Doctor X - José Ángel Mañas - E-Book

Doctor X E-Book

José Ángel Mañas

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Beschreibung

Am 1. Oktober 2013 zerschlug die US-Regierung Silk Road, den berüchtigten Online-Schwarzmarkt für Drogen im Darknet. Während Ross Ulbricht und alle zentralen Beteiligten zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, entkam einer der Justiz: ein spanischer Arzt, bekannt als Doctor X. Wer war dieser geheimnisvolle Mann – und wie wurde er zur legendärsten Figur des Dark Web? Doctor X erzählt eine fesselnde wahre Geschichte, die José Ángel Mañas und Jordi Ledesma in einen packenden Thriller verwandelt haben.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Doctor X

Der Darknet-Arzt

José Ángel Mañas

Jordi Ledesma

© José Ángel Mañas, Jordi Ledesma, 2024

Aniara, 2025

Translation by Aniara

www.aniara.one

[email protected]

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Inhalt

Prolog

1. Der Spanische Zweig Der Silk Road

2. Energy Control

3. DoctorX Spricht

4. Vertrauensvorschuss

5. Pirate Roberts

6. Joshua Terrey

7. Costa Rica

8. Zeit Der Mutigen

9. Didier Spricht

10. Maspalomas

11. Ledesma Und Mañas Reflektieren

12. Der Prozess

13. Das Urteil

14. Paranoia, Scorsese Und Sechs Fragen

15. Mordor

16. Die Pandemie

17. Von Doktor Hofmann Zu Doctorx

Epilog

Anhang

»Eine Person schlendert an einem Samstagnachmittag während des Schlussverkaufs durch ein Einkaufszentrum. Sie zeigt schamlos das Gewehr, das sie in ihrem Trenchcoat trägt, während sie die Käufer mit drohendem Blick mustert. In der Tasche ihrer Jeans steckt eine Ecstasy-Pille. Was ist angsteinflößender? Das spanische Gesetz stellt das einschüchternde Zurschaustellen einer Waffe in der Öffentlichkeit (Art. 36.10) auf die gleiche Stufe wie den Besitz einer Drogenmenge zum Eigenkonsum (Art. 36.16). Beides sind schwere Verstöße gegen das geltende Gesetz zur öffentlichen Sicherheit vom April 2015 und ziehen eine Mindeststrafe in Höhe der Hälfte des monatlichen Durchschnittsgehalts einer Person unter fünfunddreißig Jahren nach sich, laut Daten des Nationalen Statistikinstituts.«

DoctorX, Aufnahme vom 3. März 2023

Prolog

Am 27. September 2012 dämmerte ein bewölkter Tag in Madrid. Es war einer der regenreichsten Tage in jenem feuchten Herbst, der nach der extremen Trockenheit des Sommers begann. Laut Wetterberichten war dies der Tag mit den stärksten Niederschlägen des Jahres bis dahin. In der Stadt eilten die Menschen schon seit geraumer Zeit durch die Straßen, in Regenmänteln und mit hochgezogenen Kapuzen ihrer Sweatshirts, um Schutz unter den Arkaden zu suchen. Die Atmosphäre der Hauptstadt, jene Dunstglocke aus Smog, die für gewöhnlich dauerhaft den Himmel bedeckt, würde sich ein wenig lichten, zumindest für ein paar Stunden.

Mitten im Zentrum, im Viertel Lavapiés, einem der symbolträchtigsten Madrider Stadtteile, beeinträchtigte das Grau nicht seine multikulturelle Bevölkerung. Die Einwanderer, die auf dem gleichnamigen Platz des Viertels herumliefen, suchten Schutz unter den Dachvorsprüngen, nicht weit vom Café Barbieri entfernt, während die Angestellten der indischen Restaurants entlang der Calle Ave María die Tische draußen abräumten: In Madrid regnet es selten, und wenn es regnet, scheint alles zum Stillstand zu kommen. Die Frische, die die Bürgersteige durchflutete, war ein Luxus, den in der Hektik niemand zu schätzen schien. Der Geruch des nassen Asphalts bemächtigte sich aller Sinne und berauschte alles und jeden, nach einem besonders trockenen September, als es nun wieder einmal kräftig zu regnen begann.

Wenn man die Calle Ave María in Richtung Norden hinaufgeht, erreicht man nach einer ersten Querstraße, der Travesía de la Primavera, die Calle Esperanza, die damals noch mit alten Granitpflastersteinen bedeckt war.

Die Calle Ave María ist eine der steilsten Straßen Madrids. Nach dem Aufstieg dieser hundert Meter, mit Restaurants, die den linken Bürgersteig säumen, erreicht man die Ecke, an der sich die Bar Los Gamos befindet, und dort beginnt eine zentrale und diskrete Straße: ein paar Häuserblocks mit typisch madrilenischen Fassaden, fast ohne Prunk, mit einer Atmosphäre wie aus Galdós’ Romanen, die an das Ambiente erinnern, das einst die Manolos und Manolas, jene Vorfahren der Chulapos aus dem 19. Jahrhundert, erlebt haben müssen.

Im dritten Stock des Mietshauses Nummer 8 waren zu dieser Stunde bereits alle Jalousien heruntergelassen, an einem Fenster mit Blick auf die Calle Esperanza, als hinter dem herabgelassenen Rollo das Licht eines 27-Zoll-Monitors aufflackerte, den jemand gerade vorsichtig eingeschaltet hatte und der an einen schwarzen HP Pavilion p6-2012es Desktop-PC angeschlossen war.

Ein Mann saß im Halbdunkel, wo der Schein des Bildschirms sich in einer frisch geöffneten Dose Coca-Cola Zero spiegelte, die in Reichweite stand und einen leuchtenden Reflex an die Wand warf, dem die Projektion seines eigenen Schattens folgte.

Der Typ blieb in den Bildschirm vertieft, auf dem er sich dank der Maus geschickt bewegte. Er trug einen Gap-Pullover und eine schwarze Jogginghose und nahm ab und zu einen Schluck von seinem Erfrischungsgetränk, wobei sich die Reflexion an der Wand verschob, während er mit gerunzelter Stirn durch die Seite navigierte, die sich gerade geöffnet hatte. Dort stand unter der Überschrift »Ein paar Worte vom Dread Pirate Roberts« folgende Nachricht:

Sei gegrüßt und willkommen auf Silk Road!

Ich weiß, du kannst es kaum erwarten, an dein Produkt zu kommen, aber bitte nimm dir vorher einen Moment Zeit, um diese Nachricht zu lesen. Sie wurde speziell geschrieben, um dich zu schützen und damit du das Beste aus deiner Erfahrung auf dieser Seite herausholst, indem du weißt, worum es hier geht.

Beginnen wir mit dem Namen. Die ursprüngliche Silk Road war eine weltweite Handelsroute zwischen Asien, Afrika und Europa, die eine enorme Rolle bei der Verbindung der Wirtschaftssysteme und Kulturen dreier Kontinente spielte und durch Handelsabkommen Frieden und Wohlstand förderte. Meine größte Hoffnung ist, dass diese moderne Silk Road dasselbe bewirkt, indem sie einen geeigneten Rahmen bietet, in dem Handelspartner zusammenkommen und in einer gesunden und sicheren Weise nach gegenseitigem Nutzen streben können.

Möglicherweise überrascht es dich, hier eine Liste von Produkten zu finden, die in deinem Rechtsgebiet verboten sind. Das bedeutet nicht, dass auf der Silk Road keine Gesetze herrschen. Im Gegenteil: Wir haben einen sehr strengen Verhaltenskodex, mit dem die meisten Menschen, wie ich glaube, einverstanden sind. Unsere Grundregeln sind: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und tue nichts, was anderen schaden könnte. Im Geiste dieser Regeln gibt es bestimmte Dinge, die du hier niemals finden wirst, und wenn du sie siehst, melde sie bitte. Dazu gehören Pornografie, gestohlene Gegenstände, Auftragsmorde und persönliche Informationen über unsere Nutzer, um nur einige zu nennen. Wir fordern unsere Mitglieder auf, sich nach den höchsten Standards persönlichen Verhaltens zu richten, und arbeiten unermüdlich daran, dass betrügerische Verkäufer euch nicht ausnutzen können.

Dennoch ist die beste Methode, um sicherzustellen, dass deine Erfahrungen zufriedenstellend sind, dich darüber zu informieren, wie Silk Road funktioniert, und die speziell für dich erstellten Werkzeuge und Anleitungen zu nutzen. Auf deiner Registrierungsseite findest du einen Link zu einer umfassenden Anleitung, aber hier sind einige Tipps, die dir den Einstieg erleichtern können:

– Nutze immer das Escrow-System! Wir können das nicht genug betonen. 99 Prozent aller Betrügereien stammen von Leuten, die gefälschte Verkäuferkonten erstellen und die Käufer bitten, direkt zu bezahlen oder die Zahlung freizugeben, bevor die Bestellung eintrifft. Solches Verhalten solltest du umgehend melden. Wenn du dich entscheidest, so etwas zu tun, sind wir völlig außerstande, dir zu helfen, falls du betrogen wirst.

– Lies das Forum und das Wiki. Beide enthalten wertvolle Informationen, und viele Mitglieder unserer Community werden gerne neuen Mitgliedern helfen, die eine respektvolle Haltung zeigen.

– Fange vorsichtig an. Mache einige kleine Einkäufe, bis du mit dem Prozess vertraut bist, bevor du deine Bitcoins für einen großen Einkauf verwendest.

Das alte Sprichwort ›Freiheit bedeutet Verantwortung‹ könnte hier nicht zutreffender sein. Auf dieser Seite hast du Zugang zu Produkten, die dich in Schwierigkeiten mit den Behörden bringen könnten und die sehr schädlich für deine Gesundheit sein können. Nur weil du etwas kannst, heißt das also nicht, dass du es auch tun solltest. Allerdings bin ich nicht dein Vater, und es liegt in deiner Verantwortung zu beurteilen, was gut und schlecht für dich ist. Niemand sonst kann das für dich tun.

Pass auf dich auf, hab Spaß und schau mal in den Foren vorbei, um Hallo zu sagen!

Hochachtungsvoll

Pirate Roberts

So lautete der Text, den man lesen konnte, wenn man im Suchfeld des Tor-Browsers die Adresse http//:silkroad6onowfk.onion eingab. Es war damals eine der hervorgehobenen Adressen in der Hidden Wiki.

Der Mann, der gerade die Seite geöffnet hatte, surfte schon seit einigen Monaten im Darknet, dem Deep Web, dem dunkelsten Teil des Internets, voller Subnetze, die sich über das öffentliche Internet legen und spezielle Software sowie Berechtigungen erfordern. Dort besuchte er verschiedene Foren, um Meinungen auszutauschen, klinisches Material einzusehen und Dateien herunterzuladen, die von Menschen aus allen Ecken der Welt geschrieben wurden.

Aber dies war neu und kam auf Empfehlung seines Dealers; einem der guten Dealer, denen man blind vertrauen konnte, und der versicherte, dass dies anders war und alles verändern würde ...

Vor dem HP sitzend, spürte der Mann eine außergewöhnliche Erregung und klickte mit der Maus voller Eifer, mit einer Leidenschaft, als würde er Pornos anklicken.

Draußen auf der Straße begann es wieder heftig zu regnen, aber seine Aufmerksamkeit wurde vollständig vom Bildschirm absorbiert. Diese Worte des Pirate Roberts, die er auf Englisch las, hallten in seinem Kopf wie eine Offenbarung wider, und er fühlte, dass sie zum großen Teil Gedanken ausdrückten, die er selbst lange Zeit gehabt und verkündet hatte.

Sein Herz pochte noch immer, als auf der Hauptseite eine Liste von Produkten unter dem Symbol eines Kamels mit einem Beduinen auf dem Rücken erschien. Das verlieh der Seite diese Atmosphäre orientalischer Gewürze, die in einem Basar ausgestellt sind, und gab dem Namen auch einen Sinn: »Silk Road«.

Das Design und die Anordnung unterschieden sich nicht wesentlich von jeder normalen Verkaufswebsite.

Das Außergewöhnliche war die Vielfalt der angebotenen Produkte: Heroin aus Kanada, Haschisch und Marihuana aller Sorten und Herkunftsländer, kolumbianisches Kokain, ecuadorianisches Kokain, MDMA, LSD aus der Tschechischen Republik, Methamphetamin aus den Vereinigten Staaten, Steroide, legale und illegale Medikamente, gefälschte Personalausweise und Führerscheine, Hacking-Anleitungen, Zugangscodes für Pornoseiten, Lizenzen für Microsoft-Produkte, Spotify-Premium-Konten, Replik-Uhren verschiedener Luxusmarken sowie Hunderte von gefälschten Artikeln ... jedes Foto mit einer detaillierten Erklärung und dem Preis des Produkts in Bitcoin untertitelt.

Der Mann nahm noch einen Schluck von der süßlichen Cola und blinzelte ein paarmal in der Dunkelheit. Also war es wahr! Erst gestern hatte ihm sein vertrauenswürdiger Dealer, ein Albaner, von dieser Seite erzählt, die Anfang 2011 im Deep Web aufgetaucht war: »Es ist der Wahnsinn. Es ist wie Amazon für Drogen. Du musst dich nur anmelden und kannst alles haben, was du willst.«

Und so war es tatsächlich ...

Sich räuspernd bewegte er den Mauszeiger, bis er MDMA-Pulver mit einer Reinheit von 87 Prozent fand. Er zögerte, denn daneben gab es rote herzförmige Pillen mit 125 mg reinem MDMA, für die er sich schließlich entschied. Der Preis war ein Schnäppchen. Mit ein paar Klicks überwies er Bitcoins von seiner persönlichen Wallet an die von Silk Road. Das Warten kam ihm endlos vor, aber nach einer halben Stunde war sein Guthaben auf der Plattform von 0 auf 5,5 BTC angestiegen. Dann klickte er auf das Produkt und fügte die Menge, zehn Pillen, seinem Warenkorb hinzu, genauso wie er es bei Amazon getan hätte. Daraufhin erschien eine Nachricht vom Server: »Danke für Ihr Vertrauen.«

Der Mann dachte an die Gebühren, die er für eine internationale Überweisung von etwas mehr als fünfzig Euro hätte zahlen müssen, die sich zudem mindestens drei Tage verzögert hätte, und surfte noch eine Weile weiter. Dabei grübelte er darüber nach, dass er hier alles hatte, wirklich alles. Die einzige Grenze war die, die oben links auf dem Bildschirm durch das Symbol eines durchgestrichenen großen B angezeigt wurde, das das Bitcoin-Konto des Nutzers repräsentierte.

Er lächelte zufrieden. Für ihn war es das, was einem Paradies am nächsten kam.

Ohne es zu ahnen, hatte sich sein Leben gerade zum Guten verändert.

Kapitel1

Der Spanische Zweig Der Silk Road

Smalltalk mit dem Dealer ist ätzend. Kokain zu kaufen, kann dazu führen, erschossen zu werden. Was wäre, wenn Sie Drogen online kaufen und verkaufen könnten wie Bücher oder Glühbirnen? Jetzt ist es möglich: Willkommen bei Silk Road.

Adrian Chen, Gawker-Magazin, 1. Juni 2011

1

Madrid, 5. November 2022

Das Treffen ist um ein Uhr mittags, in einem VIPS in der Calle Alcalá Nummer 144. Um 12:54 Uhr tritt der Schriftsteller bereits durch die Tür und kuschelt sich in seine graue Bomberjacke, während er sich mit einer gewissen Nervosität die Hände reibt. Beim Eintreten wirft er einen Blick auf WhatsApp und sieht eine neue Nachricht: »Just behind the door. Can’t miss me«. Und so ist es: Kaum hat er sich umgeschaut, sieht er sie an einem Tisch sitzen.

Die Agentin steht auf und begrüßt ihn mit einem freundlichen Lächeln. Sie ist eine große Frau mit einer voluminösen, glänzenden roten Mähne. Die klassische Frisur, die ihre feinen Gesichtszüge mit der rosigen Haut umrahmt, verleiht ihr das Flair eines angelsächsischen Models. Am auffälligsten jedoch ist die Energie, die sie in jeder ihrer Gesten ausstrahlt, und ihr schnelles Sprechtempo.

Die Agentin bestellt Pfannkuchen mit Karamellsirup – ihr Lieblingsgericht in Madrid – und beide setzen sich, ohne ihre Jacken, einander gegenüber. Er möchte nur einen Orangensaft. Da nur wenige Gäste um sie herum sind, ist der Geräuschpegel erträglich.

»Hast du einen Blick auf die Unterlagen geworfen, die ich dir geschickt habe?«, fragt sie.

»Ich habe mal reingeschaut. Aber es sind viele Seiten, mit Links zu Zeitschriften aus aller Welt, und außerdem gehe ich davon aus, dass du mir das sowieso zusammenfassen wirst.«

Die Agentin rückt sich auf ihrem Stuhl zurecht, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und stützt die Ellbogen auf den Tisch, während sie ihren Körper nach vorn lehnt.

»Okay, lass uns anfangen. Ich nehme an, du hast seinerzeit von der Silk Road gehört.«

»Mehr oder weniger. Aber in Spanien ist das ziemlich unbemerkt geblieben. Ich weiß nur, was auf Wikipedia steht: dass es ein virtueller Drogenmarkt war, der vor etwa zehn Jahren in Mode gewesen ist.«

»Genau. Sie war ein Amazon der Drogen und schlug ein wie eine Bombe. Und genau deshalb geriet sie ins Visier der US-Behörden, mit all den Problemen, die du dir vorstellen kannst. Das Gewicht des Gesetzes kann in den Vereinigten Staaten gewaltig sein, und fast jeder, der an dieser Seite beteiligt war, sitzt jetzt im Gefängnis ...«

»Wenn das das Thema ist, das du mir bringst, sage ich dir gleich« – der Romanautor schüttelt den Kopf zwischen zwei Schlucken Orangensaft – »dass darüber schon viel geschrieben wurde. Ich habe es mir angesehen. Da gibt es das Buch von Eileen Ormsby, der australischen Journalistin, die sich auf Internetthemen spezialisiert hat. Und das von Nick Bilton, ein Bestseller in den Vereinigten Staaten. Es gibt zwei oder drei Dokumentarfilme, einen Spielfilm. Und das Web ist völlig überschwemmt mit Artikeln in allen möglichen Medien weltweit: El País, Libération, The Guardian, The New York Times, Vice, Wired, Forbes, Rolling Stone ... Es gibt keine einzige Publikation, die diese Geschichte inzwischen nicht aufgegriffen hat, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrmals.«

»Hier, bitte schön«, sagt die Kellnerin und nähert sich mit der Bestellung.

»Vielen Dank«, lächelt die Agentin. »Ich liebe Pfannkuchen.«

Aber sie rührt sie nicht einmal an und spricht weiter.

2

»Ich glaube, du verstehst mich nicht, Schätzchen. Dass diese Geschichte in so vielen Ländern so einen durchschlagenden Erfolg hatte, ist unser größter Trumpf. Die Silk Road hat sich in den Köpfen von Journalisten, Bürgern, Verlegern und Lesern in der halben Welt festgesetzt. Es ist etwas Universelles, eine bereits etablierte Marke. Man muss nur weiter daran arbeiten. Es ist das, was wir im Englischen eine ›ongoing story‹ nennen. Es gibt ein Publikum, das gespannt auf neue Entwicklungen wartet ... und hier kommen wir ins Spiel. Möchtest du nichts essen? Leistest du mir keine Gesellschaft?«

»Erzähl weiter. Ich höre dir zu.«

»Das Interessante ist, dass es einen spanischen Zweig gibt, den es noch zu erforschen gilt. Eine in den Vereinigten Staaten nicht so bekannte Persönlichkeit: der Arzt der Silk Road, DoctorX, ich weiß nicht, ob dir das etwas sagt. Kennst du das Nachtleben von Madrid?«

»Bestens«, stellt der Schriftsteller selbstsicher klar.

»Nun, er ist ein Stammgast der Madrider Nachtszene«, sagt sie und sieht ihm dabei direkt in die Augen. »Es gab eine Zeit, da hat er keinen Rave ausgelassen. Ich glaube, er ist sogar DJ.«

»Ich nehme an, er wird noch andere interessante Seiten haben als nur seine künstlerische Facette.«

»Natürlich. Sonst säße ich jetzt nicht hier mit dir.«

Dem Schriftsteller ist der Orangensaft zu sauer. Er macht die Kellnerin auf sich aufmerksam und bestellt eine kleine Flasche Wasser, die er in einem Zug leert, als sie gebracht wird. Es folgt eine lange Stille, in der er nicht so recht weiß, was er sagen soll, und er zieht die Dokumente hervor, die er aus rein beruflicher Routine ausgedruckt hat. Aber er hat sie nur oberflächlich durchgesehen, vor ein paar Tagen, als sie per E-Mail ankamen. Er überflog sie damals so, wie er es jetzt auf dem Papier tut: lustlos, die Absätze diagonal lesend, nur bei den wichtigsten Links verweilend.

Da er immer noch Durst hat, tastet er mit der Hand nach der Wasserflasche, aber sie ist leer. Er trinkt wieder von dem Saft, und er schmeckt immer noch sauer. Er ist sich nicht sicher, ob er diese Geschichte schreiben möchte, aber er braucht das Geld, das die Agentin ihm angeboten hat. Trotzdem versucht er, die Fassung zu bewahren und nicht nervös zu wirken.

»Die Sache ist die«, fährt sie fort, »dass DoctorX seit über zehn Jahren als Arzt im Deep Net tätig ist, wo er Nutzer in Drogenfragen berät und Proben analysiert, um deren Reinheit zu bestimmen oder Verunreinigungen zu finden. Zu den Dokumenten habe ich dir Screenshots von Foren beigefügt, in denen er aktiv war.«

»Es scheint nicht, als wäre ärztliche Beratung irgendein Verbrechen.«

»Das sollte es auch nicht sein, aber trotzdem hat man versucht, ihn mit den Gründern der Drogen-Kryptomärkte in einen Topf zu werfen. Dabei trat er in den Foren der Silk Road, wo er berühmt wurde, unter seinem echten Namen auf und versteckte sich nicht – genauso wenig wie Eileen Ormsby, die australische Journalistin, die sich auf das Darknet spezialisiert hat. Sie und der britische Journalist Mike Powell waren die einzigen, die ihre Identität nie verbargen.«

Die Agentin beginnt, ihre Pfannkuchen zu zerschneiden. Sie bedeckt sie mit Sahne und schafft es, ein erstes Stück zu verschlingen, während sie weiterspricht. Der Schriftsteller kann kaum den Blick von den Sahneklecksen abwenden, die in ihrem Mund verschwinden.

Er wirkt unruhig und verspürt weiterhin ein unangenehmes Durstgefühl. Ein erneuter Blick in die Unterlagen, den er während einer kurzen Sprechpause der Agentin nutzt, lässt ihn aufhorchen, und in einer Art beruflicher Neugier beginnt er, eine erste Faszination für die Person zu empfinden: Er liest in den Papieren, dass dieser aus Madrid stammt, am 16. März 1974 im Stadtteil Prosperidad geboren wurde und seine Eltern zwei Chemiker aus Saragossa sind.

3

»Du sagst, er arbeitete als Arzt auf Silk Road, wurde er dafür bezahlt?«

»Das ist der springende Punkt. Anfangs bot er einen kostenlosen Service an, nahm aber freiwillige Spenden an. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ließ er sich dann von der Seite selbst bezahlen ... In Bitcoins, natürlich.«

Die Agentin lächelt leicht, nachdem sie sich mit einer Papierserviette die Mundwinkel abgewischt hat, und sucht sofort den Blick ihres Gesprächspartners. Sie erwartet eine Wirkung, wartet aber geduldig darauf, dass sie sich von selbst einstellt. Denn der Schriftsteller schaut sie nicht an. Er ist noch in die Papiere vertieft, hört ihr aber zu und hat das Gefühl, dass sie weiterreden würde. Ohne den Blick zu heben, fragt er interessiert:

»Wie viele Bitcoins?«

»Fünf pro Woche, etwa fünfhundert Dollar damals. Insgesamt, während der Dauer der Beziehung, die kaum ein paar Monate währte, siebenundzwanzig Bitcoins, was zum Kurs von 2013 nicht viel war. Aber später arbeitete er mit ähnlichen Seiten zusammen. Und du weißt ja, wie viel die Bitcoins später wert sein konnten ...« – Diesmal findet der Blick der Agentin die Wirkung, die sie verfolgt. Die Augen des Schriftstellers heben sich, als wären sie von einer elektrischen Feder aktiviert worden, und richten sich auf sie. »Aber natürlich müsste man ihn das alles selbst fragen. Niemand weiß genau, wie groß sein Geschäft wirklich war«, lacht sie. Und sie tut es, weil sie spürt, dass das Interesse in den Augen des Schriftstellers wächst, und deshalb setzt sie ihre Rede mit einer Leichtigkeit fort, die durch die Pfannkuchen erneuert zu sein scheint.

4

»Zier dich nicht so. Verdammt, ich sage, dass diese Geschichte unglaublich ist. Es ist ein ausgezeichnetes Projekt. Ich glaube wirklich, dass es das Buch sein könnte, das dir die Tür zu den USA weit öffnet. Ein Buch, das zwangsläufig das amerikanische Publikum interessieren wird, das bereits viele Facetten der Geschichte kennt und das Universum mit einer für den Buchmarkt neuen und für die Leser rätselhaften Figur vervollständigen wird. Wenn sie das X auf dem Cover sehen und diese Fotos aus der Zeit mit seinem schwarzen ärmellosen Hello-Kitty-T-Shirt, Sonnenbrille, Silberkette um den Hals und Tattoos, werden sie sich als Erstes fragen: Wer ist dieser Arzt mit dem Superheldennamen und dem Aussehen eines Rockstars? Außerdem hat die spanische Verzweigung wegen eurer Drogenkultur ihren eigenen Reiz. Mein Mann ist Madrilene, das weißt du. Ich komme oft hierher, und ich versichere dir, dass ihr in diesen Angelegenheiten eine Einstellung habt, die dem Rest des Planeten entgegengesetzt ist. Niemand kann glauben, dass es einen Bürgermeister gibt, der in der Öffentlichkeit sagt: ›Kopf hoch, und die, die nicht high sind, sollen high werden‹« – sie ahmt den typischen Madrider Akzent nach –, »das würde kein Bürgermeister irgendeiner anderen Stadt der Welt jemals sagen ... Es ist etwas Außergewöhnliches. Und ich finde es relevant für unsere Geschichte.«

Diese »Kopf hoch«-Sache war schon ein halbes Jahrhundert her. Diesen Satz hatte Tierno Galván auf einem San-Isidro-Fest Mitte der Achtzigerjahre gesagt, zu einer Zeit, als die Madrider Jugend beschlossen hatte, die Straßen zu besetzen. Es waren zweifellos denkwürdige Worte; allerdings war sich der Schriftsteller nie darüber im Klaren, welche Tragweite sie aus einer anderen als der spanischen Perspektive haben könnten.

»In Europa gibt es viel mehr Toleranz gegenüber Drogen«, beharrt die Agentin, »aber in Spanien ist die Toleranz praktisch total. Deswegen verlieben sich die Amerikaner regelmäßig in Spanien! Ich muss dir wohl nicht sagen, dass, wenn wir nach den Statistiken gehen, die Amerikaner die größten Drogenabhängigen des Planeten sind. Glaub mir.«

5

»Das also möchte ich dir vorschlagen. Ein Buch, das die Geschichte von DoctorX erzählt und ihn in seinen Kontext einordnet. Damit man in den Vereinigten Staaten versteht, woher er kommt und warum er, während so viele Leute ins Gefängnis gesteckt wurden, immer noch frei herumläuft und Vorträge auf der ganzen Welt hält. Ein Buch, das diese verrückte Welt des Madrider Nachtlebens widerspiegelt, dieses neue Spanien, das mit der Movida begann und bis heute lebendig ist. Ich glaube, wir können daraus einen Knaller von einem Buch machen, denn die Figur ist charismatisch, seine Aura ist unglaublich stark. Du hast ihn bestimmt schon auf Fotos gesehen. Und ich möchte, dass du es schreibst. Ich kenne niemanden, der besser darüber informiert ist, was in Madrid vor sich geht, und ich bin sicher, dass so ein Buch in den USA auf Interesse stoßen wird. Wirst du es machen?«

Die Agentin lässt ihren Pfannkuchen halb aufgegessen liegen. Sie hält den Kontakt mit ihrem klaren, ehrgeizigen Blick und beendet endlich ihren Redeschwall, um eine Pause einzulegen, die sich in Sekunden messen lässt. Der Schriftsteller kann kaum den Blick abwenden. Unter anderem hat er das Gefühl, dass die Frau etwas zurückhält. Ein verborgenes Interesse, das über das Berufliche hinausgeht. Und er kann nicht anders, als darüber zu spekulieren. Gleichzeitig findet er die Geschichte attraktiv, und wegen der Möglichkeit, Geld zu verdienen, noch mehr, obwohl ihm klar ist, dass es keine einfache Geschichte ist. Nach einer weiteren Pause stößt er einen Seufzer aus, während er die Angelegenheit in seinem Kopf ordnet.

»Puh. Ich verstehe, warum du mich angerufen hast, und ich verstehe auch die Art von antiprohibitionistischer Philosophie, in der sich DoctorX bewegt. Und du weißt genau, dass ich sie zu einem großen Teil teile, wie viele Leute meiner Generation. Aber ...«

»Aber ...?«

»Aber diese ganze Sache mit dem Deep Web ist etwas zu abstrakt. In einem Buch, genau wie in einem Film, funktioniert Action am besten. Hier gibt es davon wenig.«

»Du willst Action? Kurz nach der Schließung von Silk Road öffnete Silk Road 2.0. DoctorX betrieb wieder seine Praxis und machte sich dabei über die Regierung der Vereinigten Staaten lustig, direkt vor ihrer Nase. Und das war nicht die einzige Seite, auf der er weiter praktizierte.«

»Ich zweifle nicht daran, dass seine Geschichte interessant ist, aber sie ist schwer zu erzählen. Ich müsste mich erst in diese ganze Sache mit dem Deep Web, dem Dark Web, dem Darknet oder wie auch immer das heißt, einarbeiten ... Mein Gott, das klingt wie die dunkle Seite der Macht. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Ich finde es ganz einfach: indem du mit ihm sprichst.«

»Glaubst du, er wird bereit sein zu kooperieren?«

»Das ist deine Aufgabe, sei ein Schlangenbeschwörer oder wie ihr das auf Spanisch sagt.«

»Nein, die Schlangenbeschwörerin bist du. Ich schreibe nur.«

»Dann mach deinen Job«, entgegnet die Agentin und schenkt ihm wieder ein Lächeln. »Das Einzige, was ich dir vorab sage, ist, dass ich in zehn Tagen nach New York fliege, wo ich eine Woche bleibe und in Manhattan einen Termin mit einem Verleger habe, dem ich gerne von dem Projekt erzählen würde. Ich glaube wirklich, dass es das perfekte Buch für dich ist. Bist du interessiert oder nicht? Ich brauche eine feste Zusage. Haben wir einen Deal oder nicht?«

»Ich werde es versuchen«, sagt der Schriftsteller, nicht ohne ein gewisses Unbehagen. Sie hingegen weiß sich schon als Siegerin. Und schon wendet sie sich halb zur Kellnerin um, die sich erneut nähert, und bedeutet ihr mit einer Geste, dass sie die Rechnung bringen soll.

»›Ich werde es versuchen‹ gefällt mir nicht. Tu es einfach.«

»Ich werde es tun, aber unter einer Bedingung ...«

»Sprich.«

»Für dieses Buch brauche ich einen Partner.«

»Was meinst du damit? Ich verstehe nicht.«

»Einen Mitarbeiter. Jemanden, auf den ich mich stützen kann.«

»Das gefällt mir gar nicht. Das ergibt keinen Sinn. Ich biete dir so eine Geschichte an, und du willst sie mit einem anderen Schriftsteller teilen? Das sehe ich nicht ein. Um wen handelt es sich?«, fragt die Agentin mit einem Anflug von Verärgerung. Sie wird von der arroganten Gelassenheit eines Geschäftshais beherrscht.

»Jordi Ledesma.«

»Nein! Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Ich mache es nur, wenn er dabei ist.«

»Er ist schwierig. Er nimmt Drogen. Trinkt zu viel. Beim letzten Mal ist es bei euch nicht gut geendet ...«

»Kleinigkeiten. Er ist der beste Schriftsteller, den ich kenne. Vertrau mir. Diese Geschichte ist gut, aber ihr fehlt noch Substanz. Wir müssen Atmosphäre schaffen, und darin ist niemand so gut wie Ledesma ... Ich mache es nur, wenn wir zusammenarbeiten.«

»In Ordnung. Es ist deine Entscheidung. Aber ich werde nur mit dir verhandeln, ich will keine Szenen oder Belehrungen von diesem egozentrischen Verrückten.«

»Überlass das mir, und du wirst dein Buch bekommen.«

»So sei es denn«, entscheidet sie und hebt die Hand. Sie verlangt erneut die Rechnung. »Ich brauche eine einseitige Zusammenfassung und drei Probekapitel. Wann, glaubst du, kann ich die haben?«

»Ich melde mich diese Woche bei dir.«

»Okay, bestätigt sie und steht auf.

»Warte ... Wo kann ich DoctorX finden?«

»Ach ja, habe ich dir das nicht gesagt? Entschuldige. Es stellte sich heraus, dass er seine Praxis hier in Madrid hat, direkt am Paseo del Prado. Ich habe für dich einen Termin für Dienstag, in zehn Tagen, um vier Uhr nachmittags vereinbart. Was für ein Zufall, genau dann, wenn ich meinen Flug nach New York nehme. Du hast genügend Zeit, dich vorzubereiten ... Ihr habt genug Zeit«, präzisiert sie ironisch.

»Hast du dich mit ihm getroffen, bevor du wusstest, ob ich zustimmen würde oder nicht?«

»Ich kenne dich gut genug. Und er ist gerade in einer Phase, in der er Publicity braucht. Aber sei vorsichtig. Er ist ein Charmeur. Ich möchte nicht, dass er die Erzählung kontrolliert. Lass mich zahlen ...« Und sie fügt scherzhaft hinzu: »Trau niemals einem Agenten, der nicht die Rechnung für seinen Autor bezahlt ... Ich schwöre dir, ich würde tausendmal nach Madrid zurückkommen, nur um diesen Fraß zu essen.«

Coda

Die Intuition ist unser wichtigster innerer kreativer Kompass. Vielleicht waren ihre größten konzeptuellen Verfechter die Philosophen Schopenhauer und Bergson. Beide stimmen darin überein, dass es ein intuitives Wissen gibt, ein unmittelbares und nicht intellektualisiertes Erfassen der Realität, was besonders bei Künstlern zutrifft. Viele von ihnen sind wie ein Billardspieler, der das Spiel perfekt versteht, es aber nicht erklären kann. Deshalb kann der Diskurs eines Schöpfers nie etwas anderes sein als eine mehr oder weniger brillante nachträgliche Rechtfertigung eines Prozesses, dessen vollständiges Verständnis ihm entgeht: Man handelt zuerst, dann denkt man darüber nach, warum man es tut, und was man sagt, das man tut, erklärt glücklicherweise fast nie vollständig, was man tatsächlich tut. Tatsächlich könnte eine mögliche Definition von Talent diese sein: das, was uns fehlt, um ein Werk vollständig zu verstehen. Und vielleicht hat Enrique Vila Matas am besten verstanden, wie notwendig die intuitive Freiheit beim Schreiben ist: »Man schreibt aus der Ungewissheit heraus, und das ist es, was einem erlaubt voranzukommen, was einen amüsiert und gleichzeitig fasziniert. Hätte man dagegen von Anfang an alles klar, müsste man das Buch wahrscheinlich gar nicht erst schreiben« (Perder teorías).

Kapitel2

Energy Control

Das erste Hindernis, auf das wir bei der Beschreibung der Wirkungen jeglicher Droge stoßen, ist die Notwendigkeit, Worte zu verwenden, um Geisteszustände und Erfahrungen zu definieren, die sich von der alltäglichen Realität unterscheiden und durch Sprache schwer auszudrücken sind. Das Vokabular, das zur Beschreibung dieser Wirkungen verwendet wird, stammt hauptsächlich aus den Bereichen der Medizin oder Psychologie und erweist sich häufig als wenig präzise, unzureichend und beladen mit negativen Konnotationen oder Bezügen zu Krankheitszuständen.

Fernando Caudevilla, Éxtasis

1

Der Stand befand sich gleich am Eingang des Clubs, links neben der Tür.

Das Yasta lag mitten im Zentrum von Madrid, nur wenige Meter von der Gran Vía entfernt, und die Leute von Energy Control waren drinnen beschäftigt, boten Informationen an und analysierten Drogen. Es war sehr heiß, da die Belüftung nicht ideal war, und immer mehr Menschen zogen ihre Hemden aus.

Zum Publikum hin gab es einen Tisch mit vielen Informationsbroschüren über verschiedene illegale Substanzen. Und an einem unauffälligen Tischchen, dicht an der Wand, mit einer Schreibtischlampe, wurden auf Glasplatten oder kleinen Tabletts die kolorimetrischen Tests mit verschiedenen chemischen Reagenzien durchgeführt, die je nach Bestandteilen der Proben ihre Farbe änderten.

Der Marquis-Test reagierte auf Amphetamine: schwarz, wenn die Probe MDMA enthielt, orange für Methamphetamin oder grün für 2C-B oder andere halluzinogene Amphetamine. Der Mandelin-Test wies die Anwesenheit von Ketamin nach, war aber auch für Amphetamin-Derivate nützlich. Durch die Kombination verschiedener Tests wie Mecke, Scott, p-DMAB und weiteren konnte das Vorhandensein einer bestimmten Droge abgeschätzt werden. Und dann hatten sie im Labor in Barcelona die Dünnschichtchromatographie, UV-Spektrophotometrie, Gas- oder Massenspektrometer, die genauere Informationen über das Vorhandensein von Verunreinigungen und deren exakte Konzentration lieferten.

Aber die Analysen waren vor allem eine Strategie, um mit der Öffentlichkeit zu interagieren. Die Leute wollten wissen, was in der Pille steckte, die sie einnehmen würden, welche die angemessenste Art war, sie zu verwenden, ob man sie mit anderen Drogen kombinieren konnte oder welche Vorsichtsmaßnahmen man je nach Gesundheitszustand treffen sollte. Und die Ratschläge des Energy-Control-Teams häuften sich.

»Nein, das mit dem Zucker, der den Alkohol abbaut, ist ein Mythos.«

»Pass damit auf, das ist sehr stark, nimm heute nicht mehr als die Hälfte.«

»Ich verstehe, dass du das von einem Kumpel bekommen hast, aber ich sage dir, es enthält weder 2C-B noch Ecstasy oder Methamphetamin.«

Der Stand bot natürlich Stoff für mehr als ein Gespräch.

Und da einige Leute das Ergebnis der Analyse übersehen würden, weil sie high waren – manche würden sich am nächsten Tag nicht einmal daran erinnern –, gab es dafür die Broschüren. Damit jeder nach der Party sie lesen und, wenn gewünscht, an die Adresse von DoctorX’ Sprechstunde auf der Energy-Control-Webseite schreiben konnte. Es handelte sich um objektive und realistische Informationen über die schlechten und guten Seiten des Drogenkonsums. Darüber, was gefährlich war und was nicht. Über die potenziellen Probleme, wie man sie erkennt und was zu tun ist, wenn sie auftreten.

Informationen, damit Menschen freie, verantwortungsvolle Entscheidungen in voller Kenntnis der Sachlage treffen konnten.

2

Fast sofort spürte der Mann, dass sein Alter nicht mehr zur Umgebung passte. Seine intensivste Erfahrung mit dem Nachtleben hatte er in den 2000er Jahren gemacht, bei Raves, die mit seiner Liebesgeschichte mit MDMA zusammenfielen. Mittlerweile war der Zauber, den die Chemie verlieh, praktisch verflogen, und um ihn wiederzuerlangen, musste er sich zwei oder drei Monate lang enthalten, wie er es tat.

Aber auch die Nacht hatte sich verändert.

Müsste man die Atmosphäre jener Freitagssession im Yasta beschreiben, könnte man sagen, sie war neo-techno-hippie-goa-trance-mäßig. Es war fast traurig, so junge Leute zu sehen. Nicht dass er alt wäre – oder es zumindest nicht so empfand; mit neununddreißig stand er noch in der Blüte seines Lebens, wie man so schön sagt –, aber er war eben auch nicht mehr zwanzig, identifizierte sich nicht mehr mit der menschlichen Landschaft, und das bartlose Spiegelbild der verschwitzten jungen Menge, die das Yasta überfüllte, bestätigte dies nur.

An diesem Abend trug er ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt und konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass er sich geweigert hatte, Geld anzunehmen, das ihm der Administrator eines Kryptomarktes angeboten hatte. (»Nuria war die Einzige, der ich es erzählte. Aber sie lachte nur: ›Du wirst zu sehr zu einem Chorknaben‹, und wir sprachen nie wieder darüber.«) Er schwirrte schon eine Weile am Stand herum und unterhielt sich mit dem einen oder anderen, während seine Kollegen die Analysen durchführten, als ein Junge in einer an den Knien abgeschnittenen Jeans mit einer gewissen liebenswerten Schüchternheit an ihm vorbeikam und sich dem Stand näherte, um Nuria seine Pille zu zeigen, die beim bloßen Anblick den Kopf schüttelte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Was hast du dem Typen erzählt, Nuria?«

Nuria hatte dunkles Haar, eine Hälfte ihres Kopfes war rasiert, die andere Hälfte lang, an diesem Tag zu zwei Zöpfen geflochten. Auch sie trug ein ärmelloses Shirt, nur dass es in ihrem Fall das Logo von Energy Control zeigte. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete sie schon seit über einem Jahrzehnt in der NGO, wo sie als Psychologin angefangen hatte und inzwischen eine der Führungspositionen in Barcelona innehatte.

Als erfahrene Veteranin kannte Nuria allen Klatsch und Tratsch, der in der Organisation kursierte, und wusste auch über die Bettgeschichten vieler Angestellten und Freiwilligen von Energy Bescheid, da im Grunde alle eine libertäre Gesinnung und eine gewisse Leidenschaft für Drogen teilten.

»Es war eine grüne Mitsubishi. Ich hab ihm gesagt, dass sie Mistist. Allein heute Nacht haben wir schon vier gefunden, alle negativ beim Marquis-Test. Die Lage ist etwas angespannt, weil es eigentlich mit allen Dealern cool ist, aber der Typ, der die verkauft, läuft auf der Tanzfläche rum, und als ich ihm sagte, dass seine Pillen kein MDMA enthalten, hat er mir ins Gesicht gelacht.«

Der Mann beobachtete den Kerl in den abgeschnittenen Jeans, wie er sich mit seiner Mitsubishi in der Hand auf der anderen Seite der Tanzfläche in Richtung der Toiletten entfernte.

Er war heute Abend als Gast hier, nicht zum Arbeiten. Er wollte die Kollegen begrüßen, jetzt, wo sie in der Nähe waren, und vielleicht ein bisschen frische Luft schnappen. Aber auch wenn er nicht testen oder Flugblätter verteilen musste, kostete es ihn nichts, mit anzupacken.

3

Aufgrund Nurias Bemerkung machte er sich daran, die Umgebung abzusuchen. Und es dauerte nicht lange, bis er sah, dass der Typ mit der Mitsubishi am Rand der Tanzfläche, neben den Toiletten, mit einem hochaufgeschossenen, dürren Typen sprach, der im Gothic-Look war und wie eine Eidechse wirkte. Gerade fuhr er den Kerl mit der abgeschnittenen Jeans wütend an, während dieser in Richtung des Energy-Control-Standes zeigte.