler Wald.

»Wer seid ihr?!« schrie ein Zöllner und zog seine Dienstmarke. Über Funk fragte er Verstärkung an. Wenige Minuten später erschien die Policija. Kämpfern gleich, sprangen sie aus ihren Einsatzfahrzeugen. Auch sie zogen ihre Waffen. Mit einmal sahen die Entführer in die Läufe von 12 Sturmgewehren, Zastava M21.

Szene 21

Gegenschnitt

Innenaufnahme: Damian hält die Hand seiner erwachenden Schwester Penelope, er drückt sie fest an sich.

»Was ist los«, flüsterte Penelope.

Sie bibberte trotz der unerträglich hohen Temperaturen im Wageninneren.

»Das gehört bestimmt mit zum Spiel« raunte Damian. »Wir sehen Mama bestimmt bald wieder.«

»Mama«, schluchzte Penelope.

Szene 22

Gegenschnitt

Außenaufnahme: Starkregen setzt ein. Er trommelt lautstark auf die Fahrzeuge und durchnässt innerhalb von Sekunden Entführer, Zollbeamte und Polizisten gleichermaßen. In den Lichtkegeln der Fahrzeuge wirkt die Szene surreal. Das Wasser läuft schwer in die Kleider. Pfützen bilden sich zu Füßen von Staatsgewalt und Entführern.

»Öffnet die Klappen!«, befahl der grauhaarige Gendarm den Zöllnern.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen! Im nächsten Moment fielen zwölf einzelne Schüsse!

Die Entführer warfen sich entgeisterte Blicke zu. Zwölf Personen waren unmittelbar vor ihren Augen durch gezielte Kopfschüsse von Scharfschützen hingerichtet worden. Boden und Kleidung wurden innerhalb eines Wimpernschlags mit Blut durchtränkt.

Eine der Entführerinnen wusch sichtlich angewidert, schleimige Klumpen Hirnmasse von ihrer Wange.

»Ihr könnt weiterfahren«, tönte eine fast knabenhafte Stimme.

Die Entführer hörten, dass sich eine größere Gruppe in der Nähe aufhielt, sehen konnten sie jedoch nichts.

»Los! Beeilt euch! Ihr liegt jetzt schon hinter der Zeit. Eure Ware ist wichtig!«

2011 - 5.1., 00:15

Griechenland

Pefka/Nähe Thessaloniki

Szene 23

Zur gleichen Zeit

Innenaufnahme Einstellung 1: eine mondäne Küche. Offen. In Mahagoni gehalten. Das Wohnzimmer: Weitläufig mit deckenhohen Schiebetüren, die den Blick auf eine weiträumige Terrasse öffnen. Man hört das Rauschen des Meeres. Inmitten des Wohnzimmers hockt Adriana auf einem weißen Berberteppich; sie lehnt gegen eine azurblaue Ledergarnitur.

Innenaufnahme Einstellung 2: Aus der Vogelperspektive verschwindet die Couch in einer riesigen Wohnzimmerlandschaft.

Adriana schien um Jahre gealtert. Ihr Haar war zerzaust. Die Schminke zerlaufen, unter all den bitteren Tränen, die sie vergossen hatte. Sie zitterte. Dann schrie sie herzzerreißend:

2011 - 6.1., 00:15

Balkanhalbinsel, Serbien

Auf der Höhe von Niš

Szene 24

Innenaufnahme: Der Laderaum des LKW ist hell erleuchtet. Einige Kinder rennen wild und schreiend mit weit aufgerissenen Augen in Panik umher. Andere sitzen wie paralysiert.

Die Plane zum Fahrraum wurde zur Seite geschlagen. Im nächsten Moment erstarrten einige Kinder zur Salzsäule, andere sprangen in Panik gegen die dunkelgrünen LKW-Wände. Vier Hexen!!!

»Die Hexen sind da!« schrie Penelope. »Vier Hexen!«

»RUHE!!! Haben wir euch nicht gewarnt? Haben wir euch nicht versprochen, das spannendste Abenteuerspiel aller Zeiten zu spielen? Und was macht ihr?«

Die Kinder starrten voller Entsetzen in die hässlichen Fratzen der Hexen.

»Ihr seid undankbar! Wir haben Spielzeug besorgt und all die leckeren Sachen. Und was macht ihr? Ihr schreit! Egal, wisst ihr was?! Jetzt gibt‘s Eis, für jeden von euch. Dann geht die Reise weiter! Wir werden uns beeilen. Wir wollen doch schließlich gewinnen, oder?«

Penelope starrte die Hexen entgeistert an und dann schrie sie aus voller Kehle:

»MAMA! MAMA! BITTE HILF UNS!«

2011 - 6.1., 19:00

Italien

Ponte di Legno

Szene 25

Innenaufnahme: Italien, 17 Stunden später. Heller fensterloser Raum. Eine riesige Halle mit Feldbetten, Spielzeug, Rutsche, Sandkasten und Kuscheltieren. Auf einem Flachbildschirm laufen Donald Duck Comics in Dauerschleife. Die Gruppe ist auf über fünfzig Kinder angewachsen.

»Liebe Kinder, Engel und Abenteurer, willkommen auf unserer ersten Station« ertönte eine warme, freundliche Stimme aus den Lautsprechern. Penelope ergriff Damians Hand. Hexen hatten sie hier noch nicht zu Gesicht bekommen.

»Gleich geht die Tür zu eurer Rechten auf, dort gibt es Abendessen – Pommes, Hühnchen, Schnitzel, Salat und Berge von Schokoladeneis. Lasst es euch schmecken. Und denkt daran, wir haben einen Vorsprung! Wir werden gewinnen – und eure Eltern werden staunen! Nach dem Essen erhaltet ihr eure Medizin.«

Am folgenden Morgen rieselten erneut Comics über den Bildschirm. Die Kinder fühlten sich träge. Seltsam benommen. Es gab Kakao und Schokoladenaufstrich.

»Im Laufe der nächsten Stunden werdet ihr vom Onkel Doktor untersucht«, tönte die erste Durchsage des Tages aus den Lautsprechern.

»Warum?« rief Damian.

»Na wir wollen doch wissen, ob ihr das Abenteuer bislang gut überstanden habt«, ertönte die Antwort.

Wenig später wurden die ersten Kinder in den Nachbarraum gerufen. »Ich habe Angst«, flüsterte Damian.

»Ich auch«, antwortete Penelope mit zittriger Stimme. Doch die beiden fühlten sich schwer wie Blei. Und auch den anderen Kindern schien es nicht besser zu ergehen. Sie hockten vor den Flachbildschirmen und nickten immer wieder ein.

Kein Zeitgefühl und nicht wissend, der wievielte Cartoon dort in der Wiederholungsschleife lief, schlummerten Penelope und Damian ein, bis sie von der nächsten Ansage geweckt wurden:

»So und jetzt die Zwillinge bitte zu uns. Penelope und Damian.«

Voller Angst nahmen sie sich bei den Händen und schlichen mit schweren Beinen zur Tür. Sie wollten nicht noch einmal die Hexen herbeirufen. Sie sahen, dass es den anderen Kindern, die schon beim Doktor gewesen waren, gut ergangen sein musste.

»So wir wollen doch mal sehen, ob nach der langen Reise mit eurem Bauch alles okay ist«, sprach eine leise, vertrauensvolle Stimme.

»Ich bin euer Onkel Löwenherz.«

Der alte Mann lächelte sie an. Er trug seine weißen Haare halblang. Sein weißer Schnauzbart wirkte penibel gepflegt.

»Wir machen zuerst eine Röntgenaufnahme und danach einen Ultraschall. Das wird ein bisschen kalt und glitschig auf euren Körpern, wenn ich euch mit dem Gerät abtaste, doch dann habt ihr es auch schon geschafft. Dauert alles in allem nicht länger als zwanzig Minuten – und danach gibt es Eiscreme! Ist das ein Leben«, lachte die freundliche Stimme. »Und soll ich euch noch etwas verraten? Na? Na? Ich glaube, wir gewinnen das Spiel gegen die Erwachsenen!«

2010 - 10.11., 22:00

zehn Monate zuvor

USA, Boston,

Atlantic Avenue

Szene 26

Rückblende: die Geburtsstunde von ‚Diez Hermanas‘

Innenaufnahme: Luxussuite über den Dächern von Boston. Die einzelnen Bereiche der 450 Quadratmeter großen Etage werden durch bis zu fünf Meter hohe Palmen separiert. Boden- und deckenhohe Fenster verleihen der Fläche etwas von einem riesenhaften Ufo. In der Mitte des Raumes befindet sich eine überdimensionale Sitzecke aus weißem Leder. Weiße Berberteppiche bedecken Mahagoni- und Marmorböden.

In drei offenen Kaminen lodert heller Feuerschein. Ein 11 x 5 Meter großes Schwimmbecken mit integriertem Whirlpool säumt die Stirnseite der Suite. Auf der gegenüberliegenden Seite wird ein reichhaltiges Buffet aufgefahren: Speisen aus sämtlichen Erdteilen warten darauf verköstigt zu werden. Draußen tobt ein heftiger Sturm. Starker Regen peitscht gegen die Fensterscheiben. Die anwesenden Personen unterhalten sich in gedämpftem Ton. Sie warten darauf, dass Aira den Raum betritt.

»Wir werden die Welt beherrschen! Wir werden ewig leben!«

Unter donnerndem Applaus hatte Aira den Raum gemeinsam mit ihren drei Bodyguards betreten. Ihr martialisches, Angst einflößendes Auftreten, stand im krassen Gegensatz zu ihrer elfenhaften Erscheinung. Ihre grünen Augen funkelten:

»Wir werden die Welt beherrschen! Wir werden ewig leben«, wiederholte sie mit klarer, lauter Stimme.

Aira trug ihre hüftlangen, weizenblonden Haare offen. Ihre Modellfigur zeichnete sich unter einer transparenten, weißen Tunika betont ab. Doch niemand der Anwesenden ließ sich durch ihr unschuldiges Bild blenden. Sie wussten um Airas Brutalität. Ihre sexuellen Obsessionen führten nicht selten zum Tod ihrer Mitspieler.

»Eine neue Ära bricht herein. Das Yzuhawa meiner Mutter ist tot. Es wird auch kein Yzuhawa 2.0 geben! Unsere Gemeinschaft wird die Welt retten und von diesem elenden Pack säubern! Zum Dank Gottes werden wir ewig leben! EWIG! Das Paradies wird unser sein! Bereits jetzt sind die Arbeiten in vollem Gange um die Infrastruktur in unserem eigenen Land hochzuziehen. Wir besitzen eine bislang kaum beachtete Inselgruppe im Pazifik vor der Küste Südamerikas. Nennen wir sie der Einfachheit halber Osomo. Doch Osomo wird nur der Beginn sein. Von dort werden wir uns ausbreiten! Weiter und weiter!«

Aira schaute herausfordernd in die Runde. Ihre perlweißen Zähne blitzten wie chemisch gereinigt.

»Wer aussteigen will, der soll die Hand heben. Jeden erwartet ein schneller, schmerzfreier Tod. Mehr kann man nicht erwarten, von diesem Leben.«

Sie schaute provozierend in die Runde. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ihre harten Brustwarzen drückten durch den weißen Stoff der Tunika.

»Eine Vielzahl an Fachgruppen und Untergruppierungen werden sich nach diesem Treffen konstituieren. Sie alle werden zum Wohl der Gemeinschaft handeln!«

»ZUM WOHL DER GEMEINSCHAFT!«, ertönte es im Chor.

»Ich werde heute das Organigramm und die Strukturen vorstellen. Nichts von dem, was ich jetzt befehle, steht zur Diskussion. Verstanden?«

Ein kurzer Blick in die Augen ihrer Untergebenen sprach Bände. Aira fuhr fort:

»K-DH ist meine rechte Hand. DH, es liegt auf der Hand, ist ab nun unser Kürzel für Diez Hermanas! K-DH ist in meiner Abwesenheit Folge bis zum Tod zu leisten. Ihr unterstehen alle nun folgenden Untergruppierungen unseres Matriarchats!«

K-DH nickte kaum merklich in die Runde und fixierte jeden der Anwesenden. Ihre weit auseinanderstehen, grauen Augen schimmerten kalt. Ihre Erscheinung wirkte Furcht einflößend: Mit einer Größe von 1,95 schaute sie auf die meisten mit brutaler Arroganz herab. Ihr muskelbepackter Körper war, den Narben nach zu urteilen, kampferprobt! Die Haare trug sie kurz, zum Nazischeitel gekämmt. Doch wer konnte schon ahnen, dass dieser Muskelberg seinen Doktor in Physik, Medizin und Biochemie mit Auszeichnungen abgelegt hatte? Aira räusperte sich.

»K-DH unterstehen spezialisierte Diez Hermanas. Du, F-DH, bist zuständig für die weltweiten Finanzgeschäfte. Damit meine ich Banken und Börsen. PM-DH ist verantwortlich für die Bereiche Pharma und Medizin. Ihr angegliedert ist O-DH. Was es damit auf sich hat, dazu kommen wir später. Du (Aira deutete auf eine vollbusige Blondine, die als Marilyn Monroe Double hätte durchgehen können) übernimmst als P-DH die weltpolitischen Geschäfte. Dazu gehören organisierte Kriminalität und Drogenhandel. W-DH kontrolliert die weltweit wissenschaftliche Entwicklung in den Bereichen Bildung und Erziehung. I-DH setzt sich mit der internationalen Großindustrie auseinander. S-DH (eine schwarz gelockte, rassige Spanierin trat vor) befasst sich mit Satellitentechnik, Spionage und Raumfahrt. PR-DH wird die weltweiten Kommunikationskanäle kontrollieren. Zur Army-DH sind wohl keine weiteren Ausführungen notwendig! Nur soweit, die Themen Kernwaffen, Giftgas und biologische Waffen fallen unter anderem in diesen Zuständigkeitsbereich. Ich will alle Ebenen kontrolliert wissen. At least benötigen wir ein soziales Netzwerk, auf dem sich die Menschen jederzeit und weltweit manipulieren lassen. Zu diesem Thema setzen wir uns morgen in kleiner Runde zusammen.«

Aira warf einen prüfenden Blick in die Runde.

»Fragen?«

»Aus wie vielen Gruppenmitgliedern bestehen die einzelnen DH’s – und wie sieht es mit der finanziellen Ausstattung aus?«, fragte die zuständige PR-DH, eine klein gewachsene Engländerin in den Dreißigern mit ausladenden Hüften.

»Jede DH stellt weltweit bis zu 200 Kräfte ein. Sie bilden den inneren Kreis. Jede dieser 200 Schwestern beschäftigt wiederum so viele Helfer und Helfershelfer, wie notwendig sind. Eine Ausnahme bildet die Army-DH. Hier können wir jederzeit aufstocken. Und noch etwas«, Aira schaute bestimmend in die Runde. »Es gibt keine Vor- und Nachnamen mehr. Ich verlange, dass ihr euch mit euren DHs anredet. Ist das klar? Fragen?«

Der Großteil der Mitglieder blickte schweigend. Einige nickten, andere applaudierten.

»Gut! Sehr gut! Ich sagte zu Beginn, dass Yzuhawa mit meiner Mutter gestorben ist! Die Bezeichnung unseres Matriarchats wird ab heute weniger kryptisch klingen. Man wird den Namen fürchten und in Ehrfurcht flüstern: Diez Hermanas! Wir alle werden zum Wohl der Gemeinschaft handeln. Zum Wohl von Diez Hermanas.«

»ZUM WOHL VON DIEZ HERMANAS« ertönte die Gemeinschaft im Chor.

»Ab heute sprecht ihr mich mit Aira Divus an. Ist das klar?« Alle nickten. »Gut, dann nur noch eines«, Airas Blick wurde eiskalt. »Das sind meine drei Bodyguards.«

Sie deutete auf zwei Frauen und einen Mann, die versteinerte Blicke in die Runde schmissen. Die stiernackigen Kampfmaschinen mit Oberarmen wie Rinderschenkel und Fäusten so groß wie Bratpfannen, waren deutlich über zwei Meter gewachsen.

»Die Drei sind beweglich wie Schlangen. Sie besitzen Auszeichnungen in sämtlichen asiatischen Kampfsportarten. Wer ihren oder den Anweisungen von K-DH nicht Folge leistet, stirbt auf der Stelle. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

Ein schneller Blick in die Runde verriet Aira, dass die Anwesenden verstanden hatten.

»Sehr gut! Dann wollen wir jetzt den alten Caligula erblassen lassen.«

Mit diesen Worten ließ Aira ihre Tunika zu Boden gleiten und winkte A-, P- und S-DH sowie ihren männlichen Bodyguard Hassan zu sich. Sie wusste, dass diese Zeremonie das Band der Gemeinschaft noch enger knüpfen würde. Sämtliche Anwesenden würden ihr zu Füssen liegen. Alle, auch der letzte Zweifler, würde ihr danach aus der Hand fressen. So funktioniert die Welt, flüsterte sie, als sie die Peitsche auf das Marilyn Monroe-Double alias P-DH richtete.

2011 - 14.4., 18:00

Großbritannien, London

Royal Nurse Hospital

Szene 27

fünf Monate später

Außenaufnahme: Die Parkanlage der psychiatrischen Klinik liegt im dichten Nebel. Die uralten Bäume des Parks zeigen das erste, zarte Grün. Dichtes Laub vom Vorjahr bedeckt die großzügig angelegten Rasenflächen und Wege. Die Backsteingebäude aus dem vorherigen Jahrhundert mit ihren vergitterten Fenstern liegen ruhig im schwindenden Licht des Tages. Sibel, den Mantelkragen hochgeschlagen, zieht ihren Mitarbeiterausweis durch den Scanner der ersten, von drei Schleusen.

Szene 28

Innenaufnahme: Sibel passiert dunkle, unwirtliche Flure. Die Wände sind im tristen Grau gehalten. Eine nicht zu definierende Farbe blättert großflächig von Zargen und Türblättern ab. Verblichene Zeichnungen, überquellende Stehaschenbecher und drei verkümmerte Gummibäume dominieren das Ambiente. Sibels Schuhsohlen quietschen auf dm abgelaufenen Linoleumbelag.

Es riecht nach menschlichen Exkrementen und Desinfektionsmitteln. Durch die verschlossenen Türen dringen die Geräusche laufender Radios, nervtötender Fernsehprogramme und die Klagelaute verlorener Seelen. Die Tür des Pflegerzimmers ist angelehnt.

»Und? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse. Irgendetwas zu beachten?« fragte Sibel mit ausdrucksloser Miene, als sie ihren Mantel in den Spind hängte.

»Die in Zimmer sieben haben sich vor etwa einer Stunde in den Haaren gehabt. Ich habe ihnen eine kräftige Dosis Haldol verpasst«, antwortete Paul. Paul, ein grauhaariger Pfleger Ende fünfzig, war desinteressiert, desillusioniert und verbittert. »Ansonsten ist soweit alles ruhig. Auf dem Schreibtisch liegen die Nummern der Bereitschaftsärzte. Sollte jemand zicken, lass ihn fixieren und auf die Geschlossene verlegen. Am besten direkt das volle Programm! Elektroschocks haben noch niemandem geschadet! HAHAHA! Gute Nacht, Kleines.«

»Gute Nacht«, antwortete Sibel und unterdrückte dabei ihre angewiderte Miene.

Sie hatte den menschenverachtenden, brutalen Macho Paul noch nie ausstehen können. Ekel, murmelte sie, als sie sich einen Filterkaffee einschenkte, der geschätzte drei Stunden auf der Warmhalteplatte vor sich hingeköchelt hatte. Schwarz wie Erdöl seufzte sie. Sibel ließ sich an den Schreibtisch nieder, um das Stationsbuch zu studieren. Im Tagesbericht las Sibel von einer Neuaufnahme: männlich, geschätztes Alter42.Verwirrt. Klagt über Gedächtnisverlust. Schwere Amnesie, las sie. Es folgte eine Liste von Psychopharmaka, die man ihm verabreicht hatte. Der Patient erklärte bei seiner Einlieferung am frühen Morgen (6:15 Uhr), er sei selbst Arzt, erinnere sich aber nicht an seinen Namen. Es macht den Eindruck, als sei der Patient obdachlos. Eine Anfrage bei den Behörden und der Polizei nach einer vermisst gemeldeten Person blieb bislang erfolglos. Wir empfehlen ... (es folgte eine weitere Liste mit Psychopharmaka). Der Patient verhält sich seit 12.45 Uhr ruhig. Wir haben ihn auf Einzelzimmer drei gelegt. Wir empfehlen eine stündliche Kontrolle.

Als Sibel den Raum betrat, lag der Patient mit der Patientennummer 251011M9 ruhig auf seiner Matratze und starrte an die Decke.

»Hallo«, flüsterte Sibel, als sie sich auf einen Stuhl neben seinem Bett niederließ. Zu ihrer Verwunderung antwortete der verwahrlost aussehende Mann postwendend.

»Hallo, junge Frau.«

»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Sibel vorsichtig.

»Pssst!«

»Wie heißen Sie? Kennen Sie ihren Namen?«, versuchte sie es erneut.

»Nenn mich Löwenherz«, antwortete der sich gewählt ausdrückende Mann Anfang 50. Er trug einen weißen Oberlippenbart und weißes, halb langes und leicht gelocktes Haar.

»Richard? Sie heißen Richard?«

»Pssst! Löwenherz!« Der Atem von Patient 251011M9 roch unangenehm und streng nach Medikamenten. Sibel wurde von einer leichten Übelkeit erfasst, als er sich näher zu ihr beugte.

»Sie können sich an nichts erinnern?«

»Pssst! Ich bin nicht blöde!« Löwenherz rollte die Augen und setzte sich auf. Sibel zuckte automatisch zurück. Ein Reflex.

»Pssst! Ich bin harmlos. ICH bin harmlos!!! Die denken, sie haben es geschafft. MICH geschafft! Doch ich bin noch nicht ganz meschugge!«

»Was meinen Sie?«, fragte Sibel mit angespanntem Unterton in der Stimme.

»Ich habe Dinge gesehen, die glauben Sie nie. NIE! NIEMALS!«

»Was ist geschehen?«

»Die haben mich vollgepumpt. Mit Psychopharmaka abgeschossen, den totalen Gedächtnisverlust provoziert. Dann haben sie mich ausgesetzt, auf die Straße. Wollten einen Penner aus mir machen. Doch bevor sie dazu kamen, habe ich meine eigene Gegentherapie eingeleitet! Weißt du, ich bin selbst Arzt. Ein Professor! Jedes Mittel hat sein Gegenmittel! Auf diese Weise habe ich mich gerettet«, antwortete er, indem er die Augen nach oben drehte und die Stirn krauszog. Irre, dachte Sibel.

»Was ist passiert, Richard?«

»Psst! Löwenherz«, keuchte Nummer 251011M9.

»Ich habe zwei, drei Tage auf der Straße gelebt. Ich weiß nicht mehr genau! Weiß gar nichts mehr! So hat es sich jedenfalls angefühlt – und so habe ich auch gestunken.«

»Hmm ...«, antworte Sibel leise und bot ihm einen Plastikbecher mit Wasser an.

»Doch schau dir meine Hände an. Sind das die Hände eines Mannes, der auf der Straße lebt?«

»Was ist passiert?«, fragte Sibel geduldig weiter.

»Ich weiß selbst nicht so genau. Ich habe Lücken. Bilder kommen hoch. Sie bedrohen mich! Ich erinnere mich an meinen Beruf. Ich bin Arzt. Ich weiß allerdings nicht mehr, wo ich wohne. Ob ich verheiratet bin. Ob ich am Wochenende zu Chelsea oder Arsenal gehe! Doch ich bin guter Dinge, dass mein Gedächtnis zurückkehrt.«

»Löwenherz, sie sprachen davon, dass sie bedroht werden. Wer sind SIE?« »Psst! Um Gottes willen!!! Wenn die wissen, dass ich mein Gedächtnis zurückgewinne, bin ich verloren!!! Und jedem, dem ich erzähle, was ich weiß, muss auf der Hut sein!«

»Und?« Sibel ließ Löwenherz Zeit. Sie fühlte, dass er sich einiges von der Seele reden wollte.

»Sie sind gefährlich. SIE kontrollieren alles. Unsere Gedanken ... die Börsen ...«

»Wer sind SIE?« Sibel ließ nicht locker. Sie wusste, dass sie Löwenherz nur helfen konnte, wenn der Erinnerungsprozess wieder in Gang gesetzt wurde.

»Ich weiß es nicht! Man wollte mich in Italien engagieren, eine Testreihe an Kindern durchzuführen – mit nicht freigegebenen Pharmazeutika. Medikamente zur Gehirnmanipulation: Die Bezahlung war zu verführerisch! In einem Monat, ein komplettes Jahresgehalt! Wer kommt da nicht in Versuchung? Doch, als ich diese Kinder sah, da habe ich mich geweigert!«

»Mein Gott«, entfuhr es Sibel.

»Es waren doch noch Kinder«, schluchzte Löwenherz.

Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter:

»Ich behalte all das erst einmal für mich.«

»Ich weiß«, hauchte Richard Löwenherz. »Ansonsten hätte ich Ihnen auch nichts erzählt. Man spürt schließlich, wem man vertrauen kann. Selbst Ihnen als Frau, traue ich!«

Als Sibel die Tür schloss, starrte Patient 251011M9 bereits wieder zur Decke. Retrograde Amnesie, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Sibel wurde neugierig. War Löwenherz ein neuerlicher Beweis dafür, dass die dunklen Mächte ihre weltweite Manipulation vorantrieben? Seit ihrem Schicksalsschlag in Neuseeland vor mehr als sechs Jahren, sammelte sie abnorme Vorkommnisse und Ungereimtheiten, die sich täglich rund um den Erdball ereigneten: Umwelt, Medizin, Börse und Politik.