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Ein Toter auf der Wiener Donauinsel stellt sich als Deutscher Baulöwe heraus, dessen in Wien lebende Frau just zum Todeszeitpunkt verschwunden ist. Was Jana Thal und Rainer Wielke von der Kripo Wien erst an eine Beziehungstat denken läßt. Zur selben Zeit wird der Wiener Architekt Theo Kapsreiter in München entführt und gefoltert. Nur durch Zufall wird er lebend gefunden. Die Münchner Kriminalkommissarin Antje Söderstedt schließt sich mit den Wiener Beamten kurz. Der Journalist Martin Streithammer stößt bei seinen Recherchen auf Unstimmigkeiten in der Bilanz der DBAG, der Deutschen Bau AG. Noch dazu verschwinden Millionenbeträge aus einer Tochterfirma. Und eine in Tirol ermordete junge Frau stellt sich als Tochter eines amerikanischen Bau-Tycoons heraus. Als in München Klaus Edelbacher, CEO der DBAG, in seiner Villa ermordet aufgefunden wird, und der bayerische Innenminister Armin Cromberg spurlos verschwindet, möglicherweise entführt, beginnt für Antje Söderstedt und Jana Thal eine abenteuerliche Tour de Force durch mehrere Länder auf der Jagd nach dem Mörder und den verschwundenen Millionen.
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Seitenzahl: 384
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Veronika A. Grager wurde in Wien geboren und ist dort auf einem Bauernhof aufgewachsen. Nach einem interessanten und erfolgreichen Berufsleben trat sie 2005 in den Unruhestand und beschloss, ihrem Hobby intensiver nachzugehen und einen Roman zu schreiben. Der erste war eine Liebesgeschichte, der nächste ein Krimi. Wer weiß, dass sie schon als Kind ihre Puppen im Garten begraben hatte - sie wollte lieber einen Teddy -, wird sich darüber nicht wundern, dass ihr Krimis zu schreiben viel mehr Spaß bereitete. Das war die Geburtsstunde einer unerwarteten Karriere als Nachwuchsautorin im Rentenalter.
Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei großen Hunden in einem Dorf im südlichen Niederösterreich, wo noch immer Pech aus dem Harz der Bäume gewonnen wird, und wo auch ihre erste Regionalkrimiserie spielt.
Mehr Informationen auf www.grager.at
Neben Romanen und Kurzgeschichten wurden bisher folgende Kriminalromane aus ihrer Feder veröffentlicht:
„Erzberg“ (2008)
„Tote nur nach Voranmeldung“ (2010)
„Nanobots“ (2011)
„Gnadenlos“, (2012)
„Saupech“ (2013)
„Sautanz“ (2014)
„Schlossteichleich“ (2015)
„Wer mordet schon in Niederösterreich“, Kurzkrimis, mit Jennifer B. Wind (2016)
„Sauglück“ (2017)
Veronika A. Grager
Thriller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieser Roman ist ein Produkt der Fantasie. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen – lebenden oder toten – und Geschehnissen wären reiner Zufall.
Originalausgabe, 1. Auflage
©2020 by medimont verlag gmbh, 81377 München, Waldgartenstr. 26
Lektorat und Redaktion: Dr. Wolfgang K. Ernst
Umschlaggestaltung: Amalie v. Spreti, München
Umschlagabbildungen: Boule /, mangojuicy / shutterstock
Gesetzt in Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: ScandinavianBook, DK-6300 Gravenstein
Printed in the EU
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
eISBN: 978-3-911172-56-1
Sie finden uns im Internet unter:
www.medimont.deBestell-Nr.: 35006
Für Manfred – Danke für ein Vierteljahrhundert wundervoller Partnerschaft
There are no beautiful surfaces
without a terrible depth
Es gibt keine wundervolle Höhe
ohne eine schreckliche Tiefe
Friedrich Nietzsche
Über die Autorin
Januar
Cromberg und die Petrodollars
Aufruhr im Aquarium
Juni
Penelope Cruz findet eine Leiche
Jana Thal und der grantige Wielke
Der unbekannte Tote und ein filmreifer Augenaufschlag
Afghanistan beginnt auf der Donauinsel
Polizeinotruf. Derzeit sind alle Leitungen besetzt. Bitte bleiben Sie dran.
Kommissarin Antje Söderstedt vermisst einen Mann
Der Tote von Wien
Das Innsbrucker Versprechen
Wo ist das Geld?
Münchener Erkenntnisse
Rainer Wielke unter Verdacht
Männer und ihr Machogehabe
Wie verdächtig ist es, wenn die Frau des Mordopfers verschwindet?
Jana kocht Bemye
Besuch beim amerikanischen Kulturattaché in Wien
Der Genagelte
Ich dachte, er fragt nach dem Lösegeld
Zick nur wieder herum, du blöde Urschel
Das DBAG-Debakel
Kapsreiter entlässt sich selbst aus dem Krankenhaus
Ein Zeuge hat etwas gehört
Schlimmer geht’s immer
Bei Praxentaler läuft es mir kalt über den Rücken
Es hat schon etwas, wenn man vorausschauend plant
Ein Modell von Masdar City für Infinity Gold
Der etwas unterkühlte Charme des Leonardi
Ist es normal, dass in Deutschland Reisende auf Schienen ertrinken?
Brasilianische Tagträume und Chimarrao bei Sonnenuntergang
Die Lösegeldforderung
Ein langer Schlaf in Fortaleza und die Folgen
Die Helikoptersackgasse und dazu noch mieses Wetter
Luftkugeln am Olympiasee und kriminelle Fantasien
Rainer Wielke spielt in München den Geldboten
Wielke kommt abhanden
Streithammers guter Riecher
Eine kleine Notiz in der BILD-Zeitung
Erste Spuren
Ein Verdacht erhärtet sich
Manila ist einfach umwerfend
Janas Silberstreif wird ein blutroter Jetstream
Streithammer, ein Glas Rotwein, Facebook und die Folgen
Besuch bei einem Uhu
Eine Lesung und eine neue Spur
Dr. Shari Menatta und eine exquisite Privatklinik
Ein Ort mit seltsamem Namen
Mias Flug nach München endet in Langkampfen
Antje Söderstedt, Streithammer und die São Paulo News
Im Blutrausch
Jana hört mit
Antjes Erfolg und Fiasko
Die Verwandlung
Schwere Zeiten
Neubeginn
Purzel, ein Hacker und Infinity Gold
Alle Wege führen nach Manila
Das Team
Die Spur nach Davao
Das Haus an der Côte d’Azur
Wonderwomen und der Waffenkauf
Drei Musketiere
Die Einladung
Zwei auf dem Kriegspfad
Der Rachegott
Die Party
Der Erpresser
Antje, Uwe und die gehackten Konten
Abstieg
Ein Toter, Wukerls Zorn und Rainers Wiederkehr
No home, no car, no money
Wien ist anders
Alte Kontakte
Wochenende mit Herzchen
Gustl und Chuck Norris
Pfänderweg 6
Die Vögel sind ausgeflogen
Im Krankenhaus
Eine Leiche am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen
Erkenntnisse
Ein Tipp von unerwarteter Seite
Götz-Zitat
Das kleine Grab in der Lobau
Leihwagen LI-MM 283
Kapsreiter und die kalten Füße
Anruf aus der Gerichtsmedizin
Ich weiß etwas, das du nicht weißt
Bankgeheimnisse
Aufarbeitung
Danksagung
Der bayerische Innenminister Armin Cromberg entschuldigte sich bei den Gesprächspartnern, als sein Amtsleiter Xaver Oldenberg den Kopf zur Tür des Besprechungszimmers hereinsteckte und ihm ein Handzeichen gab.
»Was gibt’s? Ich wollte doch nicht gestört werden«, flüsterte er ihm zu.
»Ich habe den Edelbacher am Telefon. Er muss unbedingt heute noch mit Ihnen sprechen. Sie haben aber keinen freien Termin.«
»Was will denn der schon wieder?«
»Sagt er mir nicht. Er meint nur, es sei superdringend und höchst vertraulich.«
»Wann ist mein letzter Termin heute?«
»Um 23 Uhr sind Sie noch auf der Aftershowparty der Filmpremiere …«
»Gut. Machen Sie mit Edelbacher irgendetwas nach Mitternacht aus. Aber bitte nicht am Arsch der Welt. Ich will auch noch ein paar Stunden Schlaf bekommen heute Nacht.«
Der Amtsleiter nickte, verschwand in den Vorraum und schloss geräuschlos die Tür.
Armin Cromberg kehrte an den Besprechungstisch zurück.
»Sorry, war dringend.«
Er setzte sich und lehnte sich nach vorne, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand der Reihe nach auf jeden Einzelnen der Runde.
»Sie werden verstehen, meine Herren, dass diese Reise nach Abu Dhabi für Bayern von eminenter Bedeutung ist. Die Scheichs haben jede Menge Petrodollars, die sie derzeit bevorzugt in westlichen Beteiligungen anlegen. Unsere Aufgabe – Ihre Aufgabe – wird es sein, sicherzustellen, dass sie eine Menge davon bei uns investieren. Also erwarte ich von jedem Einzelnen von Ihnen, dass er schlüssige Konzepte, überzeugende Argumente und wenn es sein muss, entsprechende persönliche Zuwendungen für die Kontaktpersonen im Gepäck hat. Wir verstehen uns?«
Die Männer nickten.
»Gut, dann bis übermorgen. Seien Sie pünktlich am Flughafen.«
Stühle scharrten über den Parkettboden, als die Herren sich erhoben. Leise Stimmen sprachen durcheinander. Keine einzige Frau befand sich in dieser Runde. Doch die Wirtschaftsbosse der führenden deutschen Unternehmen, insbesondere der finanzkräftigen Branchen, waren eben in der Mehrzahl Männer. Die meisten von ihnen sogar in fortgeschrittenem Rentenalter. Wobei selbstverständlich keiner von ihnen auch nur ansatzweise daran dachte, sich zurückzuziehen und die Verantwortung in jüngere Hände zu legen. Denn Geld und Macht hielten sie für ihr Lebenselixier.
Armin Cromberg schritt durch die Räume des Hotels Sofitel Bayerpost, in denen die Party des Films stattfand, der an diesem Abend im Malthaeser Filmpalast Premiere gehabt hatte. Ein schrecklicher Schinken, irgendeiner Göttersage nachempfunden, dessen Titel er jetzt schon vergessen hatte. Wenn die Amis sich an klassische Stoffe wagten, konnte ja auch gar nichts anderes herauskommen als wilde Kampfszenen, verkitschter Heldenmythos und eine unerträglich platte Geschichte. Er nippte am Champagner, ließ sich mit den Hauptdarstellern ablichten, die zur Premiere eingeflogen worden waren, und führte nichtssagende Gespräche mit Journalisten und Politikern. Ein Abend wie immer bei solchen Veranstaltungen: langweilig bis zum Erbrechen. Immer dieselben Gesichter, immer die gleichen Plattitüden, Dauerlächeln, bis die Gesichtszüge erstarrten. Doch das gehörte zum Geschäft. Wer nicht mitmachte, war im Nu weg vom Fenster.
Er blickte unauffällig auf seine Breitling Bentley Supersports. Ein Geschenk eines Konzerns, der ihn für seine Geschäfte gewinnen wollte. Vor ein paar Jahren, als er sie erhalten hatte, erschien ihm eine Uhr um 30.000 Euro wie der pure Luxus. Mittlerweile ekelte ihn die billige Aufmachung mit dem Gummiarmband nur mehr an. Aber immer noch besser als seine alte Seiko, die er schon zu Studentenzeiten getragen hatte. Hoch an der Zeit, sich wieder einmal etwas Ausgefallenes schenken zu lassen. Er hatte auch schon eine Idee, von wem. Denn wer ihn nachts durch die Gegend scheuchte, konnte schon etwas springen lassen.
Es war kurz vor Mitternacht. Zeit aufzubrechen. Bei dem Sauwetter so ungefähr das Letzte was er wollte. Seit Tagen regnete es. Und wenn der Regen kurzzeitig aussetzte, was selten genug geschah, lag München immer noch im dichten Nebel. Mist! Zu der nächsten Verabredung konnte er sich nicht einmal von seinem Chauffeur bringen lassen, der ihn dann brav beschirmte, bis er im Trockenen anlangte. Er musste sich selbst hinter das Steuer setzen. Aus diesem Grund hatte er den Mann schon weggeschickt, als sie hier angekommen waren. Es fuhr den Audi A8 echt gerne selbst. Das Ding, sicher wie ein Panzer, lag ob seines Gewichtes traumhaft auf der Straße. Aber doch nicht nach einem langen Arbeitstag und bei diesem Sauwetter! Was Edelbacher so Dringendes zu besprechen hatte? Und hoffentlich ist es wirklich wichtig, sonst kannst du was erleben, mein Freund!
Klaus Edelbacher firmierte als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bau AG. Die DBAG war ein riesiger Konzern, der weltweit gut 100.000 Arbeitnehmer beschäftigte. Mit einer Niederlassung in Abu Dhabi, wenn er sich recht erinnerte. Nun, dann hätte Edelbacher doch zu dem Termin am Vormittag dazu stoßen können. Es musste sich um etwas anderes handeln. Und diese blödsinnige Geheimnistuerei! Er würde ihm explizit klarmachen, dass er sich in Zukunft auf solche Blitztermine in der Nacht nicht mehr einlassen konnte. Wie sah denn das aus? Konspirative Zusammenkunft mit einem Konzernchef nach Mitternacht an einem geheimen Ort!
Der geheime Ort war auch so eine Schnapsidee Edelbachers. Er wollte sich mit ihm auf dem Parkplatz eines großen Kinocenters treffen. Da dort neben einem Einkaufszentrum, auch Restaurants und eine Disco lagen, war der Parkplatz selbst zu dieser späten Stunde noch gut frequentiert. Unter den vielen parkenden Autos würden ihre beiden nicht auffallen. Das mochte stimmen, doch wie sollte er unter all den abgestellten Karossen die Edelbachers finden? Noch dazu bei diesem Mistwetter.
Cromberg verabschiedete sich von niemandem, fuhr in die Tiefgarage und verließ das Hotel. Das Wetter hatte sich sogar noch verschlechtert, was gar nicht möglich schien. Doch der Dauerregen ging gerade in Schnee über und zusätzlich herrschte eine dicke Nebelsuppe, sodass man kaum zwanzig Meter weit sehen konnte. Scheiße! Einmal mehr verwünschte er den verdammten Kerl, der ihn zu dieser Tageszeit bei diesem Wetter um den Schlaf brachte. Der Scheibenwischer lief auf Hochtouren und trotzdem wurde die Scheibe unmittelbar darauf wieder nahezu undurchsichtig. Infolge der schlechten Sicht konnte er kaum mehr als dreißig Stundenkilometer fahren. Plötzlich schoss aus einer Seitengasse ein Geländewagen heraus.
»Du Vollidiot«, brüllte Cromberg und musste eine Vollbremsung hinlegen, wobei seine Aktentasche vom Sitz in den Fußraum flog. Dort lag sie in Nässe und Schmutz und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie die Tasche jetzt aussah. Sein Unmut wuchs mit jedem Kilometer, den er durch Nebel und Regen schlich. Wenn der Edelbacher nicht mindestens den Weltuntergang ankündigt, dann kann er etwas erleben!
Als er bei dem Kinocenter ankam, kramte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Edelbachers Nummer. Dieser meldete sich tatsächlich beim ersten Klingelton.
»Ich bin da. Wo finde ich Dich?«
»In der rechten hinteren Ecke, gegenüber vom türkischen Restaurant.«
Cromberg hatte keine Ahnung, von wo aus rechts sein sollte und er sah auch kein türkisches Restaurant. Aber wenn er die Ecken des riesigen Parkplatzes abfuhr, musste er wohl irgendwann bei Edelbacher landen.
Der stand neben seinem Auto im Regen und riss Crombergs Beifahrertür auf, kaum dass dieser angehalten hatte.
»Na endlich!« Er ließ sich klatschnass auf den Beifahrersitz plumpsen und warf die Türe zu.
»Achtung! Tritt nicht auf meine Tasche.«
Edelbacher bückte sich, hob die Aktenmappe auf und warf sie achtlos auf die Rückbank. »Gott sei Dank, dass Du da bist.«
»Hör zu, Klaus. Das war das erste und letzte Mal, dass ich so eine Aktion mitmache. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir, der morgen wird auch nicht das reine Honigschlecken und übermorgen fliege ich mit der Wirtschaftsdelegation nach Abu Dhabi. Ich hoffe, Du hast einen guten Grund für dieses Theater!«
Edelbacher wischte sich mit der Hand das Wasser aus den Haaren. Es tropfte von der Hand auf die Lehne des Sitzes. Cromberg schluckte. Der Kerl versaute ihm seinen neuen Dienstwagen. Am liebsten hätte er den Trottel wieder aus dem Auto geworfen.
»Glaub mir, Armin, wenn es nicht dringend wäre, hätte ich dich nicht angerufen.«
»Also, was ist los?«
»Die DBAG ist pleite.«
»Wie bitte? Erst vorige Woche ist doch bei der Aktionärsversammlung der Geschäftsbericht vorgelegt worden. Und der sah doch vielversprechend aus.«
»Schon. Aber da fehlen die Leichen im Keller.« Edelbachers Stimme klang, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Um Gottes Willen, Klaus! Das kann doch nicht sein. Bayern würde Milliarden verlieren, von meinen eigenen Verlusten will ich gar nicht reden.«
»Darum sag ich es Dir ja. Der Freistaat soll seine Aktien in den nächsten Tagen langsam abstoßen. Du Deine natürlich auch.«
»Und wenn wir das tun, fällt der Kurs der DBAG-Aktie ins Bodenlose.«
»Armin, das ist jetzt auch schon egal.«
»So verzweifelt ist die Lage?«
»Schlicht und ergreifend: ja.«
»Weiß irgendwer Bescheid?«
»Nicht wirklich. Es gibt nur so einen widerlichen Schmierfink bei der Süddeutschen, Martin Streithammer. Der hat vor ein paar Tagen schon angedeutet, dass die Zahlen im Jahresbericht bestimmt getürkt sind.«
»Um den kümmere ich mich. Nicht umsonst unterstehen meinem Ministerium auch die Medien.«
»Und weiter?«
»Pass auf, Klaus. Flieg mit nach Abu Dhabi. Unterwegs ergibt sich sicher eine Möglichkeit, über Alternativen zu reden. Die Scheichs haben unendliche Massen Geld, die sie gern in Geschäfte mit hohen Renditen investieren. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, warum sie das unbedingt bei der DBAG tun sollen. Wir finden einen Ausweg.«
Und wenn schon nicht für die DBAG, dann wenigstens für uns, fügte er im Geist hinzu.
Martin Streithammer saß vor dem Monitor seines PCs und suchte nach Ergebnissen für die Deutsche Bau AG. Der Geschäftsbericht lag vor ihm auf dem Tisch. Irgendetwas war faul an der ganzen Geschichte, das fühlte er mit dem Gespür, das er als langjähriger Wirtschaftsjournalist entwickelt hatte. Aber er sah es weder offensichtlich, noch fand er Zugang zu jemanden, der ihm Auskunft geben konnte. Wie vermochte der Baukonzern in Zeiten der Rezession und der Spekulationsblasen in halb Europa so verdammt gute Zahlen schreiben? Vor allem, da es schon vorher an allen Ecken und Enden gekracht hatte. Wo waren die Großinvestoren? Wo die Riesenbauprojekte? Er schlug resigniert das Notizbuch zu. Er musste sich zu Hause die Bilanzen der Vorjahre heraussuchen und seinen Freund Uwe Deveraux anrufen. Der konnte ihm vielleicht helfen. Denn Uwe hatte gut zehn Jahre eine Wirtschaftsprüferkanzlei geführt, bevor er mit seinem Hobby, dem Schreiben von Kriminalromanen, unverhofft Erfolg gehabt hatte. Mittlerweile war Uwe Deveraux ein mit Preisen ausgezeichneter Schriftsteller, überall dort zu Hause, wo die Crème de la Crème des Kriminalromans auftrat.
Plötzlich legte Martin jemand von hinten eine Hand auf die Schulter. Er drehte sich um und sah in das verärgerte Gesicht des Chefredakteurs. Der sagte kein Wort, sondern deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Glaskobel, der als sein Büro diente. Sie nannten es »das Aquarium«. Nicht nur, weil es rundherum Glaswände hatte, sondern weil Heiner Muthmanns Gesichtsausdruck mit den hervorquellenden Augen und den wulstigen Lippen dem eines Karpfens bedenklich nahe kam.
Die Luft in dem Raum konnte man schneiden. Heiner war nicht nur Kettenraucher, er hatte vermutlich auch eine Allergie gegen Frischluft.
»Lass die Finger von der DBAG!«, fuhr ihn Heiner an, sobald Martin die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Aber die Geschichte stinkt«, entgegnete Martin.
»Hast Du Beweise?«
»Nein«, musste er zugeben. »Aber ich spür das im Urin.«
»Dann geh zum Urologen. Aber lass die Finger von der DBAG.«
Martin schluckte. Bisher waren alle seine Aufdeckerstorys, die auch nur mit dem berühmten Bauchgefühl begonnen hatten, echte Knüller gewesen. Warum sollte er jetzt plötzlich zurückstecken?
»Das hast Du jetzt schon einmal gesagt. Darf ich fragen, warum?«
»Anweisung von ganz oben. Morgen fliegt eine Wirtschaftsdelegation unter Leitung unseres allseits beliebten«, Heiner verdrehte die Augen, »Herrn Innenminister Armin Cromberg nach Abu Dhabi. Die Herrschaften erhoffen sich höchst einträgliche Geschäftsabschlüsse. Vermutlich auch für die DBAG. Da wäre jede abträgliche Presse im Moment kontraproduktiv.«
»Wieso eigentlich der Innenminister? Gäbe es dafür nicht einen wesentlich Kompetenteren, nämlich den Wirtschaftsminister?«
»Woher soll ich denn das wissen? Aber halt jetzt erst einmal schön die Füße still.«
»Von mir aus. Aber danach kann ich wieder schreiben, was Sache ist?«
Heiner zuckte mit den Achseln. »Einmal sehen, wie sich die Geschichte entwickelt. Du weißt ja, dass unsere Politiker nicht zimperlich sind, wenn ihnen die Berichterstattung nicht in den Kram passt.«
Martin kannte die Spielregeln. Es geschah nur das erste Mal, dass Heiner sich tatsächlich daran hielt. Vielleicht handelte es sich auch nur um ein zeitlich begrenztes Stillhalteabkommen. Damit würde er leben können. In der Zwischenzeit würde er weiter graben. Damit er im richtigen Moment schlagende Beweise auf den Tisch würde legen können.
Am Entlastungsgerinne der Donau lief Penelope Cruz mit ihrem Husky Blue die morgendliche Fitnessrunde. Gelegentliche Runde traf es wohl besser. Es roch nach würzigen Sommerkräutern und ein wenig nach getrocknetem Schlamm. Erst vor Kurzem war hier alles vom Hochwasser überflutet gewesen. Und wie schon oft in den letzten Jahren, hatte die Insel Wien vor dem Schicksal vieler Städte an der Donau bewahrt, die zum zweiten Mal binnen Kurzem von einem Jahrhunderthochwasser heimgesucht worden waren. Wer immer die Idee zu diesem Freizeitparadies gehabt hatte: Man sollte ihm ein Denkmal setzen.
Der Morgen begann mit gemäßigten Temperaturen. Der Wind, der hier auf der Donauinsel fast immer wehte, fühlte sich angenehm kühl an. Der Himmel färbte sich im Osten rosa, im Westen war es noch dunkel. Keine Wolke trübte das schwindende Blau der Nacht, und der Tag versprach wieder heiß zu werden.
Penelope atmete schwer, doch der Umkehrpunkt kam in Sichtweite. Wenn es ihr doch nur gelänge, den süßen Versuchungen von dunkler Schokolade zu widerstehen! Dann müsste sie nicht dauernd um ihr Idealgewicht kämpfen. Und mehr trainieren würde ihr auch gut bekommen. Sie sah nicht schlecht aus, die Männer guckten ihr hinterher. Aber ihre Schwester, drei Jahre älter, verheiratet, zwei kleine Kinder, hatte schon Orangenhaut im Bereich der Oberschenkel und Schwangerschaftsstreifen am Bauch. So wollte sie ganz sicher nie aussehen!
Ihr Name lautete natürlich nicht Penelope Cruz. Aber sie besaß Ähnlichkeit mit der Schauspielerin. Besonders ihr langes, dichtes dunkles Haar war ihr ganzer Stolz. Allerdings wog sie - gefühlt - eine Tonne mehr als Penelope. Manchmal stellte sie sich vor, sie wäre wirklich der Star aus Hollywood. Baby, Du machst diese Schinderei nur für deinen nächsten Film. Das Publikum wird dich dafür liiiieben! Motivation nannte man das. Mangels Agenten oder Personal Trainer musste sie diese eben selbst in die Hand nehmen.
Blue lief wie immer um einiges voraus. Schnüffelte hier und dort und legte den Weg mindestens drei Mal zurück. Bei der Steinspornbrücke blieb er plötzlich stehen und begann zu bellen.
»Was ist los, Blue?«
Als sie näher kam, sah sie etwas Großes im Wasser liegen. Halb am Ufer, halb in der Rinne. Himmel! Das ist ein Mensch! Ist er tot?
Sie keuchte näher. Musste erst die Arme in die Hüften stemmen und ein paar Mal den Rumpf beugen und tief durchatmen. Trotzdem bekam sie noch immer zu wenig Luft. Sie hatte Seitenstechen. Zwischen den Beinen hindurch sah sie aus dem Augenwinkel eine rasche Bewegung in den Büschen. Schnell richtete sie sich auf. Ein schwarzer Sportschuh, dunkle Jeans. Das war alles, was sie erkennen konnte. Beides verschwand eben zwischen den Zweigen. Sie schauderte. Lief dort der Mörder? Aber war der Tote überhaupt ermordet worden?
Der Mann war mit Sicherheit hinüber. Eine rosa Brühe wehte im Wasser um seinen Kopf. Dort klaffte eine hässliche Wunde. Erinnerte an eine aufgeplatzte Wassermelone. Sie schüttelte sich. Wie schrecklich! Ein Fahrrad mit verbogenem Vorderrad lag in der Nähe im Gras. Sah doch mehr nach Unfall aus.
Sie kramte ihr Handy aus der Bauchtasche. Wählte den Polizeinotruf und keuchte atemlos: »Da liegt ein toter Mann im Wasser!«
Eine Funkstreife rollte heran. Mit Blaulicht aber ohne Sirene. Vermutlich wollten sie nicht den ganzen Bezirk darauf aufmerksam machen, dass es hier etwas zu sehen gab.
Penelope Cruz, vulgo Aleksandra Draskovic, saß mit Blue auf dem oberen Weg, die Beine baumelten Richtung Wasser. Die Polizisten, zwei müde wirkende Männer, vermutlich noch die Nachtschicht, betrachteten den Toten.
»Wahrscheinlich ein Unfall«, meinte der Jüngere.
»Glaube ich nicht«, entgegnete der Zweite. »Schau einmal, wie der Kopf zugerichtet ist. Und der Fleck auf der Brust? Das sieht mir nicht nach einem einfachen Sturz mit dem Rad aus. Ruf die Kripo.«
»Hast recht. Ungeklärte Todesfälle sind nicht unser Bier.«
Der Jungspund stieg wieder ins Auto und nestelte am Armaturenbrett herum. Gleich darauf hörte Aleksandra das Funkgerät quäken.
»Sie haben den Toten gefunden?«, wandte sich der Ältere an sie.
»Ja. Das heißt, eigentlich war das Blue.« Sie deutete auf den Hund, der neben ihr saß.
»Haben Sie ihn berührt?«, fragte der Polizist.
Aleksandra wirkte verwirrt. »Den Hund?«
Der Polizist verdrehte die Augen. »Den Toten natürlich.«
»Nein, Gott behüte. Ich war nicht einmal in seiner Nähe.«
»Gut. Sie müssen auf die Kripo warten. Die werden Ihre Aussage brauchen.«
»Ach, wird das noch lange dauern? Ich bin nass geschwitzt und mir ist jetzt schon eiskalt.«
»Ich bring Ihnen eine Decke.«
Der Polizist kehrte zum Wagen zurück und nahm etwas aus dem Kofferraum, das aussah wie ein schmutziges totes Tier. Eine graue Decke. Nicht gerade von der kuscheligen Sorte, eher hart und kratzig. Müffelte nach Diesel und kaltem Zigarettenrauch. Aber sie wärmte. Hielt vor allem den recht frischen Wind ab, der Aleksandra schon zum Bibbern gebracht hatte.
Sie war eben ins Büro gekommen, riss die Fenster auf und ließ die frische Morgenluft den dumpfen Mief von Schweiß und Zigarettenrauch, kaltem Kaffee, staubigen Akten und heißen Computerlaufwerken wegblasen. Dann stellte sie als erste Tätigkeit die Kaffeemaschine an. Ohne ein tüchtiges Quantum Koffein, das wusste sie, konnte Chefinspektor Rainer Wielke, ihr Kollege und Zimmergenosse, am Morgen einfach nicht in die Gänge kommen.
Eben trampelte er grußlos in den Raum und ließ sich schwer in den Sessel gegenüber von Jana fallen. Er war fünfunddreißig Jahre alt, sah verdammt gut aus und wusste das auch. Er hatte eine Ausbildung für Klavier und klassischen Gesang absolviert. War ein paar Mal aufgetreten, hatte sogar an der Staatsoper gesungen. Doch dann musste irgendetwas mit ihm passiert sein. Er hatte im Schnelldurchlauf Jura studiert und summa cum laude promoviert. Unmittelbar darauf war er in den Polizeidienst eingetreten. Und vor einem halben Jahr zu Janas Abteilung gestoßen. Aber richtig engagiert erschien er ihr selten. Brillant, wenn er sich anstrengte, aber das geschah nur in Ausnahmefällen.
Er stammte aus bestem Haus und schlug sich die Nächte in den Schickimicki-Lokalen um die Ohren. Gehörte zur Bussi-Bussi-Society und wurde immer wieder einmal auf den Promiseiten irgendwelcher Klatschblätter abgebildet. Das nahm ihm der Boss persönlich übel. Denn wenn schon wer in der Zeitung genannt werden sollte, dann natürlich er.
Jana hatte sich oft gefragt, was Wielke dazu bewogen haben mochte, die Gesangskarriere aufzugeben, die sich weit besser mit seinem Lebensstil vereinbaren hätte lassen und stattdessen ein trockenes Jurastudium zu beginnen und dann noch in den Polizeidienst einzutreten. Ob der Junior von Kommerzialrat Dr. Dr. Samson Wielke genötigt worden war? Kam daher sein Missmut? Jana beschloss, bei günstiger Gelegenheit einmal nachzufragen.
»Dir auch einen schönen guten Morgen, Rainer!«
Wielke murmelte etwas, das entfernt an »Morgen« erinnerte und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Gleich danach hörte Jana sein goldenes Feuerzeug schnappen.
»Du weißt aber schon, dass Rauchen hier nicht erlaubt ist?«
Keine Antwort, nur Achselzucken. Was erwartete sie auch zu dieser Tageszeit von ihm? Wenn allerdings der Chef vorbeikommen sollte, gäbe es wieder Stunk. Der war ohnehin schon sauer auf Wielke. Aus vielerlei Gründen.
»Na, schwere Nacht gehabt?«
Jana grinste in sich hinein. Nun ja, Rainer wurde es hoffentlich bald leid, jeden Morgen mit Brummschädel aufzuwachen und nicht zu wissen, wo er sich befand und wie die Tussi hieß, die ihn abgeschleppt hatte.
Wielke grunzte nur: »Kaffee!«
»Das Zauberwort heißt bitte, Rainer.«
Er zuckte zusammen, als sie ihm die randvolle Tasse vor die Nase knallte.
»Musst Du immer so laut sein?«
»Nein.« Sie nahm sich auch einen Kaffee und ließ sich gegenüber auf ihren Stuhl fallen. »Aber es macht tierischen Spaß!«
Wenn Blicke töten könnten, wäre sie jetzt auf der Stelle umgefallen. Jana war ebenfalls nicht gerade begeistert, wenn ein Sonntagsdienst anstand. Aber das gehörte bei ihrem Beruf einfach dazu. Wer einen Job Montag bis Freitag nine to five wünschte, der musste schon bei der Ausbildung daran denken und sich etwas anderes als die Polizeiarbeit aussuchen.
Jana sah demnächst ihrem achtunddreißigsten Geburtstag entgegen. Hatte fast zwanzig Dienstjahre auf dem Buckel und kannte alle hier seit Ewigkeiten. Sie war groß, einsachtundsiebzig, zu viel für eine Frau, wie ihr Mann ihr immer wieder erklärt hatte, und schlank, allerdings mit Kurven an den richtigen Stellen. Ihr blonder Wuschelkopf mit den wilden Naturlocken ließ sich nur widerwillig bändigen, sodass sie ihr Haar meist in einem Zopf geflochten trug. Immer wieder hatten Kollegen und Vorgesetzte versucht, sie anzumachen. Aber Jana war verheiratet und ihre Ambitionen in Richtung Seitensprung tendierten gegen null. Als die Welt noch in Ordnung war. Sie seufzte. Vor einem halben Jahr war Paul, ihr Mann, Knall auf Fall ausgezogen. Er hatte sich in ein junges Ding verliebt, ein Mädchen aus seiner letzten Abiturklasse. Das ewige Klischee: der Lehrer und die Schülerin. Nie hätte sie gedacht, dass so etwas passieren könnte. Und jetzt wollte er die Scheidung, weil die Kleine ein Kind erwartete. Das tat unheimlich weh. Denn sie hatte das in den mehr als zehn Jahren ihrer Ehe nicht zusammengebracht. Sie konnte einfach nicht schwanger werden. Jetzt saß sie an den Abenden, den Wochenenden, Weihnachten und anderen Feiertagen, mit Cleo, ihrer Abessinierkatze, allein zu Hause. Das blieb jedoch ihr gut gehütetes Geheimnis.
Jeder im Haus wusste allerdings, dass sie eine gewissenhafte Beamtin war. Ihr entging nichts. Sie verbiss sich in ihre Fälle wie ein Terrier. Ihre Partner trugen meist wenig an Arbeitsaufwand bei, durften aber die Lorbeeren ernten. Aus diesem Grund liebten ihre Exkollegen Jana. Denn die Herren, die mit ihr zusammengearbeitet hatten, waren alle die Karriereleiter hinaufgefallen. Nur Jana blieb, wo sie war und auch immer sein wollte. Sie hatte keinerlei Ambitionen weiter aufzusteigen, hatte sogar eine Beförderung ausgeschlagen. Sie wollte an der vordersten Front ihren Dienst versehen. Den kleinen und großen Gaunern auf die Schliche kommen, Mörder und Vergewaltiger dorthin bringen, wo sie hingehörten: hinter Gitter. Sie konnte sich nicht vorstellen, am Ende nur noch an einem Schreibtisch in der Chefetage zu versauern.
Für Rainer sollte sie sich bald etwas einfallen lassen. Er musste Karriere machen und befördert werden, bevor seine morgendliche schlechte Laune auf sie abfärbte. Doch davor musste sie ihn trocken legen und dafür sorgen, dass er zur Abwechslung einmal etwas Sinnvolles tat. Denn der gescheiteste Kopf, der jemals mit ihr das Zimmer geteilt hatte, konnte kein Kapital daraus schlagen. Das Einzige, was er beherrschte: sich Feinde schaffen. Darin war er Meister. Wobei er teilweise nicht einmal etwas dafür konnte. Er sah nicht nur gut aus, sondern auch immer wie aus dem Ei gepellt. Weißes Hemd, anthrazitfarbener Anzug, messerscharfe Bügelfalten, Manschettenknöpfe und Krawattennadel aus Gold. Dazu einen dunklen Dreitagebart, der seine aristokratischen Züge richtig zur Geltung brachte. Und er fuhr einen Porsche. Er verkehrte in den besten Kreisen und kannte alle Celebrities der Stadt. Die Frauen, mit denen er ausging, Champagner oder Whiskey schlürfte, oder was immer die in der High Society inhalierten, waren Models, Schauspielerinnen oder reiche Erbinnen. Da kam durchaus Neid unter den Kollegen auf. Den Rest schaffte er locker mit der ewig schlechten Morgenlaune, durch Beharrlichkeit, wenn er eine Fährte aufgenommen hatte, durch seine Arroganz und durch seine Erfolge. Die er erzielte, ohne sich sichtbar anzustrengen.
Das Telefon schnitt Janas Betrachtungen zu Wielke ab. Sie meldete sich und gleich darauf informierte sie ihren Kollegen: »Ein unbekannter Toter auf der Donauinsel. Unfall, Mord, Selbstmord – alles ist möglich.«
»Verdammter Mist. Muss das unbedingt heute sein?«
»Frag doch einmal das Opfer.«
Wielke sah sie skeptisch an. »War das ein Witz?«
»Na klar. Siehst Du nicht, wie ich lache?« Sie sprang auf. »Wir brauchen das volle Programm. Rechtsmedizin, Spusi, und so weiter.«
»Sagt wer?«
Jana knurrte in seine Richtung: »Der Umstand, dass wir nicht wissen, wie der Mann gestorben ist. Oder denkst Du, die Leiche wird Dir ihr Herz ausschütten, wenn Du sie charmant anlächelst?«
»Mein Gott, wieso bist Du denn so biestig? Das ist doch mein Part.«
»Heute nicht. Im Übrigen solltest Du Pfefferminzbonbons lutschen. Du stinkst nach Alkohol.«
Jana grinste innerlich, aber ihren Kollegen ließ sie eine Leichenbittermiene sehen und ahmte täuschend sein normales morgendliches Verhalten nach. Wielke wirkte irritiert. Das kannte er von ihr noch nicht. Sie zeigte sich doch sonst immer höchst verständnisvoll! Gut so. Er sollte wissen, wie man sich fühlte, wenn einem ein Kotzbrocken gegenübersaß!
Als Wielke und Jana auf der Donauinsel eintrafen, sahen sie Berger und die Spurensicherung schon fleißig bei der Arbeit. Jana bemerkte, dass der Tote im Wasser einen blauschwarzen Fleck auf der Brust hatte, dort wo das weiße Hemd aufklaffte. Außerdem sahen seine Arme abgeschürft aus.
»Was ist das?«, fragte sie Werner Berger, den Gerichtsmediziner, und deutete auf die Brust des Opfers.
»Hämatome.«
»Das sehe ich. Aber wovon?«
»Weiß ich noch nicht.«
Berger war kein Freund vieler Worte. Ihm musste man die »Würmer« einzeln aus der Nase ziehen.
»Ist er am zertrümmerten Schädel gestorben?«
»Bin ich Hellseher? Der liegt seit Stunden im Wasser. Da kann man gar nichts sagen. Erfährst Du übermorgen, nach der Obduktion.«
»Hatte er Papiere bei sich?«
»Nichts. Alle Taschen leer. Und jetzt lass mich bitte arbeiten.«
Wielke marschierte zu der jungen Frau, die den Toten gefunden hatte. Wie nicht anders zu erwarten, flirtete er mit ihr. Er war also aufgewacht.
»Sie erinnern mich an eine Schauspielerin. Mir fällt nur gerade ihr Name nicht ein«, flötete er.
Die Zeugin wurde doch tatsächlich rot!
»Penelope Cruz. Ja, mit der werde ich öfter verglichen.«
Das Mädchen senkte in falscher Bescheidenheit den Kopf. Wenigstens hatte sie nicht behauptet, regelmäßig mit der Cruz verwechselt zu werden.
»Verraten Sie mir auch Ihren wirklichen Namen?«, raspelte Wielke weiter Süßholz.
»Aleksandra Draskovic.« Filmreifer Augenaufschlag.
»Alexandra! Was für ein schöner Name.«
Jana wandte sich ab. Sie ertrug das Gesülze nicht länger. Bei ihr brachte der Blödmann die Lippen kaum jemals für bitte oder danke auseinander. Und wie oft hatte sie ihn schon gedeckt, wenn er wieder einmal mehr Restalkohol als Blut im Körper hatte? Aber für diese Frau, die er sicher nie mehr sehen würde, ließ er seinen gesamten Charme spielen. Typisch Wielke und echt ärgerlich. Er stellte den lebenden Beweis dafür dar, dass Intelligenz ohne soziale Kompetenz eine unsinnige Laune der Natur war.
Wenn er sich weiter jede Nacht mit den Schönen und Reichen der Stadt um die Ohren schlug und am Tag benahm wie derzeit, hatte Jana gute Aussichten, mit diesem Blödmann bis zur Pension zusammenarbeiten zu müssen. Mein Gott, nur das nicht! Da würde sie dann noch lieber die Quotenpolizistin bei Bürgermeisterempfängen spielen.
Jana rief auf der Dienststelle an.
»Haben wir einen Vermissten? Männlich, weiß, etwa einsachtzig groß, korpulent, Alter irgendwo zwischen vierzig und fünfzig?«
»Liegt nichts vor. Wir haben nur eine einzige Vermisstenmeldung über einen Fünfjährigen. Leider schon seit achtundvierzig Stunden.«
Verdammter Mist. Ein fünfjähriger Junge. So etwas ging selten gut aus, wenn man das Kind nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden fand. Und ihr unbekannter Toter wurde noch gar nicht vermisst.
Jana sah zu dem Mann hinüber, der vom Leichentransportdienst eben in einen Leichensack und dann in eine Blechwanne gelegt wurde. Deckel drauf und ab in den grauen Kastenwagen. Nächster Halt: Gerichtsmedizin.
Wer bist du? Was ist dir widerfahren? Und vor allem, warum?
Hanni, eine Mitarbeiterin, die sie von der österreichischen Post nach einer Umschulung für die Büroarbeiten »geerbt« hatten, ließ einen Blätterstapel auf Janas Tisch fallen. »Für Sie. Bericht des Gerichtsmediziners«, verkündete sie lakonisch. »Und er will, dass Sie ihn zurückrufen, sobald Sie das gelesen haben.«
»Danke Hanni.«
Jana hatte Hanni einige Male das »Du« angeboten. Doch Hanni ignorierte das. Sie schien eine gewisse Distanz einhalten zu wollen. Hatte sie Angst, dass man sie nicht als vollwertiges Mitglied der Dienststelle ansah? Oder dass man ihr dann den nötigen Respekt versagen würde? Jana wusste es nicht und hatte aufgegeben, sich um Hannis Befindlichkeit Sorgen zu machen. Sie war erwachsen. Mit gut fünfzig Jahren sollte sie eigentlich wissen, was sie wollte.
Jana überflog die Blätter in ihrer Hand. Der Mann war gefoltert worden, hatte etwas Wasser in der Lunge, allerdings nicht vom Entlastungsgerinne, sondern Leitungswasser. Leitungswasser? Hieß das, er war in der Badewanne ertrunken? Und danach mit dem Fahrrad – woher auch immer er das hatte – zur Donauinsel gefahren? Wohl kaum! Die Kopfverletzung war ihm erst post mortem zugefügt worden. Aha.
Das kaputte Fahrrad hatte er nicht benutzt, zumindest gab es keine Fingerabdrücke von ihm darauf, dafür eine Menge andere. Das wusste sie bereits aus einem ersten Bericht der Spurensicherung. Die Fingerprints konnte sie durch die Datenbanken jagen. Ohne viel Hoffnung auf Erfolg. Kein Wunder, dass Berger mit ihr sprechen wollte. Da passte ja gar nichts zusammen!
Sie wählte Bergers Nummer. Er meldete sich mürrisch mit »Wer stört?«
»Jana Thal. Sie wollten, dass ich Sie zurückrufe, wenn ich den Autopsiebericht in Händen habe.«
»Hätte nicht geschadet, wenn Sie ihn auch gelesen hätten«, grummelte Berger.
»Überflogen hab ich ihn. Heißt das, wenn er Leitungswasser in der Lunge hatte, der Bursche ist in der Badewanne ertrunken?«
»Du lieber Himmel! Gehören Sie auch zu den zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung, die nicht Sinn erfassend lesen können? Steht irgendwo, dass er ertrunken ist?«, grantelte der Gerichtsmediziner.
Das hatte Jana angenommen. Der alte Leichenschlitzer brachte sie in Verlegenheit. Wo zum Geier stand die Todesursache? Sollte die nicht an erster Stelle in der Zusammenfassung stehen? Sie blätterte hastig durch den Stapel.
»Falls Sie es immer noch nicht gefunden haben, die Todesursache war Herzversagen. Wahrscheinlich ausgelöst durch die Schläge oder die Folterung. Möglicherweise aber auch durch Intoxikation. Das Ergebnis bekommen wir erst in einigen Tagen.«
»Und was ist mit dem Wasser in der Lunge?«
»Er hatte Petechien, leichte punktförmige Einblutungen in den Augen. Typisch für Erstickungstod. Und der Mageninhalt zeigte leichte Wydler-Zeichen. Ein Hinweis auf Ertrinken. Falls Sie nicht wissen, was das ist: Der Mageninhalt, umgefüllt in ein Glas, zeigt oben Schaum, darunter Wasser und erst ganz unten den eigentlichen Mageninhalt.«
So genau will ich das gar nicht wissen. Doch Berger sprach gnadenlos weiter. »In Verbindung mit dem Wasser in der Lunge tippe ich auf Waterboarding. Ist wohl etwas aus dem Ruder gelaufen. Aber er starb, bevor er ertrinken konnte.«
Für Berger war diese lange Rede höchst ungewöhnlich. Normalerweise musste man sich bei ihm mit Kurzsätzen und Stichworten begnügen.
Waterboarding! Folter durch simuliertes Ertrinken. Jana schüttelte ungläubig den Kopf.
»Und die Wunde am Kopf?«
»Post mortem. Vielleicht hat er sich die zugezogen, als man ihn auf der Donauinsel ins Wasser warf. Aber vielleicht auch schon vorher durch einen Schlag auf den Kopf. Er war auf jeden Fall schon tot, als das passierte.«
»Na, sauber. Wo leben wir denn hier eigentlich? In Guantanamo, oder in Afghanistan?«
»Eines steht jedenfalls fest. Der Mann musste etwas wissen, was ein anderer unbedingt erfahren wollte. Und jetzt liegt der Ball bei euch.«
Bevor Jana auch nur Luft holen konnte, war die Leitung tot. Berger hatte einfach aufgelegt. Blödmann!
Jana lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Folter, Intoxikation, Waterboarding. Das konnte doch nicht wahr sein! So etwas kam in Wien einfach nicht vor. Da schlug schon mal jemand dem Nachbarn den Schädel ein, weil der zu laut fernsah. Und Junkies schossen aus dem Fenster auf Kinder am Spielplatz, weil sie Lärm machten. Aber Folter? Früher sagte man in Wien: Der Balkan beginnt gleich hinter Schwechat. Heute musste man vielleicht ergänzen: Afghanistan beginnt auf der Donauinsel.
Florian Fernkorn sang vergnügt den alten Hit von Lykke Li im Radio mit. I … I follow you deep sea baby … Seine Stimme erstarb, als sein Blick durch die vorbeifahrenden Autos der Gegenfahrbahn auf das unförmige Bündel am Straßenrand fiel, aus dem zwei magere Arme auf die Fahrbahn ragten.
»Was zum Teufel …«, murmelte er und stieg voll auf die Bremse, ohne auf den Verkehr hinter sich zu achten. Sein altersschwacher Ford Escort kam schlingernd zum Stehen. Zum Glück war keiner dicht aufgefahren und ihm dann ins Heck gekracht.
Er sprang so schnell aus dem Wagen, dass er mit einem Bein im Gurt hängen blieb und fast nähere Bekanntschaft mit dem Asphalt der Straße gemacht hätte. Er fing sich an der B-Säule des Autos und befreite sich. Dann hastete er über die Fahrbahn.
Das Mädchen lag halb im Straßengraben. Florian hatte zwar noch nie eine Leiche gesehen, doch dass die junge Frau tot sein musste, war sogar ihm klar. Und zwar schon eine Weile, denn das reichlich vorhandene Blut war großteils schon eingetrocknet. Die blutbesudelten Beine lagen seltsam verdreht. Der kurze Rock über die Taille hochgeschoben, der Bauch zerfleischt, sodass eine graue Masse daraus hervorquoll. Als Florian realisierte, dass es sich dabei um die Gedärme handelte, erbrach er sich gurgelnd neben der Leiche. Der Oberkörper des Mädchens war nur mit einem eng anliegenden schwarzen Top bekleidet und sah noch am besten aus. Doch der steife Stoff vermittelte den Eindruck, auch er sei blutgetränkt und dann getrocknet.
Florian griff nach seinem Handy. Bevor er eine Nummer wählen konnte, rutschte es ihm aus den schweißnassen Händen, knallte zu Boden, die beiden Teile lösten sich, der Akku schlitterte über den Asphalt. Fluchend bückte er sich und fischte nach dem Ding, immer in der Angst, ein vorbeibrausendes Auto könnte ihm über die Finger fahren. Wieso blieb eigentlich niemand sonst stehen? Das sah doch wirklich nicht so aus, als würde hier jemand ein Nickerchen im Straßengraben halten! Florian baute mit zitternden Fingern das Mobiltelefon wieder zusammen. Zum Glück hatte er sich den PIN-Code gemerkt. Endlich bekam er eine Verbindung und hatte kurz darauf die Polizei in der Leitung. Mit wachsendem Unmut hörte er den Ansagetext: »Polizeinotruf. Derzeit sind alle Leitungen besetzt. Bitte bleiben Sie dran. Sie werden sofort nach Freiwerden einer Leitung mit dem nächsten diensthabenden Beamten verbunden.«
Na klasse! Hatte das Innenministerium die Polizei personell schon so ausgehungert, dass nicht einmal mehr der Notruf ausreichend besetzt werden konnte? Und wo waren die zweihundert Postbeamten abgeblieben, die die Innenministerin der Polizei zur Verstärkung des Innendienstes versprochen hatte? Als er eben auflegen wollte, knackte es in der Leitung und endlich meldete sich ein Mensch aus Fleisch und Blut.
»Auf der Straße von Kufstein nach Eiberg liegt die Leiche eines jungen Mädchens«, rief er ins Telefon.
»Wie ist Ihr Name?«
»Keine Ahnung, ich kenn sie nicht.«
»Nicht der des Mädchens, Ihrer.«
»Was hat denn der damit zu tun?«
»Wir wollen nur sichergehen, dass uns nicht wieder ein Scherzkeks per Hetz in die Botanik schickt.«
»Florian Fernkorn. Und hier erwartet Sie sicher keine Hetz.«
»Gut. Welche Straßennummer?«
»Da gibt es keine Nummern. Das ist außerhalb des Ortsgebietes.«
»Nein, ich meinte, welche Nummer hat die Straße? Landesstraße L Nummer irgendwas.«
Florian merkte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Was weiß denn ich? Denken Sie, ich habe jetzt keine anderen Sorgen? Ich steh neben einer zerfleischten Leiche. Ich komme zu spät zur Arbeit. Mein Chef wird mir einen Anschiss verpassen, schmeißt mich vielleicht sogar deswegen hinaus! Und außerdem: Wie viele Straßen zwischen Kufstein und Eiberg kennen Sie? Ich nur eine!« Seine Stimme wurde immer lauter.
»Du lieber Himmel, beruhigen Sie sich! Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich schicke einen Wagen.«
Er sollte sich beruhigen? Na klar, bestand ja kein Grund, sich aufzuregen. Geschah doch fast jeden Tag, dass man am Morgen auf dem Weg in die Arbeit eine zerfleischte Mädchenleiche fand! Er hätte kotzen können, wenn er das nicht schon vorhin erledigt hätte.
Als Rainer Wielke gegen zehn Uhr das Büro betrat, schaute Jana auf. Bevor man ihn sah, konnte man ihn riechen. Sicher ein sauteures Aftershave. Widerwillig musste sich Jana eingestehen, dass ihr der Duft gefiel. Wielke kam vom Chef, der ihn zum Rapport bestellt hatte. Welche Fortschritte sie bei dem unbekannten Toten von der Donauinsel erzielt hätten. Nur dass es überhaupt nichts zu berichten gab. Außer, dass der Mann eindeutig ermordet worden war und irgendjemand eine Menge Zeit und Mühe darauf verwendet hatte, vor seinem Tod mit Gewalt noch Informationen aus ihm herauszukitzeln.
»Und, was sagt der Alte?«
»Dass wir endlich Ergebnisse liefern sollen.«
Was sonst? Wukerl interessierte es überhaupt nicht, was geschah oder wie, oder welche Hindernisse sich auftaten. Das Einzige, das zählte, waren Ergebnisse. Am besten schon eine Stunde vor der Tat.
Rainer warf sich schwungvoll in den Bürostuhl, dass Jana fürchtete, er würde unter seinem Gewicht zusammenkrachen.
»Also dasselbe wie immer. Ich habe übrigens das Konterfei des Toten in die Europol-Datenbank geladen«, bemerkte Jana in seine Richtung.
»Also, Jana, echt. Das war total überflüssig. Der sieht doch aus wie der typische Wiener Striezi.«
»Klar doch! Und geht nach drei Tagen immer noch niemandem ab?«
»Dafür kann es tausend Gründe geben«, maulte Wielke.
»Genau. Oder den tausendundersten: Er ist Ausländer.«
»Sieht er für dich irgendwie arabisch oder baltisch aus?«
»Rainer, Du nervst. Hat Dir schon einmal jemand verraten, dass Deutsche, Holländer, Schweden oder Engländer auch Ausländer sind, obwohl sie oft blond und blauäugig sein können?«
Statt einer Antwort zog Wielke eine Augenbraue in die Höhe und betrachtete Jana wie ein ekelerregendes exotisches Insekt.
»Und wo ist mein Kaffee?«
»In der Kanne.«
Jana machte keine Anstalten, ihm den Kaffee zu bringen. Missmutig raffte sich Wielke auf und trottete zur Kaffeemaschine. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Möglicherweise beschimpfte er Jana. Vielleicht hielt er Zwiesprache mit den weißen Mäusen. Gott allein wusste, wie hoch sein Alkoholspiegel noch war. Doch sie konnte sich nicht um ihn kümmern, das Telefon bimmelte.
Plötzlich wurde Jana hellwach. Sie hatte eine Frau Kommissar Antje Söderstedt von der Kripo in München am Apparat. Der Inhaber einer Baufirma war seit ein paar Tagen abgängig. Die Beschreibung könnte passen. Ob sie so nett wäre, ihr die Fingerprints der Leiche zu schicken? Dann bekäme man Gewissheit, ob er der Tote von Wien sein könnte.
Jana lächelte, als sie auflegte. Dann wandte sie sich an Wielke.
»Dein typischer Wiener Striezi wird von der Kripo München vermisst.«
Wielke sah nicht einmal von seinen Unterlagen auf.
»Herrgott, ein blindes Huhn findet auch manchmal ein Korn. Und jetzt lass mich in Frieden. Sieh Dir nur den Papierstapel da an!« Wielke deutete auf den Haufen auf seinem Schreibtisch.
»Würde ich jeden Tag Stunden früher heimgehen und morgens Stunden später unausgeschlafen und mit einem ausgewachsenen Kater erscheinen, sähe es bei mir genauso aus«, konnte Jana sich nicht verkneifen. Doch Wielke schlief vermutlich schon wieder, denn er starrte mit geschlossenen Augen auf die Tischplatte vor ihm. Eine Antwort hatte Jana ohnehin nicht erwartet.
Ein leiser Klingelton von Janas PC kündigte an, dass eine Mail eingetroffen war. Die Fingerprints des Toten von der Donauinsel trafen aus der Gerichtsmedizin ein. Ein Blick auf ihr Handgelenk zeigte 18 Uhr 32. Zeit dichtzumachen und heimzugehen. Zum Kuscheln mit ihrer Berberin.
Wielke war natürlich längst abgehauen. Um 16 Uhr 30 hatte er seine Beine vom Tisch geschwungen, war gut gelaunt aufgesprungen und hatte gemeint: »Für heute reicht’s!«
Vermutlich hatte ihn sein Schönheitsschlaf, den er reichlich am Arbeitsplatz genossen hatte, wieder fit gemacht. Jetzt fuhr er nach Hause, um Body und Kleidung auf Hochglanz zu polieren, und dann ging es wohl ab auf die Piste. Nicht zum ersten Mal fragte sich Jana, was ihn antrieb. Er sprach nie über seine nächtlichen Streifzüge. Manchmal machte er auf sie den Eindruck, als würde er hinter etwas herjagen, das er nicht erreichen konnte. Was war es? Der flüchtige Ruhm in den Seitenblicken? Der ultimative Fick? Das passte nicht zu ihm. Aber: Sie würde es herausfinden.
Jana suchte unter ihren gefühlten 389 Post-its, die rund um ihren Bildschirm neben- und übereinander klebten, das, auf dem sie die Mailadresse der Kollegin aus München notiert hatte. Antje Söderstedt, da klebte der Zettel. Jana leitete die Mail aus der Gerichtsmedizin weiter. Kurz darauf hatte sie die Söderstedt am Telefon.
»Frau Thal, das ist definitiv unser vermisster Bauunternehmer. Christian Geyer, dreiundvierzig Jahre alt.«
»Jana reicht. Was hat Geyer in Wien gemacht?«
»Das ist eine der interessanten Fragen. Warum war er in Wien, mit wem hatte er Kontakt, wo hat er gewohnt, und so weiter. Ich werde hier versuchen, etwas zu erfahren. In seiner Firma, auf den Baustellen.«
»Gut. Sobald ich etwas herausgefunden habe, melde ich mich.«
»Eines sollten Sie noch wissen. Wir hatten hier in der letzten Woche einige seltsame Todesfälle von Leuten aus der Baubranche, wobei eine Reihe von Fragen offengeblieben sind. Und jetzt wird ein weiterer Bauunternehmer in Wien ermordet und es war alles so arrangiert, dass es auf den ersten Blick wie ein Unfall aussieht. Ich denke, da könnte es vielleicht einen Zusammenhang geben. Wir bleiben in Verbindung.«
Der Bericht des Gerichtsmediziners an Gregor Alban, Chefinspektor der Innsbrucker Polizeiinspektion, war gerade eben ausgedruckt worden. Alban rollte mit dem Bürostuhl hin zum Drucker und entnahm den Packen Papier. Dann las er seinen Kollegen auszugsweise daraus vor.