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Zehn fiese, lustige und böse Short Storys. Sie begleiten ein gar nicht nettes Donauweibchen in die Vergangenheit. Sie dürfen im Tagebuch einer Auswanderin aus Deutschland lesen, in drei ziemlich unterschiedlichen Geschichten machen Sie Ausflüge ins Weltall. »Deep Station One« befördert Sie auf den Grund des Meeres. Einmal werden Sie in einem Keller eingeschlossen – ach nein, das war ja die Protagonistin. »Noir« entführt Sie in die Welt einer seltsamen Autorin, »Oliver und der böse Wolf« bieten jede Menge Überraschungen in der Nähe des noch nicht ganz ausgetrockneten Neusiedlersees, und in der letzten Geschichte werden Sie in die Berge entführt. Gute Unterhaltung!
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2023
Veronika A. Grager
Außer der Reihe 84
Veronika A. Grager
DONAUWEIBCHEN KÜSSEN HÄRTER
Ein bittersüßer Cocktail für SF-, Fantasy- und Krimifreunde
Außer der Reihe 84
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: August 2023
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Klaus Brandt
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 342 0
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 761 9
Wien, Mai 2017
»Schon wieder ein Toter!«
Inspektor Fritz Haller betrat das gemeinsame Büro und warf seiner Kollegin Brigitte Kempf die Morgenzeitung auf den Tisch.
Brigitte zuckte mir den Achseln. In den letzten Wochen gab es reichlich suspekte Vorfälle auf der Donauinsel. Heuer erwischte es schon drei Männer, die entweder ertranken, von irgendwelchen Tieren totgebissen wurden oder von einer Brücke fielen, konkret von der Steinspornbrücke. Dabei waren die Opfer laut Autopsie Bericht ohne Ausnahme kerngesund gewesen. Der Ertrunkene und der Brückenspringer hatten kein Wasser in der Lunge, der von Tieren Angenagte war vorher gestorben. Todesursache unbekannt. Zufälle? Unfälle? Selbstmorde? Oder ging dort ein raffinierter Mörder um? Und wieso ausschließlich Männer? Fragen über Fragen.
Kaum hatte Haller seine Jacke an den Haken an der Wand gehängt und sich einen Kaffee genommen, erschien Selina, die Putzfrau, aus dem Nebenzimmer.
»Der Bierbauch hat euch schon gesucht. Ihr sollt’s ihn anrufen.«
Anton Birnbach, Leiter des LKA Wien, wegen seiner Leibesfülle gar nicht liebevoll Bierbauch von seinen Untergebenen genannt, vergatterte Fritz Haller und Brigitte Kempf wegen der Toten von der Insel dazu, mindestens einmal täglich, noch besser morgens und abends, mit dem Fahrrad die Insel von oben bis unten abzuklappern und dabei Augen und Ohren offenzuhalten.
»Na super! Da ersparen wir uns das Fitnesscenter!«, kommentierte Haller die Wünsche ihres Vorgesetzten.
»Hätt’ ich mir denken können, dass das wieder mal an uns hängen bleibt.« Brigitte Kempf, die vor einem Jahr als einzige Frau in der Inspektion Floridsdorf ihren Dienst angetreten hatte, war genauso begeistert. Sie hätte in einer Woche ihren ersten Urlaub nehmen wollen. Den konnte sie sich jetzt vermutlich abschminken.
Die Donauinsel war eine künstlich aufgeschüttete Insel zwischen Donau und Neuer Donau, einundzwanzig Kilometer lang und bis zu zweihundertfünfzig Meter breit. Sie wurde zwischen 1972 und 1988 als Hochwasserschutz für Wien gebaut, begann mit dem Einlaufsperrwerk für das Entlastungsgerinne im Norden von Wien bei Langenzersdorf, durchquerte die Bezirke Floridsdorf und Donaustadt und endete mit der Einmündung der Neuen Donau in den großen Strom nach dem Ölhafen Lobau. Der Norden und der Süden der Insel waren naturnah, die Mitte parkartig angelegt. Dort befanden sich auch Sandstrände, Lokale sowie diverse Unterhaltungsmöglichkeiten, genannt Copa Cagrana. Rund hundertsiebzig Hektar Wald wurden gepflanzt. Ein Teil der Insel wurde zum Naturreservat für seltene Vögel und Amphibien, Rehe, Hasen, Biber und anderes Getier.
Jeden Tag radelten Haller und Kempf nun bei jedem Wetter rund um die Donauinsel. Doch die Serie mit den makabren Todesfällen riss nicht ab. Bald gab es einen vierten Toten. Und wieder konnte die Todesursache nicht ermittelt werden. Schön langsam machte sich bei Polizei und Stadtregierung Panik breit, denn das Donauinsel-Fest, das vom 22. bis 24.stattfinden sollte, stand kurz bevor.
Am 14., als Brigitte Kempf wegen Fieber das Bett hüten musste, fuhr Haller allein auf Patrouille und kehrte nicht zurück. Er verschwand spurlos. Nicht einmal sein Fahrrad wurde gefunden. Die Handypeilung blieb ergebnislos.
Brigitte war krank vor Sorge und machte sich Vorwürfe. Sie quälte sich am nächsten Tag trotz Fiebers ins Büro. Als Birnbach sie mit der Suche nach Haller beauftragte, bat sie ihn um eine Polizistin als Begleiterin. Da bisher immer nur Männer den Tod fanden, dachte sie, es könnte nicht schaden, keinen Kollegen der Gefahr auszusetzen, das nächste Opfer zu werden. Birnbach schien das nur recht zu sein, denn die alten Hasen konnten ohnehin nicht mit der Neuen. Gerade mal mit der Polizeischule fertig, groß, blond, fesch und noch dazu nicht auf den Mund gefallen. Ulli Renner, die Neue, wurde daher Brigitte Kempf zugeteilt.
»Das hätte ich mir denken können«, maulte Kempf, »dass die mir das Küken zuschanzen.« Was nicht weiter verwunderlich war. War Ulli doch das einzige weibliche Wesen auf der Inspektion außer ihr und der Putzfrau.
Sie fuhren die ganze Donauinsel ab, immerhin nun mit dem Auto. Schauten buchstäblich hinter jeden Busch und drehten jeden Stein um. Kempf mit roten Augen und rinnender Nase. Zu ihrem grippalen Infekt gesellten sich die Beschwerden durch ihre Allergien gegen alles, was schön blühte und gut roch. Und davon explodierte die Insel derzeit geradezu.
»Mist«, keuchte sie und warf das nächste Papiertaschentuch in einen Plastiksack auf ihrem Schoß.
»Du gehörst ins Bett!« Ulli, die fuhr, sah besorgt zu ihr hinüber. »Du schaust schrecklich aus.«
»Hoffentlich fürchtet sich dann wenigstens der Inselmörder vor mir«, keuchte Kempf kurzatmig und nieste erneut.
In einem kleinen Wäldchen in der Lobau schließlich fanden sie Haller, der – äußerlich unverletzt – völlig verstört wirkte und sich an einem Baum aufknüpfen wollte. Er scheiterte nur an seinem aus Lianen recht unprofessionell gebastelten Strick.
Im Krankenhaus stellte man ihn mit Medikamenten ruhig. Eine Psychiaterin versuchte, ihm zu helfen, doch nichts schien zu wirken. Immer wieder versuchte Haller, sich auf die eine oder andere Art das Leben zu nehmen. Warum nur?
Einige Tage später gab es einen weiteren Toten. Doch jetzt war die Kacke am Dampfen, denn der war prominent. Während des Donauinsel-Festes war der Schweizer Rapper Ralf de Bonnet, der Haupt-Act am Sonntag auf der größten Bühne, plötzlich weg. Nach tagelanger Suchaktion mit einer Hundertschaft von Polizeibeamten konnte er am 29. Juni nur mehr tot geborgen werden. Er wurde im Entlastungsgerinne gefunden, war jedoch nicht ertrunken. Aber wie war das möglich? Er war direkt von der Hauptbühne verschwunden! Wie kam er in die Neue Donau? An diesem Tag waren rund eine Million Menschen auf der Insel und niemand hatte etwas bemerkt. Laut Autopsie Bericht hatte er außer etwas Kokain und null Komma fünf Promille Alkohol nichts im Blut, war fit wie ein Turnschuh und kerngesund. Woran war er gestorben? Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Null Ahnung. Nicht einmal einen leisen Verdacht. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Falls wer drauf wetten will, ich tippe auf Herzversagen.«
Bierbauch ordnete an, dass Haller in Hypnose zu seinen Erlebnissen auf der Insel befragt werden sollte. Haller, mittlerweile ein sabberndes zuckendes Bündel im Rollstuhl, wurde in Tiefenhypnose versetzt.
Doktor Anke Lemberg, seit gefühlten hundert Jahren im Polizeidienst, die schon jede Menge merkwürdiger Sachen gehört hatte, nahm sich des Falles an. Und kam aus dem Staunen nicht heraus. Haller schilderte anschaulich, dass er ein wunderschönes, elfenartiges Wesen traf, das ihn immer weiter weg vom Trubel und den frequentierten Plätzen lockte. Die geheimnisvolle Frau lächelte, sprach jedoch kein Wort und brachte ihn an einen Ort, der völlig zugewuchert war und über dem sich die Baumkronen wie das Kreuzgewölbe eines Domes spannten. Sie begann, zu tanzen und sich langsam vor ihm auszuziehen. Doch als er sie am Arm berührte, um ihr Einhalt zu gebieten, küsste sie ihn hart auf den Mund und verwandelte sich gleichzeitig in eine Furie. Danach fehlte ihm jede Erinnerung, selbst in Tiefenhypnose. Als er aufwachte, hatte er nur einen Wunsch: sich das Leben zu nehmen, weil er eine Frau brutal vergewaltigt hatte.
»Ein Donauweibchen«, kommentierte Kempf die Geschichte zynisch, als Doktor Lemberg ihr davon erzählte. Früher ging die Mär, dass sie immer wieder Fischer dazu brachten, aus Liebe zu ihnen ins Wasser zu gehen.
Brigitte Kempf war sicher, dass ihr Kollege nie und nimmer eine Frau vergewaltigt hätte. Sie wusste, vermutlich als Einzige auf dem Revier, dass Haller homosexuell war. Aber wie sollte sie ihm und den anderen potenziellen Opfern helfen?
Gab es früher schon ungeklärte Todesfälle auf der Insel? Und wenn ja, hatte jemals irgendwer versucht, Zusammenhänge herzustellen?
Brigitte Kempf wühlte sich durch alte Mord- und Vermisstenfälle. Und schon bald wurde sie fündig. Eigentlich war in den letzten fünfzehn Jahren fast jedes Jahr um den 1. Mai herum ein Mann unter ungeklärten Umständen von der Donauinsel verschwunden oder dort zu Tode gekommen. In den Jahren, wo sich kein dokumentierter Todesfall oder Vermisster in den Aufzeichnungen fand, hatte man vielleicht nur die Leiche nicht gefunden, oder niemand hatte den Mann vermisst gemeldet. Bisher hatte niemand einen Zusammenhang hergestellt. 2015 hatte es zwei ungeklärte Todesfälle gegeben, im Jahr darauf drei. Und in diesem Jahr waren schon fünf Männer ums Leben gekommen und ihr Partner verrückt geworden. Was war jetzt anders?
Gab es einen Geist auf der Insel? Geschah dort einmal ein Verbrechen, das nie gesühnt worden war? Sie glaubte nicht an so einen Mumpitz, aber das hieß ja wohl nicht, dass es das nicht geben konnte. Oder verrannte sie sich da in etwas?
Brigitte wandte sich an ihre Freundin Charlotte, die als Astrologin, Kartenlegerin und Medium arbeitete. Wenn irgend so ein jenseitiger Scheiß im Spiel war, dann war Lotte die richtige Ansprechpartnerin.
Gemeinsam mit Ulli holte Brigitte Haller in seinem Rollstuhl und brachte ihn zu Lotte. Sie fassten sich an den Händen und hielten eine Séance ab. Doch nichts passierte. Nur Lotte fiel in eine seltsame Starre. Als sie wieder zu sich kam, erzählte sie eine merkwürdige Geschichte.
Sie lag auf der Donauinsel am FKK-Strand und ließ sich sonnen. Es war ein schöner Frühsommertag, die Sonne stand nicht mehr sehr hoch am Himmel. Sie beschloss, noch einmal ins Wasser zu gehen und anschließend mit dem Rad nach Hause zu fahren. Als sie aus dem Wasser kam, standen zwei junge Männer am Ufer. Sie machten anzügliche Bemerkungen über ihren nackten Körper. Sie waren unübersehbar sexuell erregt und kamen langsam näher. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass alle anderen Badegäste in der Zwischenzeit gegangen waren. Nackte Furcht kroch in ihr hoch.
Lotte zitterte noch, als sie mit der Schilderung fertig war. Sie fror und wiederholte immer wieder, wie kalt doch das Wasser gewesen wäre. Brigitte machte sich Vorwürfe, dass sie Charlotte zu der Séance überredet hatte. Lotte beachtete sie gar nicht. Sie sagte, sie müsse zurück in die Trance. Doch Brigitte bestand darauf, dass sie sich erst erholen musste, bevor sie sich wieder dieser Strapaze aussetzte.
Am nächsten Abend, nach Brigittes Dienst, trafen sie wieder zusammen. Haller saß wie üblich apathisch im Rollstuhl. Sobald sie sich an den Händen fassten, erstarrte Lotte.
Sie stand im knöcheltiefen kalten Wasser. Zwei Burschen kamen von beiden Seiten auf sie zu. Sie hatte keine Chance, zu entrinnen. Es blieb nur der Weg zurück ins Wasser. Ob sie es ans andere Ufer schaffen würde? Das Wasser war noch ziemlich kalt. Und dann? Sie war nackt! Egal. Doch die beiden holten sie ein. Einer hielt sie fest, der andere vergewaltigte sie brutal. Dann zerrten sie die Kerle ins Gebüsch. Dort verging sich der Zweite an ihr. Sie hatte aufgehört, sich zu wehren und zu schreien. Dachte, wenn sie tat, als sei sie ohnmächtig, würden die Männer von ihr ablassen. Ein Irrtum!
Als Charlotte aufschrie, löste Brigitte ihre Hände und unterbrach die Kette. Lotte war schweißgebadet und schlotterte an allen Gliedern. »Es war so realistisch«, flüsterte sie. Brigitte kochte ihr Tee und gab drei Löffel Zucker und einen kräftigen Schuss Rum dazu. Erst nach einiger Zeit war es Lotte möglich, darüber zu sprechen, was sie erlebt hatte. »Es fühlt sich an, als würde es mir passieren, hier und jetzt.«
Brigitte gruselte sich und Haller begann zu weinen.
»Lotte, wie sahen die beiden aus?«
»Groß, dunkelhaarig, ziemlich muskulös.«
»Naja, das Aussehen kann sich mit den Jahren geändert haben. Hast du irgendein besonderes Kennzeichen an den Männern gesehen? Ein Tattoo, eine besondere Narbe, ein außergewöhnliches Muttermal? Irgendwas, an dem man sie auch heute noch wiedererkennen könnte?«, fragte Brigitte.
»Ja, da war was. Lass mich nachdenken.« Lotte stopfte sich ein Kissen in den Rücken und Brigitte legte ihr eine weitere Decke über die Beine.
»Der eine hatte an der linken Hand beim Zeige- und Mittelfinger nur mehr das erste Glied. Wie ein Tischler, der einmal in die Säge geraten ist.«
»Und der andere?«
»Der hatte eine schlohweiße Haarsträhne über dem linken Ohr.«
Als Lotte kurz darauf auf die Toilette ging, merkte sie, dass sie aus der Vagina blutete. Doch sie erzählte Brigitte nichts davon. Sie wusste, sie musste noch einmal zurück. Die Geschichte war noch nicht zu Ende.
Am dritten Tag in Folge machte sie eine weitere Reise in die Vergangenheit einer Frau, die Schreckliches erlebt haben musste.
Es war ein Irrtum, zu glauben, dass die Männer sie in Ruhe lassen würden, wenn sie sich tot oder bewusstlos stellte. Während sie vom ersten Täter noch einmal brutal missbraucht wurde, erwürgte sie der andere Mann. Einmal rutschte seine verschwitzte Hand kurz von ihrer Kehle. Mit letzter Kraft verfluchte sie ihn und alle Männer, die sich je an einer Frau vergriffen hätten. Dann wurde alles schwarz.
Brigitte beobachtete Lotte mit Argusaugen. Als sie plötzlich aufhörte zu atmen, riss sie ihre Hand aus der Lottes und unterbrach die Kette. Was Lotte diesmal gesehen hatte, musste eine sehr realistische Vision gewesen sein, denn Brigitte entdeckte Würgemale an ihrem Hals. In was für eine Scheiße wurden sie da hineingezogen?
Brigitte versuchte herauszufinden, wann diese Tat stattgefunden hatte. Das war sie ihrer Freundin Lotte und ihrem Partner Haller schuldig. Wäre sie nicht krank geworden, wäre das nämlich alles nie passiert.
Ulli schnaubte. »Vergiss es! Du hättest das sicher auch nicht verhindern können. Als der Rapper mitten im Konzert von der Bühne verschwand, waren Hunderte Leute um ihn herum.«
Charlotte konnte nicht viel zur fraglichen Zeitspanne sagen. Allerdings fiel ihr etwas ein. Sie, besser gesagt das Opfer, hatte an dem Tag Zeitung gelesen. Und der Aufmacher auf der ersten Seite hatte gelautet: AKW Zwentendorf heimlich in Betrieb genommen? Und dann folgte auf Seite drei ein Bericht, den sie nur überflogen hatte. Man hatte in Wien auf der Hohen Warte stark erhöhte Strahlungswerte gemessen. Erst dachte man, dass es vielleicht in einem der angrenzenden Ostblockländer einen Zwischenfall in einem Atomkraftwerk gegeben hätte. Doch das konnte man aufgrund der herrschenden Wind- und Wetterverhältnisse ausschließen. Man setzte Geigerzähler an mehreren Stellen in der Stadt ein. Am nördlichen Ende der Donauinsel war die Strahlung am stärksten. Von dort war es ein Katzensprung zum AKW Zwentendorf. Selbstverständlich bestritt die Regierung vehement, dass das Atomkraftwerk in Betrieb gegangen war. Man verwies sogar darauf, dass in einer Sitzung zwei Monate früher der Beschluss gefasst worden war, das AKW endgültig stillzulegen. Eine reife Leistung, nachdem schon sieben Jahre vorher im Nationalrat einstimmig das Atomsperrgesetz beschlossen worden war. Aber was hieß das schon? Politiker sagten dies und meinten das. Das war damals nicht anders gewesen als heute. Die Zeitung trug das Datum 2. Mai 1985.
Himmel, da war Brigitte noch gar nicht auf der Welt gewesen!
Brigitte begann zu recherchieren. Und sie fand eine ganze Menge. Die stets wiederkehrenden Todesfälle Anfang Mai auf der Donauinsel. Vor zwei Jahren waren es zwei Fälle gewesen, im Vorjahr schon drei. Und niemand hatte da einen Zusammenhang gesehen? Waren denn die Kollegen alle blind gewesen?
Wenn wirklich ein Vorfall aus dem Jahr 1985 der Auslöser für die Todesfälle gewesen war, dann musste es auch länger als fünfzehn Jahre zurückliegende Ereignisse geben. Doch die im Zentralcomputer gespeicherten Fälle reichten nicht weiter zurück.
Was Brigitte nicht fand, waren Hinweise auf eine verschwundene oder ermordete Frau im Frühling 1985. Was natürlich gar nichts bedeuten musste. Nach zweiunddreißig Jahren könnten Akten verschwunden sein. Wer wusste schon, selbst wenn die Tote in späteren Jahren gefunden worden war, ob jemals ihre Identität festgestellt werden konnte oder auch nur ein halbwegs genauer Todeszeitpunkt.
Charlotte wollte Brigitte davon überzeugen, dass sie noch einmal zurückmusste, um das herauszufinden. Doch Brigitte wollte davon nichts hören. Das sollte doch auch zu ermitteln sein.
Zwei Dinge gingen ihr nicht aus dem Kopf. Da war erst mal die Tatsache, dass all die Toten einfach so gestorben waren. Es gab keine eindeutige Todesursache. Alle waren zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt und gesund gewesen. Ebenso geheimnisvoll war, was Lotte gesagt hatte. Die Frau hätte alle Männer mit einem Fluch belegt, die sich je an einer Frau vergriffen hätten. Wieso Haller? Der Typ war homosexuell. Andererseits war er im Gegensatz zu den anderen Männern knapp, aber doch am Leben geblieben.
Brigitte fragte Lotte, ob sie sich vorstellen konnte, wieso plötzlich mehr Opfer zu beklagen seien als all die Jahre davor.
Lotte hatte eine vage Vermutung. Wenn ein Geist keine Ruhe fand, dann oft deshalb, weil die Tat nicht gesühnt wurde. Im konkreten Fall könnte das bedeuten, dass das Opfer bis heute nicht gefunden und daher die Täter nicht zur Verantwortung gezogen worden waren. Und da ein Toter oder Verschwundener pro Jahr die Aufmerksamkeit der Polizei nicht auf sich gezogen hatte, musste die Schlagzahl erhöht werden. Wenn die Polizei, so wie jetzt Brigitte, sich intensiver mit den Fällen auseinanderzusetzen gezwungen war, würde vielleicht auffallen, dass es schon in den Jahren davor vergleichbar Ereignisse gegeben hatte.
Nun gut, das hatte Brigitte ja nun festgestellt. Aber was war mit der Frau? Ob sich nach Hallers Angaben in der Hypnose ein Phantombild erstellen ließ? Doktor Lemberg raubte ihr die Illusionen. Haller konnte gar nichts mehr. Er war ein sabberndes, willenloses Wrack, zu dem man nicht mehr vordringen konnte.
Ulli hatte eine andere Idee. Was, wenn ihn die Sirene an den Ort gebracht hatte, wo sie damals ihr Leben lassen musste, oder zumindest in die Nähe? Brigitte und sie wusste ja, wo sie ihn gefunden hatten. Lotte meinte, es sei möglich. Brigitte musste versuchen, dem Bierbauch einen größeren Suchtrupp, am besten mit Leichensuchhunden, aus dem Steiß zu leiern. Und was der sagen würde, wusste sie schon vorher: Wir haben kein Budget für so einen Blödsinn, wir müssen sparen. Zum Kotzen!
Bierbauch fragte sie nach konkreten Verdachtsmomenten. Als sie ihm ihre Theorie zu erklären versuchte, sah er sie an, als wäre sie eine Verrückte. Sie möge gefälligst ermitteln, »nicht den kranken Fantasien Hallers nachjagen oder auf eine betrügerische Wahrsagerin hereinfallen«. Wenn sie nicht in der Lage war, Fakten zu schaffen und entsprechend zu beurteilen, würde er sie von dem Fall abziehen. Und sie sollte gefälligst Haller in Ruhe lassen, der war schon gaga genug. Und außerdem im Krankenstand.
Scheißkerl! Brigitte war sauer. Was tun? Die Polizistin in ihr meinte, dass der Chef recht hatte. Ihr Bauchgefühl sagte genau das Gegenteil. Es gab eben Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht rational erklärt werden konnten. Warum kam es bei Krebskranken zu Spontanheilungen? Warum gab es immer wieder unerklärliche Phänomene? Sie war keine Esoteriktussi und bei Gott kein gutgläubiger Mensch. Doch manchmal musste man sich auch auf ungewöhnliche Ansätze einlassen.
Lotte, Ulli und Brigitte machten sich mit Haller auf zur Donauinsel. Zur Sicherheit würde Ulli im Polizeiauto bleiben und mit Brigitte Funkkontakt halten. Sollte etwas Furchtbares geschehen, konnte sie wenigstens Hilfe herbeirufen.
Doch wo sollen sie zu suchen beginnen? Im Norden, in der Nähe der Steinspornbrücke, wo es die meisten verschwundenen und verstorbenen Opfer gegeben hatte? Im Süden, wo Haller gefunden worden war? Charlotte meinte, man müsste dort suchen, wo die Frau höchstwahrscheinlich zu Tode gekommen war. Also fiel die Wahl auf die FKK-Zone nahe der Steinspornbrücke.
Charlotte, Haller und Brigitte mussten ihre Aktivität in die Abendstunden verlegen, außerhalb der regulären Dienstzeit, da Bierbauch diese Aktion selbstverständlich nicht unterstützt hätte. Ganz im Gegenteil, er hätte Brigitte vermutlich suspendiert.
Ulli bezog mit dem Dienstwagen Stellung auf der Insel, gleich hinter der Brücke. Die anderen marschierten an den FKK-Strand, Haller im Rollstuhl, den Brigitte schob. Sein Kopf sackte immer wieder zur Seite, Speichel troff aus seinem halb offenen Mund. Hin und wieder fuhr ein Radfahrer vorbei, ein Mann mit Hund kam vorüber, die letzten Besucher packten ihre Sachen zusammen und verschwanden. Der Vollmond stieg blutrot am Horizont hoch. Es roch nach Jasmin und Wildkräutern. Der Wind raschelte leise in den Baumkronen. Vorsorglich hatte Brigitte eine Antihistamintablette geschluckt. Sie wollte weder durch Dauerniesen noch durch tränende Augen behindert werden.
Lotte, Haller und Brigitte setzten sich im Kreis und fassten sich an den Händen. Zwischen ihnen lag ein Tonbandgerät und zeichnete alles auf, was gesprochen wurde.
Als Brigitte wieder zu sich kam, lag sie allein am Strand. Sie kontaktierte Ulli, die sofort herbeigerast kam. Von Haller und Lotte fehlte jede Spur. Sie riefen ihre Namen. Nichts.
Mit zittrigen Fingern spulte Brigitte das Tonband zurück. Dann drückte sie auf Play.
Lange Zeit passiert gar nichts. Man hörte das Rauschen des Windes in den Bäumen und hin und wieder ein Platschen. Vielleicht ein springender Fisch. Dazwischen die klagenden Rufe eines Käuzchens. Es klang unheimlich.
Plötzlich schrie Fritz Haller auf: »Ich habe ihr doch gar nichts getan! Sie hat mich betrogen, nach Strich und Faden. Ich habe ihr eine geschmiert. Und ja, dann habe ich meine Frau mit Gewalt genommen. Verdammt, sie war doch meine Frau!«
Haller war mal verheiratet gewesen? Dann langes Schweigen. Brigitte überlegte schon, ob das alles sein konnte, als plötzlich Lottes Stimme erklang: »Wo ist das passiert?«
Kurz darauf hörte man Hallers Schreie, sich hastig entfernende Schritte, danach Stille.
Brigitte hatte Gänsehaut am ganzen Körper. »Wir müssen sie finden!«
Ulli nickte, aber sie wollte erst Verstärkung herbeirufen. Immerhin waren jetzt zwei Menschen verschwunden.
Brigitte rief Bierbauch an und teilte ihm mit, was passiert war. Hielt den Hörer weg vom Ohr, als er sie anbrüllte. Immerhin versprach er, alle verfügbaren Kräfte zu schicken. »Und Sie rühren sich nicht vom Fleck, bis wir da sind!«
Doch Brigitte dachte nicht daran. Was, wenn es dann zu spät war?
Noch einmal spielte sie die Aufnahme ab. In welche Richtung könnten ihre Freunde verschwunden sein? Nicht zum Wasser, das war sicher. Sie entschied sich, geradeaus landeinwärts zu marschieren. Sie hatte eine leistungsstarke Stablampe und das Funkgerät mit. Ulli sollte beim Wagen bleiben und den Einsatzkräften die Richtung weisen.
Plötzlich entdeckte Brigitte an einem Strauch ein Fetzerl rotbraunen Stoff. Ein Stückchen von Lottes Rock! Sie war auf dem richtigen Weg. Da, ein umgeknickter Zweig. Hier niedergetrampeltes Gras. Die Spur endete an einem Zaun. Wildschutzgebiet stand auf einer windschiefen Tafel, übersät mit Löchern. Vermutlich hatten hier Halbwüchsige Schießübungen veranstaltet. Brigitte bemerkte, dass an einer Stelle der Zaun fast lag. Dort kletterte sie drüber. Plötzlich sah sie im Schein der Lampe etwas Dunkles auf dem Boden liegen. Charlotte! Sie war leichenblass und wirkte wie tot. Brigitte fühlt ihren Puls. Gerade noch tastbar. Sie fasste sich das Funkgerät und wollte Ulli kontaktieren. Doch sie hörte nur Knistern und Rauschen. Verdammt, was war das wieder? Sie war auf sich allein gestellt.
Ein paar Schritte weiter lehnte Haller in Sitzposition an einem Baum, der Rollstuhl lag ein paar Meter daneben. Der Boden um Haller herum war schwarz. Blut! In seiner krampfhaft geschlossenen Faust hielt er noch eine Glasscherbe, mit der er sich die Pulsadern aufgeschlitzt hatte. Er war definitiv tot. Für ihn konnte Brigitte nichts mehr tun. Sie nestelte ihre Waffe aus dem Holster, richtete den Lauf in den Himmel und drückte ab. Vögel flogen krächzend aus den umliegenden Bäumen auf. Der Schuss hallt über die Insel. Ob Ulli ihn hörte? Kam für Charlotte noch rechtzeitig Hilfe?
Brigitte konnte gar nichts für sie tun. Sie wusste nicht, was passiert war. Äußere Verletzungen waren nicht zu sehen. Vielleicht hatte sie nur einen Schock? Brigitte hockte sich neben Lotte auf den Boden und fasste sie an beiden Händen. Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. Und dann sah sie, wie mit Röntgenblick, dass genau dort, wo sich Hallers Leiche befand, ein altes Grab lag. Der Baum, an dem er lehnte, wuchs mit seinen Wurzeln durch das Skelett.
Als Brigitte die Hände ihrer Freundin losließ und ihr das Haar aus dem Gesicht strich, zischte etwas und aus den Augenwinkeln sah sie, dass ein schmaler Kopf in ihre Richtung hackte. Sie zuckte zurück. Eine Schlange! Hatte sie Lotte gebissen? War sie giftig? Sie griff nach einem armdicken Ast und schlug nach dem Vieh. Doch anstatt die Flucht zu ergreifen, ringelte es sich um den Ast und kam rasend schnell auf Brigittes Hand zu. In Panik riss sie den Arm hoch und schleuderte den Prügel samt Schlange in das dichte Unterholz.
Sie hörte Stimmen. »Hierher!«, schrie sie und kurz darauf brachen Polizisten mit gezogener Waffe durch die Büsche.
Allen voran der Chef. Das wird haarig. Bierbauch weigerte sich, mit Brigitte zu sprechen. Sie sollte sich in den Wagen zu Ulli setzen und sich ja nicht mehr einmischen.
Doch sie musste unbedingt mit dem Notarzt sprechen. Wegen der Schlange.
Der sah sie an, als würde er an ihrem Geisteszustand zweifeln. »Hier gibt es keine Giftschlangen«, meinte er herablassend. »Bestenfalls Ringelnattern, vielleicht noch Blindschleichen und – höchst unwahrscheinlich – Kreuzottern.«
»Die kenn’ ich alle. Das war ein anderes Vieh. Gelb gebändert am Rücken, dünn, sehr schnell, aggressiv.«
»So etwas gibt es bei uns nicht!« Der Arzt schüttelte genervt den Kopf.
»Und wenn doch?«, schrie Brigitte. »Wir haben hier seit Jahren Tote, die alle vollkommen gesund gestorben sind. Wie erklären Sie sich das?«
Bierbauch schob sie gewaltsam zur Seite und Ulli zog sie zum Wagen.
Als Charlotte von der Rettung abtransportiert und Fritz Hallers Todesursache, die aufgeschnittenen Pulsadern, als Selbstmord eingestuft worden war, kam Bierbauch zu Brigitte. Er verlangte von ihr die Polizeimarke und ihre Waffe. Sie war mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert und konnte sich auf ein Disziplinarverfahren gefasst machen.
Brigitte versuchte Birnbaum davon zu überzeugen, dass unter dem Baum, an dem Haller lehnte, das Skelett einer Toten lag. Das vielleicht der Grund für alle Vorfälle hier auf der Donauinsel war. Bierbauch riet ihr, einen Psychiater aufzusuchen und ihren Zustand behandeln zu lassen. Und nein, er würde hier nicht graben. Jetzt nicht, weil dies ein Tatort war und später auch nicht, weil die Stelle mitten in einem Naturschutzgebiet lag.
»Und die Schlange?«, rief Brigitte, »wenn die den Nächsten zu Tode beißt?«
»Wer weiß, was Sie da gesehen haben. Beruhigen Sie sich.«
Der Bierbauch sprach zu ihr wie zu einer Geisteskranken. Wenn sie ihn nur irgendwie überzeugen könnte. Warum hatte sie nicht wenigstens versucht, mit dem Handy ein Foto zu schießen? Und mit welcher Hand, meldete sich ihr Unterbewusstsein. Du hast zwei gebraucht, um das Vieh abzuwehren.
Bierbauch schob Brigitte in den Streifenwagen und schloss die Tür. »Bringen Sie sie nach Hause«, wandte er sich an Ulli. »Und sehen Sie zu, dass sie dortbleibt.«
Brigitte war verzweifelt. Haller war tot, Lotte unbestimmten Grades verletzt, sie konnte ihren Job in den Rauchfang schreiben und obwohl sie wusste, wo die Tote lag, konnte sie rein gar nichts für sie tun. Wirklich nicht? Sie musste doch nur warten, bis die Polizei mit der Spurensicherung vor Ort fertig war. Dann konnte sie sich, mit Krampen und Spaten bewaffnet, daran machen, das Skelett auszugraben.
Nach vier Tagen fand Hallers Beerdigung statt. Obwohl ihr die Kollegen davon abrieten, brachte Brigitte es nicht über sich, sich nicht von ihrem ehemaligen Partner zu verabschieden. Doch es war ein Fehler. Ausgerechnet seine Exfrau, die verhindert hatte, dass sein Lebensgefährte an der Beerdigung teilnehmen durfte, machte ihr auf dem Friedhof eine bühnenreife Szene, sie mit ihren verrückten Ideen sei schuld am Tod ihres Mannes. Die Frau, die ihn betrogen hatte und indirekt an seinem Tod schuld war! Bierbauch sorgte dafür, dass Brigitte aus der Aufbahrungshalle gewiesen wurde. Brigitte war auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt. Sie saß auf der Friedhofstoilette und heulte.
Am nächsten Tag machte sich Brigitte auf den Weg zu Lotte, die im SMZ-Ost lag, einem großen Spitalskomplex in der Donaustadt.
»Du hast mir das Leben gerettet«, empfing Lotte sie.
»Und ohne mich wärst du gar nicht in die Situation gekommen. Aber wieso wurdest du überhaupt gebissen? Bisher kamen doch nur Männer dort um.«
»Ich bin selbst schuld«, bekannte Lotte. »Ich dachte, wenn ich schon diese Frau bin, dann kann ich die Schlage dazu bringen, niemanden mehr zu töten. Ich habe sie berührt. Aber die sah in mir wohl doch nicht ihre Herrin und hat sich gewehrt.«
Weil Brigitte so hartnäckig auf dem Schlangenbiss herumgeritten war, hatte der Notarzt diesen Verdacht an die Notaufnahme im Spital weitergegeben. Deswegen hatte man Lotte auf alle möglichen Schlangengifte getestet, ohne allerdings eindeutige Ergebnisse zu erhalten.
Da die Patientin keinerlei Anzeichen einer Erkrankung zeigte, aber starr dalag und immer mehr verfiel, war dem Arzt, der sich früher mit exotischen Schlangen in Borneo beschäftigt hatte, der Verdacht gekommen, sie könnte vielleicht von einer Krait gebissen worden sein. Kraits produzierten kleinmolekulare Neurotoxine, die zu einer Blockade der von den Nerven an die Muskelzellen geschickten Signale führten. Dadurch konnten sich die betroffenen Muskeln nicht mehr zusammenziehen und es entwickelte sich eine fortschreitende Lähmung, die innerhalb von sechs bis zehn Stunden zum Tod führte. Da sich diese Toxine sehr schnell abbauten, fand man üblicherweise bei einer Autopsie keine Spuren mehr davon. Die Bisswunden waren winzig klein, selten entzündet, und wenn man sie nicht mit der Lupe suchte, kaum zu finden. Typische erste Anzeichen einer Vergiftung waren ein starrer Blick wegen der Lähmung der Augenmuskulatur, dann erstarrte die Gesichtsmuskulatur, danach die Gliedmaßen und zuletzt die Atemmuskulatur, was zum Tod durch Atemstillstand führte, bei vollem Bewusstsein.
Der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen, dass die Frau von einer Krait gebissen worden war, so seltsam das mitten in Wien auch klingen mochte. Der Arzt verabreichte Lotte das Antiserum, das glücklicherweise im Tropeninstitut vorrätig war. Ihr Zustand besserte sich. Das Problem bestand darin, dass die Behandlung über Wochen, manchmal Monate fortgesetzt werden musste, weil das Gift eine hochkomplexe Mischung aus bis zu fünfzig Giftarten darstellte, die allerlei Langzeitschäden anrichten konnten, wenn man nicht rechtzeitig gegensteuerte.
Außerdem musste das Krankenhaus jetzt die Polizei darüber in Kenntnis setzen, dass es auf der Donauinsel höchstwahrscheinlich hochgiftige indische Schlangen gab. Die vermutlich an mehr als einem Todesfall schuld waren.
Bierbauch schäumte.
Lotte stimmte mit Brigitte überein, dass sie unbedingt dafür sorgen musste, dass das Skelett der toten Frau gefunden, die Identität der Toten festgestellt und die lang zurückliegende Tat aufgeklärt wurde. Trotzdem verriet Brigitte mit keinem Wort ihre Pläne für den Nachmittag.
Die Polizeiabsperrungen waren entfernt worden. Brigitte konnte jetzt ihr Vorhaben in die Tat umsetzen. Sie lud eine Schubkarre, Arbeitshandschuhe und Grabwerkzeug in ihr Auto und fuhr in den 21. Bezirk, zur Steinspornbrücke. Am späteren Nachmittag parkte sie ihren Wagen, packte das Werkzeug in die Schubkarre und machte sich auf den Weg über die Brücke zum FKK-Strand und weiter zu dem Naturschutzgebiet.
Der windschiefe Zaun fehlte mittlerweile. Nur ein einsames rot-weißes Absperrband der Polizei flatterte im Abendwind. Brigitte setzte ihren Weg unbehelligt fort. Die wenigen Menschen, die ihr begegneten, hielten sie wohl wegen ihrer Schubkarre und den Grabgeräten für eine Arbeiterin der Gemeinde Wien, die hier etwas zu erledigen hatte.
Am Tatort angekommen, fand Brigitte trotz des fahlen Lichtes sofort die Stelle, da dort der Boden noch immer dunkler als die Umgebung erschien. Hallers Blut! Brigitte schluckte und versuchte, den Knopf in ihrer Kehle zu ignorieren, verschnaufte kurz, und band dann ihr Haar mit einem Gummiring zusammen. Sie schlüpfte in die Handschuhe und begann zu graben. Es roch modrig, das Licht war düster, alles erschien grünstichig. Brigittes nackte Arme sahen aus wie die einer Wasserleiche. Die Grabung ging langsam und mühselig voran. Die Baumwurzeln, die durch die Leiche gewachsen waren, machten es für Brigitte nicht leichter, an die Knochen heranzukommen. Hin und wieder knipste sie ihre starke Stablampe an, um sich in diesem konturlosen Halbdunkel zu orientieren und zu sehen, ob sie vielleicht schon einen Knochen ausgebuddelt hatte.
Als sie einmal mehr an einem Stück Wurzel zog, durchfuhr es sie wie ein elektrischer Schlag. Sie hielt ein Stück Knochen in der Hand. Wie in Trance gruben Brigittes Hände weiter. Es war, als würde sie Anweisungen der Toten ausführen. Sie hörte nichts, sah nichts, brauchte weder Wasser noch Nahrung. Sie grub. Längst war es dunkel geworden auf der Insel. Doch Brigitte brauchte kein Licht. Ihre Arme wussten, was sie zu tun hatten.
Stunden später lud Brigitte die auf eigene Faust ausgegrabenen Gebeine in die Scheibtruhe. Dabei stöberte sie eine Schlange auf. Da sie an Lotte denken musste, hackte sie mit dem Spaten die Schlange in der Mitte durch. Dabei entging sie nur mit Mühe einem Biss. Das Biest war extrem angriffslustig. Die zwei Teile der Schlange zuckten noch im Gras. Und dann lösten sie sich einfach in Rauch auf. Zurück blieb ein ziemlich unangenehmer Geruch. Und die zartgelb gebänderte Schlangenhaut. Als sie diese mit der Schuhspitze berührte, zerfiel sie zu Staub und der Wind blies ihn davon.
Brigitte sah zu, dass sie von diesem schaurigen Ort verschwand. Sie schob die Karre zu ihrem Auto zurück. Die Grabwerkzeuge ließ sie einfach bei der Grabungsstätte liegen.
Sie wusste, dass ihr Chef sie im besten Fall in die Klapsmühle einweisen lassen würde, wenn sie ihn bat, die Knochen untersuchen zu lassen. Daher kontaktierte sie von sich aus Tibor Manetti, den Gerichtsmediziner, der für das Wiener LKA die meisten Obduktionen durchführte. Sie bat ihn um einen privaten Gefallen. Ob er herausfinden könnte, wie alt die Knochen waren, woran die Frau gestorben war und ob er noch DNA aus dem Gerippe gewinnen konnte.
Tibor war wenig begeistert. Als er hörte, dass Brigitte ihm diese Arbeit privat bezahlen würde, wenn er sie nur bald erledigte, meinte er trocken, das werde nicht billig werden.
»Woher wollen Sie eigentlich wissen, dass das eine Frau ist?«, fragte er argwöhnisch.
»Ich weiß es eben. Keine Angst, als sie getötet wurde, war ich noch gar nicht auf der Welt.«
Brigitte lieferte ihre Beute bis auf ein kleines Knöchelchen bei ihm ab und fuhr dann zu Lotte ins Krankenhaus.
Wortlos nahm Lotte das graubraune Knochenstück. Sie erschauderte.