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Ein Bankbeamter wird vor seinem Haus ermordet aufgefunden. Die Polizei vermutet das Motiv im privaten Bereich, da keine Wertgegenstände fehlen. Die ermittelnde Kommissarin und ihr Kollege tappen lange Zeit im Dunkeln obwohl es mehrere Verdächtige gibt. Im Laufe der Ermittlungen stoßen sie auf den Patensohn des Ermordeten, der ein sehr unangenehmer Mensch zu sein scheint und auch schon einiges auf dem Kerbholz hat. Julia Sommer, die Pathologin ist und den Toten obduziert hat und die Schwester der Kommissarin ist, macht ein neuer Kollege zu schaffen, der sie permanent belästigt und bedrohlich auf sie wirkt, zumal sie mit einer Frau verpartnert ist, ihr Privatleben am Arbeitsplatz aber unter Verschluss hält. Als ihre Lebensgefährtin, die Journalistin bei der hiesigen Zeitung ist, herausfindet was die beiden Männer verbindet, kostet das sie und Julia fast das Leben ...
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Marianne Christmann
Doppeltes Spiel
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Doppeltes Spiel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 56
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Impressum neobooks
Marianne Christmann
DOPPELTES SPIEL
Kriminalroman
Impressum
DOPPELTES SPIEL© Copyright by Marianne Christmann
www.mariannechristmann.de
Alle Rechte vorbehalten.
Neobooks, Neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Es war kurz nach Mitternacht und die Stadt menschenleer. Die meisten Straßenlampen waren bereits ausgegangen, nur ein paar warfen etwas Licht auf den Asphalt.
Eine einsame Gestalt ging langsam die Hauptstraße entlang und bog an deren Ende in eine schmale Gasse ein, die sich am anderen Ende wieder verbreiterte und schließlich in eine ruhige Straße mündete in der nur Einfamilienhäuser standen. Alle waren von einem Garten umgeben. Zielstrebig steuerte die Person auf das letzte Haus in der Reihe zu. Hier gab es nur eine einzige Laterne, die ihr diffuses Licht eine Hand breit im Umkreis verbreitete.
Die Gestalt blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um. Es war ein Mann Anfang dreißig, das konnte man aus seinen geschmeidigen Bewegungen entnehmen. Er trug dunkle Hosen, eine schwarze Jacke und hatte ein Basecap tief ins Gesicht gezogen.
Vorsichtig klopfte der Mann an die Haustür. Kurze Zeit später hörte er im Haus schlurfende Schritte, dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet, bis sie von der Sicherungskette gehalten wurde. Eine Nasenspitze erschien in der Öffnung.
„Wer ist da?“, fragte eine heisere Stimme.
„Ich bin’s. Kann ich reinkommen?“
„Warte, ich will mir nur etwas anziehen, dann komme ich raus.“
Ehe der andere etwas erwidern konnte, wurde die Tür zugeschlagen. Doch keine Minute später öffnete sie sich wieder und ein Mann trat heraus. Er war von mittlerer Größe, etwa Ende fünfzig und sein Haar zeigte schon einige graue Strähnen. Er trug Jogginghosen und ein Sweatshirt und hatte darüber einen Mantel geworfen.
„Was ist los? Warum kommst du mitten in der Nacht hierher? Geht es wieder um dasselbe Thema?“
„Ja.“
„Dafür ist die Bank da und nicht meine Haustreppe.“
„Du kannst mich ja reinlassen, dann müssen wir das nicht hier besprechen“, meinte der andere mit ironischer Stimme.
Doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
„Nein, ich will dich nicht in meinem Haus haben.“
„Das finde ich aber nicht in Ordnung, Didi“, ließ sich der jüngere Mann vernehmen.
„Nenn mich nicht Didi, für dich immer noch Dietrich“, kam es prompt zurück.
‚Was mache ich eigentlich hier?‘, dachte er bei sich, ‚normalerweise schlafe ich um diese Zeit tief und fest. Warum kommt er morgen nicht noch einmal in die Bank, dann können wir darüber reden? Ich habe ein ungutes Gefühl.‘
Nur weil er sein Gegenüber schon seit langem kannte, hatte er diesem seltsamen Treffen mitten in der Nacht zugestimmt. Allerdings hätte er kein gutes Gefühl gehabt, wenn er ihn ins Haus gelassen hätte. Deshalb standen sie nun hier, vor seiner Haustür. Trotzdem war er auf der Hut.
‚Wenn es mir zu dumm wird, gehe ich wieder rein und mache die Tür zu‘, dachte er bei sich.
„Also, was ist, hast du es dir überlegt?“
Erschrocken fuhr Dietrich Kramer aus seinen Gedanken auf. Sein Gegenüber war nur noch einen halben Meter von ihm entfernt. Er hatte sich so hingestellt, dass seine Gestalt im Dunkeln war. Kramer konnte nur seine Umrisse sehen, denn der andere stand im Schatten.
„Da gibt es nichts zu überlegen, das habe ich dir doch bereits gesagt. Und komm mal gefälligst etwas in Licht, damit ich dich besser sehen kann.“
Doch sein Gegenüber rührte sich nicht.
„Du gibst mir also keinen Kredit?“
„Nein. Du hast keinerlei Sicherheiten dafür.“
„Mein Vater wird für mich bürgen. Er hat genügend Geld.“
„Ich habe mit deinem Vater gesprochen, er hat eine Bürgschaft für dich abgelehnt. Er meinte, du solltest endlich erwachsen werden und Verantwortung für dich selbst übernehmen. Der gleichen Meinung bin ich auch.“
Kramer stieß ein heiseres Lachen aus.
„Also keinen Kredit?“
„Nein.“
„Ist das dein letztes Wort?“
„Ja. Ich bin genauso wenig bereit, deinen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren, wie dein Vater. Und jetzt habe ich genug, ich gehe wieder rein.“
Kramer machte Anstalten in sein Haus zu gehen.
„Du gehst nirgendwohin. Du hast verspielt.“
Kramer hatte bereits den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als sein Gegenüber zwei schnelle Schritte auf ihn zu machte. Er sah etwas aufblitzen und eine Sekunde später fühlte er einen stechenden Schmerz im Brustkorb. Ihm wurde schwarz vor Augen, dann stürzte er zu Boden.
Kramer war tot. Ein Stich hatte ihn mitten ins Herz getroffen.
Der Täter bückte sich zu ihm hinunter um sich zu überzeugen, dass er tot war. Als er keinen Pulsschlag mehr fühlte, zog er den Gegenstand aus der Wunde, wischte ihn sorgfältig an der Jacke des Opfers ab und steckte ihn dann wieder in seine eigene Tasche.
Er richtete sich wieder auf und sah sich nach allen Seiten um ob ihn jemand gesehen hatte. Aber die Straße lag genauso verlassen da wie vorher.
Noch einmal wendete er sich dem Mann zu, der stumm vor ihm auf dem Asphalt lag. „Du dummer Kerl, hättest du mir den Kredit gegeben, dann wäre das nicht passiert. Es ist also deine Schuld. Ich bekomme den Kredit aber trotzdem.“
Er wandte sich um und ging mit schnellen Schritten Richtung Hauptstraße davon.
Es war kurz vor Tagesanbruch, die Stadt lag noch im Dunkeln und die meisten ihrer Einwohner schliefen noch. Julias Handy, das eingeschaltet auf dem Nachttisch lag, schrillte und bewegte sich summend dicht neben ihrem Kopf. Ein zweites Schrillen riss sie vollends aus ihren Träumen. Bevor es jedoch zum dritten Mal die Ruhe stören konnte, war sie am Apparat.
„Hallo?“
Ihre Stimme klang noch verschlafen.
„Dr. Sommer?“
„Ja.“
Julia unterdrückte ein Gähnen.
„Ernst Ritter hier. Wir haben einen dringenden Fall, bei dem umgehend eine Obduktion vorgenommen werden soll. Sie wissen, Dr. Vollmer ist noch in Urlaub. Können Sie in zehn Minuten da sein?“
„Hat das nicht Zeit bis Tagesanbruch?“
Ein erneutes Gähnen verschluckte die letzten Silben.
„Nein, leider nicht. Mir passt das auch nicht, aber was soll’s? Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus dem Tiefschlaf gerissen.“
„Geben Sie mir zwanzig Minuten oder soll ich im Schlafanzug kommen?“
„Der Leiche ist das egal. Bis später.“
Julia warf ihr Handy wieder auf den Nachttisch und ließ sich zurück auf ihr Kissen und die zerwühlten Laken sinken. Ein paar Augenblicke lag sie still da und starrte in das dunkle Zimmer. Dann kicherte sie leise vor sich hin. Sie trug nämlich gar keinen Schlafanzug.
Neben ihr regte sich etwas und eine verschlafene Stimme fragte: „Musst du etwa weg, um diese Uhrzeit?“
„Ja. Eine dringende Obduktion. Dr. Ritter klang auch nicht begeistert. Zum Glück sind das ja nur Ausnahmen.“
In der ganzen Zeit, in der sie als Pathologin arbeitete, war es bisher nur zweimal vorgekommen, dass ihr Chef sie aus dem Schlaf klingelte, weil eine oder mehrere Obduktionen vorgenommen werden mussten, die keinen Aufschub duldeten. Er würde sie nicht aus dem Schlaf reißen, wenn es nicht dringend wäre.
„Wie spät ist es denn überhaupt? … Was, fünf Uhr früh, zu nachtschlafender Zeit.“
„Schlaf weiter, Liebes.“
„Nein, jetzt bin ich wach. Was ist mit frühstücken?“
„Keine Zeit.“
„Du musst etwas essen! Wenigstens eine halbe Scheibe Brot. Mit leerem Magen kippst du sonst um. Ich mache dir Kaffee. Und nun verschwinde unter die Dusche.“
Julia grinste. Sie suchte ihre Kleidung zusammen, die verstreut im Zimmer herumlag. Als sie am Fenster vorbeiging blieb sie stehen und schaute hinaus. Das Haus stand ein wenig erhöht und man hatte einen atemberaubenden Blick in die Natur.
Gerade begann es zu dämmern und vereinzelt blinzelten einige Strahlen der aufgehenden Sonne hervor. Diese kurze Zeitspanne liebte sie besonders, wenn die Nacht fast vorbei war und der neue Tag kurz vor seinem Anfang stand.
Etwas weiter unterhalb verlief die Bundesstraße, auf der zu dieser Zeit bereits einige Autos fuhren. Wahrscheinlich diejenigen, die zur Frühschicht mussten. Der eigentliche Berufsverkehr begann jedoch erst eine Stunde später.
„Was machst du denn da?“, erklang jetzt Verenas Stimme hinter ihr, „warst du schon unter der Dusche?“
Julia fuhr zusammen.
„Nein … du hast mich erschreckt.“
„Beeil dich. Oder soll ich das Licht einschalten, dann hätten die Autofahrer draußen etwas zu sehen. Die würden sich sicher darüber freuen.“
„Untersteh dich.“
Julias Blick fiel auf die Uhr und sie erschrak. Sie hatte bereits fünf Minuten vertrödelt und musste sich beeilen.
Zehn Minuten später kam sie in die Küche. Der Kaffee war bereits fertig. Hastig nahm sie einen Schluck aber das Getränk war noch heiß und sie spuckte es umgehend wieder aus.
„Schmeckt dir der Kaffee nicht?“, fragte Verena unschuldig, die die ganze Szene beobachtet hatte.
„Heiß“, sagte Julia nur.
Sie nahm ihre Jacke vom Haken, küsste Verena zum Abschied auf den Mund und lief zu ihrem Wagen. Eine Viertelstunde später lenkte Julia ihr Auto auf den Parkplatz des rechtsmedizinischen Instituts.
Die Glasschiebetüren zur Pathologie standen weit offen. Es war ein heißer Tag und die geöffneten Türen ließen die Luft ein wenig zirkulieren.
Dr. Julia Sommer stand über den Leichnam gebeugt, den sie gerade obduziert hatte und sprach das Ergebnis der Obduktion in ein Diktiergerät. Ihre Ausdrucksweise war flüssig, klar und präzise.
Der Mann, der vor ihr auf dem Tisch lag, war keines natürlichen Todes gestorben. Er war Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Ein einziger Stich, genau ins Herz, war die Todesursache. Der Mörder musste großes Geschick im Umgang mit Stichwaffen haben.
Von seinen Ausweispapieren, die man in seinem Haus fand wusste Julia, dass er Dietrich Kramer hieß, achtundfünfzig Jahre alt und Kreditsachbearbeiter bei einer Bank gewesen war.
Man hatte ihn direkt vor seiner Haustür gefunden. Seinen Geldbeutel, wie auch ein paar andere Wertgegenstände, hatte man in seinem Haus gefunden, so dass die Polizei vermutete, dass das Motiv nicht Raubmord, sondern eher persönlicher Art war.
Im Laufe ihrer Berufszeit hatte sie schon öfter mit Gewaltverbrechen zu tun gehabt und wusste daher, dass schon bald die Polizei in der Gerichtsmedizin auftauchen würde, um nach den Ergebnissen zu fragen.
Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob der Mann wohl eine Familie hatte, Frau und Kinder, die nun über den Verlust des Mannes und Vaters informiert werden mussten.
Doch das war nicht ihre Aufgabe und sie war froh darüber.
Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und machte einige Proben fertig, die sie in der Forensik zur Untersuchung abgeben wollte.
Kriminalhauptkommissarin Carolin Sommer saß an ihrem Schreibtisch und sah die Akte durch, die über den neuen Fall angelegt worden war. Die Fakten, die sie hatten, waren sehr mager.
Das Opfer, Dietrich Kramer, war Kreditsachbearbeiter bei der hiesigen Sparkasse gewesen.
„Das ist nicht gerade viel“, sagte sie und sah ihren jungen Kollegen an, der ihr gegenübersaß.
Caro, wie sie von Familie und Freunden genannt wurde, war erst vor wenigen Tagen zur Kriminalhauptkommissarin befördert worden. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter und Kollege, Paul Wagner, war in den wohlverdienten Ruhestand gegangen und sie hatte seine Nachfolge angetreten.
Obwohl es eigentlich allen klar gewesen war, dass sie Wagners Nachfolgerin sein würde, hatte es trotzdem einige wilde Spekulationen gegeben. Die meisten ihrer Kollegen hatten sich für sie ausgesprochen, heimlich oder offen, aber die Entscheidung darüber lag natürlich höheren Ortes.
Caro selbst hatte nicht wirklich damit gerechnet, Wagners Nachfolge anzutreten und zugleich befördert zu werden. Daher war sie sehr erstaunt gewesen, als ihr Chef, Wilfried Brunner, sie zu einem persönlichen Gespräch gebeten hatte.
Er hatte ihr eröffnet, dass sie Paul Wagners Nachfolgerin war.
„Außerdem gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Beförderung“, hatte er gesagt und ihr die Hand geschüttelt.
Caro hatte sich bedankt, aber trotzdem kam ihr alles so vor, als wäre es ein Traum. War es aber nicht. Auch die Kollegen hatten ihr gratuliert und die meisten hatten es sogar ehrlich gemeint.
Sie hatte Paul Wagners Büro bezogen, sich dort eingerichtet und ihm gleich ihren Stempel aufgedrückt. Ihren Assistenten und Kollegen, Kevin Reichel, hatte sie behalten.
„Nein“, antwortete Kevin auf ihre Bemerkung, „das ist wirklich wenig. Was wissen wir denn konkret?“
„Der Fundort war auch der Tatort, soviel wurde schon festgestellt.“
„Und der Tatzeitpunkt?“
„Da müssen wir die Obduktion abwarten.“
„Was hatte der da draußen um diese Zeit vor seinem Haus zu suchen? Die meisten Menschen schlafen dann.“
„Das müssen wir herausfinden und ebenso, ob er Feinde hatte und wenn ja, wer da in Frage kommt. Fangen wir im familiären Umfeld von Dietrich Kramer an.“
Sie verließen das Büro und fuhren zu Kramers Privatadresse.
Caro und Kevin stiegen vor Kramers Haus aus dem Auto. Es war eine ruhige Gegend und alle Häuser, die hier standen, machten einen gepflegten Eindruck. Kramers Haus stand ein wenig zurückversetzt von der Straße. Ein schmaler Fußweg führte zu ihm. Auf dem Klingelschild stand Kramer. Caro läutete. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und eine Frau stand vor ihnen.
„Ja?“, fragte sie, „wer sind Sie und was wollen Sie?“
„Kriminalpolizei. Wir ermitteln im Fall Dietrich Kramer. Ich bin Carolin Sommer und das ist mein Kollege, Kevin Reichel.“
Caro hielt der Frau ihren Dienstausweis unter die Nase.
„Kriminalhauptkommissarin“, las die Frau vor. Dann schaute sie Caro prüfend an. „Sind Sie dafür nicht noch etwas zu jung?“
„Das täuscht“, erwiderte Caro ernsthaft. „Sind Sie Frau Kramer?“
Aber die Frau schüttelte den Kopf.
„Herr Kramer war nicht verheiratet. Ich bin die Haushälterin. Kommen Sie doch bitte herein.“
Caro und Kevin traten ein. Sie standen im Flur eines kleinen Hauses, von dem zwei weitere Türen abgingen. Wahrscheinlich die Küche und das Wohnzimmer. Eine enge und schmale Treppe führte ins Obergeschoss.
„Wohnen Sie auch hier?“, fragte Caro und sah sich um.
„Aber nein, ich wohne nicht hier. Ich komme zweimal in der Woche zum Wäsche waschen und bügeln und was im Haushalt eben noch so anfällt. Es ist schrecklich, was mit Herrn Kramer passiert ist. Wer tut denn so etwas?“
„Genau das wollen wir herausfinden, Frau …?“
Fragend sah Caro sie an.
„Gerlinde Peters.“
„Wie lange arbeiten Sie denn schon für Herrn Kramer, Frau Peters?“
„Fünf Jahre.“
„Dann kannten Sie ihn wohl recht gut?“
„Na ja, wie man eben jemanden kennt, für den man arbeitet.“
„Hatte Herr Kramer Familie … Eltern, Geschwister oder sonstige Verwandte?“
„Mir gegenüber hat er niemanden erwähnt.“
„Hatte er Feinde?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Wer erbt denn dann das Haus?“
„Das weiß ich nicht. Da müssen Sie seinen Anwalt fragen.“
„Kennen Sie seinen Namen?“
„Nein, aber es ist ein Anwalt hier aus der Stadt.“
Caro stellte der Haushälterin noch ein paar Fragen, merkte aber sehr schnell, dass sie ihnen nicht weiterhelfen konnte. Deshalb verabschiedeten sie sich kurz darauf und verließen das Haus.
„Das hat uns nicht weitergebracht“, sagte Kevin, als sie wieder im Auto saßen.
„Nicht wirklich“, stimmte ihm Caro zu.
Sie fuhren zurück ins Kommissariat.
„Hör du dich mal in der Bank um, in der Kramer gearbeitet hat. Irgendwer muss doch mehr über ihn wissen. Und dann bringe in Erfahrung, bei welcher Anwaltskanzlei Kramer Klient war. Ich gehe inzwischen in die Gerichtsmedizin, vielleicht gibt es dort etwas Neues.“
Sie angelte nach ihrer Jacke, die über der Stuhllehne hing.
Julia Sommer war zweiundvierzig Jahre alt und Pathologin am gerichtsmedizinischen Institut oder, wie es eigentlich hieß, am Institut für Rechtsmedizin der Universität in Freiburg.
Ihr Arbeitsplatz war, so fand sie, kühl und angenehm obwohl die Arbeit selbst nicht immer angenehm war. An ihrem Arbeitsplatz wirkte sie manchmal unnahbar und unterkühlt, was ihr bei ihren Kollegen den Spitznamen Fridge (Kühlschrank) eingetragen hatte.
Die landläufige Meinung über Pathologen war, dass sie lediglich Obduktionen durchführten. Das war aber nur ein kleiner, wenn auch sehr wichtiger Teil ihrer Arbeit.
Ebenso wichtig war zum Beispiel die Krebsdiagnose. Pathologen beurteilten Gewebe- und Zellproben, erstellten Krebsdiagnosen und beurteilten Typ, Größe, Ausdehnung und Bösartigkeit eines Tumors. Zudem hatten sie auch organisatorische und verwaltende Aufgaben. Sie mussten Gutachten anfertigen und Präparate fotografisch dokumentieren.
Hin und wieder musste ein Pathologe auch vor Gericht aussagen, wenn ein gerichtsmedizinisches Gutachten notwendig war.
Das Institut für Rechtsmedizin arbeitete auch mit der Polizei zusammen und führte Obduktionen an Opfern von Gewaltverbrechen durch, um die Todesursache und den Zeitpunkt des Todes feststellen zu können.
Die Arbeit als Gerichtsmedizinerin war, zumindest am Anfang ihrer Berufstätigkeit, nicht immer einfach. Noch immer wurde dieser Beruf vorwiegend von Männern ausgeübt, auch wenn in den letzten Jahren mehr und mehr Frauen in der Pathologie arbeiteten.
Man durfte nicht zimperlich sein, wenn man Leichen obduzierte. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie noch Studentin war und ein Praktikum in der Pathologie gemacht hatte.
Ihren Mitpraktikanten, alles Männer, war reihenweise schlecht geworden, als sie zum ersten Mal zusahen, wie eine Obduktion durchgeführt wurde.
Auch Julia hatte mit ihrem Mageninhalt zu kämpfen, musste sich zum Glück aber nicht übergeben wie die anderen. Inzwischen hatte sie Routine in diesen Dingen und ihr Magen beschwerte sich nicht mehr.
Schließlich musste man den Personen, die vor einem auf dem Tisch lagen, einen gewissen Respekt entgegenbringen, auch wenn sie tot waren. Oder gerade deswegen.
Julia hatte es geschafft, ihr Studium der Humanmedizin, das jeder Rechtsmediziner durchlaufen muss und das normalerweise zwölf Semester dauerte, in nur fünf Jahren zu bewältigen. Auch die daran anschließende Facharztausbildung in Rechtsmedizin, ebenfalls sechs Jahre, konnte sie um ein Jahr verkürzen.
Sie hatte auch hart dafür gearbeitet und nebenher noch ihre Doktorarbeit geschrieben.
Ihre Kollegen wussten nur wenig über sie. Dass sie gerne chinesisch aß, ebenso aber auch Spaghetti liebte, meistens zu viel Kaffee trank, gerne ein gutes Buch las und sehr tierlieb war.
Man konnte sich auf sie verlassen und sie sprang jederzeit für einen Kollegen ein, wenn diesem etwas Unvorhergesehenes dazwischenkam.
Niemand wusste aber, was sie in ihrer Freizeit machte, wie sie lebte oder mit wem. Ganz bewusst verbarg sie ihr Privatleben am Arbeitsplatz.
Ihren Kollegen fiel das nicht weiter auf, sie waren meistens mit sich selbst beschäftigt. Doch ihr Chef, Dr. Ernst Ritter, blickte sie manchmal nachdenklich und fragend an. Oder sie bildete es sich auch nur ein.
Zu Hause, bei Verena, war sie anders – offen und fröhlich und konnte sich fallenlassen. Verena kannte sie besser als sie sich selbst kannte. Manchmal jedenfalls.
Nach diesem Arbeitstag, der sehr früh begonnen und relativ spät geendet hatte, war Julia völlig fertig, als sie zu Hause ankam. Sie war so müde, dass sie kaum die Klinke der Verbindungstür von der Garage ins Haus, niederdrücken konnte. Am liebsten wäre sie schon im Stehen eingeschlafen.
Sie hörte Verenas Schritte, die aus dem Wohnzimmer kamen und ihre Stimme, die sagte: „Julia, Liebes, du siehst ja total fertig aus.“
„Hallo Schatz, es ist schön, dich zu sehen. Ich will mich einfach nur hinsetzen und die Augen schließen.“
Sie spürte Verenas Mund auf ihrem, die ihr einen zärtlichen Kuss gab.
„Ich habe dir ein wenig Hühnerbrühe gemacht. Du musst nur schlucken. Aber Vorsicht, heiß.“ Sie reichte Julia eine Suppentasse mit der dampfenden Flüssigkeit.
Julia spürte auf einmal, dass sie Hunger hatte und nahm vorsichtig einen Schluck – das tat gut.
„Danke, das ist lieb. Ich bin total verspannt. Wenn man fast den ganzen Tag in etwas vorgeneigter Haltung über dem Obduktionstisch steht, geht das nicht spurlos an einem vorüber.“
„Möchtest du ein Bad oder eine Massage?“
„Beides wäre toll, genau das, was ich jetzt brauche.“
„Das dachte ich mir schon, deshalb habe ich bereits das Badewasser einlaufen lassen. Du musst nur noch in die Wanne steigen.“
„Dafür liebe ich dich noch mehr.“
Kurze Zeit später massierten Verenas Finger ihren Nacken und ihre Schultern und lösten alle Verspannungen, vom Rücken bis zu den Beinen.
Julia lag auf dem Bett und war völlig entspannt und schläfrig. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Verena lächelte, als sie das sah. Dann deckte sie Julia vorsichtig zu und gab ihr einen Kuss in den Nacken.
Als sie eine halbe Stunde später zu Bett ging, schlief Julia tief und fest. Einen Moment lang lauschte sie auf deren regelmäßige Atemzüge, dann stieg sie ebenfalls ins Bett und schlang ihre Arme so gut es ging um Julia, die sich im Schlaf wohlig an sie kuschelte. Wenig später war auch Verena eingeschlafen.
Julia atmete tief durch und warf das Diktiergerät in den Ablagekorb auf ihrem Schreibtisch. Jetzt hatte sie sich einen Kaffee verdient. Sie füllte ihre Tasse mit der schwarzen Flüssigkeit und nahm einen Schluck davon. Während sie langsam die Tasse leertrank, wanderten ihre Gedanken zurück zu der Zeit, als alles begonnen hatte.
Geboren und aufgewachsen war Julia, ebenso wie ihre älteren Geschwister Max und Caro, in Ballenbach, einem kleinen Ort am Rande des Schwarzwalds. Alle drei hatten eine unbeschwerte Kindheit verbracht.
Schon damals, in ihrer Kinder- und Jugendzeit, war Verena Schneider ihre beste Freundin. Sie wohnte nur ein paar Häuser von Julia entfernt, zusammen mit ihren Eltern und ihren beiden älteren Brüdern.
Beide hatten nach der Grundschule das Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Ballenberg, dem nächstgrößeren Ort besucht, an dem sie auch beide das Abitur machten. Julia war mit einem Schnitt von 1,2 Jahrgangsbeste gewesen.
Schon immer waren sie unzertrennlich gewesen, hatten in ihrer Pubertät zwar den einen oder anderen Freund aber keine von beiden interessierte sich wirklich für Jungs. Sie waren lieber zusammen und unterhielten sich stundenlang oder hörten Musik.
Während ihres letzten Schuljahres hatte Julia beschlossen, Rechtsmedizinerin zu werden, weil sie dieses Gebiet sehr interessierte und auch faszinierte. Verena wollte Journalistik studieren.
Sie hatten gehofft, dass sie beide in der gleichen Stadt studieren könnten, aber daraus wurde nichts. Verena bekam einen Studienplatz an der Journalismus-Schule in Stuttgart, während Julia zum Studium nach Ulm musste.
In dieser Zeit stellten beide, unabhängig voneinander fest, dass sie die jeweils andere sehr vermisste und sich nach ihr sehnte, obwohl keine der beiden wusste, warum, oder es sich nicht eingestehen wollte.
Anfangs konnten sie an den Wochenenden noch etwas Zeit miteinander verbringen doch schon bald forderte das Studium ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit und so zog Julia in eine kleine Wohnung auf dem Campus in Ulm, während Verena in Stuttgart wohnte.
Verenas Studium dauerte sieben Semester, war also wesentlich kürzer als das von Julia, das letzte war ein Auslandssemester. Danach hatte sie ihren Bachelor of Arts in der Tasche.
Das Klingeln des Telefons unterbrach Julias Gedanken und holte sie in die Gegenwart zurück. Sie sprach kurz mit ihrem Kollegen aus der Forensik, dann widmete sie sich wieder ihren zuvor unterbrochenen Gedanken.
Eines Tages stand Verena vor Julias Tür. Sie sah übernächtigt und blass aus.
„Verena, was machst du denn hier? Komm rein. Ist etwas passiert?“
Verena schüttelte den Kopf.
„Du weißt, dass ich mein letztes Semester hinter mir habe. Jetzt kommt noch das Auslandssemester, das bedeutet, ich muss ein halbes Jahr ins Ausland gehen. Ich will aber nicht weg.“
Julia war blass geworden.
„Aber das ist doch bestimmt interessant“, meinte sie dann zögernd.
„Wenn ich ins Ausland gehe, werden wir uns ein halbes Jahr lang nicht sehen. Das sind sechs Monate. Willst du das?“
„Natürlich will ich das nicht. Aber wenn es zum Studium gehört, dann musst du es machen. Sonst bekommst du eventuell deinen Abschluss nicht. Warum willst du denn nicht weg?“
Verena sah Julia lange aufmerksam an.
„Es ist deinetwegen“, sagte sie dann.
„Meinetwegen?“, fragte Julia.
„Ja, ich … ich … ich liebe dich, Julia. Schon immer.“
Jetzt brach Verena in Tränen aus.
„Ich musste es dir einfach sagen, auch wenn du meine Gefühle vielleicht nicht erwiderst.“
Sie stand auf und ging zur Tür.
Julia war es bei ihren Worten heiß und kalt geworden und schlagartig wurde ihr klar, dass sie dasselbe für Verena empfand, es aber all die Jahre verdrängt hatte.
„Wo willst du hin?“
„Ich bin nur gekommen, um dir das zu sagen.“
Julia schaute zu ihrer Freundin, die mit hängenden Schultern an der Tür stand und eine Welle von Zärtlichkeit überschwemmte sie. Sie durfte Verena jetzt nicht gehen lassen sonst würde sie es ewig bereuen.
„Verena, bitte bleib hier. Ich liebe dich auch. Ja, schon seit ich denken kann. Bisher habe ich es mir nicht eingestanden, aber jetzt, wo du weggehst, weiß ich es sicher.“
„Wirklich? Du sagst das nicht nur so?“
„Du solltest mich so gut kennen, Verena, dass ich, was Gefühle anbelangt, so etwas nicht einfach nur so sage.“
Verena schaute erst noch ein wenig überrascht, dann fielen sie sich in die Arme und weinten zusammen. Vor Erleichterung, vor Glück. Ihre Lippen suchten und fanden sich und schließlich küssten sie sich. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Es wurde ein langer und sehr intensiver Kuss.
„Jetzt geht es mir besser“, sagte Verena, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten.
„Bleib heute Nacht hier, bei mir, es ist Wochenende.“
Eine Stimme, die sie kannte, riss Julia aus ihren Gedanken in die reale Welt zurück.
„Kannst du mir schon etwas über die Todeszeit sagen?“
„Caro, ich habe dich gar nicht kommen hören.“
„Das habe ich gemerkt. Sag mal, träumst du?“
Prüfend sah Caro ihre Schwester an.
„Nein, nein“, sagte Julia lachend, „ich mache nur eine kleine Pause und lasse meine Gedanken etwas schweifen. Also, wie kann ich dir helfen?“
„Kannst du mir schon etwas über die Todeszeit sagen?“, wiederholte Caro ihre Frage.
„Wieso interessiert dich das?“
„Weil ich den Fall bearbeite.“
„Nicht Paul Wagner?“
Caro lachte. „Ach, das weißt du ja noch gar nicht. Paul Wagner ist in den Ruhestand gegangen und ich wurde zu seiner Nachfolgerin ernannt. Ich bearbeite nun diesen Mordfall, der gestern geschehen ist. Du hast ihn doch obduziert, oder nicht?“
Fragend schaute Caro ihre Schwester an. Julia nickte und kramte die Unterlagen hervor.
„Die Todesursache ist Erstechen, ein einziger Stich, der aber genau ins Herz ging. Der Mann war sofort tot. Der Täter muss großes Geschick im Umgang mit Stichwaffen haben.“
„Warum?“
„Normalerweise trifft man mit einem einzigen Stich nicht gleich das Herz. Jedenfalls nicht tödlich. Dieser Stich wurde präzise geführt, so als ob der Täter genaue Kenntnisse hätte, wo er ihn setzen muss.“
„Du meinst, er ist ‚vom Fach‘?“
„Es muss jemand sein, der anatomische Kenntnisse hat, z.B. ein Arzt oder ein Chirurg. Aber auch ein Metzger oder jemand, der Tiere zerlegt, käme in Frage.“
„Und die Tatwaffe?“
„Kein haushaltsübliches Messer. Die Einstichwunde ist sehr schmal, scharf und glatt. Ich würde auf ein Skalpell tippen, aber das ist meine private Meinung.“
„Kannst du etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“
„Den kann ich bis auf zwei Stunden eingrenzen. Todeszeitpunkt war zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh.“
„Na gut, wenigstens etwas.“
„Hast du schon einen Anhaltspunkt, wer ihn ermordet haben könnte? Und warum?“
„Nein, da tappe ich noch vollkommen im Dunkeln.“
Caro sah sich im Raum um.
„Hier zu arbeiten wäre nichts für mich. Da fühlt man sich ja wie ein Maulwurf unter der Erde. Macht dir das nichts aus?“
„Man gewöhnt sich daran. Dieser Arbeitsplatz ist so gut wie jeder andere. Ich möchte nicht in einem Büro sitzen und nur Papier vor mir haben.“
„Na, dann hat ja jede von uns den richtigen Beruf ergriffen. Übrigens, dein Chef, Dr. Ritter, hat mich gefragt – als er meinen Namen gehört hat, ob ich mit Julia Sommer aus der Pathologie verwandt sei. Er war sehr zufrieden, als ich ihm das bestätigt habe.“
Julia lachte.
„Da hat er wieder etwas, worüber er nachdenken kann. Wenn meine Kollegen dir über den Weg laufen, werden sie versuchen, dich auszuquetschen.“
„Ganz schnell kann aber daraus werden, dass ich sie ausquetsche“, meinte Caro lächelnd. „Ich muss wieder an die Arbeit“, verabschiedete sie sich und gab Julia einen Kuss auf die Wange. Dann war sie verschwunden.
Nachdem Caro gegangen war, hing Julia erneut ihren Gedanken nach. Verena blieb in Ulm und sie verbrachten ihre erste gemeinsame Nacht als Liebespaar. Sie liebten sich, erst noch etwas zögerlich aber dann immer stürmischer. Sie versanken in einem Meer aus Leidenschaft. In dieser Nacht hätte die Welt untergehen, eine Sturmflut hereinbrechen oder sonst irgendeine andere Katastrophe geschehen können, keine der beiden hätte davon auch nur ansatzweise etwas mitbekommen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sagte Verena: „Ich fahre nicht ins Ausland, ich bleibe bei dir.““
Julia setzte ihre Tasse ab, aus der sie gerade hatte trinken wollen.
„Nein, Liebes, das machst du nicht. Das Auslandssemester gehört zu deinem Studium, dann musst du es auch machen. Sonst bekommst du deinen Abschluss nicht. Du wolltest doch immer Journalistin werden. Irgendwann würdest du es bereuen.“
„Aber dann sehen wir uns ewig nicht. Das halte ich nicht aus.“
„Meinst du, mir geht es anders? Ich hätte dich auch lieber hier. Jeden Tag. Jede Nacht. Immer. Das halbe Jahre kriegen wir rum. Sechs Monate können wir überbrücken. Bestimmt. Für welches Land hast du dich denn entschieden?“
„Entschieden habe ich noch nichts. Aber Mailand würde mich interessieren.“
„Dann mach das. Italien ist nicht so weit entfernt. Wir können uns trotzdem sehen. Und wir telefonieren regelmäßig. Was meinst du?“
Julia gelang es schließlich, Verena davon zu überzeugen, das Auslandssemester zu machen. Auch wenn es ihr selber sehr schwerfiel.
Nach dem Frühstück bummelten sie durch Ulm. Es war ein herrlich warmer Tag. Julia zeigte Verena die Uni, an der sie studierte.
„Du hast deine drei Jahre Studium hinter dir. Noch das halbe Jahr im Ausland, dann bist du fertig. Ich muss noch drei weitere Jahre studieren und bin dann erst Humanmedizinerin. Dann kommen noch einmal sechs Jahre Facharztausbildung in Rechtsmedizin. Ich bin uralt, wenn ich fertig bin.“
„Soll ich schon mal einen Krückstock für dich organisieren?“, fragte Verena und lachte schelmisch.
„Du bist sowas von frech“, erwiderte Julia und küsste sie.
„Du wusstest doch, wie lange du brauchen wirst, bevor du das Studium angefangen hast. Wenn es dir zu lange dauert, dann solltest du etwas anderes studieren. Oder die Facharztausbildung in Rechtsmedizin weglassen.“
„Nein, nein, die Rechtsmedizin fasziniert mich. Es ist ein hochinteressantes Gebiet. Ich will das unbedingt machen. Ich meine ja nur.“
Sie verbrachten den Tag auf dem Campus, kauften dann noch ein paar Lebensmittel ein und gingen dann zurück in Julias kleine Wohnung, eigentlich nur ein großes Zimmer. Dort kochten sie gemeinsam, aßen zusammen und saßen dann noch ein wenig auf dem kleinen Balkon, der zu dem Zimmer gehörte.
„Morgen muss ich wieder zurück. Mir graut jetzt schon davor.“
„Aber erst morgen Abend. Dazwischen liegt noch eine ganze Nacht und ein guter halber Tag.“
Auch in dieser Nacht liebten sie sich, bis sie vor Erschöpfung einschliefen. Der nächste Tag war ein Sonntag und sie blieben im Bett, solange sie wollten, frühstückten dann und schlenderten anschließend noch ein wenig über den Campus. Viel zu schnell wurde es Abend und Verena musste zum Bahnhof, um ihren Zug zu bekommen.
Julia fuhr sie hin und gemeinsam standen sie auf dem Bahnsteig und warteten auf die Einfahrt des Zuges.
„Jetzt wird es ernst“, sagte Verena und wischte sich ein paar Tränen ab, „ich hasse Abschiede.“
„Ich auch“, erwiderte Julia, „vergiss nicht, dass ich dich liebe. Mehr als alles auf der Welt. Ich warte auf dich und vergiss mich nicht.“
„Das werde ich nicht. Ich will keine andere als dich. Schon immer. Ich liebe dich auch.“
Der Zug fuhr ein und Verena kletterte hinein. Drinnen suchte sie sich ein Abteil in dem sie allein war und öffnete das Fenster. Als der Zug anfuhr winkte sie und Julia winkte zurück, so lange, bis der Zug aus dem Bahnhof verschwunden war. Dann verließ sie den Bahnsteig, ging zu ihrem Auto und fuhr zurück in ihre kleine Wohnung, die ihr jetzt leer und einsam vorkam.
Sie warf sich auf ihr Bett, in dem sie noch vor wenigen Stunden mit Verena gelegen hatte und weinte hemmungslos. Sie liebte Verena und wollte sie bei sich haben. Immer. Nur langsam beruhigte sie sich wieder.
‚Morgen musst du wieder in die Vorlesung und einen kühlen Kopf haben‘, rief sie sich selber zur Ordnung.
In dieser Nacht schlief sie fast überhaupt nicht.
Auch Verena verbrachte eine unruhige Nacht. Nachdem sie wieder zurück in Stuttgart und ihrer kleinen Wohnung war, war auch sie in Tränen ausgebrochen. Sie standen gerade am Anfang ihrer Beziehung und mussten sich für ein halbes Jahr trennen. Aber Julia hatte Recht. Wenn sie das Auslandssemester nicht machte, dann würde sie es früher oder später bereuen. Da mussten sie jetzt durch. Erschöpft ging sie zu Bett aber sie schlief erst im Morgengrauen ein.
Nach ihrem Semester in Mailand kehrte Verena nach Deutschland zurück. Sie bestand ihre Prüfung mit Auszeichnung. Am Abend ihres Abschlusses setzte sie sich in den Zug und fuhr nach Ulm. Julia erwartete sie am Bahnsteig. Sie fielen sich in die Arme.
„Endlich habe ich dich wieder. Du hast mir gefehlt.“
„Du hast mir auch gefehlt. Ich bin froh, wieder hier zu sein.“
In Julias Wohnung feierten sie Verenas Abschluss.
„Ich freue mich so für dich“, sagte Julia.