Disney. Twisted Tales: Wie ein unendlicher Traum (Dornröschen) - Walt Disney - E-Book
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Disney. Twisted Tales: Wie ein unendlicher Traum (Dornröschen) E-Book

Walt Disney

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Beschreibung

Es sollte ganz einfach sein: eine schlafende Prinzessin und ein Prinz, der sie aufweckt. Aber als der Prinz in tiefen Schlaf fällt, nachdem er Dornröschen geküsst hat, ist klar, dass die Geschichte noch lange nicht zu Ende ist. Maleficents Fluch kontrolliert Dornröschens Geist, und sie muss einem fremden, düsteren Dornenschloss und einer magischen Welt voller dunkler Gefahren entkommen. Einer Welt, in die ihre Träume sie zwingen. Die Prinzessin muss herausfinden, wer ihre wahren Freunde sind – und vor allem auch, wer sie selbst ist. Wird Dornröschen es schaffen, das Schloss aus dem Zauberschlaf zu wecken?

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Für meine Tochter Ivy. Wach auf, nimm dein Schwert und besiege die Drachen des Zweifels und der Unsicherheit. Erobere die Welt. Ich werde dich immer lieben.Und hör auf, meinen Kaffee zu trinken.– L. B.

Es war einmal vor langer Zeit, da durchstreifte ich einen endlosen dunklen Wald.Er war wirklich endlos, wenn ich es doch sage! In einer anderen Welt!Eine Ewigkeit lief ich allein durch diesen Wald. Meine Frau war bereits vor Jahren gestorben. Ich wusste nicht, was aus meinem ältesten Sohn geworden war. Meine Töchter und die jüngeren Brüder waren zu Hause, nehme ich an.

Es war einmal vor langer Zeit, da lebten wir alle zusammen in einem Schloss. Aber die Dinge ändern sich. Ehefrauen sterben, Söhne werden erwachsen, machen Prinzessinnen oder Bauernmädchen den Hof, reiten fort und verschwinden für immer …– König Hubert

Achte auf den Drachen

Der Drache war tot.

Ein riesiger, schwarz und violett gefärbter, Feuer spuckender Drache aus den Tiefen der Hölle lag tot vor dem Schloss. Dornen regneten von den Festungsmauern und landeten mit einem angenehmen hölzernen Prasseln im Burghof. Viele seltsame und schreckliche Dinge hatten sich in den zurückliegenden sechzehn Jahren hinter diesen alten Mauern abgespielt.

Der schöne Prinz hatte den Drachen besiegt, dank der Unterstützung durch drei eigenartige kleine Feen. Ohne sie wäre er zu nichts nütze gewesen.

Ohne sie hätte er nicht rechtzeitig mit dem Schwert ausgeholt und die einzige verwundbare Stelle des Ungeheuers getroffen. Ohne sie hätte er dieses Zauberschwert nicht einmal besessen. Ohne sie würde er immer noch im Verlies einer bösen Fee schmachten und darauf warten, dass der Fluch, der auf seiner Geliebten lastete, aufgehoben würde – als tattriger Greis.

Trotzdem nervte ihn dieser Drache immer noch in seinem Hinterkopf wie eine lästige Mücke. Ein erlegter Drache war doch gar nicht übel. Jetzt konnte er Ruhe einkehren lassen, ehrfürchtig schweigen, durchatmen und den glorreichen Erfolg auf sich wirken lassen. Er machte sich keine Illusionen über seinen Beitrag im Vergleich zu dem der drei Feen. Aber immerhin war er der Prinz, und der Drache war tot – sollte man da nicht kurz innehalten? Oder so?

Andererseits gab es noch einige Unklarheiten, was den Tod des Drachen betraf. Das Feuer zum Beispiel – offenbar hatte der Drache einen Großteil des Waldes in Brand gesetzt. Wütete das Feuer noch? Würde es auf die Dornenhecke übergreifen, die das Schloss umrankte? Würde alles in einer Feuersbrunst vergehen?

War der Kadaver des Drachen noch da, oder hatte die böse Fee Maleficent ihn zu sich geholt?

Hatte er mit einem Drachen gekämpft, der vorübergehend die Gestalt einer Fee angenommen hatte – oder mit einer Fee, die sich in einen Drachen verwandelt hatte?

Kam dieses Ungeheuer tatsächlich aus der Hölle? Oder war es nur ein von der bösen Fee erzeugtes Trugbild gewesen?

Trotz aller Zweifel stieg er nun die Treppe in dem schlummernden Schloss hinauf. Das Mädchen, das hundert Jahre schlafen sollte, war nur einige Stunden ohnmächtig gewesen, genau wie alle anderen. Die Luft im Inneren war bereits kühl und roch modrig, so wie man es aus Schlafzimmern von Menschen kennt, die sich nicht sehr viel bewegen: Urgroßmütter zum Beispiel.

Die Flügel der Feen verursachten kleine Wirbelstürme aus dem Staub, der sich überall abgesetzt hatte.

Sein Interesse an dem Drachen ließ nach, während er sich bemühte, die Folgen des Zauberschlafs zu überwinden. Diesen Schlaf hatten die guten Feen bewirkt, und er hatte auch jene überwältigt, für die er gar nicht gedacht gewesen war. Es kam ihm vor, als würde er sich schwimmend durch die düsteren Korridore bewegen und müsste sich mit den Beinen abstoßen, um der Sonne näher zu kommen.

Denn das war der Sinn seines Kampfes gegen den Drachen: das Mädchen zu finden, das wie eine Sonne strahlte.

Das erste Mal hatte er sie im gleißenden Sonnenlicht erblickt. Sie tanzte und sang auf einer Lichtung im Wald, und ihr goldenes Haar schimmerte hell, während sie sich um sich selbst drehte. Ihre Stimme war die Essenz eines sonnigen Tages, der sich in ein unbeschwertes Lied verwandelt hatte. Sie schien in der Luft zu schweben, als würde sie aus Goldstaub bestehen, der in der Luft verwirbelte.

Schon bald würde er das Mädchen küssen, den Zauber brechen und sie aufwecken – sie und alle anderen. Und dann würden sie heiraten und glücklich sein bis ans Ende ihrer Tage.

Oder so. Die Feen hatten sich vage ausgedrückt, als sie aus dem Nichts gekommen waren, ihn befreit und im Kampf gegen den Drachen beigestanden hatten, um ihn anschließend zu dieser Treppe zu führen, die er nun hinaufstieg.

Aus irgendeinem Grund hatte das Mädchen auf der Lichtung etwas mit Feen und Hexen, Drachen und Schlössern zu tun. Und mit diesem Schloss, das er als Kind besucht hatte, um das kleine Baby anzuschauen, das er eines Tages heiraten würde. Später hatte sich herausgestellt, dass das Mädchen im Wald die Prinzessin war. Was dem Prinzen egal war, denn er hätte auch alle Regeln gebrochen und ein Bauernmädchen geheiratet, wenn sie seine große Liebe gewesen wäre.

Aber dies hier war für alle Beteiligten natürlich das Beste.

Als er ihr Schlafzimmer betrat, zerfielen seine Gedanken zu Asche, so wie der Drache vor dem Schloss.

Denn dies hier war nicht irgendein Bauernmädchen – dies war Dornröschen. Nun trug sie die Tracht, die einer Prinzessin angemessen war: ein Kleid, so blau war wie der Himmel, mit applizierten kleinen Flügeln an den Schultern wie bei einem Engel. Ihre Lippen waren geschlossen, aber nicht gepresst. Reglos lag sie da, ganz entspannt und traumlos.

Phillip blieb stehen und bewunderte ihre Schönheit.

Machten Feen Geräusche? Drängte eine äußere Kraft ihn, sich zu beeilen? Der Drache war tot, es gab unendlich viele offene Fragen, und vor ihm lag ein schlafendes Mädchen, das dringend wachgeküsst werden wollte.

Er kniete sich hin und drückte seine Lippen auf ihre.

Seine Knie gaben nach.

Er fiel nach vorn und landete auf der weichen Daunendecke und dem Seidenkissen.

Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief und im Traum einer anderen landete, war:

Dieser verdammte Drache.

Hat denn niemand nachgesehen, ob er auch wirklich tot ist?

Glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende, redigiert

Es waren einmal ein König und eine Königin, die regierten ihr Reich, wie ihre Vorfahren es getan hatten – aber mit weniger Weisheit. Sie jagten Einhörner in den Wäldern, bis sie ausgerottet waren. Sie verbannten alle weisen alten Männer und Frauen, alle Einsiedler, Priester und Schamanen, die ihnen geraten hatten, in ihrem Leben mehr Besonnenheit zu zeigen. Sie veranstalteten große Feste für die Herrscher der benachbarten Länder und verprassten auf diese Weise ihren Reichtum, woraufhin sie die Armen mit noch höheren Steuern belegten. Dann schauten sie mit gierigen Augen auf die Länder ihrer Nachbarn und wünschten sich noch mehr Land. Aber da sie nie Krieg geführt hatten, konnten sie nicht auf ein stehendes Heer zurückgreifen.

Nach einigen Jahren wurde ihnen ein Kind geboren, ein Mädchen, worüber sie sehr enttäuscht waren, denn sie hatten gehofft, einen Prinzen zu bekommen, der eines Tages König werden sollte. Immerhin war sie hübsch, von angenehmem Wesen und hatte prächtige goldene Haare, mit denen sie wie ein Engel aussah. Jeder, der das Kind betrachtete, war hingerissen von ihm.

Zur Feier der Namensgebung des Mädchens, das Aurora heißen sollte, lud das Königspaar alle ein, die es kannte, sogar drei böse Feen, die in den dunklen Gefilden des Landes hausten. Die Gäste taten sich gütlich an den reichhaltigen Delikatessen, die unter goldenen Servierglocken warm gehalten wurden, und speisten mit Messern und Gabeln aus Gold. Die Teilnehmer des Banketts durften ihr Besteck behalten, ebenso die mit Edelsteinen besetzten goldenen Becher, in denen der kostbare, unbezahlbare Wein serviert wurde.

Alle Gäste brachten dem kleinen Kind Geschenke: schneeweiße Ponys, Kissen aus Samt und Seide und Spielzeug aus den Manufakturen der geschicktesten Zwergenhandwerker.

Zuletzt waren die drei bösen Feen an der Reihe.

„Hier seht ihr unsere Tochter“, sagte der König.

„Und es wird Zeit für eure Geschenke“, fügte die Königin hinzu.

Die erste Fee lachte hinterlistig. „Hm, wie wäre es mit Schönheit? Sie sollte wenigstens hübsch aussehen, wenn sie bis in alle Ewigkeit unsere Sklavin ist.“

Die zweite Fee sagte: „Ich verleihe ihr die Gabe des Gesangs und des Tanzes. Dann kann sie uns damit erfreuen.“

Die dritte Fee sagte: „Ich gebe ihren Eltern die Macht, die sie sich wünschen, und stelle ihnen übernatürliche Kräfte zur Verfügung, damit sie sich ihre Herzenswünsche erfüllen können. Und an ihrem sechzehnten Geburtstag werden wir die Prinzessin für uns beanspruchen.“

Die drei bösen Hexen brachen in hämisches Gelächter aus.

„Nein!“

Unter den Gästen befand sich auch die einzige gute Fee, die es in diesem Land noch gab. Sie hatte sich die ganze Zeit über zurückgehalten, um nicht des Landes verwiesen zu werden.

„Eure Hoheiten“, sagte Maleficent und trat vor. Sie war eine beeindruckende Erscheinung, jung und anmutig. „Das dürft Ihr nicht tun. Ihr dürft Euer Kind nicht diesen schrecklichen Feen verkaufen.“

„Ich dachte, wir hätten euch allesamt vertrieben“, knurrte der König. „Misch dich nicht in die Angelegenheiten des Königshauses ein, du alte Vettel. Du hast hier nichts zu suchen.“

Traurig schaute Maleficent auf das hilflose Baby, das trotz der schlimmen Dinge, die hier besprochen wurden, lächelte.

„Du armes Kind“, sagte sie. „Meine Macht ist nicht groß genug, um diesen Handel zu unterbinden. Nicht unter den gegebenen Umständen. Aber ich schwöre bei meinem Leben, dass ich zurückkommen und alles in Ordnung bringen werde. An deinem sechzehnten Geburtstag werden Güte und Großmut wiederhergestellt in diesem verkommenen Königreich.“

Und damit verschwand sie in einer grünen Rauchwolke.

Das Leben ging weiter in dem armseligen Königreich, und die kleine Prinzessin Aurora wuchs heran in Schönheit und Anmut. Sie sang und tanzte zum Entzücken aller.

Ihre Eltern nutzten derweil die Macht der Dämonen und der dunklen Magie, die ihnen von den Feen zur Verfügung gestellt worden waren. Sie überzogen ihre Nachbarländer mit Kriegen, nicht nur, um Feinde in ihre Schranken zu weisen, sondern um deren Länder zu brandschatzen und dem Erdboden gleichzumachen. Wo ihre Armee einfiel, wuchsen hinterher nur noch böse und vergiftete Dinge.

Bald schon traf dies auf die ganze bekannte Welt zu.

Die friedlichen Täler, üppigen Obstgärten, schimmernden Flüsse und schneebedeckten Bergkuppen, die das Königspaar seinen Nachbarn neidete, waren bald nur noch trauriges Ödland, über das ein heißer, giftiger Wind wehte, in dem nur verdorbene, unnatürliche Kreaturen gediehen, die aus Dunkelheit und schwärzester Magie geboren wurden.

Nachdem diese Ungeheuer alles Lebendige verbraucht und vernichtet hatten, wandten sie sich mit gierigen Augen dem Schloss ihrer Herren zu.

Die Prinzessin wurde von ihren Eltern vernachlässigt und ging in Lumpen. Nur zu seltenen festlichen Gelegenheiten nahm das Königspaar seine Tochter wahr. Nur dann wurde sie ihrem königlichen Rang gemäß gekleidet, damit alle sie sehen und bewundern konnten.

Aurora ertrug die Missachtung durch ihre Eltern überraschend gut. Sie freundete sich mit den wenigen noch auf dem Schlossgelände verbliebenen Katzen, Mäusen, Hunden, Vögeln und Eichhörnchen an. Alle Menschen, die noch im Schloss lebten, hatten die Prinzessin von Herzen gern.

Vor ihren Eltern jedoch fürchteten sie sich immer mehr.

Mit sechzehn Jahren war Aurora zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen. Sie wusste sehr gut, dass ihre Geburtstage angesichts der apokalyptischen Verhältnisse in der Welt keine große Bedeutung hatten. Ihren Eltern vergab sie schon im Voraus, dass sie diesen besonderen Tag vergaßen, denn so war es auch bei ihren anderen fünfzehn Geburtstagen gewesen.

Trotzdem zog sie ihr hübschestes Kleid an und nahm sich vor, jeden, der ihr begegnete, anmutig und gut gelaunt zu grüßen, weil alle sie nun einmal so kannten. Irgendjemand würde sich bestimmt erinnern, dass sie Geburtstag hatte, und ihr gratulieren, vielleicht nur flüsternd, damit ihre Eltern es nicht hörten.

Als die Uhr zum Mittag schlug, tauchten die drei bösen Feen auf.

„Wir sind gekommen, um unser Versprechen zu erfüllen“, sagte die erste.

„Aber wir haben doch schon längst keine Kontrolle mehr über die Zauberkräfte, die ihr uns gabt“, protestierte der König.

„Das kommt davon, wenn man sich mit dem Teufel gemeinmacht“, erwiderte die zweite böse Fee.

„Ihr müsst uns retten!“, rief die Königin aus.

„Müssen wir nicht“, sagte die dritte Fee. „Und jetzt gebt uns eure Tochter.“

Auroras Blick wanderte verwirrt zwischen ihren Eltern und den Feen hin und her.

„Was … was hat das alles zu bedeuten?“, fragte sie in der Hoffnung, sie hätte es falsch verstanden.

„Du musst gehen“, antwortete die Königin und deutete auf die bösen Feen.

„NEIN.“

Genau wie sechzehn Jahre zuvor gab es einen Knall, eine grüne Rauchwolke erschien und darin Maleficent. Ihre einstige Schönheit war vergangen. Sie musste sich auf einen Stock stützen und ihr Gesicht war ausgezehrt und verhärmt. Schwarze Lumpen verhüllten ihren Körper, und sie sah aus wie eine uralte Pilgerin, die am Ende ihrer langen Reise angekommen war.

„Ich habe sechzehn Jahre gebraucht, um mich auf diesen Moment vorzubereiten, aber nun werde ich mein Bestes tun, um dieses Land vor weiteren schlimmen Entwicklungen zu bewahren“, verkündete sie mit fester Stimme. Sie hob ihren Stock und die Kristallkugel an seinem oberen Ende begann grün zu leuchten.

„Du hast keine Macht …“, begann die erste Fee.

„Fort mit dir!“, rief Maleficent. Sie hob beide Arme und erzeugte grüne Flammen.

Die drei Feen wichen kreischend zurück. Sie wurden an jenen üblen Ort geschleudert, der sie hervorgebracht hatte.

„Ach, wie dumm ihr doch wart“, sagte Maleficent zum Königspaar. „Das Böse, das ihr über die Welt gebracht habt, kann nicht in Gänze wiedergutgemacht werden. Das Land wird für immer unter der schmerzlichen Last leiden, die ihr ihm aufgebürdet habt. Aber vielleicht kann ich das Wenige retten, was noch verblieben ist.“

Wieder hob sie ihre Arme und begann zu singen. Grüner Nebel quoll aus ihren Fingerspitzen und strömte durch die mit hübschen Rahmen verzierten Fenster nach draußen. Er breitete sich im verödeten Schlosshof aus, wo nur noch knorrige, vertrocknete Bäume standen. Sofort begann eine Dornenhecke zu sprießen und überwucherte den Boden. Die Ranken überzogen bald alle Mauern mit einem dicht verwobenen, undurchdringlichen Gewirr. In Kürze war das gesamte Schloss von einem Meer aus Ästen, Zweigen, Blättern und Dornen bedeckt.

Aus dem umliegenden Land drangen verzweifelte Schreie herauf.

Völlig erschöpft brach Maleficent zusammen, ihr Gesicht war noch blasser als zuvor.

„Nun sind wir in Sicherheit.“

Der König wollte ihr seine Dankbarkeit ausdrücken, aber Maleficent ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Ihr werdet eine Strafe erleiden, die viel zu gering ist angesichts des Unheils, das ihr über die Welt gebracht habt“, sagte sie kalt. „Dafür, dass ihr eure eigene Tochter an die Mächte der Dunkelheit verkauft und die Welt jenseits der Schlossmauern vernichtet habt, hättet ihr eigentlich den Tod verdient. Aber als neue Herrscherin in diesem Schloss werde ich Nachsicht walten lassen und euch für immer in den Kerker werfen, wo ihr über eure Untaten nachdenken und sie bereuen könnt.“

Die Wachen im Schloss und alle Menschen, die darin wohnten, taten nichts, um sie aufzuhalten – sie hätten im Gegenteil gern mitgeholfen, das Königspaar die Treppen hinunterzustoßen und ins Verlies zu schleppen.

„Sie haben mich verkauft?“, murmelte Aurora. „Das verstehe ich nicht …“

Maleficent legte dem armen Mädchen eine Hand aufs Haupt.

„Es tut mir sehr leid, mein Kind“, sagte sie. „Was du zusammen mit der Welt, in der du lebst, nun erleiden musst, ist wirklich schrecklich. Aber immerhin wirst du überleben.“

Und so lebten Königin Maleficent, Aurora und all die anderen Überlebenden glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage, während die Welt außerhalb des Schlosses zerstört und tot daniederlag.

Status quo

Prinzessin Aurora drehte sich um sich selbst.

Sie konnte nicht anders.

Wenn ihr die Flure endlos lang und breit und leer erschienen … Wenn das helle Licht der Sonne durch die Dornenranken drang und goldglänzende Muster auf den Boden zeichnete, die so aussahen, wie sie sich einen Wald vorstellte … Wenn der weiche Teppich sie anlockte, auf dem dunkle und helle Flecken ein Muster bildeten, das so aussah, wie sie sich Wiesen und Felder vorstellte … Dann begann sie zu singen, drehte sich und tanzte durch die Korridore, spürte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, wenn sie die Arme ausstreckte. Und dabei versuchte sie, kleine Bruchstücke von Träumen zu erhaschen, die manchmal tatsächlich etwas mit den Wäldern zu tun hatten.

Manchmal zog sie sogar ihre goldenen Schuhe aus.

Sie sang, was immer ihr in den Sinn kam und dem Augenblick angemessen erschien. Hübsche Balladen, die der Minnesänger ihr beigebracht hatte, ernste Lieder, die ihr Musiklehrer sie gelehrt hatte, Wiegenlieder, an die sie sich von früher erinnerte, und kleine, selbst erfundene Melodien. Wenn sie im Bett lag und kurz vor dem Einschlafen war, erklang Musik in ihren Ohren, ertönten ganze Orchester und Chöre und kündeten fröhlich von Dingen an die sie sich nicht erinnern konnte. Manchmal versuchte sie, sich später wieder an diese Melodien zu erinnern und sie nachzusingen.

Dieser Flur war besonders gut geeignet, um sich um die eigene Achse zu drehen. Er lag auf der Südseite des Schlosses direkt über der großen Halle, und wenn es den warmen Winden gelang, Rauch und Ruß zu vertreiben, sah und spürte sie sogar manchmal Sonnenstrahlen. Der Flur mündete auf eine Treppe mit einem steinernen Geländer zu beiden Seiten. Daran stieß sie sich ab und warf sich hin und her wie ein übermütiges Reh, das sich fröhlich von einem Wasserfall in die Tiefe tragen lässt.

Moment mal, vermutlich wäre der Vergleich mit einem munteren Fisch besser gewesen. Aurora brachte die verschiedenen Tierarten manchmal durcheinander.

Wenn sie am Ende der Treppe angekommen war, versuchte sie ihre Füße zu kreuzen, wie sie es bei den Troubadouren und Tänzerinnen gesehen hatte. Ihr goldenes Haar wallte über ihre Schultern, mal zur einen, mal zur anderen Seite, je nachdem wie sie sich bewegte. Sie hob den Saum ihres Kleids, damit sie ihre Füße betrachten konnte, um sicherzugehen, dass sie taten, was sie von ihnen verlangte. Sogar diese Geste wirkte so graziös, dass jeder Zuschauer sie für einen Teil der Vorstellung gehalten hätte.

Gleichzeitig hätte er sich bestimmt darüber gewundert, dass diese junge Frau – die sogar eine Prinzessin war – so wild durch die Flure tanzte.

Aurora vollführte Pirouetten entlang des Tischs im Bankettsaal, hüpfte mit kleinen Schritten durch eine der Vorratskammern, trippelte an einem nur leicht erstaunten Diener vorbei und huschte durch den Saal, der einmal die Orangerie gewesen war und dessen hohe Fenster nun Dornengestrüpp überwucherte.

Die junge Prinzessin hörte nur dann auf zu singen und zu tanzen, wenn sie vor der eisernen Tür ankam, durch die man ins besondere Verlies gelangte.

Am Ende einer langen, gewundenen kalten Steintreppe erreichte man einen Gang mit kleinen runden Nischen, die aussahen wie die Kammern der aus Schlamm gefertigten Nester von Grabwespen. Die meisten waren leer, denn unter den knapp tausend Schlossbewohnern waren Verbrechen kaum mehr an der Tagesordnung, da niemand flüchten konnte. Außerdem gab es nichts, was man hätte stehlen wollen.

Früher hatte die Königin den Minnesänger, wenn er betrunken war oder sich frech benommen hatte, in einen Stall sperren lassen. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn ins Verlies geworfen, damit er dort seinen Rausch ausschlief.

Nein, die einzigen Personen, die jetzt dort ihr Dasein fristeten, waren die Verursacher des Endes der Welt: Prinzessin Auroras Eltern König Stefan und Königin Leah.

Einmal hatte sie sich getraut und war nach unten geschlichen, um ihre Ahnen zu besuchen.

Tante Maleficent hatte ihr nicht verboten, dies zu tun – ihre Tante verbot ihr überhaupt nichts. Aurora wusste auch nicht so genau, warum sie das Gefühl hatte, sie müsste es heimlich tun.

Sie hatte abgewartet, bis Maleficent wieder heraufgestiegen war. Sie hatte dort unten Fackeln anzünden lassen, daher war es nicht vollständig dunkel. Aurora hatte ihre goldenen Schuhe ausgezogen und war auf Zehenspitzen hinuntergegangen, immer dicht an die rauen Mauern gedrückt – wie ein Kind, das Verstecken spielt.

Der König und die Königin hatten sie benommen angestarrt und geschwiegen. Sie hockten in ihrer winzigen Zelle auf einer harten Bank und glotzten ins Leere. Auf ihren Gesichtern war keine Gefühlsregung zu erkennen. Sie saßen da wie Statuen, die auf das Ende der Zeit warteten, an dem endlich die Mauern des Schlosses zusammenfallen und alles unter sich begraben würden.

Aurora war erschauert und so schnell, wie sie konnte, wieder nach oben zu ihrer Tante Maleficent gerannt, um sie zu umarmen, wie sie es manchmal tat, obwohl die Alte das nicht besonders mochte.

Danach hatte Aurora nie mehr Lust verspürt, ein weiteres Mal ins Verlies hinabzusteigen.

Auch jetzt erschauerte sie kurz und eilte dann an der Tür vorbei, um sich weiter ihrer Tanzleidenschaft hinzugeben.

Ihre Eltern hatten getanzt, so wurde berichtet, als die Welt um sie herum zusammenbrach.

Ihre Verdorbenheit, ihre Bösartigkeit, ihre Gier und Herzlosigkeit waren legendär gewesen und hatten ihnen im Blut gelegen. Und ihr Blut floss auch in Auroras Adern, so wollte es die Natur.

Sie merkte, wie sie Panik ergriff, und rannte zum Thronsaal. Vor der Tür blieb sie kurz stehen, strich sich das Kleid glatt und bemühte sich um eine königliche Haltung, bevor sie eintrat.

Maleficent saß auf dem Thron mit einer Eleganz, die Aurora gern besessen hätte. Sie gestikulierte mit ihren schmalen Händen, während sie sprach, und deutete mal hierhin, mal dorthin. Die Zeit des Midvember-Balls rückte näher. Seit einem Monat hatte es kein Fest mehr gegeben. Im Saal drängten sich Diener und Angehörige des Hofstaats, die letzte Fragen zu ihrer Kostümierung klärten und um bestimmte magische Utensilien baten. Außerdem wurden Wünsche zur Menüfolge vorgetragen und die Erlaubnis für bestimmte Tänze eingeholt.

Einige Diener waren keine Menschen im eigentlichen Sinn.

Manche waren grau und schwarz und eigenartig geformt. Sie hatten Schnäbel statt Mündern oder Schweinerüssel oder – noch schlimmer – gar keine Münder. Manche waren Paarhufer oder hatten Hühnerkrallen oder gespreizte Pranken anstelle von Füßen.

Aber sie alle waren nötig, um die schlimmeren Ungeheuer im Zaum zu halten, die draußen lauerten. Maleficent hatte sie aus Lehm und dem Geist einer anderen Welt geformt – einer Welt, die nicht sehr angenehm war, wie die Prinzessin vermutete.

Die Intelligenz dieser Dienerkreaturen war bescheiden, und die Königin hatte ihnen Schweigen verordnet, weil sie bemerkt hatte, wie unwohl die Bewohner des Schlosses sich bei ihrem Anblick fühlten. Aurora wusste nicht, wie sie das finden sollte. Einerseits fand sie es unfair, dass die Ungeheuer so streng behandelt wurden. Andererseits … waren es nun mal Ungeheuer.

Maleficent bemerkte Aurora und verzog das Gesicht zu einem Lächeln.

„Komm doch zu mir, meine Liebe. Du bist eine willkommene Abwechslung. Die Vorbereitungen ziehen sich mal wieder arg in die Länge.“

„Tante“, sagte Aurora erleichtert, ging zum Thron und stellte sich neben die Königin. Wie immer vergingen all ihre Ängste und Zweifel, wenn sie sich der Retterin des Königreichs näherte. Bei ihr fühlte sie sich sicher und geborgen. „Du solltest dich wirklich nicht mit all diesen Kleinigkeiten befassen. Du tust doch schon so viel für unser Land!“

„Mag sein, aber das ist wichtig für die allgemeine Moral, meine Liebe“, erwiderte Maleficent und schaute stirnrunzelnd auf ihren versammelten Hofstaat. „Da wir das Schloss nicht verlassen dürfen, bevor das Land wieder geheilt ist, sind diese Feste sehr wichtig, um uns zu zerstreuen und die Stimmung zu heben.“ Sie hob ihre schmale Hand und schob eine goldene Strähne hinter Auroras Ohr. „Abgesehen davon haben deine Eltern dich sechzehn Jahre lang vernachlässigt. Sechzehn Jahre lang hast du als Prinzessin keine Feier und keinen Ball an deinem Geburtstag abhalten dürfen! Selbst die Bauern kümmern sich mehr um ihren Nachwuchs.“

„Vielen Dank, Tante Maleficent“, wisperte Aurora und senkte den Kopf. Sie spürte eine unendliche Dankbarkeit gegenüber dieser Frau, die sich so hingebungsvoll um sie kümmerte. Trotzdem konnte sie ihrer Tante nicht in die Augen sehen, die eigenartig gelb waren. Sie schienen nie etwas oder jemanden direkt anzublicken. Es war unmöglich herauszufinden, was diese Frau fühlte. Es sei denn, sie sagte etwas.

„Mir gefällt das Motto, das du dir diesmal ausgedacht hast“, sagte Maleficent, und die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Lippen. „Das Blau des Himmels und des Wassers – das klingt sehr poetisch.“

„Ich muss mir das alles ja ausmalen“, erklärte Aurora. „Denn ich habe noch nie einen Fluss oder das Meer gesehen.“

In ihren Träumen flossen manchmal glitzernde Ströme an kühlen und schattigen Ufern vorbei – aber sie waren nur Produkte ihrer Vorstellung und hatten oft keine anderen Farben als alle Schattierungen von Braun.

„Das hast du gut gemacht.“ Maleficent tätschelte Aurora den Kopf wie bei einem … Schoßtier. Es war eine eigenartige Geste, die anscheinend ursprünglich mal für ein anderes Wesen gedacht war. Auch das war so eine der seltsamen Angewohnheiten ihrer Tante. „Hör mal, du weißt ja, dass dieser Ball heute bis spät in die Nacht gehen wird. Warum hältst du nicht ein Nickerchen, damit du heute Abend wieder voller Energie bist? Ich weiß doch, wie gern du tanzt.“

„Aber ich möchte doch helfen …“

„Ein anderes Mal, Herzchen“, beschwichtigte Maleficent sie und strich ihr freundlich über die Wange. „Dafür wird in den kommenden Jahren noch genug Zeit sein.“

„Ja, Tante Maleficent. Vielen Dank, Tante Maleficent“, sagte Aurora folgsam. Dann beugte sie sich vor und gab ihrer Tante einen kleinen Kuss auf die eingefallene Wange.

Maleficent warf nervöse Blicke um sich.

Die mächtige Fee hatte nicht darum gebeten, sich als Retterin der letzten Menschen zu betätigen. Vor allem aber hatte sie nicht gewollt, dass die Welt überhaupt zerstört wird.

Und sie hatte sich auch nicht darum beworben, die Ersatzmutter einer vernachlässigten Prinzessin zu werden.

Wahrscheinlich hätte sie lieber ihr eigenes Leben gelebt, in ihrem alten Schloss, wo sie Zaubersprüche ausprobieren und mit verborgenen Mächten kommunizieren konnte, die nichts mit dem Dasein der Sterblichen zu tun hatten.

Wenn sie es also nicht gewöhnt war, umarmt oder geküsst zu werden oder sonstige Zuneigungsbekundungen von Aurora zu erhalten, dann mussten sie eben beide lernen, damit umzugehen. Aurora, die nie echte Eltern gehabt hatte, würde ihr Herz mit der Zeit schon erweichen.

Die Prinzessin ging zurück zu ihrem Zimmer.

Der Flur war sehr breit und lud zum Tanzen ein, aber dieses Mal verzichtete sie darauf. Sie fühlte sich nutzlos und leer.

„EURE HOHEIT.“

Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter.

Erschrocken wirbelte Aurora herum – aber es war nur der alte Bänkelsänger. Er war blass, und seine Nase war sehr lang und sehr spitz. Er wirkte wilder und verrückter als je zuvor. Seine Kleider waren zerfetzt, und er hatte Kratzer um die Augen. Es sah aus, als würde er Blut weinen.

„Ihr seht nicht gut aus, Meister Tommins“, sagte Aurora freundlich. Sie roch nichts an ihm, nicht mal den selbst gebrannten Schnaps, den einige Bauern im Schlosshof destillierten. Mitunter schien es, als würde es ihn körperlich ruinieren, dass er nichts zu trinken bekam.

„Sie ist da draußen. Dort! Es gibt eine Außenwelt!“, raunte der alte Mann. Dann schaute er furchtsam hinter sich, fasste Auroras Hand und drückte sie. „Eure Hoheit, ich konnte entkommen!“

„Lasst meine Hand los, Ihr seid krank“, erwiderte Aurora, die sein Benehmen nur leicht beunruhigte. Sie sorgte sich eher um seine Gesundheit und darum, was passieren würde, wenn er einem anderen in dieser Stimmung unter die Augen trat.

Bekannte und merkwürdig unstete Schritte näherten sich. Das Geräusch ängstigte den Sänger bis zur Hysterie.

Aurora legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Vielleicht solltet Ihr Euch kurz hinlegen …“

Aber es war zu spät. Zwei Angehörige der Privatgarde von Maleficent kamen um die Ecke: ölige schwarz-graue Monster, die mit schief sitzenden Köpfen nebeneinander marschierten. Sie wirkten, als könnten sie sich nur knapp aufrecht halten, und sahen aus, als hätte jemand sie falsch zusammengesetzt.

Der Bänkelsänger geriet bei ihrem Anblick in Panik. Trotzdem wandte er sich nicht von der Prinzessin ab.

„Eure Hoheit …“

„Entferne dich von ihr, du singendes Menschlein“, rief der Gardist, der am ehesten einem Schwein ähnelte. „Maleficent befiehlt dir, dich auszuschlafen und sie in Ruhe zu lassen.“

„Ihr seid der Schlüssel“, flüsterte der Sänger und drängte sich dicht an die Prinzessin, um in ihr Ohr zu sprechen. Sie musste an sich halten, um ihn nicht abzuwehren. „Ihr! Denn draußen ist alles noch da!“

„MINNESÄNGER!“, rief der andere Wächter, der einen Hahnenkamm und gelbe Augen wie ein Dämon hatte.

Sie packten den Sänger mit ihren Klauen an den Schultern und schleuderten ihn herum, als wöge er nicht mehr als eine Feder.

„Eure Hoheit!“, kreischte er.

Die Unholde lachten.

„Sing uns ein Lied, dann tun wir dir nicht zu sehr weh auf dem Weg in den Kerker!“, verlangte der erste Gardist.

„Seid bitte vorsichtig mit ihm“, bat Aurora. „Er hat doch nur einen Anfall und braucht einen Arzt und keine Schläge …“

„SING!“, befahl der zweite Wächter, ohne auf sie zu hören. Weder er noch sein Kumpan machten sich die Mühe, sich vor ihr zu verbeugen, als sie gingen. „LOS! SING!“

Der Bänkelsänger gab sein Bestes, während ihm die Tränen über das blutige Gesicht rannen. Die albtraumhaften Gestalten packten ihn und hoben ihn auf ihre Schultern.

„Douce … douce dame jolie …“

Erschüttert sah Aurora zu, wie sie ihn fortschafften.

Aber da war noch etwas, ein Fünkchen von etwas, das zu schaurig war, um es zuzugeben. Die Erleichterung darüber, dass dieser Nachmittag doch noch abwechslungsreich geworden war.

Als die drei verschwunden waren, hingen nur noch die Bruchstücke des Liedes in der Luft wie dünner Rauch, der sich in einem Saal verlor.

„Pour dieu ne pensés mie

Que nulle ait signorie

Seur moy fors vous seulement …“

Aurora hielt noch immer die Hände verschränkt, nachdem der Sänger sie gedrückt hatte. Als sie sie auseinanderfaltete, bemerkte sie, dass er ihr etwas zugesteckt hatte.

Verwundert hob sie es in die Höhe.

Es war eine blau schimmernde Feder.

Douce Dame Jolie

Ohne darüber nachzudenken, ließ Aurora ihren Daumen über die Feder gleiten, um zu fühlen, ob sie wirklich echt war. Das war sie. Nachdenklich drehte sie sie zwischen den Fingern.

Es gab immer noch Tauben. Ein Schwarm davon lebte im Schlosshof. Manchmal fingen die Bauern ein paar zum Abendessen, wenn sie genug von dem magischen Essen hatten. Aber diese Tauben hatten andere Federn.

Ein paar Hühner und Enten liefen auch herum, aber selbst die Erpel, deren Gefieder besonders farbenfroh schillerte, hatten keine so auffälligen Federn.

Die tropischen Vögel in den goldenen Käfigen hatten sehr leichte blaue Federn, die eher den feinen Blüten auf altmodischen Wandteppichen ähnelten, aber keinesfalls dieser Feder hier.

Sie hielt die Feder in die Höhe, als sie nachdenklich zu ihrem Zimmer ging.

Aurora lebte in einer sehr hübsch eingerichteten Suite im ersten Stock des Schlosses. Alle Überlebenden des Königshauses und die Angehörigen des geringeren Adels wie auch einige ausländische Würdenträger, die gezwungen gewesen waren zu bleiben, als die Welt zusammenbrach, lebten im inneren Burgfried. Die weniger hochstehenden Überlebenden, die Bauern und Diener, wohnten in einem eilig errichteten Dorf aus Bretterbuden im äußeren Schlosshof.

Wenn Aurora das dichte Dornengestrüpp ignorierte, das ihr Fenster überzog, und eine besonders helle Laterne anzündete, konnte sie so tun, als wären ihre Gemächer ganz normal. In ihrem Schlafzimmer stand ein weiches Himmelbett mit rosa Baldachin, ein Kleiderschrank mit vergoldeten Beschlägen, in dem eine beeindruckende Auswahl wunderschöner Gewänder hing, ein Waschtisch mit einem Krug und einer Silberschüssel, ein hübsches Sofa mit Seidenkissen und ein kleiner Tisch neben dem Kamin mit langen geschwungenen Beinen.

Auch ein gut gefüllter Bücherschrank hatte das Ende der Welt überstanden, aber die Bücher waren nicht zu gebrauchen.

In den meisten von ihnen fehlten große Textteile und die Illustrationen. Viele Seiten waren völlig leer. Die verbliebenen Worte gehörten zu einer Sprache, die niemand kannte. Das war eine Folge der schwarzen Magie, die König Stefan und Königin Leah entfesselt hatten. Sie hatten nicht nur das Land zerstört, sondern auch den Geist, die Fantasie und die Erfindungen der Menschheit. Und leider reichte die Macht der neuen Königin nicht aus, um alles Verlorene wiederzubeschaffen – sie hatte schon genug damit zu tun, die übrig gebliebene Bevölkerung am Leben zu erhalten.

Und so fehlte den meisten Bücher der Inhalt. Und sämtliche Stoffe und Tücher, die im Schloss Verwendung fanden, mussten mithilfe von Magie gewoben werden. Denn schon seit langer Zeit hatte hier niemand mehr ein Spinnrad bedient.

Auroras Bett sah heute besonders einladend aus, die Diener hatten es hübsch aufgeplustert.

Wenn sie nicht durchs Schloss lief und sich um sich selbst drehte, lag sie am liebsten in ihrem Bett und träumte vor sich hin. Ihr Bett war ihr Lieblingsplatz, hier konnte sie Stunden zubringen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Aber bald würde die Nacht kommen, dann wurde es interessanter … soweit überhaupt etwas interessant sein konnte in diesem Schloss nach dem Ende der Welt.

Wenn die Nächte nichts von Interesse brachten, hatte sie immerhin einen weiteren endlos langen Tag hinter sich gebracht.

Aurora ließ sich auf den Rücken fallen und versank in der dicken Daunendecke. In der Hand hielt sie noch immer die blaue Feder. Sie hatte nie bemerkt, dass der Minnesänger im äußeren Schlosshof unterwegs war. Normalerweise hielt er sich im Schatten, verbarg sich in den Räumen des inneren Burgfrieds – wie ein Dieb oder eine Katze. Grelles Licht mied er, aber er schaute auch nicht gern zu dem Dornengestrüpp hinauf, das alles umfing und den Blick auf den Himmel versperrte.

Vielleicht meinte er mit „draußen“ nur den äußeren Hof und nicht die Außenwelt.

Dieser arme verrückte Kerl, der ständig betrunken war.

Sie seufzte, streckte die Hand nach einem der unlesbaren Bücher aus, dessen Umschlag mit einem schlichten Muster verziert war, und legte die Feder zwischen die Seiten.

Aber dann änderte sie ihren Entschluss und steckte sie in die kleine silberne Tasche an ihrem Gürtel. Eine Feder war einmal etwas Lebendiges gewesen, sie sollte nicht weggepackt werden wie ein lebloses Ding oder ein Manuskript. Sie wollte sie bei sich tragen, bis sie herausfand, was es mit ihr auf sich hatte.

Aurora dachte an eine andere Feder, die sie besaß, und seufzte abermals.

Statt sich auszuruhen, setzte sie sich vor ihren kleinen Tisch, griff nach der Schreibfeder und begann, auf einem Stück Pergament eine mathematische Aufgabe zu lösen.

Nachdem sie das Schloss in eine Festung verwandelt und dank ihrer magischen Kräfte dafür gesorgt hatte, dass alle im Schloss genug zu essen hatten, hatte Maleficent sich Auroras Bildung gewidmet. Das alte Königspaar hatte die Erziehung ihrer ungeliebten Tochter völlig vernachlässigt. Außer den Grundkenntnissen in Lesen und Schreiben, Handarbeit und so nützlichen Kleinigkeiten wie Etikette und Geografie, mit denen Angehörige einer königlichen Familie sich beschäftigten, hatten sie ihr nichts vermittelt. Die neue Königin hatte sofort ein halbes Dutzend Lehrer verpflichtet und ihnen aufgetragen, ihr auch Dinge zu vermitteln, die nicht unbedingt „prinzessinnenhaft“ waren.

Mathematik zum Beispiel.

Womit Aurora nicht besonders viel anfangen konnte.

Anderes fiel ihr leicht: Singen, Blockflöte spielen, Höflichkeit, Geduld beim Nähen, auch wenn es noch Jahre dauern würde, bis ihre handwerklichen Fähigkeiten das Niveau einer Zwölfjährigen erreicht hatten. Ihre Finger waren regelmäßig übersät mit Nadelstichen, die sie sich beim Sticken zugezogen hatte. Maleficent hatte scherzhaft vorgeschlagen, sie solle das Kardieren und Spinnen bleiben lassen, bis sie ganz sicher war, dass sie sich nicht mit dem spitzen Ende der Spindel verletzte.

Aber Zahlen und alles, was mit Zahlen zu tun hatte, war etwas völlig anderes. Aurora fragte sich gelegentlich, ob es einen besonderen Grund gab, warum Prinzessinnen sich nicht mit Mathematik, Alchimie und anderen weltlichen Dingen beschäftigen sollten. Vielleicht waren sie einfach zu dumm dafür.

Trotzdem zwang sie sich aufmerksam zuzuhören, wenn der alte Schatzmeister ihr geduldig die Magie des Addierens und Subtrahierens mit Stöckchen oder dem Rechenbrett erklärte und der Tischler ihr die Maßeinheiten mithilfe von Bindfäden und Gewichten nahebrachte.

Wenn sie sich allein mit diesen Problemen beschäftigte, kam sie nie zu einem vernünftigen Ergebnis. Die Zahlen verschwammen vor ihren Augen, und die Linien schienen sich zu vervielfältigen. Ihre Begabung, geometrische Formen zu zeichnen, war kaum der Rede wert. Ihre Kästchen und Vierecke wurden schief und krumm.

Aber Maleficent war sehr ehrgeizig, was die Bildung ihrer Adoptiv-Nichte betraf, und darum zwang Aurora sich, heimlich zu üben. Dabei stellte sie sich vor, wie ihre Tante sie erstaunt anschauen würde, wenn es ihr gelang, eine große Herde gezeichneter Schafe in fünf gleich große kleinere Herden aufzuteilen.

Aurora versuchte, ein Schaf zu zeichnen. Dann fügte sie vier weitere hinzu und zählte sie. Es waren fünf. Sie zeichnete zwei weitere hinzu. Jetzt waren es sechs.

Nachdenklich starrte sie auf das Papier.

Aber vielleicht auch sieben. Oder acht?

Sie zählte sie an ihren Fingern ab und stellte sich vor, jeder Finger wäre ein kleines warmes Wollknäuel.

Zählte man den am Anfang und den am Ende mit? Oder zählte man sie wie Blätter in einem Buch, wo beide Seiten nur als ein Blatt zählten?

Sie brachte weitere zehn Minuten damit zu, die beiden Schafgruppen zusammenzuzählen, beinahe sicher, dass es sieben waren, aber diese Ungenauigkeit verursachte ihr Kopfschmerzen.

Schließlich ließ sie sich frustriert aufs Bett fallen.

Sie würde nie so schlau, mächtig und elegant werden wie ihre Tante.

Manchmal hatte sie das Gefühl, die Königin würde sie nur beschäftigen.

Manchmal spürte sie einen leichten Anflug von Zorn, weil ihr ständig gesagt wurde, was sie tun sollte. „Leg dich hin und mach ein Nickerchen.“ War sie etwa noch ein Kind? „Oh, du kannst mir wirklich nicht bei diesen überaus komplizierten Partyvorbereitungen helfen.“ Eines Tages sollte sie Königin werden! Da konnte sie doch wohl eine Party organisieren.

Manchmal, wenn sie sich in die Daunendecken auf ihrem Himmelbett vergrub und ins Grübeln geriet, fragte sie sich, ob ihre Tante wirklich nur ihr Bestes wollte.

Warum durfte sie nicht mithelfen, das Schloss auf magische Weise am Leben zu erhalten? Warum durfte sie nicht zuschauen und lernen, wie Maleficent ausreichend Nahrungsmittel und sonstige Güter besorgte, obwohl die Welt dort draußen komplett zerstört war?

Und wie lange mussten sie hier noch im Schloss ausharren? Wann wäre es wieder möglich, nach draußen zu gehen, ohne sich in Gefahr zu begeben – und sei es auch nur für eine kurze Zeit?

Einmal hatte ein Priester ihr eine Geschichte erzählt, die von der ersten Zerstörung der Welt handelte – ein Priester, der aus irgendeinem Grund draußen gewesen war, als es passierte. Damals war das Wasser daran schuld gewesen, nicht irgendwelche Ungeheuer. Nachdem die überlebenden Menschen zwei Wochen lang in ihrem Boot ausgeharrt hatten, hatten sie eine Taube – oder einen Igel? – oder einen anderen Vogel losgeschickt, um nachzuschauen, ob es irgendwo Land gab.

Könnte sie das nicht auch tun?

Könnte sie nicht einen der nichtmenschlichen Wächter losschicken? Könnten die nicht losgehen, die Welt erkunden und anschließend zurückkommen – nachdem Maleficent ihnen einen Zauber mitgegeben hatte, der sie schützte?

War der Minnesänger tatsächlich draußen gewesen und wieder zurückgekommen?

Der Verbannte war der Einzige gewesen, der gezwungen worden war, das Schloss zu verlassen, und er war nie zurückgekehrt. Er hatte ihr Recht zu regieren angezweifelt, denn er sei ein echter König, hatte er erklärt, und „kein billiges Flittchen in Feengestalt“.

Bei genauerer Betrachtung hatte er noch Glück gehabt, dass sie ihn nicht auf der Stelle getötet hatte. Maleficent war temperamentvoll, auch wenn sie sich ihrer Nichte gegenüber stets beherrscht zeigte.

Aurora wälzte sich auf dem Bett herum und drückte sich das Kissen auf den Kopf. Für diese Gedanken schämte sie sich am meisten. Weil sie undankbar gegenüber jener Frau waren, die das gerettet hatte, was von der Welt noch übrig war. In Aurora steckte noch zu viel von ihren Eltern. Ihr fehlte es an Dankbarkeit und Bescheidenheit.

Sie wünschte sich magische Kräfte.

Nein, widersprach eine Stimme in ihrem Kopf, nicht so viel Macht, wie meine Eltern hatten. Auch nicht mal so viel Macht, wie Maleficent hat. Nur ein bisschen. Nur so viel, dass ich in der Lage bin zu sehen. Um herauszufinden, wie es um die Welt dort draußen steht, ob sich etwas zum Besseren verändert … oder wie es dort früher war, als es noch Tiere und Menschen gab und die Bücher lesbar waren. Es war ziemlich anstrengend, sich überhaupt eine Veränderung vorzustellen – auch das war eine Folge des Zaubers.

Aurora wünschte …

… und da fiel ihr ein Buch auf den Kopf.

Das Kartenspiel

Prinzessin Aurora setzte sich auf und war verwundert über die Flut aus Papier, die sich über den Fußboden ergoss. Es war kein Buch, sondern … ein Kartenspiel mit Bildern in leuchtenden Farben, die alle noch deutlich sichtbar waren.

Sie hob sie vorsichtig auf, voller Angst, sie könnten sich schon bei der leisesten Berührung in nichts auflösen, weil sie nur ein Produkt ihrer Fantasie waren.

Die ersten kannte sie sehr gut. Es waren Karten, die zu einem Spiel gehörten, mit dem sich die Schlossbewohner die Zeit vertrieben. Eine Drei mit Schwertern, eine Neun mit Tassen, eine Zwei mit Herzen, allesamt in den typischen Wappenfarben des Königreichs gehalten. Eine Acht mit Stühlen. Eine Dreizehn mit Puppen. Eine Null mit keinem Schloss.

Die Zahlen waren schwungvoll gezeichnet und golden und sahen genauso aus wie diejenigen, die sie in die Luft schrieb, wenn das Rechnen ihr leichtfiel.

Die Stelle an ihrem Kopf, auf die das Kartenspiel gefallen war, schmerzte. Welche goldenen Zahlen denn? Seit wann fiel ihr das Rechnen leicht? Das war nie der Fall, außer wenn sie träumte …

Sie schüttelte den Kopf und schaute sich die nächste Karte an.

Ein Joker.

Verwundert betrachtete Aurora ihn. Er grinste so, wie es üblich war, aber sein geschecktes Narrengewand war zerrissen. Er hatte ein längliches schmales Gesicht und statt einem Zepter oder einem Zauberstab hielt er eine Laute in der Hand. Tatsächlich hatte er eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem alten Minnesänger.

Und nach dieser Karte kamen weitere, die noch viel merkwürdiger aussahen.

Auf einer war eine Sonne zu sehen, ein gelber Ball mit goldenen Strahlen, die bis zum Rand der Karte reichten. Aurora hielt sie sich nah ans Gesicht und bewunderte die Details. Sie wünschte sich, der Künstler hätte ein wenig von dem blauen Himmel eingezeichnet, an den sie sich kaum noch erinnern konnte. Die Sonne schien sich über ihre Kraft so sehr zu freuen, dass ihre geschlossenen Augen nur einfache Bögen waren. Ihr Mund war kaum zu erkennen.

Hatte die echte Sonne auch ein Gesicht?

Aurora war sich nicht sicher. Sie konnte sich nicht daran erinnern.

Auf dem Bild darunter ritt ein nacktes Kind auf einem Pony über einen Hügel, der so grün war, dass sie die Farbe am liebsten mit dem Fingernagel abgekratzt hätte. Das Pony war schwarz-weiß gescheckt, hatte ein Horn und einen Bart. Keines der noch im Schloss lebenden Pferde sah so aus.

Die nächste Karte zeigte ein Mädchen, das auf den ersten Blick wie sie selbst aussah und einen Arm um den Hals eines Löwen schlang. Der Löwe war gelbbraun, orange und rot, und das Haar des Mädchens war so dicht, dass es wie eine Mähne wirkte. Es leuchtete so stark wie die Sonne. Aurora kannte Löwen, weil sie die hölzerne Wandverkleidung im Schloss zierten und auch auf den Wappenschildern prangten.

Auf der nächsten Karte war wieder ein Mädchen abgebildet, das ihr ebenfalls ähnlich sah. Es fasste einem anderen Tier an die Schnauze, aber Aurora hatte keine Ahnung, was für ein Tier es war. Es war klein wie ein Eichhörnchen, hatte aber sehr lange weiche Ohren, die genauso lächerlich wirkten wie das Horn auf dem Kopf des Ponys. An seiner rosigen Nase sprießten lange Schnurrhaare, die so sorgfältig gezeichnet waren, dass Aurora ganz entzückt war. Wie gern hätte sie dieses Wesen berührt, so wie es das Mädchen auf dem Bild tat.

Und dann war da noch eine Karte, die nur ein Tier zeigte, das auf einer grünen, von Bäumen umsäumten Fläche stand. Es sah ein bisschen aus wie ein Pferd, hatte aber einen kleineren Körper und schlankere Beine. Es hatte keine Mähne, und sein Schwanz war kurz und dick. Es hatte den Kopf gedreht und schaute nach hinten, als würde es horchen, ob ihm Gefahr drohte.

Aurora schaute sich hastig um. Mit einem Mal war sie nervös. In keinem Buch im Schloss waren alle Bilder zu sehen, und sogar die Wandbehänge waren unkenntlich geworden. Umso eigenartiger, dass dieses Kartenspiel komplett war.

Warum? Und warum jetzt?

„Prinzessin? Eure Hoheit?“, ertönte eine Stimme vor ihrer Zimmertür.

Aurora schob die Karten unordentlich zusammen und schaute sich nach einem Platz um, wo sie sie verstecken konnte. Schließlich steckte sie sie hastig in die kleine Samttasche, die passend zu ihrem Abendgewand genäht worden war.

Ohne auf eine Antwort zu warten, trat eine kleine Person mit einem runden Gesicht und feinen Gliedern wie bei einer Libelle ein.

Aurora errötete vor Scham und Schuld. Lady Lianna war ihre persönliche Dienerin und Freundin. Und die Prinzessin war ihre einzige Freundin. Lady Lianna hatte zu einer Delegation gehört, die das Schloss besuchte, als das Ende der Welt gekommen war und ihre Heimat zerstörte. Ihre Eltern und alle anderen Menschen, die sie gekannt hatte, waren tot.

Trotz ihres passenden Kleides und den sehr stylishen, ebenholzschwarzen Haarknoten, die ihre Ohren bedeckten, war irgendetwas eigenartig an ihren großen, dunklen Augen und ihrer grauen Haut. Die anderen Adeligen im Schloss mieden sie.

„Ihr seid ja noch nicht einmal ansatzweise angekleidet“, schimpfte Lianna. Aber sie schnalzte nicht abfällig mit der Zunge, wie es andere Bedienstete vielleicht getan hätte. Stattdessen huschte sie im Zimmer umher und suchte alles zusammen, was für die Verwandlung eines Mädchens in eine Ballschönheit nötig war: Bürste, Bänder, Unterröcke, goldene Pelerine, goldene Schuhe.

„Ähm …“, sagte Aurora. Bis eben war der Ball noch das wichtigste – oder interessanteste – Ereignis ihres Lebens gewesen. Das einzige Ereignis, auf das sie sich jeden Monat wirklich freute.

Aber nun wollte Aurora nur noch, dass Lianna fortging, damit sie sich wieder aufs Bett legen und alle Karten anschauen konnte.

Die Dienerin trat hinter sie und begann, Auroras Tageskleid aufzuschnüren.

„Eure zweite Cousine, Fräulein Laura, weigert sich, das Kleid zu tragen, für das Ihr ihr großzügigerweise den Stoffballen zur Verfügung gestellt habt“, informierte Lianna sie.

„Tatsächlich?“, entgegnete Aurora unkonzentriert. „Ich dachte, dieses dunkle Aquamarin würde ihr stehen. Es passt zu ihren Augen.“

„Ich glaube, es geht ihr weniger um die Farbe als um die Person, die es ausgewählt hat“, erklärte Lianna spitz. Nachdem sie alle Bänder gelöst hatte, drehte sie Aurora höflich, aber bestimmt um, damit sie ihr helfen konnte, die langen Ärmel aufzuknöpfen.

„Wie ärgerlich. Na ja, sie ist noch ein kleines Mädchen“, meinte Aurora kopfschüttelnd und schlackerte mit dem Arm, damit der Ärmel herunterrutschte.

„Sie ist fünfzehn, Eure Hoheit“, bemerkte Lianna mit einem fast unhörbaren Fauchen. „Ich würde mir derartige Unverfrorenheiten nicht gefallen lassen. Ihr müsst noch viele Jahre sehr eng mit ihr zusammenleben – und mit ihren Bewunderern.“

Aurora lächelte nachsichtig. „Lianna, hier geht es nicht so zu wie an dem Hof, von dem du kommst. Hier gibt es keine Intrigen und keine Verschwörungen. Sie möchte nur, dass die zukünftige Königin sich nicht in ihre privaten Angelegenheiten einmischt. Das verstehe ich. Ich mag es auch nicht, wenn jemand mich bevormundet.“

Darauf folgte ein kurzer Augenblick des Schweigens. Aurora erkannte, dass sie den letzten Satz heftiger ausgesprochen hatte als beabsichtigt.

Liannas große Augen waren so ausdruckslos wie immer, als sie sagte: „Oh, selbstverständlich. Und der Verbannte war also nur ein freundlicher König aus dem Nachbarland und nichts weiter.“

„Das war etwas anderes“, warf Aurora ein. Sie erinnerte sich nicht gern daran. „Er wollte die Herrschaft im Schloss an sich reißen und hatte einen regelrechten Staatsstreich geplant.“

„Auch das hat mit Gerede angefangen, Eure Hoheit. Er hat Königin Maleficents Legitimität angezweifelt. Und behauptet, er wäre besser zum Regieren geeignet. Mit Gerede fing es an, und es endete damit, dass er hinausgeworfen wurde, damit er unsere Sicherheit nicht gefährdet. Wenn Ihr Fräulein Laura wirklich mögt, dann legt ihr nahe, ihre Zunge im Zaum zu halten und Anweisungen von oben widerspruchslos zu befolgen.“

Die Prinzessin schwieg. Alles, woran sie sich aus dieser verwirrenden Zeit noch erinnerte, war der aufbrausende dicke Mann mit weißem Bart, der ihrer kühlen Tante ständig widersprochen und sich ihr widersetzt hatte. Seine Wutanfälle hatten in eigenartigem Gegensatz zu ihrem ruhigen und gemessenen Benehmen gestanden.

Und dann seine Flüche, als die unmenschlichen Diener der Königin ihn packten und aus dem Schloss warfen.

Lianna bemerkte den besorgten Blick ihrer Herrin und lenkte ein. „Kommt“, sagte sie, „zieht das jetzt aus. Dann ziehen wir Euch dieses hübsche Gewand an.“

Sie drehte sich mit der Präzision eines Insekts zum Kleiderschrank um. Aurora schlängelte sich aus ihrem Kleid und ließ es auf den Boden fallen. Es war ein lustiger, dramatischer Moment, aber Aurora war ein braves Mädchen. Also trat sie daneben, hob es auf und strich es glatt. So wie man es ihr beigebracht hatte.

Nein, Moment mal … niemand hatte ihr das beigebracht. Man hatte sie doch jahrelang nicht beachtet, sondern mit den Kindern der Diener und den Hunden herumtollen lassen.

Verwirrt legte sie eine Hand an ihre Stirn.

„Hier bitte, schaut mal“, sagte Lianna hastig und reichte ihr ein neues Kleid. „Dies ist einer Prinzessin angemessen.“

Womit sie recht hatte, wie Aurora lächelnd feststellte. Rock und Leibchen waren so dunkelblau, wie sie sich das Meer vorstellte, und mit vielen goldenen Punkten versehen, die aussahen wie das glitzernde Sonnenlicht, das von den Wellen reflektiert wurde. Der Gürtel passte zu ihrem Umhang und war aus demselben goldenen Stoff gefertigt, der noch von einem Kleidungsstück der alten Königin stammte.

Die Palastschneiderinnen und die Hofdamen hatten Tag und Nacht daran gearbeitet – genau wie an allen ihren Ballkostümen.

„Es ist wirklich nett, dass alle sich so um mich bemühen“, murmelte Aurora.

„Es ist sehr großzügig von der Königin und Euch, dass Ihr den Damen etwas zu tun gebt“, korrigierte Lianna sie.

„Wie meinst du das? Die Arbeit hieran muss doch Wochen gedauert haben“, sagte Aurora und zeigte ihr die sorgsam genähten Säume.

„Schneiderinnen sind dazu da zu schneidern. Damen müssen tanzen. Jeder tut das, was er tun muss, andernfalls werden wir hier alle wahnsinnig“, entgegnete die Dienerin und hielt ihr das Kleid hin, damit sie hineinsteigen konnte. „Ich habe gesehen, wie sie gearbeitet haben, wie ihre Nadeln auf und ab flogen, als würden sie vom Teufel persönlich angetrieben. Sogar die Bauern striegeln ihre Esel und begießen die Schweine mit Wasser oder versuchen Gemüse zu ziehen, obwohl unsere Königin dank ihrer Magie genug Nahrung für alle bereitstellt. Sie können nicht anders. Jeder muss das tun, wozu er gemacht ist.“

„Und die Dienerinnen?“, fragte Aurora mit einem schelmischen Lächeln.

„Warten darauf zu dienen. Dienen und warten“, erwiderte Lianna todernst.

„Aber du musst das doch gar nicht tun“, wandte die Prinzessin ein. „Es ist sehr freundlich von dir, dass du mir dienst, und ich mag dich, weil du meine Freundin bist, aber … was würdest du tun, wenn du etwas anderes tun könntest?“

Lianna starrte sie mit ihren großen dunklen Augen an, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich bin nur hier, weil die Königin gnädig zu mir ist“, sagte sie schlicht. „Ich bin dankbar, dass ich weiterexistieren darf.“

Aurora biss sich auf die Lippe. Was sie für gedankenloses Befolgen von Befehlen gehalten hatte, war in Wirklichkeit also überschwängliche Dankbarkeit. Lianna fühlte sich bevorzugt, weil sie noch am Leben war. Alles, was sie tat, diente dazu, diese Tatsache zu feiern.